Ich ziehe beide Augenbrauen hoch, als der Mann vor mir seine Handschuhe auszieht.
»Ich dachte, Sie …«
»Sie dachten, dass ich lüge?«, fragt er. Kein Vorwurf in der Stimme.
»Nein, nicht wirklich, sondern dass es sich vielleicht um eine Verfärbung handelt. Aber …«
Ich kann den Blick nicht von seinem Arm lösen.
»Ich kann ihn nicht mehr bewegen. Seit Tagen. Am Anfang wurde es schwerer, aber jetzt – kein Gefühl, nichts.«
»Tut es weh?«
»Nein, aber es macht mir eine scheiß Angst.«
»Warum kommen Sie erst jetzt?«
»Ich dachte irgendwie, dass das schon wieder verschwindet.«
Ich schaue ihn ungläubig an, schüttele kurz den Kopf und ziehe mir ein Paar Latexhandschuhe an.
»Können Sie den Arm ganz frei machen? Am besten ziehen Sie mal das Hemd aus.« Er knöpft das Hemd auf und legt es auf seinen Schoß. Bis zum Ansatz des Oberarms ist der Arm golden verfärbt und wirkt auch so, als wäre er komplett aus Metall. Ich berühre ihn und tatsächlich – er ist schwer und fühlt sich auch so an, als hätte er sich eine unbewegliche Goldprothese übergestreift.
»Ich … Ich bin ehrlich gesagt etwas überfragt. Das scheint ein Sonderfall zu sein.«
»Sie können mir nicht helfen?«
»Doch, doch – nur nicht sofort. Morgen denke ich. Ich würde gerne einen Abstrich machen.«
»Klar.«
Ich hole ein kleines Kunststoffgefäß und ein Stäbchen.
»Wie schnell breitet sich das aus?«, frage ich.
»Es wird irgendwie immer schneller. Anfangs kein ganzer Millimeter am Tag, denk ich. Jetzt jeden Tag mehr als ein Zentimeter.«
Ich führe den Abstrich durch und lege das Kunststoffgefäß zur Seite.
»Ich ruf Sie an, wenn ich die Ergebnisse habe.«
»Können Sie mir nicht helfen?«, wiederholt er. In seinen Augen liegt ein Blick, der mir vermittelt, dass sein nächster Stopp das Krankenhaus wäre. Aber sowas habe ich noch nie gesehen. Das ist eine Sensation. Vielleicht ist es gut, wenn er ins Krankenhaus geht, aber dann wäre ich nicht mehr derjenige, der diese Krankheit entdeckt. Was auch immer das ist. Ich habe fast zwanzig Jahre in dieser Kleinstadtpraxis zugebracht; das kann nicht alles sein.
»Doch, kann ich. Kommen Sie morgen wieder. Wenn Sie wollen, schon eine Stunde, bevor wir aufmachen – ich werde da sein.«
»Ist es so schlimm?«, fragt er. Seine Stimme zittert.
»Nein, nein, nein. Ich merke nur, dass Sie sich Sorgen machen. Herr da Silva, ich bin Ihr Arzt – Sie sind in guten Händen.«
Er nickt.
»Okay, ich werd vorbeikommen. Danke Ihnen.«
»Kein Problem, dafür bin ich da.«
Nachdem er gegangen ist und ich die letzten Patienten behandelt habe, setze ich mich an meinen Laptop und google, um zumindest grob das Feld abzustecken, zu welchem sich die Krankheit zuordnen lassen könnte. Aber ich finde nichts. Kein einziger Eintrag. Eine Verwandlung in Edelmetall oder etwas, das so wirkt, gibt es nicht. Ich lächle. Vielleicht hab ich wirklich Glück und mache eine richtige Entdeckung. Ich schlage in einem meiner Bücher über Hautkrankheiten nach, aber auch dort steht nichts, was nur annähernd passt. Dass sich die Haut verfärbt, ist nichts Besonderes – dass sie zu Gold wird, unmöglich.
»Brauchen Sie noch etwas?«, fragt Franziska, meine Arzthelferin. Ich habe gar nicht gehört, dass sie hergekommen ist.
»Sie können gehen.« Ich schaue nicht einmal auf.
»Bis morgen.«
Sie schließt die Tür zu dem Zimmer und ich das Buch. Ich schaue auf meine Hände und mustere jedes Fältchen. Das ist meine letzte Chance in meinem Fachbereich irgendetwas Relevantes zu erreichen.
In Gedanken gehe ich diverse Namen durch, die die Krankheit haben könnte, alle natürlich mit meinem Nachnamen verbunden. Ich stehe auf und lege den Abstrich unter das Mikroskop, aber ich kann nichts erkennen. Für eine richtige Probe muss ich wohl rabiater vorgehen.
Es ist 22 Uhr, als ich die Praxis verlasse. Ich fühle mich zum ersten Mal seit Langem wieder so, als hätte ich meinen Tag sinnvoll verbracht. Die Straßen rein und leer. Es sind keine zehn Minuten bis zu mir nach Hause. Marlene wird schon schlafen, aber das stört mich nicht – im Gegenteil.
Als ich unsere kleine Wohnung betrete, bemerke ich, dass ich mich geirrt habe. Das Licht brennt noch und der Fernseher läuft.
Bevor ich meine Schuhe ausgezogen habe, kommt sie schon in den Flur.
»Wo warst du?«
»Ich war noch in der Praxis.«
»Warum hast du nicht Bescheid gesagt.« Sie stellt das nicht als Frage.
»Warum hast du nicht angerufen?«, frage ich gelassen und ziehe meine Schuhe aus. Sie sieht mich nur entnervt an und verlässt dann das Zimmer. Interessiert sie sich wirklich dafür? Hat sie tatsächlich Angst, dass ich ihr fremdgehe oder sucht sie nur nach einem Grund, um die Beziehung zu beenden.
Mal schauen, wer zuerst einen findet.
»Ich hab deine Mutter heute angerufen«, schallt es aus dem Wohnzimmer.
»Wie geht’s ihr?«
»Nicht besser, nicht schlechter.«
»Okay.« Vielleicht sollte ich sie mal wieder anrufen, aber ihre Demenz macht ein Gespräch völlig belanglos.
Ich gehe in die Küche, schenke mir ein Glas Wodka ein und warte darauf, dass der Fernseher verstummt und sie ins Bett geht. Später noch ein Glas und noch eins. Irgendwann höre ich endlich nichts mehr aus dem Wohnzimmer. Ich warte noch zwanzig Minuten, starre auf die Uhr und lege mich dann zu ihr ins Bett. Wie jeden Tag.
Als ich um 8 Uhr zur Praxis will, steht Herr da Silva schon vor der Tür. Er hat nicht viel geschlafen, das sieht man. Mit den graumelierten Haaren und dem leichten Übergewicht wirkt er ziemlich verbraucht; und es irritiert mich für eine Sekunde, dass er so schief dasteht – aber das ist wohl das Gewicht des Armes.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie das Angebot wirklich annehmen und so früh kommen«, sage ich.
»Ich mach mir wirklich Sorgen.«
Ich versuche verständnisvoll zu nicken. Aufgeregt schließe ich die Praxis auf und wir gehen rein. Meine Arzthelferin kommt erst um halb 9. Wir betreten das Behandlungszimmer und er setzt sich auf die Liege.
»Soll ich mich ausziehen?«
»Ja, bitte.«
Er zieht seine Handschuhe und das Hemd aus. Das Gold ist mittlerweile bis zur Mitte des Oberarms geklettert. Ich ziehe meine Handschuhe an und befühle das Material.
»Wissen Sie mittlerweile, was es ist?«, fragt er.
»Ich schließe gerade ein paar Sachen aus, aber machen Sie sich keine Sorgen.« Er wirkt nicht überzeugt, aber sagt nichts.
»Was machen Sie eigentlich beruflich?«, frage ich, um die Stille zu überbrücken.
»Ich schreibe.«
»Autor?«
»Ja. Und nebenbei kleine Jobs … wenn’s nicht so gut läuft.«
Er wirkt nicht so, als wäre es jemals gut gelaufen.
»Was schreiben Sie?«, frage ich, als ich den Übergang zwischen Haut und Gold abtaste. Er ist nicht wirklich hart, aber auch nicht so weich, wie normale Haut sein sollte.
»Dies und das.«
Ich frage nicht weiter nach – es interessiert mich eigentlich auch nicht.
»Um eine richtige Probe zu kriegen, müsste ich etwas von ihrem Arm abfeilen. Sie spüren da nichts mehr, richtig?«
»Nein, aber …«
»Nur ganz oberflächlich – wenn Ihr Arm wieder gesund ist, wird das schnell verheilen.«
»Okay – wenn’s hilft.«
Weil mir nichts Besseres einfällt, hole ich mein Nagelset und feile damit ein bisschen vom Arm ab. Womit sollte ich es sonst machen? »Es tut nicht weh, oder?« Er schüttelt den Kopf.
Nachdem ich etwas Goldstaub in einen Kolben gefüllt habe, verschließe ich ihn und stelle ihn auf den Schreibtisch.
»Ich muss nur noch ein paar Tests machen, dann –«
»Noch mehr Tests?«
»Ja, nur noch ein paar.«
»Sollte ich nicht ins Krankenhaus gehen? Ich weiß nicht, ich …« Er sucht nach Worten. Ins Krankenhaus. Das darf nicht passieren. So eine Chance hat man nur einmal im Leben.
»Herr da Silva. Machen wir’s so. Wenn es zu schlimm wird – rufen Sie mich an. Ich gebe Ihnen meine private Nummer.« Ohne seine Antwort abzuwarten, trete ich zum Schreibtisch, notiere die Nummer auf einen Zettel und halte ihn ihm hin.
»Und morgen kommen Sie einfach um dieselbe Zeit wie heute wieder hierher. In Ordnung?«
Er nickt und nimmt den Zettel.
»Kann ich mich anziehen?«
»Klar. Aber ein Krankenhaus ist wirklich nicht nötig. Wirklich.«
Während er sein Hemd anzieht, sieht er mich eindringlich an. Er vertraut mir nicht, das merke ich.
»Sie sind in guten Händen, glauben Sie mir.«
Als er aus der Tür gegangen ist, kommt die Arzthelferin herein.
»Seit wann machen Sie wieder Frühschicht?«
»Ziemlich nervöser Typ.«
»Was hat er denn?«
Ich lege die Stirn kurz in Falten.
»Nichts Besonderes eigentlich. Bauchschmerzen – aber Hypochonder.«
»Sie machen sich wirklich Mühe.«
Ich lächle und sie verlässt das Zimmer. Kurz darauf höre ich die Kaffeemaschine.
Der Tag verläuft ereignislos. Kaum Patienten, bis auf ein paar ältere Damen mit irgendwelchen Wehwehchen.
Als alle behandelt sind, gebe ich Franziska Bescheid, dass sie heute früher nach Hause kann.
»Oh, danke«, sagt sie.
»Heute ist eh nichts los«, meine ich und sehe zu, wie sie wenige Minuten später die Praxis verlässt. Ich schreibe meiner Frau auf WhatsApp, dass ich heute wieder länger arbeite. Sie reagiert nicht.