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DENNIS DIEL

Schlage bitte weiter, Kämpferherz!

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Originalausgabe

© 2021 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

Alle Rechte vorbehalten

Vertrieb für den Buchhandel

Privatkunden und Mailorder

Lektorat

ISBN

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Der Vogel kämpft sich aus dem Ei.

Das Ei ist die Welt.

Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören.

Hermann Hesse

Vom Vater hab’ ich die Statur,

des Lebens ernstes Führen,
vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.
Urahnherr war der Schönsten hold,
das spukt so hin und wieder;
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,
das zuckt wohl durch die Glieder.
Sind nun die Elemente nicht
aus dem Komplex zu trennen,
was ist dann an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?

Johann Wolfgang von Goethe

Inhalt

Vorwort

Kamp-Lintfort zur Zeit des ersten Lockdowns

Das Erwachen der Angst

„Erfahrungen vererben sich nicht – jeder muss sie allein machen“ (Kurt Tucholsky)

„Der Friede beginnt im eigenen Haus“ (Karl Jaspers)

„Zeig die Narben her, nichts war verkehrt. Nachts ist jeder See ein schwarzes Meer“ (Prinz Pi, „Brandenburg“)

„Am interessantesten ist die Innenseite der Außenseiter“ (Jean Genet)

Inschrift auf dem Grabstein eines Hypochonders: Glaubt ihr mir jetzt? (Unbekannt)

„Wenn Sie gerne ein Teenager wären, stimmt etwas mit Ihnen nicht“ (Stephen King)

„Ich hab die Schule mit jeder Faser gehasst“ (Broilers, „Die Beste aller Zeiten“)

„Fühl mich dort fremd, wo mein Zuhause ist. Ob’s wieder besser wird, glaub ich nicht“ (Wincent Weiss, „Frische Luft“)

„Wahnsinn schafft kein Recht“ (Jean-Jacques Rousseau)

„Mut ist Feuer, Mobbing ist Rauch.“ (Benjamin Disraeli)

„Rock and Roll: Wenn deine Eltern ihn nicht mögen, dann ist er gut“ (Lemmy Kilmister)

„… Oh dass sie ewig grünen bliebe, die schöne Zeit der jungen Liebe“ (Friedrich Schiller)

„Ein Vater allein fühlt den Respekt, den man einem Vater schuldig ist“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Quo vadis, Corona?

„Wenn die First Base küssen war und der Homerun Sex, dann saß ich noch in der Kabine und band meine Schuhe“ (Benedict Wells, „Hard Land“)

„Jugend, das ist vor allem das Übergewicht der Hormone über Argumente“ (David Frost)

„Wenn du erwachsen wirst, stirbt dein Herz“ (The Breakfast Club)

„Das Schicksal lauert immer gleich um die Ecke – wie ein Dieb, eine Nutte oder ein Losverkäufer, seine drei trivialsten Verkörperungen. Hausbesuche macht es hingegen keine. Man muss sich schon zu ihm bemühen“ (Carlos Ruiz Zafon, Der Schatten des Windes)

„Was keiner weiß, ich sitz gern bequem, wenn andere Leute untergeh’n“ (Daniel Wirtz, „Der erste Stein“)

„Wir sind Konsumenten. Wir sind Abfallprodukte der allgemeinen Lifestyle-Obsessionen“ (Tyler Durden in Fight Club)

„’cause we’ve got nothing else to do, London Skinhead Crew, scars, tattoos, crombie coats, full of trouble“ (Booze & Glory, „London Skinhead Crew“)

„Non serviam – ich werde nicht dienen“ (Luzifer)

„Kein Toter ist so tief begraben wie eine erloschene Leidenschaft“ (Marie von Ebner-Eschenbach)

Aragorn: „Fürchtest du dich?“ Frodo: „Ja.“ Aragorn: „Du fürchtest dich noch nicht genug.“ (J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe)

„Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es auch noch nicht das Ende“ (Sprichwort)

Das Erwachen der Macht

Danksagungen

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Der Autor

Dennis Diel wurde 1982 in Moers am Niederrhein geboren und schreibt seit frühester Jugend.

Der gelernte Kaufmann für audiovisuelle Medien arbeitet hauptberuflich in der Firma der erfolgreichen deutschen Hardrock-Band Böhse Onkelz, für deren Gitarristen und Co-Songwriter, Matthias „Gonzo“ Roehr, Diel 2019 die Biografie Gonzo schrieb, die aus dem Stand auf Platz zwei der Spiegel Bestsellerliste eingestiegen ist.

Schlage bitte weiter, Kämpferherz! ist Diels zweites Buch und zugleich das persönlichste, das er jemals schreiben wird. Derzeit arbeitet er an seinem ersten großen Roman, einer Horrorgeschichte, die 2022 erscheinen soll.

Dennis Diel lebt, zusammen mit seiner Ehefrau und zwei Bulldoggen, am beschaulichen Niederrhein.

www.dennisdiel.de

Vorwort

Alles ist geschrieben. Der Anfang, der Mittelteil, das Ende. Diese Geschichte, die vor dir liegt, ist eine, die ich schreiben musste. Sie wollte raus, und das dringend. Ich hatte nie das Bedürfnis, mich wildfremden Menschen derart mitzuteilen oder einen solchen Seelenstriptease hinzulegen, wie ich es mit Schlage bitte weiter, Kämpferherz! mache, und doch ziehe ich mich auf den folgenden Seiten aus. Bis auf die Knochen.

Vielleicht, das wäre ein Traum, können sich Leserinnen und Leser etwas aus meinem Erlebten herausziehen. Kraft womöglich. Inspiration. Alles denkbar und wünschenswert. Ich selbst nutzte die Arbeit an diesem Buch, die sich über eineinhalb Jahre hinzog, dazu, mir all den Ballast von der Seele zu schreiben, der jahrzehntelang tonnenschwer auf ihr lag. Und ich stellte während der Arbeiten fest, wie einfach alles von der Hand ging. Das Buch schrieb sich nicht von allein, keines tut das, aber die Angst, ich könne irgendwie blockieren oder würde mich wegen der Offenheit, die ich an den Tag lege, schlechtfühlen, stellte sich nicht ein.

Dennoch gab es Phasen, manche monatelang, in denen ich kein einziges Wort zu Papier brachte. Meistens hatten diese Intervalle etwas mit der Corona-Pandemie zu tun. Ich war müde und sorgenvoll, manchmal auch nur sorgenvoll müde. Corona wird ein Thema sein, seid davor gewarnt. Wenn ihr dieses Wort nicht mehr lesen könnt, weil es euren Alltag genauso wie meinen bestimmt, blättert diese Kapitel ruhig weiter. Sie sind nicht lang. Dennoch waren sie mir wichtig, weil sie immer auch Einblick in meinen Ist-Zustand gaben.

Dieses Buch behandelt viele triggernde Themen. Wer an Angststörungen, speziell an Hypochondrie oder generalisierter Angst, leidet, sollte das vor der Lektüre wissen. Genauso ist psychische und physische Gewalt ein Thema, ebenso Schulmobbing. Diese Geschichte behandelt Probleme, ist aber keine problematische Geschichte. Sie handelt von Freundschaften. Davon, wie wichtig mir jene waren und immer sein werden.

Oft werde ich von Mama und Papa erzählen. Und manchmal wird man sich dabei erwischen, wie man denkt: „Wie konnte das alles passieren?“ Es ist okay.

Genauso okay ist es, dass ich direkt vorwegnehme, dass das Verhältnis zu Harald und Iris Diel ein anderes, besseres, ist als in jenen Jahren, die hier zum Großteil abgehandelt werden. Ich liebe euch, Ma und Dad. Ich weiß, dass ihr das hier lesen werdet. Und auch, dass ihr wisst, dass ich euch immer liebte, selbst in Zeiten, in denen wir einander nicht viel mehr als Unverständnis entgegenbrachten. Ihr behaltet euer Gesicht, das war mir wichtig. Ich verstehe, warum die Dinge so passiert sind, und dieses Buch ist meine Bitte an diese Erinnerungen, die mich lange genug quälten, zu ruhen. Vor zehn Jahren wäre ich nicht in der Lage gewesen, das hier zu schreiben. Alles. Ab einem gewissen Punkt im Jahr 1997 hätte ich aufhören müssen, weil die Emotionen hochgekocht wären. Das war jetzt nicht der Fall. Ich schrieb.

Und es fühlte sich befreiend an.

Meine Ängste werden thematisiert. Genauso die von Ma. Und die meines Vaters und unseres Umfelds.

Stephan Weidner, der eine nicht unwichtige Rolle in meinem Leben spielt, textete einmal einen Song über „einen, der auszog, die Angst zu besiegen“. Ein grandioses Lied, eine Zustandsbeschreibung. Darin findet sich auch die Textstelle wieder: „Es kostet Kraft, Kraft zu sein“. Damals, 2008, als das Lied erschien, wusste ich nicht, was das zu bedeuten hatte. Die erste Panikattacke lag fünf Jahre zurück, und auch ansonsten musste ich nicht kämpfen. Mein Leben dümpelte gewissermaßen ein bisschen vor sich hin.

Vier Jahre später sah das anders aus. Ab dieser Zeit leuchtete die Bedeutung dieser Worte scharlachrot vor mir auf und mir wurde klar, dass diese Kraft, die man aufbringen musste, um gegen die Angst zu kämpfen, keine war, die sich von allein regenerierte. Jede Schlacht, die man gegen sie führte, war eine, die an einem zehrt.

Niemand wird jemals wirklich ausziehen und die Angst besiegen. Aber der Versuch ist es, der wertvoll ist. Der Weg zu ihr hin, in dieses dunkle Schloss, bis hinauf in ihren Saal, in dem sie auf einem schwarzen Thron hockt und auf dich gewartet hat, ist jede Mühe wert. Dieser Weg ist das Ziel. Die Angst als deine Freundin zu sehen, nicht als Feind. Das raubt ihr die Kraft, macht sie weniger schrecklich, und dich ermächtigt es.

Das Erwachen der Macht. Ein wahrhaft epischer Moment, wenn du begreifst, dass Angst trotz aller Masken, die sie trägt, nur eines ist: ein verdammtes Gefühl.

Dennis Diel im Juli 2021

Kamp-Lintfort zur Zeit des ersten Lockdowns

Diese Seiten des Werkes entstehen „live“ unter den Eindrücken einer veränderten Welt. Es sind die Worte eines Mannes im mittleren Alter, der darauf hofft, dass er und seine Familie von der Epidemie verschont bleiben. Heute wurde verkündet, dass es ab kommender Woche Lockerungen der bislang getroffenen Maßnahmen geben wird. Mittel, die zum Zweck haben, die Ausbreitung der Covid-19-Krankheit, die durch einen neuen Stamm unbekannter Corona-Viren ausgelöst wurde, einzudämmen. Kontaktsperren. Ladenschließungen. Mindestabstände zwischen Menschen. Mindestens eineinhalb Meter, bitte. Besser gleich zwei.

Alte Frauen und Männer in Pflegeheimen, die dort im wahrsten Sinne des Wortes eingesperrt sind und keinerlei Besuche mehr empfangen dürfen. Nicht mal von den eigenen Kindern. Es sind grauenhafte Szenen, die sich in diesen Betreuungseinrichtungen abspielen, und das nicht nur in Deutschland, sondern in Europa. Heime, in denen das Virus grassiert und reihenweise Menschen im letzten Lebensdrittel den Atem stiehlt. Ohne Möglichkeit, den allerletzten Gang mit den Personen zu beschreiten, die sie lieben und seit Wochen so schmerzlich vermissen. Was für ein Wahnsinn. Keine Vorstellung reicht aus, um mir auszumalen, was mit meinen Eltern passieren wird, wenn sie sich infizieren. Sie leben nicht im Altersheim, aber mein Vater benötigt schon Pflege, er ist einundsiebzig, Ma ist fünfundsechzig. Lieber Gott, lass diesen Kelch an uns vorüberziehen!

Ich bin guter Dinge, dass es Ende des Jahres mehrere Wörter zu den Unwörtern 2020 schaffen werden: Hamsterkäufe! Systemrelevant! Corona-Partys! Corona-Diktatur! Social Distancing! Erkläre mir bitte jemand, warum unsere Spezies es in einer laufenden Jahrhundertpandemie für überlebenswichtig gehalten hat, kistenweise Klopapier zu horten?

Obwohl es Hinweise darauf gibt, dass der Lockdown, das komplette Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens, einen Erfolg erzwungen hat, kann sich niemand sicher sein, wie die Welt an dem Tag aussieht, an dem du dieses Buch lesen wirst. Ich hoffe, sie wird sich zum Besseren hin verändert haben. Dass sie nicht mehr dieselbe ist, die sie vor der Pandemie mit dem Coronavirus war, steht außer Frage.

„Was bezweckt dieses Buch?“, höre ich die Leute heute schon fragen.

Ich glaube, dass meine persönliche Biografie Menschen helfen wird, mit ihren Makeln zu leben. Sie zu akzeptieren und an ihnen zu wachsen. Das klingt ein bisschen eitel und so, als sei mein eigener Werdegang derart wichtig, dass andere daraus Schlüsse ziehen könnten. Vermutlich ist es die Krux eines Autors, nicht gänzlich uneitel zu sein. Das teilt meine Gattung mit allen Kreativen, die aus dem Nichts heraus etwas erschaffen. Aufgeblasenere Menschen würden das Kunst nennen. Ich bin kein Künstler, sondern ein Mann, dessen bescheidene Begabungen darin liegen, Worte so aneinanderzureihen, dass einige wenige Leser in ihnen etwas erkennen: sich selbst, vermutlich. Negative Kommentare, die es bei Erscheinen meines ersten Buches gab, ließen mich irritiert und angefressen zurück. Der Zweifel ist der kleine Bruder der Angst. Der, der nicht die Stärke des Großen hat, aber genauso nervt, wenn man ihn nicht beachtet. Ich zweifle oft.

Ich glaube, dass die Wahrheit eines jeden Menschen das ist, was er erlebt hat. Die Summe all der Erfahrungen, die sich im Laufe von vielen Jahren angesammelt haben und die (im Guten und im Schlechten) dazu beigetragen haben, dass du hasst und liebst.

Narben waren notwendig, um mich zu dem werden zu lassen, der ich heute bin. Aber auch Liebe, Verständnis und Mitgefühl. Überhaupt wird unsere menschlichste Fähigkeit, mit anderen mitzuleiden oder sich mitzufreuen, eine zentrale Rolle in diesem Buch spielen. Genau wie die Hürden des Lebens, die manchmal unüberwindbar scheinen, um dann auf die ein oder andere Art übersprungen zu werden. Im Gegensatz zu manchen Böcken im Sportunterricht.

Ein Weg, der eben klar vor einem lag, wird mit tiefen Rissen durchzogen, die man allzu leicht übersieht, außer du weißt, wo sie zu finden sind. In diesem Buch werden einige Wege beschrieben und viele davon führten in die Finsternis.

Eine Gemengelage aus Unsicherheit, Dummheit, Verantwortungslosigkeit, Fake News und Profilierungssucht haben dazu geführt, dass aus großem Vertrauen in die Wissenschaft und Politik immer prächtiger gedeihende Skepsis wurde. Mich beunruhigen all diese Sorglosigkeiten, die dafür sorgen könnten, dass die Infektionswelle wieder zuschlägt.

Unsicherheit bei der Bevölkerung, die aus verständlichen Gründen nicht mehr weiß, wem sie glauben oder wessen Wissen schaffenden Hirnen sie vertrauen soll, sind der Nährboden der Verschwörungstheoretiker, von Ken FM bis zum Reichsbürger, vom besorgten Familienvater bis zum gewaltbereiten Radikalen, der sich seiner Freiheitsrechte beraubt sieht. Zuerst war der Mund- und Nasenschutz, die Maske, mit der wir alle herumrennen, als nicht zweckdienlich verpönt. „Die schützt bestenfalls andere vor einer Ansteckung, wenn der Maskenträger erkrankt ist, aber niemals den Träger selbst“, war das gültige Narrativ, das vom Robert-Koch-Institut, von führenden Politikern und Virologen ausgegeben wurde. Ein paar Wochen später, mitten im Lockdown, empfahl die Bundeskanzlerin dann dringend, Masken im öffentlichen Raum zu tragen, und nur einige Tage nach dieser eindringlichen Empfehlung kam sodann die Pflicht.

Ein großes Raunen war zu vernehmen. Und jetzt nicht länger hinter vorgehaltener Hand (die war nicht mehr nötig, der Maske sei Dank), sondern unter einem Stück Stoff. Und dort wurde das immer lauter werdende Gemurmel hörbar, „dass die Regierung ja nicht mehr alle Tassen im Schrank haben könne. Wissen die überhaupt, was sie tun? Was sie uns antun?“ Dass derartig schwammiges, nicht einheitliches Gebaren wenig souverän erscheint und genauso von der Bevölkerung wahrgenommen wird, hätte jedem verantwortlichen Politiker und Wissenschaftler einleuchten müssen.

Dann folgte der Lockerungswahn. Was Mitte März 2020 all diese rigorosen Eingriffe in unsere wichtigsten freiheitlichen Grundpfeiler nötig machte, ist einer Orgie aus Lockerungen, Verharmlosungen und falsch verstandener Wirtschaftssolidarität gewichen, die jedes Augenmaß für den richtigen, verantwortlichen Umgang mit der Ökonomie und den Schäden, die ihr zugefügt wurden, verloren hat. Ich bin beunruhigt und gespannt, wohin uns diese Reise führen wird. Wo werden wir in einem Monat sein? Wo in ein, zwei Jahren? Wie viele Menschenleben werden aufs Spiel gesetzt, damit die Wirtschaft nicht vor die Hunde geht? Wie hoch ist der Preis, den wir alle zahlen werden?

Dieses Buch, das zu einem nicht geringen Prozentsatz zugleich eine biografische Geschichte ist, wird nicht von Corona handeln. Das wäre angesichts der Dramatik und Dynamik dieser Pandemie anmaßend und unerhört. Ein zentrales Thema, und deshalb dieser Einschub über das Virus, wird aber Angst sein. Pathologische Panik.

Um mit einem aus dem Kontext gerissenen und leicht abgeänderten Zitat von Luke Skywalker meine eigene Familiengeschichte zu beschreiben: „Meine Mutter hat sie. Ich habe sie. Ja, vielleicht hat sie sogar meine Schwester.“

Mit der Angst ist das so eine Sache. Begegnest du einem Feind auf offener Straße oder in einer menschenleeren Tiefgarage und er will dir ans Leder, wird Furcht das eigene Leben retten. Sie beschleunigt deinen Herzschlag und stellt dich mental auf Flucht, andernfalls Kampf ein. Und egal, ob du dich dafür entscheidest, wegzurennen oder stehen zu bleiben: Das Gefühl wird, wenn du Pech hast, wiederkehren und vermutlich nie wieder loslassen. Vorausgesetzt, du bist vor deinem Angreifer geflohen oder hast ihm, in bester Chuck-Norris-Manier, einen Roundhouse-Kick ins Gesicht verpasst. Fest steht: Nach der erfolgreichen Überwindung der Situation wird es dir besser gehen. Bleibst du dein Leben lang vor einer Angsterkrankung verschont, wird das Gefühl der Panik schwinden. Es sucht dich nicht heim, während du im Kino sitzt und vorhast, in aller Ruhe die neueste Star-Wars-Episode zu gucken. Der Schrecken wird dich nicht überfallen, wenn du schläfst oder deinen Partner liebst. Im Gegenteil. Du wirst den beschleunigten Herzschlag beim Sex mögen und ihm keinerlei bedrohliche Eigenschaften zusprechen. Das Gefühl der Enge, als ob ein tonnenschwerer Elefant auf deinem Brustkorb sitzt, wirst du allerhöchstens kennenlernen, wenn du Asthmatiker bist und sich deine Notfallmedikation nicht in deiner Nähe befindet. Oder dann, wenn du – Gott bewahre – einen Herzinfarkt bekommst.

Diese flüchtigen Momente der Angst und Ungewissheit, der Verzweiflung und des inneren und äußeren Hilfeschreis, sind bei Panikpatienten Alltag. Das Gehirn und die Amygdala darin unterscheiden nicht, ob eine Situation bedrohlich ist oder ob es sich um einen harmlosen Erregungszustand handelt, der aber von deinem vegetativen Nervensystem als Kampf um Leben und Tod gewertet wird. Eine Zugfahrt, genauso wie das Stehen am Gleis im Bahnhof, wird zur Bewährungsprobe für Nerven und Mut. Eine Reise im Flugzeug ist für viele Menschen mit einer Angststörung nahezu unvorstellbar. Überhaupt: Es ist nicht einfach, nachzuvollziehen, warum bei einigen Angst und Panik einen derart breiten Platz in deren Leben einnimmt und bei anderen diese Gefühle wiederum eliminiert zu sein scheinen.

Und derjenige, der diese Zeilen in die Tastatur hämmert, ist ebenfalls ein Betroffener. Überraschung? Vermutlich eher weniger, sonst hättet ihr, verehrte Leserinnen und Leser, kaum zu diesem Buch gegriffen, den Klappentext studiert, es zur Kasse gebracht und gekauft.

Wir zwei, du und ich, sind einen Deal eingegangen.

Von dem Offensichtlichen, dass du mein Buch erworben und jetzt eine gewisse Erwartungshaltung diesem und mir gegenüber hast, abgesehen: Der eigentliche Deal ist, dass wir miteinander tanzen werden. Der Tanz wird kein Walzer oder Salsa sein. Es ist der Angstfandango. Legen wir eine schick-schockende Sohle aufs Parkett. Zusammen.

Das Erwachen der Angst

Während ich diese Worte schreibe, ist es ein wunderschöner Aprilnachmittag im Frühling 2020. Zwanzig Grad, ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel. Ich sitze auf der Terrasse meiner Wohnung im beschaulichen Kamp-Lintfort, höre den Vögeln beim Zwitschern zu, sortiere Gedanken und trinke Wasser. Ursprünglich schrieb ich, dass ein Glas Rotwein darauf wartet, degustiert zu werden, aber mein Entschluss, die ganze weite Strecke des Buches über bei der Wahrheit zu bleiben, sollte nicht schon auf den ersten Seiten Risse bekommen. Das Leben ist gewissermaßen gut. Von Corona und der Angst vor dieser Krankheit abgesehen, könnte es mir nicht besser gehen. Sehr gut sogar. Ich bin 37 Jahre alt, hoffentlich, trotz ordentlich Übergewicht, gesund sowie in Lohn und Brot. Seit August 2017 außerdem stolzer Ehemann, der seiner Jugendliebe das Ja-Wort gab, die eine große Rolle in diesem Buch spielen wird. Aber dazu später mehr.

Ich möchte an dieser Stelle in meine Vergangenheit reisen. In den Sommer 2003, um einen kleinen Überblick darüber zu verschaffen, warum mein treuester und zuverlässigster Feind seit siebzehn langen Jahren die Furcht ist.

Angst war ab dem zwanzigsten Lebensjahr ein präsenter Dauergast in meinem Leben. Mal öfter, dann wieder seltener.

Ich spürte ihre kalte, unheilvolle Präsenz das erste Mal deutlich, als ich einen Joint mit angeblich gutem Dope rauchte, das für das bisschen Weed-Expertise, die ich bis dato auszuweisen hatte, ein wenig „zu gut“ war. Mein Herz schlug schnell. Es raste förmlich. Aus einem normalen Ruhepuls von knapp achtzig Schlägen wurde von jetzt auf gleich die doppelte Frequenz. Einhundertsechzig Mal pro Minute hämmerte dieser lebenswichtige Muskel an die Brust, und ich spürte, wie sich meine Kehle zuzog und das Sichtfeld verschwamm, während die Gedanken durchs Dichtsein immer weiter auseinanderdrifteten, um kurz danach wieder ziellos miteinander zu kollidieren. In diesem Zustand ergab nichts mehr einen Sinn, außer die Angst.

Die entführte meinen Mut aus der bequemen Komfortzone meiner Wohnung, beamte mich auf ihr scharlachrotes Neurosen-Raumschiff und spuckte mich zitternd, kalkweiß und verwirrt vor dem Abgrund meiner Seele wieder aus. Hinter mir wurde die Landschaft meines Geistes immer schwärzer, und der letzte Schritt hin zu diesem dunklen Loch, das sich Depression nennt, schien nur noch eine Formsache.

Manuela, mit der ich 2003 schon vier Jahre zusammen war, schleppte mich ins Auto und wir fuhren zur Notaufnahme des Moerser St.-Josef-Krankenhauses. Die Ärztinnen und Ärzte dort warteten sicher auf alles – außer auf einen hoffnungslos überforderten, breiten Kiffer-Novizen, der an einer ausgewachsenen Panikattacke litt. Vor meinen weit aufgerissenen Augen fingen die weißen Klinikwände an zu verschwimmen und die Bodenfliesen bewegten sich in merkwürdigen Intervallen, sodass sich zur Panik zu allem Überfluss Schwindel und Übelkeit hinzugesellten.

„Passen sie auf, dass er nicht einschläft“, sagte die Ärztin zu Manuela, bevor wir wieder auf dem Weg zurück in die Wohnung waren, in der diese Irrfahrt durch meine seelischen Abgründe ihren Anfang nahm. Manu zündete ein paar Räucherstäbchen an, legte beruhigende Musik auf, schenkte mir Orangensaft ein, während ich, zappelnd, die kaltschweißen Hände reibend, auf unserer Couch saß und darauf wartete, dass mich der Sensenmann abholte. Ich werde meinen 21. Geburtstag nicht mehr erleben, das wurde mir in diesen dunklen Momenten, in denen ich bei allem Schrecken dennoch dafür dankbar war, dass ich sie nicht allein durchleben musste, klar. Ich würde hier, in unserer kleinen Wohnung in Moers, in der wir erst seit wenigen Wochen lebten, an Kreislaufversagen sterben, bevor ich mein Abitur absolvierte oder eine Familie gründete.

Ich starb an jenem Abend nicht, wenn auch die Präsenz des Todes, so bildete ich mir ein, schon deutlich wahrzunehmen war. Möglicherweise spielte aber nur das Phantom der Angst, das sich als Tod verkleidete, mit mir und ängstigte mich nach Lust und Laune. Und obwohl mir dieses Erlebnis Mahnung hätte sein sollen, nie wieder psychoaktive Substanzen zu mir zu nehmen, kiffte ich zwei Wochen später erneut. Und es war fantastisch. Ich schlief den Schlaf meines Lebens. So tief und traumlos, dass ich mich bis heute mit Wonne an die Stunden erinnere, in denen alles ausgeknipst war. Mein Ich, mein Über-Ich, mein Es. Sogar die ganzen verdammten Zweifel in meiner Seele hielten die Fresse. Sie verstummten, und alles, was sie vielleicht zu sagen hatten, wurde von einer Wolke aus tiefster Gleichgültigkeit, die mollig warm und beruhigend war, verschluckt. Ich glitt in diese Wonne aus feinster Leckt-mich-alle-am-Arsch-Watte, während mein Geist nicht mal im Traum daran dachte, diesen Zustand zu beenden. Und so schlief ich Stunden im Dasein völliger Glückseligkeit, bevor ich durch die ersten Sonnenstrahlen am darauffolgenden Sommertag geweckt wurde.

Kurz vor diesem Erlebnis des tiefsten Tiefschlafes, den ich jemals kennenlernte, hatte ich mich für geraume Zeit über ein Fernsehtestbild totgelacht. Manuela, die das alles nicht verstand, musste den Eindruck haben, dass sich mein Verstand langsam in Wohlgefallen auflöste. Rückblickend betrachtet leuchtet mir auch nicht mehr ein, was ich am Testbild so witzig fand, aber die Wahrnehmung ist anders, wenn man dicht ist. Am von Spirituosen-Liebhabern gefürchteten „Morgen danach“ war alles wieder gut.

Kein dicker Kopf, der mich mit einer ungeheuren Gravitas ans Bett fesselte. Das Gefühl, als führten die Eingeweide in meinem Bauch einen Krieg gegen den Körper, den sie bewohnten, fehlte. Ebenso die Übelkeit, die mich nach Saufgelagen immer dazu zwang, den kläglichen Rest an Mageninhalt auszukotzen. Wenn das die Qualität des Kiffens war und ich beim ersten Versuch nur Pech und schlechtes Dope erwischt hatte, war das eine Kurve, die ich gerne zu nehmen bereit war, solange am Rand der dahinterliegenden Straße die Wiesen grün und saftig gediehen und meinen Geist mit verborgenem Wissen, tiefer Entspannung und wahnwitzigen Lachanfällen anreicherten.

Eine Woche später wurde also erneut ein Joint gerollt. Wieder mit, so dachte ich, gutem Gras. Das versicherte man mir. Kein Dope, das auch bei erfahrenen Potheads hin und wieder für ein bisschen Unwohlsein sorgen konnte, sondern bestes Grünes. Ich vergriff mich erneut. Nach zwei tiefen Zügen, die meine Lungen mit Nikotin und mein Gehirn mit THC füllten, kroch die Angst auf meine Couch. Sie setzte sich neben mich und schaute mir mit ihren toten, weißen Augen ins leichenblasse Gesicht.

In meiner Fantasie hat der Tod etwas Wahrhaftiges, ja Majestätisches. Er ist für mich kein knochiger Typ mit schwarzem Umhang, Sense und dieser bedrückenden, ihn umgebenden Stille, die alles Frohe zerstört und alles Licht verschluckt, sondern ein notwendiges Übel. Ich möchte seine Gestalt, sein Schaffen und seine Aura eher wie Joe Black (in diesem unfassbar kitschigen Hollywood-Streifen mit einem jungenhaften Brad Pitt und einem eleganten Sir Anthony Hopkins) sehen. Gut gekleidet. Mit Stil. Jemand, der sich auszudrücken vermag. Der Tod, der dich holen kommt, weiß, wie scheiße es für alle ist, dass du mit ihm gehen musst. Und dass es schwer wird.

Das Wegnehmen ist des Todes Ding, es ist seine Spezialität. So, wie die Späne beim Tischlern schweigend Zeugnis von der Arbeit abgeben, durch die sie entstanden sind, sind die Erinnerung und das Entbehren das Destillat des Todes. Für die, die nicht sterben, sondern ein Leben lang vermissen werden. So anders als die Angst. Sie redet mit gespaltener Zunge und ist eine Meisterin darin, dich zu verführen. Ihr Atem stinkt nach Fäulnis und die Lügen, die sie dir ins Ohr flüstert, spricht sie in einem Singsang, der die härtesten Kerle wahnsinnig werden lässt.

Zu schreiben, dass mich das Kiffen zum Angstpatienten werden ließ, wäre zu verkürzt. Es sind hundert Faktoren, die uns in die eine oder andere Richtung entwickeln oder diese und jene Marotte und Neurose ausbilden lassen. Anders formuliert: Wer simple Antworten auf komplexe Fragestellungen sucht, wird hier nicht fündig. Das funktioniert überhaupt nicht. Die beiden furchtbaren Graserlebnisse ließen meine Ängste fühlbar werden – ausgebrochen wäre eine Panikattacke hingegen auch, wenn ich niemals gekifft hätte. Die Angst wartet nicht ungeduldig im Schatten deines Selbst darauf, zuzubeißen. Sie lauert und hat einen langen Atem. Ihr Geduldsfaden droht nie, zu zerreißen. Sie wiegt dich gerne in Gefahrlosigkeit, um dir dann, aus dem Nichts, den sicheren Boden unter den Füßen wegzureißen. Sie maskiert sich. Ihre Masken sind aus dunkelster Materie gewoben. Mal kleidet sie sich wie ein Schlaganfall, dann wie ein Herzinfarkt und mal schleicht sie sich als ein Kreislaufkollaps in dein Hirn.

Diese Königin der Düsternis lässt dich denken, dass du todkrank bist, obwohl alles an und in dir gesund ist. Ihre Maskerade der Hypochondrie ist eine ihrer besten Illusionen und ihre größte Kunst.

Meine schlimmste Angst war, dass ich verrückt würde. Ich meine das so, wie ich es schreibe: wahnsinnig, schizophren. Oder meinetwegen manisch-depressiv mit schizophrenen Schüben. Ich habe nie Stimmen gehört und mit eingebildeten Menschen gesprochen, aber die Angst, dass ich genau das täte, ließ mich, so paradox es klingt, beinahe wirklich wahnsinnig werden. In Tapetenmustern suchte ich bewusst nach Formen und Fratzen. Solange, bis sie auftraten und mich ängstigten. Pareidolie ist harmlos, aber wenn man in Fliesenmustern Totenköpfe sieht, ist die Ungefährlichkeit doch sehr relativ.

Ich glaube, die Psychologie nennt das Erwartungsangst. Die Furcht vor der Angst. Und in diesem Falle: die Angst vor der Angst vor dem Verrücktwerden. Und dieser Zaubertrick war erschreckend beeindruckend. Ich hatte bislang selten das Pech, anfällig für hypochondrische Episoden zu sein. Zwar stecke ich, während ich das hier schreibe, in einer solchen (vermutlich durch einen längeren Krankenhausaufenthalt meines Vaters und Corona ausgelöst), aber normalerweise ließen mich Sorgen um ernstere Erkrankungen meines Körpers relativ kalt.

Die Furcht allerdings, dass ich in einem quälenden Prozess langsam den Verstand verlor, hatte mich in den Jahren 2010 bis 2014 ordentlich am Wickel. Und diese wurden die dunkelsten meines ganzen Lebens.

Die Angst war hellwach. Und sie starrte mich an, jeden Tag und mit großer Lust. Sie schlief nicht, ruhte sich nie aus. Meine seelischen Soldaten, die ich schnellstens aus der Reserve holte, waren altersmüde geworden und hatten keine Lust, sich an einem neuen Krieg zu beteiligen. Ich schickte einen Stoßtrupp nach dem anderen los, doch die Front hielt nicht lange. Sie zerbrach. Und mit ihr alles, was ich mir vom Leben erhoffte. Meine Beziehung zu Manuela. Mein Selbstwertgefühl, das ich mir über viele harte Jahre antrainiert hatte. Meine Träume und sehnlichsten Wünsche. So weit, dass Hochhäuser, an denen ich vorbeifuhr, anfingen, eine dunkle, hypnotische Anziehungskraft auf mich auszuüben. Die Frage, die sich erst langsam und leise in meinem Hirn festsetzte und mit der Zeit immer schneller und lauter widerhallte, war: Ist das Haus hoch genug für einen ersten und letzten Sprung vom Dach?

„Erfahrungen vererben sich nicht – jeder muss sie allein machen“

(Kurt Tucholsky)

Zeit spielt für die dunkle Regentin, für „Lady Angst“, keine Rolle. Sie existiert außerhalb von allem. Bei Stephen King oder H. P. Lovecraft hat sie tausend Namen. ES. Cthulhu. Die Monstren in diesen Geschichten sind nur andere Masken, die von der Angst getragen werden. Und wenn sie erst einmal erwacht ist, legt sie sich nicht eher zur Ruhe, bis ihr Wirt den langen Schlaf des Todes schläft. So lange wird sie ihn begleiten.

Es mag sein, dass du sie eine ganze Weile in den unsichtbaren Rucksack auf den Schultern packst, in dem die unliebsamen Dinge verstaut werden, für die das Bewusstsein keine Zeit hat, aber irgendwann greifen zwei lange dürre Arme nach deinem Hals. Graue, faulige, knöcherne Gelenke, die man mit einem halbwegs kräftigen Schlag entzweibrechen könnte, wenn man sie denn kommen sehen würde. Sie umklammern deine Gurgel, schnüren dir die Luft ab, und du weißt genau: Es wird erneut Zeit, zu kämpfen. Und es ist der Angst egal, ob du bereit bist für ein bisschen Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin. Hat sie Lust, überfällt sie dich und fragt keineswegs vorher um Erlaubnis. Sie übermannt. Sie umarmt einen mit ihren langen, dünnen Klauen. Hat sie dir erfolgreich die Luft gestohlen, greift sie beherzt nach diesem kummervollen Herzen und rammt dir ihre langen, dreckigen Nägel hinein. Und dann wird es nur auf dich ankommen, und darauf, ob du ihr etwas entgegenzusetzen hast.

Der Kampf gegen die Angst ist ein ewig währender. Er ist nicht schnell beendet, sondern dauert viele anstrengende und zermürbende Runden. Es ist lohnenswert, ihn aufzunehmen, anstatt seinen Trainer nach dem ersten harten Treffer das Handtuch werfen zu lassen. Wer aufgibt, gewinnt nicht. Logisch, oder? Aufzugeben hat etwas zutiefst Falsches an sich. Ich kenne Menschen, die das getan haben. Die nicht die Kraft aufbrachten, gegen ihre Ängste in die Schlacht zu ziehen, und deshalb schon vor dem ersten Kampf, meistens sogar vor dem Säbelrasseln, mit weißer Fahne von dannen gezogen sind. Eine dieser Personen ist meine geliebte Mutter. Das Verhältnis zu ihr war, genauso wie zu meinem Vater, ein extrem schwieriges. Ich liebe beide. Das, so beschleicht mich das Gefühl, sollte vorangeschickt werden, um Missverständnissen vorzubeugen.

Aber meine Kindheit war eine anstrengende und auch, wenn es sich wie ein Klischee liest, bisweilen eine schlechte. Es ist die Wahrheit. Ich habe lange Jahre gebraucht, um für beide Elternteile eine Art Grundverständnis aufzubauen und das, was geschehen ist, zu verzeihen und besser einzuordnen.

Ich weiß, dass es mit jedem Lebensjahr, das einem von der unerbittlichen Uhr des Seins abgezogen wird, härter wird, Fehler und falsche Handlungen zu erinnern und dann zuzugeben. Wir sind alle Meister im Vergessen und Verdrängen, und vermutlich ist das gut so. Nichts wäre schlimmer, als ein ganzes Leben lang immer wieder im Konflikt mit sich selbst zu hadern. Überlegend, ob dieser oder jener Fehler nicht korrigierbar ist, ob man nicht mal an der einen oder anderen Stellschraube drehen dürfte, um so den Lauf der Dinge nachträglich zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen. Die einzige richtige Antwort ist: Nein. Es macht keinen Sinn, der Vergangenheit hinterherzutrauern, solange Zeitreisen nur in Science-Fiction-Geschichten möglich sind.

Bei meinen Eltern verhält es sich mit dem Erinnern an nicht so angenehme Dinge ähnlich. Auch wenn eine Aussprache über die groben Fehler, die vor vielen Jahren passiert sind (und die mich vermutlich wie keine anderen Erlebnisse in meiner Kindheit und Jugend prägten), wichtig wäre, so verstehe ich, warum das schlechterdings nicht möglich sein wird. Ich werde später erläutern, was damit gemeint ist, dass unsere Beziehung so schwierig war.

Ich grüble seit Tagen darüber, welchen Einstieg ich für das Kapitel wählen soll, das in meiner Kindheit spielt. Ich glaube, dass dieses ein essentielles wird. Nicht nur, aber auch, weil Prägung ein Grundbaustein des Seins ist. So wie das Genom. Ein Orden sei all jenen um den Hals gehängt, die es geschafft haben, sich ihrer schlechten Erbanlagen zu entledigen, als wären sie Unkraut, das aus dem Boden gerissen werden muss. Ich arbeite daran. An manchen Tagen gelingt mir das besser, an anderen überhaupt nicht. Ein Beispiel meines eher suboptimalen Genpools?

Da wären zum einen die nervigen und manchmal hart an der Grenze der Folter operierenden „Restless Legs“. Wer nichts mit dem Begriff anfangen kann, dem biete ich gerne einen nicht-medizinischen Crash-Kurs an: Das Syndrom der ruhelosen Beine kennzeichnet ein schwer zu widerstehender Bewegungsdrang. In Phasen der Entspannung, wenn der Körper ruhen will, brennt, zieht, schmerzt und zuckt es in den Beinen, dass es, je nach Ausprägung der Krankheit, nicht auszuhalten ist, sitzen oder liegenzubleiben.

Man ist gezwungen, aufzustehen, sich zu bewegen und die Waden anzuspannen, um kurzfristig Linderung zu erhalten. Zwischen 22:00 Uhr und 04:00 Uhr ist das Phänomen am stärksten, und es gibt Patienten (zu denen ich nicht gehöre), die so gut wie gar keinen Tiefschlaf mehr erreichen, weil sie durch ihre zuckenden Beine immer wieder wach werden. Abhilfe verschaffen mitunter nur schwere Medikamente, die den Botenstoff Dopamin ersetzen und die auch, allerdings in viel höherer Dosis, Parkinson-Patienten verabreicht bekommen.

Geerbt habe ich diese kleine Nervenkrankheit, die zum ersten Mal von keinem Neurologen, sondern von mir bemerkt wurde, als ich 27 Jahre alt war und einen Stephen-King-Roman las (Die Arena, wenn mich nicht alles täuscht), in dem ein Protagonist exakt dieselben Probleme hatte wie ich, vererbt von meiner Mutter. Und diese wiederum von ihrer. Es soll Menschen geben, die irgendwann im Laufe ihrer Leidensgeschichte, aufgrund des kaum erholsamen Schlafes, an Depressionen und Ängsten erkranken. Nun, das wäre mir auch ohne die rastlosen Beine zuteilgeworden.

Auf was ich ebenfalls gut verzichten konnte, ist die ausgeprägte Gynäkomastie, die sich schon in den ersten Realschuljahren unter meinen T-Shirts abzeichnete und wegen der ich mich häufiger, als es für ein Kind gut gewesen wäre, in den Schlaf weinte. Erspare dir das Googeln, werter Leser: Ich habe Männerbrüste.

So richtig schöne mit Haaren drauf, die manchem Mädchen in meinen jungen Teenager-Jahren nicht gewachsen sind und die manch erwachsene Frau niemals bekommen hat. Die Brüste. Nicht die Haare. Ich habe keine Ahnung, welche Körbchengröße das ist, vermutlich aber ein praller B-Korb. Und ich kann euch eines mit voller Überzeugung mitteilen: Es ist für einen Jungen in der Pubertät ein verdammter Scheißdreck, mit Schwabbelbrüsten großzuwerden. Allein das Potpourri an Beleidigungen aufzuzählen, die ich ab dem Tag ertragen musste, an dem mir dieser Männerbusen gewachsen ist, würde vermutlich ein paar Seiten füllen.

Ich will später darauf zurückkommen, weil ich es mir von der Seele schreiben muss. Weil ich die, die ihr ganzes Leben nie auf der Seite derer standen, die gemobbt und geschlagen wurden, nachfühlen lassen möchte, wie das ist.

Auch deshalb, damit ihr ein wachsames Auge auf eure eigenen Kinder werft. Entweder, wenn sie selbst Opfer von seelischen Grausamkeiten sind (denn nichts anderes ist Mobbing), oder falls sie, was nicht unmöglich wäre, zu den Tätern gehören. Es ist wichtig, das Innenleben derer zu fühlen, die immer wieder von ihren Mitschülern an die Wand des Klassenzimmers genagelt werden.

Ich komme mittlerweile gut mit mir aus. Und auch, dass ich schon seit der Grundschule zu viel Gewicht mit mir herumschleppe, ist okay. Ich finde, mein Gesicht kann mit vielen anderen gutaussehenden Männern konkurrieren, meine Tattoos, die ich mir ab dem neunzehnten Lebensjahr habe stechen lassen, runden das Bild des harten Mannes ab, aber diese Brust … Nein, beim besten Willen: An dieses Fettgewebe, wo Muskeln sichtbar sein sollten, kann und werde ich mich niemals gewöhnen.

Mittlerweile verdiene ich gut. Vielleicht lege ich mich doch unters Messer. Davor habe ich aber noch ein klein wenig zu viel … Bingo! Angst.

Mein Versuch wird sein, während all der folgenden Seiten nicht zu zynisch zu klingen. Ich bin kein Zyniker und ich mag Menschen nicht sonderlich, die ihr eigenes Schicksal, oder das anderer Leute, nur mit diesem gewissen Maß an Zynismus ertragen können. Ich glaube, dass es für die Entwicklung der Persönlichkeit Gift ist, wenn man damit beginnt, alles mit der bequemen Brille des Zynismus zu betrachten. Und ich möchte versuchen, diesen Drahtseilakt zu wagen, den man immer dann beginnt, sobald man sich dazu entschließt, höchst private und negative Erlebnisse und Erinnerungen mit anderen Menschen zu teilen. Man läuft stets Gefahr, in den Abgrund des Selbstmitleids zu stürzen. Ich bin mir sicher, dass jeder Mensch zu jeder Zeit seines Lebens in der Lage ist, einen Neuanfang zu wagen. Nur verhält es sich mit dem wie mit anderen Dingen, die einem etwas abverlangen: Man muss ihn wollen.

Ein Kampf ist nur so leicht wie die Mitstreiter, die man an seiner Seite wähnt. Die, die dich auf das Schlachtfeld der Abgründe begleiten. Es ist verdammt wichtig, Menschen um sich zu versammeln, die es gut mit einem meinen. Die dir sagen, dass du dich auf dem Weg in eine Sackgasse befindest, wenn es darauf ankommt. Freunde sind die Luft zum Atmen. Sie sind der Planet, auf dem wir landen, wenn wir uns schlecht fühlen. Solange es geht, ersetzen sie die Therapeuten und helfen.