Annette von Droste-Hülshoff
Die Judenbuche
Ein Sittengemälde aus dem gebirgigen Westphalen
Annette von Droste-Hülshoff (1797 - 1848) war eine deutsche Schriftstellerin und Komponistin, die dem westfälischen Landadel entstammte. Berühmt wurde sie vor allem durch ihre Novelle „Die Judenbuche“ (1842) und ihre lyrischen Werke wie die Ballade „Der Knabe im Moor“ (1841). Als Kind und junge Frau erhielt Droste sowohl Klavier- als auch Gesangsunterricht. Ihre künstlerische Arbeit begann mit der Komposition von Liedern und Singspielen.
Annette von Droste-Hülshoff blieb unverheiratet und lebte bis zu ihrem Tod im Umkreis ihrer weitläufigen Familie. Reisen führten sie zu ihren Familienangehörigen ins Rheinland und an den Bodensee. Persönlichen und brieflichen Kontakt unterhielt sie mit einer Reihe von bekannten Personen ihrer Zeit, etwa den Brüdern Grimm, August Wilhelm Schlegel und dem Ehepaar Schumann.
Zeitlebens pflegte Annette von Droste-Hülshoff eine enge Beziehung zu ihrer älteren Schwester Jenny (1795 - 1859), von der sie sich als Mensch und Künstlerin in besonderem Maße verstanden fühlte. Jenny von Droste-Hülshoff lebte mit ihrer Familie in Meersburg am Bodensee, wo Annette von Droste-Hülshoff 1843 schließlich das sogenannte Fürstenhäusle erwarb, in dem sich heute das Droste-Museum befindet.
Annette von Droste-Hülshoff, die schon als Kind häufig kränkelte, starb am 24. Mai 1848 auf Schloss Meersburg an einer plötzlich auftretenden Krankheit.
„Friedrich, wohin?“, flüsterte der Alte. – „Ohm, seid Ihr’s? Ich will beichten gehen.“ – „Das dacht’ ich mir; geh’ in Gottes Namen, aber beichte wie ein guter Christ.“ – „Das will ich“, sagte Friedrich. – „Denk an die zehn Gebote: Du sollst kein Zeugnis ablegen gegen Deinen Nächsten.“ – „Kein falsches!“ „Nein, gar keines; Du bist schlecht unterrichtet; wer einen andern in der Beichte anklagt, der empfängt das Sakrament unwürdig.“
Drostes berühmte Erzählung, die 1842 veröffentlicht wurde, gehört seit vielen Jahren zum Kanon der schulischen „Zwangslektüre“ im Deutschunterricht. Auch wenn viele Ex-Schüler eher mit gemischten Gefühlen an ihre Unterrichtserfahrungen mit diesem Stoff zurückdenken, spricht doch viel für diese Entscheidung der verantwortlichen Kultusbürokratien.
Einerseits ist „Die Judenbuche“ nämlich zweifellos ein literarisches Meisterwerk, das – bei richtiger Heranführung und entsprechender Sensibilität des Lesers – erste Ahnungen von der besonderen ästhetischen Qualität dichterischer Werke vermitteln kann. Andererseits lässt sich der Text – falls dieser Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn im rauen schulischen Alltag nicht zu erzielen ist – auf vielfältigste Weise interpretierend „durchnehmen“ und zur Not auch als mäßig spannende Kriminalgeschichte lesen, was seine Brauchbarkeit für den pädagogischen Einsatz bei Heranwachsenden deutlich vereinfacht. Dann lassen sich problemlos mehrere Unterrichtseinheiten über die Frage abhalten, wer denn nun der Mörder beziehungsweise die Mörder gewesen sein könnten – und zumindest bei dieser Frage sollten dann auch Hinterbänkler fleißig mitspekulieren und gute Bewertungen für die mündliche Mitarbeit einsammeln können.
Doch auch wer diese Novelle über das Leben des Dörflers Friedrich Mergel aus freien Stücken im fortgeschrittenen Alter (wieder-)liest, kommt auf seine Kosten. Denn der Text geht eben nicht in seiner Orts- beziehungsweise Zeitgebundenheit – er spielt in einem Dorf des 18. Jahrhunderts – oder in den erzählten Kriminalfällen auf. Seine Lektüre wirkt nach – was zweifelsfrei der Meisterschaft der Autorin zu verdanken ist. Doch warum ist dies eigentlich so?
Paradoxerweise bietet gerade das Rätselpotential der vordergründigen Kriminalgeschichte hier einen wichtigen Hinweis. So wie bei der Frage nach dem Täter bleibt der fiktive Erzähler dem Leser in dieser Geschichte durchgehend eindeutige Antworten schuldig, gibt nur Indizien und überlässt dem Rezipienten die persönliche Deutungshoheit. Dieses Prinzip setzt sich auf vielen Ebenen fort. So wird etwa die „metaphysische“ Frage nach Schuld und Sühne ambivalent vorgestellt. Im einleitenden Gedicht heißt es: „Wo ist die Hand .... dass ohne Zittern sie den Stein Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?“, wodurch der Leser aufgefordert wird, die Schuldfrage im Sinne der neutestamentarischen Vergebungsethik („Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein“) zu beurteilen. Doch gleichzeitig spricht die Logik der erzählten Abläufe eine ganz andere Sprache. Hier kommt in der späten Erfüllung der Bauminschrift („Wenn Du Dich diesem Orte nahest, so wird es Dir ergehen, wie Du mir getan hast.“) das Gebot des alttestamentarischen Gottes („Auge um Auge, Zahn um Zahn) zu seinem Recht. Welche Deutung denn nun vorzunehmen sei, bleibt damit dem Leser überlassen.
Ähnliches gilt auch für Interpretationen, die sich primär auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft fokussieren. So beschreibt Droste zwar auf sublime Weise, wie sich die Persönlichkeit des Protagonisten dieser Erzählung durch Schicksalsschläge und den Einfluss der rückständigen Dorfgemeinschaft sowie seines kleinkriminellen Onkels formt. Ein Beispiel ist seine Außenseiterposition, die durch das unchristliche Leben und Ableben seines Vaters entsteht: „Friedrich musste von anderen Knaben vieles darüber hören; dann heulte er, schlug um sich, stach auch einmal mit seinem Messerchen und wurde bei dieser Gelegenheit jämmerlich geprügelt.“ Trotzdem gehen seine späteren Verfehlungen – wie etwa der todbringende Hinweis an den Förster – nicht komplett in seiner Sozialisation auf. Denn: „... in Friedrich lagen Eigenschaften, die dies nur zu sehr erleichterten: Leichtsinn, Erregbarkeit, und vor allem ein grenzenloser Hochmut ...“
Die Reihe an Ambivalenzen ließe sich leicht fortsetzen, etwa mit dem Verständnis von Natur, die einmal als Wirtschaftsfaktor und dann als magische Gerichtsstätte erscheint. Doch genau diese Unschärfe, dieses permanente Hin- und Herflimmern zwischen dokumentarischer Beschreibung eines historischen Vorfalls („Dies hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September des Jahrs 1788.“) und einer immer wieder angedeuteten höheren Sinnhaftigkeit der beschriebenen Vorgänge zwingt den Leser zur Interpretation, zur eigenen Stellungnahme gegenüber dieser Geschichte. Damit ist der Text sehr viel moderner und lesbarer, als man anfänglich vermuten könnte.
Um das Lesevergnügen nicht zu stören, bietet dieser Band der ofd edition „Die Judenbuche“ in aktueller Rechtschreibung. Außerdem wurde der historische Quelltext „Geschichte eines Algierer-Sklaven“ (1818), der Annette von Droste-Hülshoff als künstlerische Vorlage diente, in sprachlicher Originalfassung beigefügt. Dies erlaubt es interessierten Lesern, den Unterschieden zwischen der geschichtlichen Vorlage und seiner literarischen Bearbeitung direkt nachzugehen.
Wo ist die Hand so zart, dass ohne Irren
Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,
So fest, dass ohne Zittern sie den Stein
Mag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?
Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,
Zu wägen jedes Wort, das unvergessen
In junge Brust die zähen Wurzeln trieb,
Des Vorurteils geheimen Seelendieb?
Du Glücklicher, geboren und gehegt
Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,
Leg hin die Waagschal’, nimmer Dir erlaubt!
Lass ruhn den Stein – er trifft Dein eignes Haupt! –
Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers geringerer Klasse im Dorfe B., das, so schlecht gebaut und rauchig es sein mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage in der grünen Waldschlucht eines bedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebirges.
Das Ländchen, dem es angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heerstraßen, wo noch ein fremdes Gesicht Aufsehen erregte, und eine Reise von dreißig Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses seiner Gegend machte – kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen.
Unter höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten, oder vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene tat, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiten Gewissen verträglich schien, und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubigen Urkunden nachzuschlagen.
Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmütig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zu viel teure Erinnerungen blenden und der später Geborene sie nicht begreift. So viel darf man indessen behaupten, dass die Form schwächer, der Kern fester, Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer nach seiner Überzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann nie ganz zu Grunde gehen, wogegen nichts seelentötender wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch nehmen.
Ein Menschenschlag, unruhiger und unternehmender als alle seine Nachbarn, ließ in dem kleinen Staate, von dem wir reden, manches weit greller hervortreten als anderswo unter gleichen Umständen. Holz- und Jagdfrevel waren an der Tagesordnung, und bei den häufig vorfallenden Schlägereien hatte sich jeder selbst seines zerschlagenen Kopfes zu trösten. Da jedoch große und ergiebige Waldungen den Hauptreichtum des Landes ausmachten, ward allerdings scharf über die Forsten gewacht, aber weniger auf gesetzlichem Wege, als in stets erneuten Versuchen, Gewalt und List mit gleichen Waffen zu überbieten.
Das Dorf B. galt für die hochmütigste, schlauste und kühnste Gemeinde des ganzen Fürstentums. Seine Lage inmitten tiefer und stolzer Waldeinsamkeit mochte schon früh den angeborenen Starrsinn der Gemüter nähren; die Nähe eines Flusses, der in die See mündete und bedeckte Fahrzeuge trug, groß genug, um Schiffbauholz bequem und sicher außer Land zu führen, trug sehr dazu bei, die natürliche Kühnheit der Holzfrevler zu ermutigen, und der Umstand, dass alles umher von Förstern wimmelte, konnte hier nur aufregend wirken, da bei den häufig vorkommenden Scharmützeln der Vorteil meist auf Seiten der Bauern blieb.
Dreißig, vierzig Wagen zogen zugleich aus in den schönen Mondnächten, mit ungefähr doppelt so viel Mannschaft jedes Alters, vom halbwüchsigen Knaben bis zum siebzigjährigen Ortsvorsteher, der als erfahrener Leitbock den Zug mit gleich stolzem Bewusstsein anführte, als er seinen Sitz in der Gerichtsstube einnahm. Die Zurückgebliebenen horchten sorglos dem allmählichen Verhallen des Knarrens und Stoßens der Räder in den Hohlwegen und schliefen sacht weiter. Ein gelegentlicher Schuss, ein schwacher Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau oder Braut auffahren; kein anderer achtete darauf. Beim ersten Morgengrau kehrte der Zug ebenso schweigend heim, die Gesichter glühend wie Erz, hier und dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht in Betracht kam, und nach ein paar Stunden war die Umgegend voll von dem Missgeschick eines oder mehrerer Forstbeamten, die aus dem Walde getragen wurden, zerschlagen, mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit unfähig, ihrem Berufe nachzukommen.
In diesen Umgebungen ward Friedrich Mergel geboren, in einem Hause, das durch die stolze Zugabe eines Rauchfangs und minder kleiner Glasscheiben die Ansprüche seines Erbauers, so wie durch seine gegenwärtige Verkommenheit die kümmerlichen Umstände des jetzigen Besitzers bezeugte. Das frühere Geländer um Hof und Garten war einem vernachlässigten Zaune gewichen, das Dach schadhaft, fremdes Vieh weidete auf den Triften, fremdes Korn wuchs auf dem Acker zunächst am Hofe, und der Garten enthielt, außer ein paar holzigen Rosenstöcken aus besserer Zeit, mehr Unkraut als Kraut.
Freilich hatten Unglücksfälle manches hiervon herbeigeführt; doch war auch viel Unordnung und böse Wirtschaft im Spiel. Friedrichs Vater, der alte Hermann Mergel, war in seinem Junggesellenstande ein so genannter ordentlicher Säufer, das heißt einer, der nur an Sonn- und Festtagen in der Rinne lag und die Woche hindurch so manierlich war wie ein Anderer. So war denn auch seine Bewerbung um ein recht hübsches und wohlhabendes Mädchen ihm nicht erschwert. Auf der Hochzeit ging’s lustig zu. Mergel war gar nicht zu arg betrunken, und die Eltern der Braut gingen abends vergnügt heim; aber am nächsten Sonntage sah man die junge Frau schreiend und blutrünstig durchs Dorf zu den Ihrigen rennen, alle ihre guten Kleider und neues Hausgerät im Stich lassend.