Für Kai

Für Bootsbaumeister Kai, in dessen Werkstatt immer so schöne Dinge entstehen und mit dem man so gut Seemannsgarn spinnen kann

Die Tote am Mast (hochdeutsch)


Die Fundsache

Nun hatten sie es fast geschafft: Der rote Felsen lag vor ihnen. Nach einem langen Törn von Föhr freute sich die Besatzung der Sommerwind auf das Einlaufbier im Helgoländer Südhafen. Die Freunde Fred und Thorsten waren bei bestem Wetter zum letzten Törn in diesem Jahr aufgebrochen. Die Seebäderschiffe in Richtung Büsum waren ihnen schon entgegengekommen. Damit würde die Insel relativ leer sein.

So spät im Oktober waren nur noch wenige Boote unterwegs. Die meisten waren schon im Winterlager. Daher waren die Segler nicht überrascht, nur ein einziges Boot im Hafen zu sehen, als sie die Mole umrundeten. Es war die Dunja aus Büsum, eine Segelyacht, die ganzjährig im Wasser blieb.

Fred und Thorsten mochten Tamme, den Eigner der Dunja, gern. Allerdings hofften sie, dass er allein oder zumindest nur mit Freunden und ohne seine Lebensgefährtin Hedwig unterwegs war.

Hedwig war immer schlecht gelaunt und schaffte es, jedes Treffen zu torpedieren. Wenn sie mit an Bord war, würde sie Besuch schnell von der Dunja vertreiben und Tamme dürfte auch nicht lange zu ihnen rüberkommen. Oder wenn er es täte, würde Hedwig nach kurzer Zeit keifend vor ihnen stehen und Tamme zu sich aufs Boot zurückrufen.

Viele fragten sich, was Tamme bei Hedwig hielt, denn niemals hatte man sie je lachen gesehen.

Niemand wusste, wer sie war und woher sie kam. Es war, als sei sie vom Himmel gefallen. Irgendwann war sie in Büsum aufgetaucht, hatte angefangen bei der Seehundstation in Friedrichskoog zu arbeiten. Kurz danach war sie mit Tamme zusammen.

Tamme machte schon seit Jahren keinen glücklichen Eindruck mehr, aber irgendetwas hielt ihn bei dieser Frau.

Der Hafenmeister hatte ihnen über Funk den Liegeplatz hinter der Dunja zugeteilt. Also würden sie bald wissen, wer dort an Bord war.

Als sie näherkamen, wunderten sie sich über den Mast der Dunja. Es schien, als baumelte dort ein Sack. Kurz bevor sie den Liegeplatz erreicht hatten, schrie Fred vor Entsetzen auf:

„Da hängt ein Mensch am Mast!“

Schnell machten sie das Boot fest und Thorsten sah genauer hin. Tatsächlich! Er nahm das Fernglas, um mehr zu sehen: Eine Frau hing dort mit einer Leine um den Hals. Sie schien tot zu sein.

„Ruf den Rettungsdienst mit Deinem Handy!“, rief er Fred zu. „Ich funkte den Hafenmeister an.“

Ein Arzt war schnell zur Stelle. Er konnte allerdings nur noch den Tod der Frau feststellen. Sie war vermutlich einige Stunden zuvor gestorben, erhängt am Großfall.

Wer war sie? Fred und Thorsten kannten sie nicht. Auch der Hafenmeister konnte sich nicht daran erinnern, sie auf einem Schiff im Hafen gesehen zu haben.

Wo war Tamme?

Mörderkind – 1976

Was hatte sie getan, dass sie mit so einem Kind gestraft wurde? Mascha war verzweifelt. Sie war kurzfristig in die Schule bestellt worden. Der Schulleiter wollte mit ihr sprechen. Was hatte Ruslana nun wieder angestellt? Sie war ein schreckliches Kind.

Vielleicht hätte sie auf ihre Großmutter hören und das Kind abtreiben lassen sollen. Nein, so etwas sollte sie über ihre Tochter nicht denken, schalt sie sich. Sie war froh, das Kind zu haben. Es würde ihr einziges bleiben, denn nach der schweren Geburt würde sie keine Kinder mehr bekommen können, hatte der Arzt ihr gesagt.

Und deshalb hätte sie bei der Wahl des Vaters besser aufpassen sollen, schalt Großmutter sie immer, wenn Mascha mit ihrem Schicksal haderte.

Sie war jung gewesen. Ruslan sah gut aus, als sie ihn zum ersten Mal auf dem Markt traf. Er kam nicht aus der Gegend, war als Soldat in der Kaserne im Ort untergebracht. Sie verabredeten sich an einem warmen Frühlingsabend zum Spaziergang. Mascha war glücklich: Zum ersten Mal in ihrem Leben interessierte sich ein Mann für sie – und dann noch ein so gutaussehender. Ihre Klassenkameradinnen waren längst verheiratet, doch Mascha war noch immer allein. Der riesige Leberfleck in ihrem Gesicht schreckte alle ab. Ruslan brachte Blumen mit, war freundlich zu ihr, machte ihr Komplimente.

Mascha war so glücklich und so überrumpelt von ihren Gefühlen, dass sie alles zuließ, was Ruslan von ihr wollte. Als sie sich trennten und für die darauffolgende Woche wieder verabredeten, war sie keine Jungfrau mehr.

In der nächsten Woche wartete Mascha vergeblich. Ruslan kam nicht. Wieder und wieder ging sie zum vereinbarten Treffpunkt, schlich in der Nähe der Kaserne herum, in der Hoffnung, ihn zufällig zu treffen. Doch er tauchte nicht wieder auf.

Sie war verzweifelt, ließ sich gehen und stopfte alle Süßigkeiten in sich hinein, die sie nur finden konnte. Dabei wurde sie dicker und dicker. Irgendwann musste sie feststellen, dass es nicht nur der Zucker war, der ihren Bauch so dick machte. Da war sie bereits im siebten Monat schwanger.

Die Familie riet ihr, das Kind trotzdem wegmachen zu lassen oder es zumindest zur Adoption freizugeben statt es ohne Vater aufzuziehen, doch Mascha wollte ihr Kind behalten. Sie fürchtete sich davor, dass sie wegen des Leberflecks keinen Mann mehr finden würde und damit auch keine weiteren Kinder bekommen könnte.

Als die Kleine da war, nannte Mascha sie nach ihrem Vater, da sie offensichtlich das gute Aussehen von ihm geerbt hatte. Von Maschas Leberfleck war sie glücklicherweise im Gesicht verschont geblieben. Nur auf dem Rücken hatte sie einen Leberfleck mit einer seltsamen Form: Es war ein gleichmäßiger fünfzackiger Stern, dessen Spitze nach unten zeigte.

Mascha suchte weiter nach dem Vater, hoffte, dass Ruslan nach Ende seiner Militärzeit wieder zu ihr finden würde, sich an sie erinnerte.

Ruslana war ein schwieriges Kind. Sie hatte schon als Baby eine unbezähmbare Zerstörungswut. Im Kindergarten schlug und quälte sie die anderen Kinder. Mascha wechselte bei der Erziehung zwischen Freundlichkeit und Strafen, doch nichts von dem änderte das Verhalten ihrer Tochter.

An Ruslanas viertem Geburtstag erhielt Mascha endlich Informationen über den Vater. Ruslan war wegen Mordes an mehreren Frauen verurteilt und hingerichtet worden.

„Nun weißt Du, woher das Kind den schlechten Charakter hat“, sagte die Großmutter bevor sie ins Bett ging. Am nächsten Morgen wachte sie nicht mehr auf. Mascha hielt zu ihrer Tochter, doch es fiel ihr immer schwerer, sie zu lieben.

Sie hatte gehofft, dass die Schule Ruslana ändern würde, doch seit der Einschulung musste sich Mascha mindestens in jeder zweiten Woche anhören, was ihr Kind wieder angestellt hatte.

Heute musste etwas Schwerwiegendes geschehen sein. Als Mascha das Büro des Schulleiters betrat, warteten dort mehrere Polizisten und ein Mann in einer hochdekorierten Uniform auf sie. Mascha erschrak.

Der Schulleiter ging mit ernstem Gesicht auf Mascha zu.

„Es hat eine Tote gegeben“, sagte er.

Weinend brach Mascha zusammen.

„Mein Kind! Was ist passiert? Wie ist sie gestorben?“

„Sie wurde kaltblütig ermordet.“

Der Schulleiter machte eine Pause.

„Die Lehrerin meine ich.“

Verwirrt sah Mascha ihn an.

„Ihre Tochter hat eine Lehrerin dieser Schule ermordet. Es war warm heute. Die Lehrerin hatte einen Schwindelanfall. Ruslana erbot sich, ihr ein Glas Wasser zu holen. Kurz nachdem die Lehrerin getrunken hatte, brach sie schreiend vor Schmerzen zusammen. Der Arzt konnte sie nicht mehr retten. Ruslana hat ihr zerstoßenes Glas in das Wasser gemischt.“

„Das ist nicht wahr“, stammelte Mascha.

„Sie hat es bereits zugegeben und ist stolz darauf“, sagte der Mann in der Uniform.

Mascha wurde ohnmächtig.

Als sie wieder zu sich kam, schaute der Schulleiter sie mitleidig an: „Ruslana ist schon weg. Es wurde beschlossen, sie in einem Heim für schwer erziehbare Kinder unterzubringen. Sie werden sie in Zukunft nie wiedersehen. Suchen Sie nicht nach ihr. Ihre Tochter wird einen neuen Namen bekommen, damit Sie sie nicht finden. Aber glauben Sie mir – es ist besser für alle.“

Weg aus der Enge

Lange Zeit war Rixa nicht in Deutschland gewesen. Anders als ihre Klassenkameradinnen hatte sie nach der Schule nicht sofort geheiratet oder eine Ausbildung in der Region gemacht. Ihre Eltern ließen zwar nicht zu, dass sie Abitur machte, aber sie schaffte es trotzdem, sich ihre Träume zu erfüllen.

Entsprechend der Vorgabe ihrer Eltern suchte sie in der zehnten Klasse nach einem Ausbildungsplatz in der Region, schreib aber auch heimlich Bewerbungen in andere Bundesländer, um zumindest den Ausbildungsplatz zu bekommen, den sie sich wünschte und um nicht den nehmen zu müssen, den ihr Vater für sie vorgesehen hatte.

Es klappte: Ihr Vater wollte sie bei der örtlichen Sparkasse als Auszubildende unterbringen und hatte auch schon mit seinem Nachbarn, der die Zweigstelle leitete, alles geregelt. Rixa sollte nur noch formal eine Bewerbung schreiben, dann ein Vorstellungsgespräch machen und würde die Stelle bekommen, wenn sie im Vorstellungsgespräch nicht komplett versagte.

Da Rixas Vater die Dickköpfigkeit seiner Tochter fürchtete, hatte er sicherheitshalber die Bewerbung selbst geschrieben und die Unterschrift seiner Tochter gefälscht, bevor er die Bewerbung persönlich im Büro seines Nachbarn abgab. Kurz darauf kam die Einladung zum Vorstellungsgespräch. Es schien alles in seinem Sinne zu laufen.