Ernest Renan
Was ist eine Nation?
Qu‘est-ce que une nation ?
Ernest Renan wurde am 28. Februar 1823 in Tréguier in der Bretagne geboren.
Früh fiel Renan durch außergewöhnlich gute schulische Leistungen auf. Dies ermöglichte es ihm, bereits mit fünfzehn Jahren ein katholisches Seminar für angehende Priester in Paris zu besuchen. 1840 wechselte er an das Seminar von Issy und 1843 an das Grand Séminaire de Saint-Sulpice. 1844 erhielt er die niederen Weihen, verließ das Priesterseminar aber 1845, da ihm gravierende Zweifel an der historischen Wahrheit der Heiligen Schrift gekommen waren.
Ab Ende 1845 arbeitete Renan als Betreuer am katholischen Collège Stanislas in Paris und besuchte gleichzeitig das Collège de France, wo er sich insbesondere mit philologischen Fragen beschäftigte. 1847 erhielt er den Prix de Volney für seine Abhandlungen zur Geschichte der semitischen Sprachen. Kurz danach bestand er die Staatsprüfung in Philosophie und wurde Lehrer am Lycée de Vendôme in Paris.
1855 publizierte Renan eine historisch-systematische Konkordanz der semitischen Sprachen. Vier Jahre später wurde er als korrespondierendes Mitglied in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften wählte ihn 1860 zum auswärtigen Mitglied.
In den Jahren 1860 und 1861 besuchte Renan im Rahmen einer Forschungsreise den Nahen Osten und publizierte danach seine Ergebnisse in „La Mission de Phénice“ (2 Bände, 1864-74). Der erste Band seines achtbändigen Hauptwerks „Histoire des origines du Christianisme“ erschien 1863 unter dem Titel „Vie de Jésus“ (Das Leben Jesu). In diesem Werk nahm Renan die Ergebnisse der damaligen Leben-Jesu-Forschung in romanhafter Weise auf und versuchte, das Leben, die Gestalt und den Weg Jesu aus den antiken Umständen seiner Zeit heraus zu erklären und zu entmythologisieren.
Seine Berufung auf einen Lehrstuhl für orientalische Sprachen am Collège de France scheiterte 1862 an der kritischen Haltung des Pariser Bistums, das seine historisierende Sicht der Person Jesu bemängelte. Dennoch wurden innerhalb von nur sechs Monaten sechzigtausend Exemplare von „Das Leben Jesu“ verkauft.
1870 wurde Renan, der sich selbst nicht als Religionskritiker verstand, rehabilitiert und 1879 zum Mitglied der Académie française gewählt. Von 1883 bis zu seinem Tod im Jahre 1892 amtierte er als Leiter des Pariser Collège de France.
„Die Wahrheit ist, dass es keine reine Rasse gibt und dass man die Politik auf ein Trugbild ausrichtet, wenn man sie auf die ethnographische Analyse gründet. Die edelsten sind jene Länder – England, Frankreich, Italien – , bei denen das Blut am stärksten gemischt ist. Ist Deutschland in dieser Hinsicht eine Ausnahme? Ist es ein rein germanisches Land? Welche Illusion! Der ganze Süden war gallisch, der ganze Osten, von der Elbe an, ist slawisch. Und sind die Teile, die angeblich rein sind, es wirklich? Wir rühren hier an eines jener Probleme, über die man sich unbedingt klare Vorstellungen bilden und bei denen man Missverständnissen vorbeugen muss.“
“La vérité est qu’il n’y a pas de race pure et que faire reposer la politique sur l’analyse ethnographique, c’est la faire porter sur une chimère. Les plus nobles pays, l’Angleterre, la France, l’Italie, sont ceux où le sang est le plus mêlé. L’Allemagne fait-elle à cet égard une exception ? Est-elle un pays germanique pur ? Quelle illusion ! Tout le Sud a été gaulois. Tout l’Est, à partir d’Elbe, est slave. Et les parties que l’on prétend réellement pures le sont-elles en effet ? Nous touchons ici à un des problèmes sur lesquels il importe le plus de se faire des idées claires et de prévenir les malentendus.”
Wer bislang glaubte, dass sich im 21. Jahrhundert mit der fortschreitenden europäischen Integration und der Globalisierung die Frage nach dem Wesen des Nationalstaates erledigt habe, sieht sich heute recht unsanft mit der politischen Realität konfrontiert. Für viele Bürger und politische Akteure hat das Thema der „Nation“ mittlerweile wieder an Bedeutung gewonnen – nicht nur außerhalb Deutschlands. Dabei bleibt die öffentliche Diskussion dieses Themas meist sehr vage und dringt kaum zum Kern des Themas vor. Umso hilfreicher und interessanter kann in dieser Situation die Auseinandersetzung mit klassischen Texten sein, die diese Frage thematisieren.
Ein Beispiel ist der berühmte Vortrag „Was ist eine Nation?“ des französischen Gelehrten Ernest Renan, den er vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Spannungen um Elsass-Lothringen im Jahre 1882 in Paris hielt. Mit der gedanklichen Klarheit und Nüchternheit eines französischen Rationalisten seziert Renan wie bei einer Vivisektion seinen Gegenstand – im Kontrast zum chauvinistischen Patriotismus und zum nationalistischen Denken seiner Zeit, allerdings auch ohne den Versuch, die Komplexität des Themas – mit allen seinen seelisch-emotionalen Aspekten – in eine abstrakte Theoriebildung aufzulösen, wie es etwa der aktuelle „Verfassungspatriotismus“ versucht.
Renan ist ein liberal denkender Konservativer, der den Begriff und die politische Wirkungsmacht des Nationalen in einem subjektiven Prinzip begründet sieht. Dieses Prinzip findet er – quasi im Ausschlussverfahren – nachdem er die gängigen Erklärungen, die sich etwa an der Ethnografie, der Sprache, der Geographie oder der Religion orientieren, an der Wirklichkeit misst und diese Kriterien deshalb verwerfen muss. So seien etwa die großen europäischen Nationen rassisch völlig inhomogen und auch die Sprache – siehe das Beispiel der Schweiz – sei per se kein einheitsstiftendes Prinzip.
Nach Renan ist das Fundament einer Nation ein geistiges, nämlich das Vorhandensein von kollektiven Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart sowie die Erinnerung und Verarbeitung eines gemeinsamen Schicksals, das positive und negative Ereignisse umfasst. In diesem Sinne stifte eine Nation einen solidarischen Zusammenhalt, der dazu führe, den geschichtlichen Weg gemeinsam fortsetzen zu wollen. Dieser Wille könne metaphorisch als ein tägliches Plebiszit verstanden werden, das sich am republikanischen Prinzip (der Französischen Revolution) orientiert und die Volkssouveränität anerkennt. Allerdings war sich Renan auch der geschichtlichen Veränderlichkeit dieses subjektiven Prinzips bewusst, weshalb er für die Zukunft auch eine europäische Konföderation nicht grundsätzlich ausschloss.
Von aktueller Bedeutung sind Renans Ideen, weil auch heute Rassismus und Chauvinismus in der nationalen und internationalen Politik noch eine wichtige Rolle spielen. Gleichzeitig führt zum Beispiel der Zustrom von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen, die ganz andere individuelle und kollektive Erfahrungen gemacht haben, zu der Frage, wie ein auf dem Willen basierender Nationenbegriff durch Integration der Zuwanderer ein „tägliches Plebiszit“ zum Zusammenhalt am Leben erhalten kann.
Die Lektüre dieses Vortrags, die durch dieses E-Book besonders komfortabel wird, hilft beim besseren Verständnis der ideologischen Auseinandersetzungen um den Nationenbegriff. Die neue Übersetzung der ofd edition, der auch die französische Originalfassung beigefügt ist, erleichtert dies erheblich.
Vortrag an der Sorbonne, Paris, am 11. März 1882
Gemeinsam mit Ihnen möchte ich heute eine Idee untersuchen. Obwohl sie auf den ersten Blick klar zu sein scheint, kann diese Idee doch zu den gefährlichsten Missverständnissen führen. Die menschliche Gesellschaft zeigt sich in den unterschiedlichsten Formen: Die großen Ansammlungen von Menschen, etwa in China, Ägypten, dem ältesten Babylonien; die Stadtgesellschaften nach Art Athens und Spartas; die Vereinigungen verschiedener Länder in der Weise des Karolingischen Imperiums; die Gemeinschaften ohne eigenes Vaterland, die vom Band der Religion zusammengehalten werden, wie die Israeliten und die Parsen; die Nationen wie Frankreich, England und die meisten autonomen Staaten des modernen Europa; die Konföderationen nach Art der Schweiz und Amerikas; die Verwandtschaftsbeziehungen, die die Rasse oder, besser, die Sprache zwischen den verschiedenen Stämmen der Germanen, der Slawen stiftet – alle diese Gruppierungen gibt es oder hat es jedenfalls gegeben.
Man sollte sie allerdings nicht miteinander verwechseln, wenn man sich nicht die größten Schwierigkeiten einhandeln will. Zur Zeit der Französischen Revolution war man der Meinung, dass sich die Institutionen der kleinen, unabhängigen Städte auf unsere großen Nationen von dreißig bis vierzig Millionen Menschen übertragen ließen. Heute begeht man einen noch schwerer wiegenden Fehler: Man verwechselt die Rasse mit der Nation und spricht den ethnischen oder besser den sprachlichen Gruppen eine Souveränität nach dem Vorbild der wirklich existierenden Völker zu. Versuchen wir also einmal, über diese schwierigen Fragen nachzudenken, bei denen bereits die kleinste Unklarheit über den Sinn der Worte am Schluss zu den verhängnisvollsten Irrtümern führen kann. Was wir vorhaben, ist delikat. Dieses Vorhaben ähnelt fast einer Vivisektion; wir behandeln die Lebenden dabei so, wie man gewöhnlich die Toten behandelt. Wir werden mit Kälte und mit absoluter Unparteilichkeit an die Sache herangehen.
I.
Seit dem Ende des Römischen Reiches oder besser seit dem Zerfall des Reiches von Karl dem Großen erscheint das westliche Europa in Nationen aufgeteilt zu sein, von denen einige Nationen, in bestimmten Epochen, eine Vorherrschaft über die anderen Nationen anstrebten, ohne dass ihnen dies jemals dauerhaft gelang. Was Karl V., Ludwig XIV., Napoleon I. nicht fertigbrachten, wird wahrscheinlich auch in Zukunft niemandem gelingen. Ein neues Römisches Reich oder ein neues Karolingisches Reich zu errichten ist unmöglich geworden. Die Teilung Europas geht zu tief, als dass nicht der Versuch, eine übergreifende Herrschaft zu errichten, sehr schnell eine Koalition auf den Plan riefe, die diese ehrgeizige Nation in ihre Grenzen zurückweisen würde.