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Magda Trott
 
ANGELA

 

1
Heimkehr

Mit verstohlenem Lächeln schauten die Mitreisenden auf das frische, junge Mädchen, das seit einer vollen Stunde sehr unruhig war. Bald sprang es auf, eilte zum Fenster, sah sich dort um, ließ sich mit einem kaum hörbaren Seufzer wieder auf das Polster nieder, starrte durch das andere Fenster, riß an den Handschuhen, die ohnehin schon zwei Löcher aufwiesen – dann begann das Spiel der Ungeduld von neuem.

Das Gegenüber, ein älterer Herr mit ergrautem Vollbart, hielt es schließlich für ratsam, das hübsche, junge Mädchen ein wenig zu unterhalten. Als er aber sagte, daß man in etwa zehn Minuten die Fabrikstadt M. erreicht haben würde, sprang sein jugendliches Gegenüber erregt auf, riß den Reisemantel vom Haken, kletterte in der nächsten Sekunde auf den Polstersitz, um das Handköfferchen aus dem Netz zu holen, und wies mit aufgeregtem und energischem Kopfschütteln die Dienste eines jungen Herrn zurück, der ihr dabei behilflich sein wollte. Ebenso hastig wurde der Schirm aus dem Netz genommen, und bei dieser Bewegung schlug sie dem vollbärtigen Herrn mit dem dicken Knauf fast ins Gesicht. Dann drehte sie sich mehrere Male um ihre eigene Achse, suchte die Polster ab, machte mit dem Fuße krampfhafte Anstrengungen, als wollte sie etwas unter dem Sitz hervorscharren, bis der junge Mann, von Mitleid erfüllt, freundlich sagte:

»Haben gnädiges Fräulein etwas verloren?«

Es erfolgte keine Antwort, das Suchen wurde noch intensiver. Das jugendfrische Gesicht mit den großen, braunen Augen nahm einen immer gespannteren Ausdruck an, und als der dahinsausende Zug sein Tempo merklich verlangsamte, kam es endlich angstvoll über die jungen Mädchenlippen:

»Wo ist mein Handtäschchen?«

Das Drehen und Wenden begann von neuem. Die Insassen des Abteils mußten sich weit zurücklehnen, um nicht von dem Koffer oder dem Schirm, den die junge Reisende krampfhaft festhielt, getroffen zu werden.

»Mein Handtäschchen ist mir gestohlen – mein Geld, meine Fahrkarte!«

»Gestohlen kann es nicht sein, mein liebes Fräulein, vielleicht ist es in die Polster gerutscht.«

Nun suchten und wühlten zwei, bis die Stimme des alten Herrn erklang: »Am Arme hängt Ihnen ein Ledertäschchen. Ist es das Gesuchte?«

»Ach – ja.«

Nun kramte Angela Lamprecht aber erst recht. Was sie noch vermißte, war keinem der Mitreisenden klar. In der Polsterecke suchte sie, drehte dem alten Herrn dabei ständig den Rücken zu; der aber wußte genau, daß die niedliche Mitreisende nur das verschämte, blutübergossene Gesichtchen vor ihm verbergen wollte. Der junge Mann schien dagegen für ihre Verwirrung kein Verständnis zu haben. Er fragte mit sanfter Stimme, ob noch etwas abhanden gekommen sei. Die Siebzehnjährige hörte nur den Hohn, richtete sich zu ihrer nicht gerade beträchtlichen Höhe empor, blitzte den Hilfsbereiten aus den braunen Augen gar zornig an, wandte sich dann aber erschreckt ab, denn sie war nahe daran, den Reisebegleiter wie den Bruder zu behandeln, dem sie bei solchen Gelegenheiten die Zunge herausstreckte.

Wie gut, daß der Zug in wenigen Augenblicken an ihrer Heimatstadt halten würde. Dann war sie allen den spöttischen Blicken entflohen.

Sie setzte sich wieder nieder, hielt das Handtäschchen energischer denn zuvor fest und wandte den Blick nicht mehr vom Fenster ab. Die ersten Häuser tauchten auf – dort hinten winkten hohe Fabrikschornsteine. Oh, wie sie qualmten, wie sie rauchten. In jener Gegend lag auch des Vaters Eigentum, seine Fabrik.

Merkwürdig war es doch! Als sie vor zwei Monaten zu Besuch ihrer liebsten Freundin in die Wupperstadt Elberfeld-Barmen gefahren war, hatte sie gejauchzt als diese Schornsteine mehr und mehr verschwanden. Jetzt war beim Anblick dieser qualmenden Schlote das gleiche Jubelgefühl in ihr. Sie freute sich unsäglich, die Eltern, die Geschwister, alle die lieben Bekannten, ja selbst die Hunde und Katzen wiederzusehen, die sie volle zwei Monate lang entbehrt hatte. Entbehrt war vielleicht nicht das richtige Wort, denn im Schillingschen Hause war dem jungen Mädchen jeder Tag zum Feste geworden. Was hatte sie in den zwei Monaten nicht alles gesehen und gelernt. Wie würden die Eltern aufhorchen, wenn sie mit ihren überraschenden Neuigkeiten vor sie hintrat. Das würde ein Erstaunen geben! Der Vater hatte sie bisher stets als kleines Backfischchen behandelt. Er hatte ihr keinen Einblick in seine Fabrik gestattet. Nun sollte das mit einem Schlage anders werden. Im Schillingschen Hause hatte sie den Segen der Arbeit empfunden, nun wollte auch sie nicht länger müßig bleiben, nun wollte auch sie tätig sein.

Voller Stolz lächelte Angela vor sich hin. Wenn sie erst in des Vaters Fabrik auf einem Drehsessel saß wie der alte Buchhalter, wenn sie, die Feder hinter dem Ohr, in die dicken Bücher Eintragungen machen würde oder gar die Diktate des Vaters oder des Ingenieurs stenographisch aufnahm, wenn sie dann vor der Schreibmaschine saß …

Da hielt der Zug. Mit einem Schrei sprang Angela auf. Sie klemmte den Schirm unter den Arm, schaute gewissenhaft nochmals in die Netze, eilte, so rasch es ging, zwischen den Mitreisenden hindurch nach dem Ausgang, stieß den alten und den jungen Herrn an, fand in ihrer Erregung kein Wort der Entschuldigung, sondern strebte nur dem Ausgange zu.

»Sie vergessen Ihren Koffer, meine Gnädigste.«

Der höfliche junge Mann war schon an der Tür und reichte Angela das Gepäckstück. Aufs neue schoß Angela eine Blutwelle ins Gesicht, sie nahm den Koffer, schlug in ihrer Verwirrung den freundlichen Helfer nochmals schmerzhaft an die Knie und versuchte sich dann in dem langen Gange des D-Wagens an den anderen Mitreisenden vorbeizudrücken.

»Nicht so hitzig, wir steigen alle aus«, sagte eine unfreundliche Stimme.

Lieber Gott, wie lange das dauerte! Solch ein D-Wagen war eine abscheuliche Einrichtung. Am liebsten hätte Angela ihren Vordermann kräftig in den Rücken gestoßen. Alle die Mitreisenden schienen unendlich viel Zeit zu haben. Am Ende setzte sich der Zug wieder in Bewegung und sie war noch gar nicht draußen.

»Gehen Sie doch ein wenig schneller«, sagte sie verängstigt, und als sie den spöttischen Blick des Vordermannes sah, fügte sie altklug hinzu: »Zeit ist Geld!«

Diese Bemerkung schien nun gerade das Gegenteil von dem auszulösen, was sie bezweckte. Der Vordermann stellte seinen Koffer in den Gang, kramte in seiner Überziehertasche, und Angela überlegte ernsthaft, ob sie über den Koffer hinwegsteigen sollte. Endlich rückte auch der Reisende wieder vorwärts. Die Tür war erreicht, sie sprang hinaus.

Frau Fabrikbesitzer Lamprecht war mit ihrer jüngsten Tochter Gerda zum Bahnhof gekommen, um Angela abzuholen. Es gab ein stürmisches Wiedersehen. Angela war glücklich, wieder daheim zu sein. Schon unterwegs konnte sie nicht genug von all dem Schönen erzählen, was sie in Elberfeld, in Barmen und Remscheid gesehen hatte.

»Da wird meine kleine Angela wohl recht vergnügungssüchtig geworden sein«, lächelte Frau Lamprecht.

»Vergnügungssüchtig, Mama? Du wirst an mir was erleben!«

»Au weih …« warf Gerda dazwischen.

Angela fuhr erregt fort: »Das Rheinland und die Industriestädte, die ich gesehen habe, sind das Symbol der Arbeit! – Du kannst dir ja gar nicht denken, Mama, wie es dort den ganzen Tag raucht!«

»Das wäre etwas für Eugen«, versetzte Gerda, »der raucht auch den ganzen Tag.«

»Das rasselt und rattert an allen Ecken und Enden, Webstühle sind von morgens bis abends im Gange, eine Fabrik an der anderen – es ist herrlich! Unsere Stadt ist einfach gar nichts dagegen. Dort sind einzelne Fabriken so groß wie kleine Ortschaften, dagegen wirkt Papas Fabrik wie ein Spielzeug. Solche Unternehmen müßten wir auch hier haben. Dort gibt es weder Ruhe noch Rast, und wenn dann Feierabend ist, dann sind die Straßen geradezu schwarz vor Menschen. Das alles kann man dort so gut übersehen, weil die Straßen kleine Hügel sind. – Ach, Mama, es war zu herrlich!«

Frau Lamprecht hörte lächelnd dem Geplauder ihrer Ältesten zu. Sie hatte Angela nicht ohne Bangen in das Haus des Direktor Schilling geschickt. Es war die erste Reise, die das junge Mädchen allein unternahm, aber die Pensionsfreundin Ena hatte so herzlich gebeten, daß die Eltern nachgaben. Außerdem hatte es Herr Lamprecht für richtig gefunden, Angela ein wenig selbständiger werden zu lassen, So war sie nach Elberfeld abgereist und hatte im Hause des Direktor Schilling gar liebevolle Aufnahme gefunden.

Das altkluge Geplauder der Zurückgekehrten ging noch weiter.

»Dort atmet alles rastlose Arbeit, aber Arbeit adelt auch, Arbeit ist das Losungswort an der Wupper! Die großen Unternehmen haben vielfach ganz klein angefangen, jetzt sind sie riesenhaft! Die Unternehmer sind Genies, sie haben den Zug der Zeit erkannt – und denkt euch nur, Enas Schwester arbeitet auch. Sie ist Fabrikpflegerin und den ganzen Tag über beschäftigt.«

»Was pflegt sie denn?«

»Das ist ein sozialer Beruf, den sie sich erwählte, ein herrlicher Beruf, der seelische Befriedigung auslöst. Sie hat für das körperliche und geistige Wohl der Angestellten zu sorgen, hat aufklärend zu wirken …«

»Also ein Aufklärungsfilm mit Beinen.«

»Aber Gerda«, mahnte die Mutter.

Angela wandte sich an Frau Lamprecht. »Sie versteht es nicht besser, Mama, sie hat noch keinen Einblick ins Leben gewonnen.«

»Bilde du dir nur nicht ein, daß du schon alles verstehst, weil du zwei Monate von Hause fortgewesen bist. Deswegen wird man noch lange kein Straßenlicht!«

»Du würdest ganz anders mit mir reden, wenn du wüßtest, was ich inzwischen geworden bin, Gerda.«

»Auch solch eine Pflegerin?«

»Ruhe, Kinder, fangt nicht schon wieder am ersten Tage an zu streiten. Ich finde es sehr schön von Marion Schilling, daß sie sich solch einen segensreichen Beruf erwählte.«

»Du wirst staunen, Mama, was ich alles hinzugelernt habe! Wenn man aber zwei Monate lang in so großen Industriestädten lebt, erweitert man sein Wissen kolossal. Ich hoffe, dem Papa manchen guten Fingerzeig geben zu können.«

Frau Lamprecht verbarg nur mit Mühe ein Lächeln. Angela schien es nicht zu bemerken. Ihr Gesichtchen glühte vor Eifer, sie schien noch gar vieles auf dem Herzen zu haben.

»Gleich morgen werde ich den Papa um eine Unterredung bitten, ganz förmlich. Ich werde ihm Vorschläge unterbreiten.«

Gerda brach in schallendes Lachen aus, das ihr aber von der Mutter untersagt wurde. Sie klopfte ihrer Ältesten liebevoll auf die Wange.

»Es freut mich außerordentlich, mein liebes Kind, daß du die Augen offen gehalten hast. Ich habe immer gefürchtet, meine kleine Angela werde ihre Freizeit mit Nichtstun vertrödeln.«

»Mama, das ist in der dortigen Gegend einfach unmöglich. Im Schillingschen Hause wird von früh bis spät gearbeitet. Mir ist Marion ein leuchtendes Vorbild gewesen, und da auch meine Freundin Ena sich bereits zu einem Berufe entschlossen hat, will auch ich nicht länger müßig sein und meine Tätigkeit bald beginnen.«

»Was ist das für eine Tätigkeit, Angela?«

»Es sollte eigentlich eine Überraschung für euch sein, aber ich kann es ja schon jetzt sagen. Zum ersten Oktober will ich in Papas Fabrik eintreten. Ich habe mit Ena zusammen gelernt und nun soll es losgehen.«

»Was hast du denn gelernt?«

Die Siebzehnjährige, die ihrer großen, schönen Mutter gerade bis an die Schulter reichte, reckte ihr zierliches Figürchen hoch auf. Dann sagte sie feierlich: »Ich bin Korrespondentin geworden.«

»Was bist du?« staunte Gerda.

»Ich habe mich in der schwierigen Kurzschrift ausbilden lassen und auch Schreibmaschine schreiben gelernt. Ich sage dir, liebe Mama, das Klappern der Maschine hat anfangs meine Nerven mitgenommen, aber ich war energisch. Ich habe mir gesagt: arbeiten und nicht verzweifeln. Dieses Wort von Carl – Carl …«

»Carlyle«, half die Mutter.

»Ganz recht, so heißt er. – Also, dieses Wort habe ich mir fest eingeprägt und werde danach leben. Ich hoffe bei euch Unterstützung zu finden. Papa wird mich sicherlich anstellen.«

»In den zwei Monaten hast du das alles gelernt?« fragte Frau Lamprecht erstaunt.

Angela strahlte förmlich. »Jawohl, ich habe auch alle meine Kräfte angespannt. Täglich habe ich eine Stunde gehabt und hab’s geschafft.« Sie wandte sich an Gerda und zeichnete mit dem Finger ein paar Figuren in die Luft. »Kannst du das lesen? Das ist Stenographie.«

»Das kann ich auch«, meinte die Schwester verächtlich und zeichnete nun ihrerseits Striche in die Luft.

»Ich werde in den Augen meiner Mitmenschen nicht sinken, wenn ich von jetzt ab arbeite. Ich könnte euch Dinge erzählen – da ist zum Beispiel in Elberfeld der Sohn eines Bürgermeisters – ach, Mama, ein reizender Mensch! Der hat auch ein ganzes Jahr lang am Webstuhl gestanden.«

»Der Bürgermeister?« fragte Gerda.

»Nein, sein Sohn.«

»Der mag nicht viel in der Schule gelernt haben«, meinte Gerda mit einem verächtlichen Achselzucken.

»Da siehst du, wie dumm du bist!« brauste Angela auf. »Er hat das Gymnasium absolviert und dann ist er, weil er einmal Direktor einer großen Weberei werden will, ein ganzes Jahr lang in eine Weberei gegangen, er der Abiturient, und jetzt studiert er weiter. O, Mama, man merkte es ihm so recht an, daß er ein selten kluger Mensch ist.«

»Hast du ihn denn kennen gelernt?«

Angelas Augen bekamen einen schwärmerischen Ausdruck. »Ja, ihn, den Bruder und auch den Vater. – Ach, furchtbar nette Leute!«

Der Wagen bog um die scharfe Ecke. Da sprang Angela auf. »Da ist unser Haus!«

Vor den Blicken der Näherkommenden lag die Lamprechtsche Villa. Es war ein freundlicher einstöckiger Bau im modernen Landhausstil ausgeführt. Gepflegte Anlagen umgaben das Haus, zu dem von dem Gittertor ein breiter Kiesweg führte. Die großen Buchen- und Tannenbäume, die über dem Dache des Hauses hervorschauten, ließen darauf schließen, daß sich nach hinten ein parkartiger Garten anschloß. Links von dem Villengrundstück lag eine große Wiese, die das Privathaus von der Fabrik trennte.

Auch die Fabrik bot einen schmucken Anblick. Fabrikbesitzer Lamprecht beschäftigte etwa sechzig Arbeiter, Männer und Frauen, die in emsiger Arbeit schufen. Die Werkzeugmaschinenfabrik Lamprecht hatte überall einen guten Klang, die dort gelieferte Arbeit ließ an Präzision nichts zu wünschen übrig. Lamprecht war stolz auf diesen Ruf, er hielt streng darauf, daß seine Fabrikate bis ins Kleinste korrekt hergestellt wurden. Er selbst bekümmerte sich von früh bis spät um den Betrieb. Er war überall. Bald stand er im Drehraum, in der Fräserei, im Maschinenhaus, dann weilte er in der Buchhalterei, im technischen Büro und so kam es, daß ein einziger Blick seiner Augen genügte, um zu wissen, wo etwas nicht klappte.

Eine treue Stütze hatte er an seinem alten Werkmeister Kapobus. Der Mann machte zwar einen finsteren und mürrischen Eindruck, ließ sich auf keine Unterhaltungen ein, war aber im Grunde seines Herzens ein prächtiger Mensch.

Als jetzt der Wagen vor dem Hause hielt, erschien auf der Treppe des Hauses ein lang aufgeschossener junger Mann von etwa neunzehn Jahren, der eiligst herbeieilte, den Wagenschlag öffnete, und der Mutter beim Aussteigen half. Frau Lamprecht lächelte. Derartige Aufmerksamkeiten war sie sonst von ihrem Sohne nicht gewöhnt, aber er wollte heute wohl vor der zurückgekehrten Schwester Eindruck machen.

»Da bin ich wieder, Eugen!«

Angela hob die Arme zum Bruder empor, der drückte sie in gesucht väterlicher Weise an sich. All ihre Würde war vergessen.

»Eugen, Eugen, du hast zwei Schnurrhaare mehr bekommen!«

Der Bruder ließ sie los, strich sich behutsam die winzigen blonden Härchen, die unter der Nase sproßten. »Nicht wahr, kapitaler Bart!«

»Man sieht nur nichts«, grinste Gerda.

»Du Grünspecht hast überhaupt noch nicht mitzureden«, sagte er verächtlich. Dann ergriff er Angelas Handkoffer, um ihn ins Haus zu tragen.

»Der Papa wird auch gleich kommen, er ist noch drüben in der Fabrik.«

Man ging ins Haus.

Wenige Minuten später hing Angela am Halse des Vaters, der den näherkommenden Wagen bemerkt hatte und sich eiligst zum Empfange seiner ältesten Tochter einfand. Er hatte nun einmal eine große Vorliebe für die braunäugige Angela, die ihn in allem an seine Frau erinnerte. So hatte er damals, vor reichlich zwanzig Jahren, seine Meta gesehen. Genau so hatte sie ausgeschaut, genau so übermütig hatten ihn ihre Augen angeblitzt, und wenn er Angelas Stimme hörte, war es ihm, als stiege die Vergangenheit neu vor ihm auf. Seine Frau hatte oft warnend den Finger erhoben, wenn Lamprecht, der sonst recht strenge Vater, absichtlich ein Auge bei den Schwächen der Tochter zudrückte. Und wenn ihm Frau Meta Vorwürfe darüber machte, nahm er sein Weib in die Arme und gestand ihr lachend, was ihn daran hindere, so wenig streng mit Angela vorzugehen.

»Ich hätte dir in der glücklichen Zeit unserer ersten Liebe auch nichts abschlagen können, Meta.«

Zu diesen Worten lachte seine Gattin, und Angelas Tollheiten waren vergessen.

Jetzt freilich schien sie nicht mehr der tolle Backfisch sein zu wollen. Sie gab sich würdevoll. Sie bemühte sich offensichtlich, die junge Dame hervorzukehren. Sie hatte so gesucht gewählte Ausdrücke, daß Lamprecht oftmals Mühe hatte, sein Lachen zu verbergen. Dabei schaute aber überall seine kindische, kindliche Angela hervor. Das zeigte sich gerade jetzt am deutlichsten, als man das Eßzimmer betrat. Dort stand der Kaffeetisch, hübsch gedeckt. Ein großer Schokoladenkuchen hatte mitten auf dem Tisch seinen Platz. Bei diesem leckeren Anblick vergaß das junge Mädchen all seine Würde. Es suchte sich das größte Stück heraus und legte es, noch ehe die anderen aßen, auf den Teller.

»Na, du bist ja noch immer so verhungert wie früher«, bemerkte Gerda.

Das brachte Angela wieder zur Besinnung. Wie konnte sie so übereilt handeln. Das Stück Kuchen blieb ihr ja doch. Scheu sah sie um sich, und da die andern noch abseits standen, nahm sie das Backwerk und steckte es zu den anderen Kuchenstücken zurück.

»Er ist sehr gut durchgebacken.«

Die Ehre war gerettet!

Beim Kaffeetisch begann erneut das Erzählen. Es klang beinahe, als hätte Angela über das bergische Land und seine Industrie ein ganzes Buch auswendig gelernt. Sie sprach von Webstühlen, von den großen Gummiwerken, in denen die mächtigen Autoreifen bis zu den kleinsten Gummiknöpfen hergestellt werden.

»Was habe ich dort nicht alles gesehen! Durch Säle bin ich gegangen, das waren die richtigen Rennbahnen, und dann, o, das war auch sehr interessant, Papa, in einem Saal hatte man das Gefühl, als sei man in einer Waffelbäckerei.«

»Ich denke, du spricht von einer Gummiwarenfabrik?«

»Stellt euch einmal Hunderte von Waffeleisen vor, aber viereckig. Da hinein kommt eine Masse – wupp in den Ofen hinein – wupp wieder heraus – und aus wundervoller Gummimasse sind die Waffeln fertig. Das sind dann Pedale für Fahrräder.«

»Eine ganz erstklassige Erklärung«, lachte Eugen. »Du hast fabelhaft viel hinzugelernt!«

»Ich könnte euch tagelang erzählen. Aber jetzt muß ich zum Brennpunkte kommen. Ich habe dir eine Bitte vorzutragen, lieber Papa – ich will mein Leben umgestalten.«

»Hast du einen Bräutigam?« fragte Eugen interessiert.

»Ich weiß«, ereiferte sich Gerda, »den Sohn vom Bürgermeister, der ein Jahr lang am Webstuhl gestanden hat und jetzt studiert.«

»Unsinn«, wehrte Angela ärgerlich ab, »ich will arbeiten, und zu diesem Zweck möchte ich dich für morgen um eine Unterredung bitten, Papa, drüben in der Fabrik.«

Lamprecht verschränkte die Arme über der Brust und lehnte sich im Stuhle zurück.

»Das wird ja schauerlich feierlich. – Die Posten an den Fräsmaschinen sind aber alle besetzt, Angela.«

»Du mußt mich ernst nehmen, lieber Papa, außerdem wäre es auch nicht schlimm, wenn ich von Grund auf den Betrieb erlernte. Das ist in Elberfeld-Barmen gar nichts seltenes. Dort haben die Inhaber der größeren Fabriken auch von der Pike auf gelernt. Die besten Familien lassen ihre Söhne erst praktisch arbeiten, um so besser verstehen sie später die Betriebe. Es würde dir auch nichts schaden, lieber Eugen, wenn du, falls du überhaupt noch dein Abiturium machst, in irgendeine große Weberei eintreten würdest …«

»Wie der Sohn des Bürgermeisters«, rief Gerda keck dazwischen.

Angela beachtete diesen Zwischenruf nicht. »Für mich kommt nur das Kontor in Betracht, Papa.«

»Für eine andere Arbeit wärst du auch nicht zu brauchen«, meinte Eugen, »im Kontor wird es vielleicht gerade noch zum Adressenschreiben langen.«

»Jetzt laßt Angela reden«, sagte der Vater energisch. »Also, wie denkst du dir das, mein Kind?«

»Jedes junge Mädchen erwählt heute einen Beruf. Marion ist bereits tätig, und Ena hat einen Kursus in Buchführung belegt. Ich habe mich auch entschlossen, mein Leben der Arbeit zu weihen. Ich muß dir jetzt ein Geständnis machen, Papa.«

Sie nahm ein neues Stück Kuchen und biß kräftig hinein.

»So ist es recht«, sagte der Vater gut gelaunt, »erst stärke dich für das Geständnis.«

»Also, lieber Papa – kurz heraus – ich bin Korrespondentin geworden.«

»Wo denn?«

»Ich will es bei dir werden. Ich habe in Elberfeld gelernt. Zertritt mir bitte meine Kreise nicht, Papa, ich habe mir ein Ziel gesteckt und will es erreichen. – Bitte, rolle mir keine Steine in den Weg.«

Eugen und Gerda brachen in lautes Gelächter aus. Eugen schlug sich vor Vergnügen kräftig auf die Schenkel. »Wie redest du denn jetzt«, sagte er noch lachend, »du scheinst mir am Strande der Wupper ein wenig übergewuppt zu sein.«

Lamprecht schaute seine Tochter zärtlich an. »Sehr brav, Angela«, sagte er herzlich, »daß du die zwei Monate benutzt hast, um etwas zu lernen. Hätt’ ich dir gar nicht zugetraut! Viel wirst du ja nicht begriffen haben, denn dazu war die Zeit viel zu kurz, aber du wirst hier Gelegenheit haben, weiter zu lernen. Dann wollen wir sehen, was sich machen läßt.«

»Der Kursus ist aber beendet gewesen, Papa, ich bin perfekt in Stenographie und Maschinenschreiben.«

»Na na, mein Kleines!«

»Ich möchte am ersten Oktober bei dir eintreten, und zwar möchte ich die gesamte Korrespondenz übernehmen.«

Lamprecht sandte einen fragenden Blick zu seiner Frau hinüber. Sie hatte sich bisher schweigend verhalten. Jetzt nickte sie unmerklich.

»Du willst also bei mir eintreten, Kind? Wird dir das aus die Dauer passen? Ich erkläre dir schon jetzt, daß bei mir gearbeitet wird.«

»Genau wie in Elberfeld und Barmen, Papa.«

»Wenn ich dich einstelle, dann hast du deine bestimmte Arbeitszeit und darfst früher nicht fortlaufen.«

»Ich habe ein Wort, das ist mein Lebensmotto und das heißt: Arbeiten und nicht verzweifeln. Ich verzweifle nicht, Papa!«

»Du willst also ins Kontor kommen?«

»Als Korrespondentin.«

»Nun sieh einmal an! Was mache ich dann mit Fräulein Willich?«

»Ach – die kann andere Arbeiten übernehmen. Die Geheimkorrespondenz mit den Firmen wegen Patentsachen, Musterschutz, Fabrikgeheimnissen, Aktien und dergleichen, übernehme ich.«

»Da dürftest du nicht allzuviel zu tun haben, liebes Kind. Wir sind weder eine Aktiengesellschaft noch ein Patentbüro, und Geheimkorrespondenzen habe ich überhaupt nicht. Du wirst dich mit Fräulein Willich in die Arbeit teilen, denn ich glaube nicht, daß deine Leistungen im Anfang gerade erstklassig sein werden.«

»Aber Papa!«

»Ich weiß das besser, meine liebe Angela. – Wenn es dein Ernst ist, drüben einzutreten, nun gut, so mag es geschehen. Aber ich mache mit dir keine Ausnahme, merke dir das. Du bist drüben genau so eine Angestellte meiner Fabrik wie alle anderen.«

»Ich will auch gar nichts anderes sein, Papa. Können wir nicht gleich den Kontrakt machen?«

Lamprecht hatte sich erhoben, er hatte jetzt Eile, hinüber in die Fabrik zu kommen. Zärtlich nahm er den Kopf seiner Tochter zwischen seine Hände.

»Also gut, mein liebes Kind, morgen vormittag, pünktlich zehn Uhr, ist der Herr Fabrikbesitzer Lamprecht für Fräulein Angela Lamprecht, die sich um eine Stelle bemüht, in seinem Privatkontor zu sprechen.«

Sie sprang an dem breitschultrigen Manne empor. Kein bißchen Würde war jetzt mehr an ihr.

»Au – fein, liebster Papa, ich komme!«

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