Hamburg, 2. Dezember 2018
Sehr geehrte Frau Dr. Sperber,
mein Name ist Johannes Meerbusch. Wie ich von meinem Fallmanager
Herrn Finke erfahren habe, sind Sie als Psychologin damit
beauftragt worden, ein Gutachten über meinen seelischen Zustand zu
erstellen. Bevor ich zum vereinbarten Termin Ihre Praxis aufsuche,
habe ich das Bedürfnis, Ihnen meine Sicht der Dinge schriftlich
darzulegen. Denn seit den Ereignissen, von denen ich Ihnen
berichten werde, plagt mich eine tiefe Unruhe. Im direkten Gespräch
mit Ihnen werde ich nervös sein und Schwierigkeiten haben, mich zu
konzentrieren. Ich werde entscheidende Details vergessen. Sie
werden ein verzerrtes Bild von mir und meiner Situation erhalten
und ich werde mich maßlos über mich selbst
ärgern. Darum hoffe ich, Sie
nehmen diesen Brief wohlwollend zur Kenntnis. Ich versichere Ihnen,
dass meine folgende Schilderung der Wahrheit entspricht – oder dem,
was ich für diese halte.
Es begann damit, dass unsere Abteilung, das Zentrale Prüfungsamt
der Hochschule, eine neue Leitung bekam. Frau Krumme hatte sich
vorgenommen, lange Aufgeschobenes abzuarbeiten, und ordnete an
ihrem dritten Tag ein großes Aufräumen an. Zwei Tage lang wurden Schränke geleert und
tonnenweise Akten vernichtet. Alle mussten mit anpacken.
Dabei kam im Schreibtisch meiner Kollegin Frau Erler etwas Kurioses zum Vorschein: eine Schachtel voller nicht näher gekennzeichneter Schlüssel. Keiner wusste mehr, wie sie dorthin gekommen waren oder wozu sie gehörten.
Frau Erler und mir kam die Aufgabe zu, dies herauszufinden. Also probierten wir einen halben Tag lang die Schlüssel in allen Türen und verschließbaren Schränken in unseren Räumen.
Am Ende blieb ein einziger Schlüssel
übrig – bis mir einfiel, dass wir noch nicht im Altarchiv gewesen
waren.
Das Altarchiv befindet sich im
Untergeschoss eines baufälligen Nebengebäudes, dessen Seminarräume
fast immer leer stehen. Sie dienen nur noch als
Ausweichmöglichkeit, wenn die Kollegen von der
Veranstaltungsplanung mal den Überblick verlieren. Das gesamte
Gebäude ist unterkellert und bietet daher viel Platz für die
Aufbewahrung unterschiedlichster, längst vergessener Akten. Endlose
Regalreihen befinden sich dort unten, vollgestopft mit Papieren,
zum Teil über ein halbes Jahrhundert alt.