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Originalausgabe

© 2021 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

prverlag@hirnkost.de; http://www.hirnkost.de/

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage September 2021

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de

Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/

Layout: www.benSwerk.com

Lektorat: Klaus Farin

ISBN:

PRINT:978-3-948675-71-4

PDF:978-3-948675-73-8

EPUB:978-3-948675-72-1

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Heike Brandt, geboren 1947 in Jever, aufgewachsen in Berlin, wo sie immer noch lebt, hat Pädagogik studiert und in diversen Kollektiven gearbeitet: In einem Kinderladen, einer Notunterkunft und im Kinderbuchladen Kreuzberg, den sie mitgegründet hat. Und sie war an der Gründung von UMVERTEILEN! Stiftung für eine, solidarische Welt beteiligt, in der sie immer noch (freiwillig und unbezahlt) tätig ist. Mitte der achtziger Jahre begann ihre freiberufliche (und bezahlte) Arbeit als Rezensentin, als Rundfunkautorin, als Übersetzerin aus dem Englischen und als Schriftstellerin – zumeist im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Der tote Rottweiler ist ihre erste Veröffentlichung bei Hirnkost.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

Danksagung

Prolog

Die Waffe liegt da, wo sie immer liegt. Im Safe. Der Schlüssel dazu im Schreibtisch, in der zweiten Schublade von oben. Der schmächtige, blonde Junge schiebt sich die Haare aus der Stirn, schließt den Safe auf und greift nach dem schwarzglänzenden Metall. Er legt den Finger um den Abzugshahn, streckt den Arm, kneift ein Auge zu, zielt.

Drückt ab.

Klick.

Ein Sportschütze darf seine Waffe nicht geladen aufbewahren. Die Munition muss immer getrennt von der Waffe lagern.

Sie liegt in der dritten Schublade von oben.

Der Junge lädt mit schnellen Griffen die Pistole und steckt sie sich dann in den Hosenbund, unter das T-Shirt.

Sein Atem geht schnell.

Es ist niemand im Haus, das weiß er, trotzdem guckt er sich vorsichtig um, bevor er das Arbeitszimmer verlässt, hastig den Flur und die Küche durchquert und dann durch die Hintertür in den Garten huscht.

Auch hier niemand zu sehen.

Der Junge rennt über den Rasen, den kleinen Hang hinauf und verschwindet im Rhododendrongebüsch. Den hohen Zaun, der den Garten vom Wald trennt, überwindet er wie im Schlaf, landet sicher auf dem weichen Boden dahinter und folgt dem kleinen Pfad bis zum nächsten Waldweg. Dort liegt, im Gebüsch versteckt, sein Fahrrad.

Er vergewissert sich, dass die Waffe festsitzt, überprüft den Waldweg in beide Richtungen, bevor er aufs Rad steigt und losfährt.

Ein Eichhörnchen witscht vor ihm über den Weg und flitzt einen Baum hinauf. Ein Eichelhäher schlägt an. Ein Specht klopft. Manchmal streifen überhängende Zweige den Oberkörper des Jungen. Der tritt unbeirrt mit aller Kraft in die Pedale, blickt stur geradeaus, auf sein Ziel zu, will nichts anderes sehen, nichts denken. Doch immer wieder schiebt sich ein Bild vor sein inneres Auge. Das Auto, das wackelt. Die nackten Körper. Das eine, ihm zugewandte, das vertraute Gesicht mit den geschlossenen Augen und der verschmierten Wimperntusche.

Falsches Clownsgesicht.

Falsch. Falsch. Falsch.

Er wird es richtig machen.

Zehn Minuten später versteckt er sein Fahrrad im Gebüsch und biegt auf einen schmalen Pfad ab, der sich durch hohe Bäume und dichtes Gestrüpp bis zu einer Lichtung mit einem kaputten Hochsitz schlängelt. Seit dem tödlichen Sturz von Krügers Paul jagt hier niemand mehr. Man hat nie herausgefunden, was genau geschehen ist. Ein unheimlicher Ort. Die neue Holzhütte auf der anderen Seite der Lichtung wird nicht genutzt.

Doch der Hund ist da. Ein kräftiger, dunkler Rottweiler, angeleint am zugewucherten, moosbedeckten Holzpfosten des eingefallenen Hochsitzes. Der Hund wedelt mit dem Schwanz, längst bevor er den Jungen sehen kann. Die Vorderpfoten aufgestemmt, die Brust breit, den Blick erwartungsvoll auf den Pfad gerichtet, auf dem jetzt der Junge auftaucht.

Der bleibt stehen, atmet einmal tief durch, zieht die Waffe aus dem Hosenbund, geht ein paar Schritte auf den Hund zu, sagt: „Ruhig, ganz ruhig“, streckt den Arm aus, legt den Finger um den Abzug, zielt, drückt ab.

Ein trockener Knall.

Der Hund kippt zur Seite. Blut sickert aus der Wunde.

Der Junge verharrt einen Moment, sichert die Pistole, steckt sie in den Hosenbund, hebt die Patronenhülse auf, lässt den Hund nicht aus den Augen.

Doch der rührt sich nicht mehr. Auch nicht, als der Junge ihn mit dem Fuß anstößt.

Sauberer Schuss. Jetzt gibt es kein Alibi mehr.

Das war’s. Er hat es getan. Er hat es wirklich getan.

Mit zitternden Knien macht er sich auf den Heimweg. Was jetzt wird, liegt nicht mehr in seiner Hand.

1

Julika schwimmt. Bei jedem zweiten Zug dreht sie kurz den Kopf aus dem Wasser, atmet, taucht wieder ein. Ihre Beine schlagen kräftig und regelmäßig, ihre Arme recken sich fast ruckartig nach vorne und strecken ihren kurzen Körper in die Länge. Julika weiß, dass das nicht sehr elegant aussieht, aber das ist ihr egal.

Sie schwimmt ihre Bahnen, nicht sehr schnell, aber ausdauernd. Mit offenen Augen. Verfolgt ihren eiligen Schatten auf dem silbrigen Boden unter sich, verfolgt die vielen kleinen Luftbläschen, die von ihren Händen ausströmen, registriert für den kurzen Moment des Auftauchens die bunte Kugelkette der Bahn neben sich, lauscht dem dumpfen Gurgeln und Glucksen des Wassers um sich.

Irgendwann hat Julika genug vom Kraulen, rollt sich wie ein Seehund auf den Rücken, wieder schlagen ihre Beine kräftig und regelmäßig, wieder pflügen ihre Arme ruckartig durchs Wasser, nur andersherum. Jetzt schaut sie hinauf in den Himmel, versenkt sich in sein klares Blau und die bauschigen weißen Wolkenfetzen dazwischen.

Sobald sie spürt, dass Arme und Beine schwer werden, schiebt sie sich am Beckenrand in den Stütz, steigt aus dem Wasser und streicht ihre kurzen, dunkelblonden Haare aus dem Gesicht. Julika geht fast jedes Wochenende Schwimmen. Irgendwann nach dem Aufstehen braust sie mit dem Rad den Hang hinunter ins Zentrum der kleinen Stadt, den Fluss entlang, durchs Gewerbegebiet in der Flussaue.

Das supermoderne Schwimmbad dort wurde vor ein paar Jahren von der Firma, bei der auch Julikas Eltern arbeiten, gespendet, als Geschenk an die Stadt anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der örtlichen Kleinwaffenproduktion. Für die Kinder der Angestellten des Werks gibt es kostenlose Dauerkarten. Das findet Julika sehr praktisch.

Nach dem Schwimmen geht sie hinüber zu den Leuten aus ihrer Schule, wo sie vorhin ihre Tasche abgelegt hat. Es ist kein verabredeter Treffpunkt, aber wer vom Otto-Hahn-Gymnasium ins Bad geht, sitzt hier, auf den terrassenartig angelegten Flächen neben den Sprungtürmen. Sie nickt den anderen kurz zu, legt sich auf ihr dunkelrotes Badehandtuch und lässt sich von der Sonne trocknen.

Julika ist dabei und nicht dabei. Mit geschlossenen Augen hört sie zwei Mädchen aus ihrer Klasse zu, die von der Party gestern Abend erzählen, zu der Julika nicht eingeladen war, wie Marko abgestürzt ist und Vivian sich Michael an den Hals geworfen hat …

Kopfhörer auf die Ohren, Smartphone an, Buch aus der Tasche und schon ist Julika raus. Doch so richtig will ihr das nicht gelingen. Nach ein paar Seiten nimmt sie ihr Handy und guckt, ob Clara online ist. Ist sie nicht. Julika schickt ihr eine Nachricht mit einem Foto von der Stelle, auf der Clara jetzt eigentlich sitzen müsste. Wie im vorigen Jahr. Und dem davor. Bis Clara mit ihren Eltern umziehen musste, nach Berlin.

„Vermiss dich“, schreibt sie und schiebt jede Menge Heulgesichter hinterher.

Ohne Clara ist alles nur öde.

Der Heimweg ist deutlich anstrengender als der Hinweg. Aber Julika nimmt das sportlich, klettert mit dem Rad die sich windende Straße hoch, als wäre es eine Alpenetappe bei der Tour de France. Zwanzig Minuten später steht sie schnaufend vor ihrem Zuhause, ein streng geometrisch gestalteter imposanter Neubau mit glatten, weißen Fassaden und großen Fensterfronten. Das Gartentor ist nur angelehnt. Das heißt, ihre Mutter und Bello sind noch nicht zurück.

Julika guckt auf die Uhr und wundert sich. Es ist bald sieben, um sieben gibt es Abendessen. „Einmal in der Woche können wir als Familie doch wohl zusammen essen“, wünscht ihr Vater, der unter der Woche oft auf Dienstreisen ist. Sonnabends kocht er gerne für alle und probiert neue Rezepte aus.

Im Haus riecht es nach Braten.

Julika rümpft die Nase. Sie hat keine Lust auf Braten, keine Lust aufs Familienessen, aber es führt kein Weg dran vorbei. Dass sie kein Fleisch isst, haben ihre Eltern akzeptiert. Aber Extrawürste gibt es deswegen nicht, hat ihr Vater gesagt und gar nicht gemerkt, was für einen Unsinn er da redet. Auf eine Diskussion, warum Julika kein Fleisch essen will, hat er sich nicht eingelassen. Das verwächst sich, meinte er nur, ich hab auch mal an den lieben Gott geglaubt.

Bei solchen Bemerkungen macht sich Julika eine mentale Notiz. Für den Fall, dass sie mal Kinder haben sollte.

Ihr Vater steht am Herd, rührt in der Soße, kostet und nickt, hebt den Deckel vom Topf daneben, prüft den Reis und die grünen Erbsen, nickt wieder, schaltet alle Platten aus und klappt den Ofen auf, in dem eine Ente schmurgelt. Ein Blick zur Küchenuhr zeigt ihm, dass er sehr gut in der Zeit ist. Zufrieden fährt er sich mit der Hand über die hellen Stoppeln seines frisch geschorenen Kopfes und rückt seine Brille zurecht.

Er muss Julika gehört haben. Ohne sich umzudrehen, ruft er ihr zu, sie solle den Tisch decken, die anderen zum Essen holen und Christian in den Keller nach Wein schicken. Dabei stellt er die vorgewärmten Schüsseln und die gehackte Petersilie für die Erbsen bereit. Seine Stimme ist nicht besonders laut, aber wie immer scharf und bestimmt. Für seine Begriffe brauchen Kinder klare Ansagen, sonst können sie sich in dieser immer komplexer werdenden Welt nicht orientieren.

Julika sieht das anders.

Der Tisch ist gedeckt, der Wein geholt, das Essen aufgetragen, die Schürze abgenommen. Julika, ihr Vater und ihr Bruder sitzen vor den dampfenden Schüsseln um den ovalen, rotbraun glänzenden Holztisch im Esszimmer. Und gerade, als Julikas Vater leicht verärgert sagt, sie könnten anfangen, obwohl ihre Mutter noch nicht da ist, schlägt die Haustür auf und gleich wieder zu.

Einen Moment später steht Julikas Mutter im Esszimmer, atemlos, aufgelöst. Ihre braunen Haare, die sie am Morgen noch sorgfältig aufgesteckt hatte, hängen ihr wirr um den Kopf, ihr Gesicht ist rot. Nur der Lidschatten ist nicht verschmiert, registriert Julika. Aber bevor sie den Gedanken weiterverfolgen kann, hat ihre Mutter herausgestoßen:

„Bello ist weg!“

„Wie? Bello ist weg“, fragt Julikas Vater irritiert und macht sich daran, die Ente zu tranchieren. „Was soll denn das heißen?“

„Was schon! Er ist weg, wie vom Erdboden verschluckt!“

Julikas Mutter presst die Worte eilig heraus. Ein Schweißtropfen läuft ihr über die Schläfe, unter den Achseln hat sie große Schweißflecken. Sie stützt sich mit beiden Händen auf die Lehne des Stuhles vor sich und blickt ratlos in die Runde.

Der Vater hört auf zu schneiden, Christian senkt den Kopf und schaukelt nervös mit den Beinen, Julika zupft sich am rechten Ohrläppchen.

Am schnellsten fasst sich Julikas Vater.

„Wie kann denn das sein? Hast du ihn etwa von der Leine gelassen? Du weißt doch genau, dass du das nicht sollst.“

Das klingt empört, aber auch ein bisschen sachlich, fast so, als wolle er einen Schlusspunkt setzen und damit das Unmögliche ungeschehen machen.

„Geht’s noch? Bevor du weißt, was passiert ist, machst du mir schon Vorwürfe?“, schnaubt Julikas Mutter und macht eine wegwerfende Geste.

„Aber was ist denn nun passiert, Mama? Wieso ist Bello weg?“, fragt Julika schnell, damit ihre Eltern nicht in den Streitmodus fallen, der immer mit solchen Sätzen beginnt, und es plötzlich nicht mehr um Bello, sondern um was ganz anderes geht.

Christian hebt den Kopf, so dass ihm seine glatten blonden Haare schräg ins Gesicht fallen, und blickt gespannt auf seine Mutter.

„Also“, sagt sie und holt tief Luft. „Wir waren schon aus dem Wald raus, waren am Parkplatz vorm Schützenhaus, da steigt Nadine aus ihrem Auto. Ich bleib also stehen, wir begrüßen uns und so, und Bello zieht und zerrt an seiner Leine. Keine Ahnung, was den geritten hat, jedenfalls hat er mich genervt und ich will ihn losmachen, da rast er schon los, die Leine im Schlepptau. Wir waren ja nicht mehr im Wald.“

Bedeutungsvoller Blick zu Julikas Vater.

„Und?“, sagt der und will Christian einen Entenschlegel auf den Teller legen. Christian aber schüttelt vehement den Kopf. Sein Vater stutzt einen Moment, legt den Schlegel dann sich selbst auf den Teller.

„Nichts und. Das war’s. Nadine geht ins Vereinsheim, ich will los und pfeif nach Bello, mehrmals, aber wer nicht kommt, ist Bello. Ich guck mir die Augen aus dem Kopf, rufe, pfeife, geh über die Wiese, denke, vielleicht steckt der in einem Kaninchenloch und kommt nicht wieder raus. Aber nix da. Hinter der Wiese ist ja der Stacheldrahtzaun vom Vereinsgelände, da konnte er nicht weiter.“

„Vielleicht ist er zurück in den Wald?“, fragt Julika. „Vielleicht hat er eine Spur verfolgt?“

Ihre Mutter hebt die Arme, als wolle sie ihre Unschuld beschwören.

„Ich weiß es nicht. Ich bin den Weg ein ganzes Stück zurückgelaufen, hab gepfiffen und gerufen, immer wieder. Bin ums Schützenhaus rum, hab alle Leute gefragt, die ich getroffen hab. Nichts, niente. Kein Bello. Ich versteh das nicht.“

„Das kann doch nicht sein. Bello läuft nicht weg. Hat der noch nie gemacht“, sagt Julikas Vater kopfschüttelnd. „Aber du hättest ihn nicht laufen lassen sollen, das hab ich dir schon hundertmal gesagt. Wenn der ein Kaninchen in der Nase hat … Willst du Brust oder Keule?“

Doch Julikas Mutter will erstmal duschen und läuft flink die Treppe hinauf.

„Jetzt esst doch, Kinder. Der Bello kommt schon wieder. So ein großer Hund verschwindet nicht einfach spurlos“, sagt Julikas Vater aufmunternd und geht mit gutem Beispiel voran. Seinem Sohn hat er inzwischen Erbsen, Reis und Soße aufgetan. Christian stochert lustlos im Essen herum, schiebt aber ab und zu einen Happen in den Mund.

„Immer noch Kopfschmerzen?“, fragt sein Vater mit sanfter Stimme und blickt ihn besorgt an.

„Geht“, antwortet Christian ohne aufzublicken.

„Wenn das öfter vorkommt, musst du zum Arzt. Du musst doch trainieren fürs Schützenfest, Ausfälle wie heute kannst du dir nicht oft leisten. Jedenfalls nicht, wenn du auf dem Treppchen stehen willst – und ich glaub, diesmal kann das klappen! Glaub mir!“

Seine Stimme glänzt wie die Entenkruste.

„Ja, klar“, murmelt Christian, nicht sehr überzeugend. Aber sein Vater dringt nicht weiter in ihn, sondern konzentriert sich auf den Entenschlegel auf seinem Teller.

Julika holt sich Mango-Chutney aus dem Kühlschrank, für den Reis. Die Entensoße rührt sie nicht an.

Julika war sieben, als die Familie in das neue Haus einzog und der Hund angeschafft wurde, ein reinrassiger Rottweilerwelpe, aus dem zweiten Wurf, Bomber. Julika sagte von Anfang an nur Bello zu ihm, und dabei blieb es. Denn der Rottweiler war nicht nur als Wachhund gedacht, sondern auch als Trost für Julika, die sich mit Leibeskräften gegen den Umzug gesperrt hatte. Sie wollte in ihrem alten vertrauten Haus in der Werksiedlung auf dem Hügel bleiben, wo auch die Urgroßeltern wohnten und alle Kinder, mit denen sie zusammen eingeschult worden war. Auf keinen Fall wollte sie dort weg, auf die andere Seite des Tales, auf eine neue Schule, wo sie niemanden kannte.

Der kleine, tolpatschige Welpe, mit dem Julika dann im großen Garten herumtollen durfte, war zwar kein Ersatz für all das, was sie nicht mehr hatte, half ihr aber doch über den größten Schmerz hinweg. Das Beste war, dass sie den Hund nicht mit ihrem Bruder Christian teilen musste, denn dem Zweijährigen war dieses hüpfende Fellknäuel äußerst unheimlich. Julikas Vater war das unbegreiflich. Vor allem, wenn ein Hund gut dressiert war, wofür er natürlich sorgte.

Der Hund lernte schnell, die gängigen Kommandos zu befolgen. Das klappte meistens auch bei Julika. Wenn sie „Aus!“ rief, rückte Bello den Ball raus, den er brav apportiert hatte. Aber den kleinen Christian nahm er nicht für voll. Wenn der ungeschickt nach seinem Spielzeug grabschte, brauchte Bello nur dumpf zu grollen, schon ließ Christian von ihm ab. Jedes Mal beschwor ihn sein Vater, erst „Aus!“ zu sagen und dann zuzugreifen. „Nicht der Hund hat einen Fehler gemacht, sondern du!“ Aber das begriff Christian damals nicht. Und später interessierte es ihn nicht mehr.

Christian mag Katzen. Seit die Katze der Nachbarinnen Junge bekommen hat, geht er oft in deren Garage, die sie als Werkstatt eingerichtet haben, und spielt mit den Katzenbabys. Außerdem macht er da auch irgendwas mit Holz, jedenfalls hat Julika ihn einmal an der Werkbank arbeiten sehen, als das Garagentor offenstand.

Gleich nach dem Essen will Julikas Vater nach Bello suchen. Julika fährt mit, keine Frage. Wenn es um Bello geht, ist sie mit ihrem Vater einer Meinung, immer. Ihr will genauso wenig wie ihm in den Kopf, dass der Hund einfach so verschwinden konnte; Bello ist keiner, der wegläuft. Irgendwas muss geschehen sein.

Es ist noch hell draußen, ein lauer Sommerabend, mit dem Auto sind sie schnell beim Schützenhaus. Von dort aus fährt Julikas Vater in den Wald hinein, obwohl der Weg für Autos gesperrt ist. Er fährt langsam, mit offenen Fenstern, und alle paar Meter ruft oder pfeift er. Er guckt nach links, Julika nach rechts.

Vergeblich.

Nach zwei Kilometern geben sie auf und fahren zurück; es dämmert schon, im Wald sehen sie nichts mehr. Bleibt noch das Gelände um das Schützenhaus. Sie gehen den Stacheldrahtzaun ab, suchen nach Fellresten, suchen nach Kaninchenlöchern, in denen Bello gebuddelt haben mag, denn das liebt er, wenn man ihn lässt. Dabei spitzen sie die Ohren und lauschen nach Geräuschen, nach leisem Winseln oder Bellen.

Aber sie finden ihn nicht.

Als sie wieder im Auto sitzen, meint Julika:

„Und wenn ihn nun der Förster erschossen hat? Oder ein Jäger?“

Sie spürt, wie sich in ihrem Bauch ein Knäuel bildet. Bis eben hat sie noch gedacht, wir suchen, wir finden und gut. Aber wenn Bello nun tot ist?

Für einige Augenblicke hängen Julika und ihr Vater schweigend ihren Gedanken nach, dann lässt der Vater den Motor an und sagt:

„Weißt du was, wir fahren mal bei Justus vorbei. Vielleicht weiß der was.“

Julika nickt. Sie könnten ja auch anrufen, aber im Auto zu sitzen und unterwegs zu sein fühlt sich besser an, als untätig auf irgendeine Information zu hoffen.

Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, will eine Nachricht an ihre Klasse schicken, ist ja möglich, dass jemand Bello gesehen hat. Doch kaum hat sie das Gerät vor sich, legt ihr Vater seine Hand darauf und sagt:

„Lass das jetzt mal, Julika.“

Es ist nur eine kleine Geste, kein scharfer Ton, aber Julika kommt es vor wie eine Ohrfeige. Wortlos stopft sie ihr Handy in die Hosentasche und starrt geradeaus. Dann macht sie das eben später. Aus ihrer Klasse wohnt überhaupt nur einer in ihrer Nähe.

„Sag mal, weißt du eigentlich, was mit Christian ist?“, fragt ihr Vater, der Julikas Erstarren nicht wahrgenommen hat. „Er ist so still in letzter Zeit. Und er wollte keine Ente. Ist der jetzt etwa auch Vegetarier?“

Julika zuckt die Achseln.

„Mir hat er nichts gesagt.“

„Na ja, vielleicht brütet er was aus, er hatte ja Kopfschmerzen. Oder ist was in der Schule? Weißt du was?“

„Keine Ahnung. Frag ihn doch selber.“

Julika ist fünf Jahre älter als ihr Bruder, er ist versessen auf Computerspiele, sie nicht im Geringsten, er geht in den Schützenverein, sie auf keinen Fall. Es gibt nicht viele Gemeinsamkeiten. Wenn sie es sich genau überlegt, kennt sie ihren Bruder nicht besonders gut.

„Hab ich doch. Er weicht mir aus. Hat er eigentlich Freunde?“

Bin ich sein Vater oder du?, denkt Julika, antwortet aber:

„Weiß ich nicht. Auf dem Schulhof hängt er mit ein, zwei Nerds ab. Ich seh ihn nicht oft.“

„Und nachmittags?“

„Papa. Woher soll ich das denn wissen? Du gehst doch mit ihm in den Schützenverein. Und zu Hause zockt er, das weißt du doch. Hast ihm das neue Teil doch selber zum Geburtstag geschenkt. Wenn du öfter da wärst …“

Ihr Vater seufzt.

„Julika, das geht eben leider nicht. Ich kann mir das doch auch nicht aussuchen. Ich bin nun mal im Außendienst, das ist ein Superposten und ich verdiene gutes Geld damit. Dein Smartphone muss ja auch irgendwie bezahlt werden, oder?“

Darauf antwortet Julika nicht. Auf dieses Gespräch hat sie keine Lust. Was kann sie denn dafür, dass sie geboren wurde. Wer Kinder in die Welt setzt, muss auch für sie sorgen, oder?

„Oder, Julika?“, drängt ihr Vater.

Julika nickt, und ihr Vater hält das für Einverständnis.

„Mir gefällt mein Job.“

Er überlegt einen Moment und sagt dann mehr zu sich selbst als zu Julika:

„Wahrscheinlich muss ich den Jungen mehr rannehmen, damit er sich nicht so hängenlässt.“

Inzwischen haben sie den Friedhof und die Brücke über dem Fluss passiert, sind vorbei am gewaltigen, ehemaligen Kloster, dem Stadtmuseum und dem Industriegebiet zur Linken und dem Stadtzentrum zur Rechten, mit Kirche, Gymnasium, Kino, vielen mehrstöckigen Fachwerkhäusern und der Fußgängerzone mit diversen Geschäften. Die Straße windet sich wieder bergauf und wenige Minuten später hält der Wagen vor einem kleinen Holzhaus.

Onkel Justus, dessen Glatze immer glänzt, als hätte er sie frisch poliert, freut sich über den unverhofften Besuch, begrüßt erst seinen Jägerfreund Matthias überschwänglich mit Händedruck und Schulterklopfen und dann Julika mit dem Spruch:

„Meine Güte, was bist du groß geworden!“

Achselzuckend folgt Julika den beiden Männern auf die Terrasse hinter dem Haus, an deren Rückwand Jagdtrophäen hängen. Justus‘ Frau Beate serviert Bier, Limo und Knabberzeug und verzieht sich dann vor den Fernseher.

Justus hat Bello nicht gesehen, hat auch nicht gehört, dass jemand einen wildernden Hund erschossen hätte, möglich wäre es, sicher, aber das würde er erfahren – spätestens morgen, so lange müssten sie sich schon gedulden. Julika nimmt das erleichtert zur Kenntnis. Wenn Bello nicht sicher tot ist, lebt er.

Und schon ist das Thema Bello abgehakt. Das Gespräch der beiden Männer dreht sich nun um die Jagd. Im September sind alle Schonzeiten vorbei, und sie können wieder auf die Pirsch gehen.

Julika schaltet auf Durchzug, sie will nicht hören, wie sich die Männer darüber austauschen, wie man am schönsten, am aufregendsten, am effektivsten mordet. Für Julika ist das Mord, was die Jäger betreiben, denn es ist Mord, wenn jemand heimtückisch, aus Lust oder aus anderen niedrigen Beweggründen tötet, so haben sie es neulich in der Schule besprochen. Das bezog sich natürlich auf das Töten von Menschen.

Aber trotzdem: Jäger töten Wild, weil es ihnen Freude macht, weil sie sich an ihrer Macht über Leben und Tod berauschen, und sie tun es heimtückisch, denn sie verstecken sich feige auf Hochsitzen und locken ihre Opfer mit Futter oder Salzsteinen an. So sieht Julika das, auch wenn die Jäger etwas völlig anderes sagen und alle möglichen Argumente auffahren, um zu erklären, warum die Jagd etwas Edles, dem Menschen als Naturtrieb Innewohnendes und zudem eine Pflicht zur Schonung der Umwelt wäre, der sie nachkommen müssten.

Julika erinnert sich noch sehr gut daran, wie ihr Vater sie das erste Mal mit zur Jagd nahm, weil sie so sehr gedrängelt hatte, unbedingt mit wollte auf einen Ausflug mit Onkel Justus, und weil ihr lieber Papa seiner kleinen Prinzessin keinen Wunsch abschlagen konnte, obwohl seine Frau meinte, Julika sei dafür noch zu klein. Fand Julika natürlich überhaupt nicht, auch ihr Vater hatte nur abgewinkt und gesagt, wer weiß, vielleicht kriegen wir ja gar nichts vor die Flinte.

Der glitzernd grüne Wald so früh am Morgen war atemberaubend schön. So wie sein Bewohner, das Reh. Nur durfte das nicht einfach atemberaubend schön bleiben, das Reh musste erschossen werden.

Ihr Vater, Onkel Justus und Julika waren im Dunkeln aufgebrochen. Es dämmerte, als sie mucksmäuschenstill auf dem Hochsitz saßen, beide Männer mit dem Gewehr im Anschlag. Langsam wurde es ringsum hell und lebendig. Sie warteten. Und warteten. Julika wäre beinahe eingeschlafen.

Doch auf einmal stupste ihr Papa sie mit dem Ellbogen an und deutete nach rechts, zum Salzstein. Mit den ersten Sonnenstrahlen trat anmutig ein Reh auf die Lichtung, blickte sich mit seinen großen Augen um, sicherte aufmerksam und wollte gerade den Kopf zum Grasen neigen, da krachte es neben Julika, so dass sie meinte, ihr fliegt der Kopf ab, und im selben Augenblick brach das Reh zusammen, fiel zu Boden, zuckte noch einmal und blieb dann reglos liegen. Tot. Einfach so.

Julika war fassungslos, außer sich. Sie explodierte förmlich, schrie in die Waldesstille, trommelte wütend auf ihren Vater ein, obwohl nicht er geschossen hatte, sondern Onkel Justus. Sicher gab es Erklärungen wie „Wir haben dir doch gesagt, was geschehen wird“, beruhigende Worte wie „Kind, wir müssen doch den Wald schützen“, einen schnellen Heimweg und „Um das Reh kümmern wir uns später“, so wird es jedenfalls erzählt, aber Julika erinnert sich an nichts, was nach dem Knall, nach dem Umfallen, nach dem Zucken kam. Die Ohnmacht hingegen, der beißende Schmerz, der ihr in jede Faser ihres Körpers gekrochen war, der flammende Zorn auf die beiden Erwachsenen, die so etwas Entsetzliches tun konnten, diese Gefühle sind ihr alle noch so präsent, als wäre das erst gestern geschehen.

Seitdem will Julika mit Schießen nichts mehr zu tun haben. Deswegen weigert sie sich bis heute, in den Schützenverein zu gehen und Schießen zu lernen.

Justus ist kurz ins Haus gegangen und kommt mit einem Gewehr mit aufmontiertem Zielfernrohr zurück. Fast zärtlich legt er das Teil vor Julikas Vater auf den Tisch und sagt:

„Guck dir das mal an. Hab ich gerade gekauft. Edel, oder?“

Julikas Vater nimmt das Gewehr hoch, fährt mit der Hand über den braunen Holzschaft und betrachtet es von allen Seiten.

„Schon. Aber nicht von uns. Unsere sind besser.“

„Musst du ja sagen“, lacht Justus. „Stimmt aber nicht, guck mal, allein das Gewicht …“

Julika will das nicht hören. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, egal, ob ihrem Vater das jetzt passt oder nicht. Postet eine Suchanzeige für Bello und bei ihrer Klassengruppe. Findet eine Nachricht von Clara. Endlich. Ein Foto von ihr mit ein paar Leuten auf einer breiten Holztreppe, einer Art Terrasse, Clara in der Mitte, alle mit dem V-Zeichen. Chillen im Möckernpark. Wish you were here.

O Mann.

Julika seufzt. Das sieht so cool aus.

Sie hört plötzlich, wie ihr Vater „Bello“ sagt, steckt schnell ihr Handy weg und guckt hoch.

„Bello entführt?“, fragt Justus erstaunt. „Wie kommst du da drauf? Um dich zu erpressen? Womit denn? Hast du eine Freundin?“

Er grinst breit.

„Quatsch!“, antwortet Julikas Vater und fährt sich mit der Hand über die hellen Bartstoppeln in seinem Gesicht. „Aber es gehen so eigenartige Gerüchte um. Von wegen illegalen Verkäufen und so. Ist natürlich nichts dran. Aber wer sich in sowas verbeißt … Gibt ja genug Idioten.“

„Echt mal, Papa? Du glaubst, jemand hat Bello entführt“, sagt Julika. „Krass.“

„Ach, was, vergiss es!“

Ihr Vater winkt ab.

„Trotzdem, lass uns jetzt nach Hause fahren.“

2

Bobi zeichnet. Die Unterlippe über die Oberlippe geschoben blickt er immer wieder kurz nach vorne, dann auf seinen Zeichenblock. Mit knappen Strichen skizziert er die neue Klassenlehrerin, Frau Zylbersztajn.

Die Frau hat es ihm angetan, vom ersten Moment an. Sie ist zierlich, nicht sehr groß, aber auch nicht wirklich klein, das kurze, dunkelblonde Haar liegt wie eine Kappe auf ihrem Kopf. Die eigenartig hellen Brauen schwingen sich wie Halbmonde über tiefbraune, warm leuchtende Augen. Nase und Lippen ebenmäßig, unauffällig. Das Gesicht sonnengebräunt und ungeschminkt. Um den Hals hängt eine Kette aus weinrotschimmernden, runden, glatten Steinen.

Am Anfang hat Bobi noch zugehört, wie sie der Klasse, die im Stuhlkreis sitzt, das im 10. Schuljahr anstehende Kompetenzprojekt vorstellte: Sie sollen in kleinen Gruppen fächerübergreifend ein Thema erarbeiten, die Ergebnisse in einer Präsentation darstellen und das dann in einer mündlichen Prüfung diskutieren.

Die Themenwahl ist frei, dennoch muss das Thema von der Schulleitung genehmigt werden. Von wegen frei, hat Bobi gedacht, und außerdem ist das bestimmt nichts weiter als eine sinnlose Sammlung von Fakten und Daten, die man genauso gut im Internet findet, copy and paste, das kann er schon. Also schaltet er ab und konzentriert sich aufs Zeichnen, wie immer sein Rettungsanker im Sumpf der tödlichen Langeweile der meisten Schulstunden. Früher hat er gehampelt, Faxen gemacht und deswegen oft Stress gehabt, aber im letzten Schuljahr hat er beschlossen, sich in die hinterste Reihe zu verkrümeln und sich einfach still mit dem zu beschäftigen, was ihn interessiert. Zeichnen zum Beispiel.

Ein Jahr muss er noch durchhalten, dann ist Schluss mit Schule. Was er dann macht, weiß er noch nicht, nur was er dann nicht macht, das weiß er sicher: Er wird nicht versuchen, aufs Gymnasium zu wechseln, um Abitur zu machen. Und er wird ganz bestimmt keine Gastronomie-Ausbildung machen, wie sein Vater Xabier sich das wünscht, damit er später das Familien-Lokal übernehmen kann.

Erstens, meint Bobi, braucht er keine Ausbildung, weil er schon in dem Laden mitarbeitet, seit er über den Tresen gucken kann, und zweitens findet er diesen Blickwinkel reichlich beschränkt. Er will raus in die Welt, möglichst weit weg von dem piefigen Kaff, in dem er groß geworden ist.

Frau Zylbersztajn hat sich von der Klasse abgewandt und schreibt Vorschläge für Kompetenzprojekte ans Whiteboard: „Bionik – der Natur abgeschaut“ – „Der Wandel der Esskultur“ – „Kleider machen Leute“. Nichts für ihn dabei, stellt Bobi fest und will sich wieder seiner Zeichnung widmen, da hört er plötzlich die kratzige Stimme von Natalie:

„Frau Zylbersztajn, ich hab ein Thema: Frieden schaffen ohne Waffen.“

Frau Zylbersztajn nickt zustimmend und schreibt den Satz ans Whiteboard.

„Hä? Was’n das für’n Scheiß?“, poltert Dennis.

Der große, breitschultrige Junge, der auf seinem Stuhl mehr liegt als sitzt, blickt Natalie herausfordernd an.

„Bisschen differenzierter bitte, Dennis“, beschwichtigt die Lehrerin. „Kennt jemand diesen Spruch? Schon mal gehört?“

Reihum Kopfschütteln. Gelangweilte Gesichter.

„Bestimmt was Christliches!“, meint Lara. „So was wie die andere Backe hinhalten oder so?“

„Da ist was dran“, meint Frau Zylbersztajn. „Erklär doch mal, Natalie, wie du darauf kommst!“

Sie nimmt auf dem freien Stuhl neben Dennis Platz.

Natalie richtet sich auf, guckt für einen Moment auf den Boden, hebt entschlossen den Kopf, schiebt sich die hellen Haare, die sie auf der einen Seite lang, auf der anderen rappelkurz geschoren trägt, aus dem Gesicht und klemmt sie hinters Ohr. Ihre blaugrünen Augen funkeln angriffslustig.

„Also“, sagt sie. „Den Satz habe ich zufällig gefunden, bei den Sachen von meiner Oma. Die ist gestorben, im Januar. Frieden schaffen ohne Waffen war die Überschrift vom Berliner Appell von 1982, in der DDR, das war so ein Flugblatt, keine Ahnung, ob meine Oma da mitgemacht hat. Ich hab dann rausgefunden, dass der Satz eigentlich aus der westdeutschen Friedensbewegung stammt, und das war schon ein paar Jahre früher, da sind viele Leute auf die Straße gegangen wegen dem Wettrüsten und …“

Lautes Stöhnen in diversen Varianten. Unruhe.

„Echt mal, wen interessiert denn das?“

Natalie stutzt kurz, fährt dann aber unbeirrt mit etwas lauterer Stimme fort:

„Okay, lange her. Ich will auch kein Geschichtsprojekt machen. Aber trotzdem. Heute sagen alle: Frieden schaffen mit Waffen, anders geht’s nicht. Aber ich glaube, das ist falsch. Frieden und Waffen – das passt einfach nicht. Das ist wie Feuer und Wasser. Funktioniert auch nicht.“

Sie guckt sich um, als erwarte sie Beifall, erntet aber nur ungläubige Gesichter.

„Heißt das, du willst, dass Waffen abgeschafft werden?“, fragt Timo verblüfft und kippelt mit dem Stuhl nach hinten.

Natalie nickt energisch.

„Geht’s noch?“

Timo schüttelt den Kopf, sagt aber nichts weiter.

„Eh, Natalie“, ruft Patrick. „Du weißt schon, wo du lebst, oder?“

Er tippt sich mit dem Finger an die Stirn.

„Was willst du damit sagen, Patrick?“, fragt Frau Zylbersztajn, sehr gelassen, aber bestimmt.

Patrik hebt beide Hände und lässt sie auf seine Oberschenkel platschen.

„Also echt, ist doch sonnenklar!“

„Er will sagen“, übernimmt die kräftige Jennifer eifrig mit lauter Stimme, „der Ort, in dem wir leben, ist durch die Herstellung von Waffen groß geworden, und wir leben auch heute noch von der Herstellung von Waffen. Das willst du doch sagen, oder, Patrick?“

Patrick nickt. Und nicht nur er. Jennifer fährt fort:

„Und du willst sagen: Wir haben hier gerade 200 Jahre Waffenproduktion gefeiert, alle zusammen.“ Sie nimmt Natalie ins Visier: „Hast du das nicht mitgekriegt, Natalie? Das Stadtfest und alles?“

„Genau!“, sagt Patrick und grinst breit. „Wir alle leben davon – und richtig gut! Du doch auch, Natalie. Deine Eltern arbeiten im Werk. Genau wie meine.“

Natalie schluckt. Treffer. Aber bevor sie was sagen kann, ergreift wieder Dennis das Wort:

„Okay, egal. Aber Waffen sind einfach wichtig, ohne Waffen geht’s nicht. Bundeswehr und Polizei – die brauchen doch Waffen, oder?“

„Wirklich?“, meinte Natalie.

„Guck dir doch die Welt an, eh!“, sagt Dennis genervt.

„Eben! Genau deswegen!“, erwidert Natalie bestimmt. „Total im Eimer.“

Dennis richtet sich auf und reckt Natalie seinen ausgestreckten Zeigefinger entgegen:

„Klar braucht die Bundeswehr Waffen, wo lebst du denn? Und die Polizei auch. Sollen sie die vielleicht im Ausland kaufen und hier bei uns werden alle arbeitslos? Das ist doch total sinnlos!“

„Genau!“, unterstützt ihn Jennifer, deren Mutter eine Boutique in der Altstadt betreibt. „Wenn das Werk zumacht, dann sind die meisten Geschäfte und Restaurants platt, weil keiner mehr Geld verdient, das er ausgeben kann. Sollen wir hier alle auf Harz IV oder wie? Komm mal runter, Natalie.“

„Genau!“ Timo lacht verächtlich auf. „Stell dir mal vor, Natalie, da kommt so ein Terrorist und ballert rum, und die Polizei sagt höflich: ‚Bitte legen Sie die Waffe weg, können wir das nicht auch anders regeln?‘ Mensch, Natalie! Was für’n Scheiß ist das denn? Die machen uns fertig, wenn wir uns nicht wehren. Hat schon genug Tote gegeben.“

„Aber wenn die Terroristen keine Waffen hätten …“, wendet Natalie ein, aber weiter kommt sie nicht.

Alle reden durcheinander, die Stimmen überschlagen sich fast. Natalie lehnt sich enttäuscht zurück.

Frau Zylbersztajn steht auf, bittet um Ruhe und meint, man könne das Thema ja auch kontrovers diskutieren. Es müssten ja nicht alle in der Gruppe derselben Meinung sein. Sie sollten sich zu einem Thema eine Kompetenz erarbeiten, was nicht heiße, sie müssten alle dieselbe Meinung vertreten. Meinungen bilde man sich ja erst auf Grund von Fakten und Erfahrungen, und die müsse man erst mal zusammentragen – ein wichtiger Arbeitsschritt bei dem Projekt.

Achselzucken. Schweigen. Feindseliges Schweigen.

Natalie guckt trotzig im Kreis herum, bis ihr Blick an Bobi hängenbleibt. Bobi und sie haben im letzten Schuljahr einen Video-Kurs gemacht und beide sind schnell ein Team geworden – sie Ton, er Bild –, und haben richtig gut zusammengearbeitet, ohne Streit, ohne Stress. In Natalies Augen steht: Wenn hier jemand mitmacht, dann Bobi.

Nicht zu Unrecht. Bobi findet Natalies Projekt-Idee auch gut. Richtig gut. Er sieht das ähnlich wie sie. Krieg ist furchtbar, wahrscheinlich braucht man wirklich keine Waffen. Gewalt geht nicht durch Gewalt weg. Aber leider ist Bobi kein Held. Und da sich ganz eindeutig nicht genug Leute für diese Gruppe finden, muss er sich ja nicht auch noch raushängen wie Natalie und blöde Sprüche kassieren. Allein gegen alle, das hat er nicht drauf. Er senkt den Kopf. Auch wenn das feige ist, auch wenn es ihm peinlich ist, feige zu sein: Er hält sich lieber zurück.

Die Sache scheint gelaufen zu sein.

Doch plötzlich meldet sich Amal, die heute direkt neben Bobi sitzt, eine der eher Stillen der Klasse. Aber jetzt spricht sie laut und deutlich:

„Ich mache mit, Natalie. Schreiben Sie mich auf, Frau Zylbersztajn.“

Und im selben Augenblick reckt auf der anderen Seite des Klassenraums Manuel, der Streber, seinen Arm hoch, schnippst laut mit den Fingern und meint trocken:

„Bin auch dabei.“

Nicht zu fassen, durchfährt es Bobi, der Zug ist noch nicht abgefahren! Und ehe er sich versieht, hat er seinen linken Arm gehoben und kann Natalie wieder in die Augen gucken.

„Ihr spinnt doch!“, sagt Patrick und tippt sich wieder mit dem Finger an die Stirn. „Fantasten!“

Der Schulleiter genehmigt das Projekt Frieden schaffen ohne Waffen, aber nicht ohne Frau Zylbersztajn eindringlich auf ihre Verantwortung hingewiesen zu haben. Der Schulleiter fürchte, so erklärt es die Lehrerin der kleinen Gruppe, es könnten ideologische Fronten aufgebaut werden. „Wir wissen doch, aus welcher Zeit dieser Spruch stammt!“, habe er gesagt und verlangt, die Lehrerin solle unbedingt darauf achten, dass das Thema ausschließlich sachlich und unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten angegangen werde. „Bedenken Sie bitte, in welcher Stadt wir leben“, habe der Schulleiter ihr noch mit auf den Weg gegeben.

Bobi beobachtet fasziniert, wie sich die heute smaragdgrünen Steine von Frau Zylbersztajns Halskette bei jedem ihrer Worte sachte auf der braunen Haut bewegen. Genau das würde er mit der Kamera aufzeichnen, wenn er eine hätte, überlegt er.

Manuel lacht laut auf:

„Verantwortung!“, sagt er. „Echt mal! Der Typ baut doch selber eine ideologische Front auf. Bedenken Sie, in welcher Stadt wir leben.“ Manuel kann die Stimme des Schulleiters fast perfekt nachahmen. „Hallo?“

„Ist doch Erpressung, oder?“, sagt Natalie. „Müssen Sie jetzt aufpassen, dass wir nichts gegen das Werk sagen?“

Frau Zylbersztajn zuckt die Achseln.

„Für mich heißt Verantwortung übernehmen, dass ich euch zur Verfügung stehe, wenn ihr mich braucht. Das heißt, ich werde euch Hilfestellung leisten, wenn nötig. Aber ich werde euch nicht reinreden. Und euch auch nicht sagen, wie ihr vorgehen müsst.“

„Okay“, sagt Manuel gedehnt.

Bobi sagt nichts. Aber er ist schwer beindruckt. Im Klartext heißt das, egal, was sie machen, sie steht hinter ihnen. Wenn Frau Zylbersztajn das wirklich so meint, ist das groß. Ob das an dem Thema liegt? Weil sie das auch so sieht?

Frau Zylbersztajn fährt fort:

„Ihr habt euch da ein Riesenthema vorgenommen. Seht zu, dass ihr es ein bisschen eingrenzt, sonst verzettelt ihr euch hoffnungslos. Möglicherweise wollt ihr auch einen persönlichen Bezug herstellen – es ist ja schließlich ein Thema, das sehr polarisiert, wie ihr ja schon in eurer Klasse bemerkt habt.“

Amal nickt nachdenklich.

„Abgesehen vom Inhalt müsst ihr natürlich eine Form finden, wie ihr eure Fakten zusammenstellt, wie ihr sie präsentiert.“

„Ich hab schon eine Idee“, sagt Natalie fröhlich und holt aus ihrer Tasche eine kleine Kamera.

„Du willst einen Film machen?“, fragt Bobi. „Geil.“

„Genau! Wozu haben wir denn den Kurs im letzten Jahr gemacht?“

„He, he, mal langsam“, sagt Manuel. „Wie soll denn das gehen? Ich hab von Film keine Ahnung. Du, Amal?“

Amal schüttelt den Kopf.

„Das macht doch nichts“, antwortet Natalie. „Also, die technischen Sachen, die können Bobi und ich. Er die Bilder, ich den Ton. Das können wir. Die Kamera hab ich mir schon vom Medienwart ausgeliehen, die Sachen für den Ton kriege ich auch. Was wir aufnehmen, das können wir doch alle zusammen überlegen und so? Oder?“

„Müssen wir das jetzt schon entscheiden?“, fragt Manuel.

„Lasst euch Zeit“, sagt Frau Zylbersztajn. „Denkt in Ruhe darüber nach. Als eine Option. Aber bevor ihr weiterdiskutiert, müssen wir noch ein paar Sachen klären.“

Es geht um Termine für Zwischenberichte, Fertigstellung, mündliche Prüfung und um die Benotung der Arbeit. Denn natürlich werden sie benotet, und zwar alle gemeinsam, und diese Note geht in die Gesamtnote von Ethik und von Geschichte ein.

„Eh, das ist aber ungerecht!“, braust Manuel auf. „Ich kann mir doch nicht von euch meinen Durchschnitt versauen lassen!“

Manuel braucht gute Noten, weil er am Ende des Schuljahrs aufs Gymnasium wechseln will.

„Wer sagt denn, dass du nicht unseren versaust?“, gibt Natalie zurück.

Manuel bläst die Backen auf und schüttelt genervt den Kopf.

„Müsst ihr eben gut zusammenarbeiten“, sagt Frau Zylbersztajn lakonisch. „Das schafft ihr schon. Übrigens“, sagt sie und steht auf. „Ihr könnt gerne den Klassenraum zum Arbeiten benutzen, nach dem Unterricht.“

Mit diesen Worten lässt sie die vier allein.

„Also, ich bleib nicht länger in der Schule als nötig“, sagt Bobi. „Hier kann ich nicht arbeiten, hier schrumpft mein Hirn. Außerdem muss ich jetzt los. Gitarrenunterricht.“

Auch die anderen wollen auf keinen Fall in der Schule arbeiten.

„Bei uns im Restaurant?“, schlägt Bobi vor. „Mit Getränken?“

„Aber im Restaurant ist es doch viel zu laut. Wie sollen wir da Aufnahmen machen?“, meint Natalie und wedelt mit der Kamera.

„Hey! Wir müssen doch erst überlegen, ob wir überhaupt einen Film machen und so“, meint Amal und zieht die Stirn kraus. „Erst mal bei Bobi, find ich gut. Und dann können wir immer noch was Ruhiges suchen.“

„Genau. Wir gehen auf den Friedhof!“, knurrt Manuel.

Sie haben sich für den frühen Abend in der Casa Acracia verabredet, dem Restaurant von Bobis Eltern am Rande der Altstadt. Die Sonne scheint, Bobi hat einen Tisch auf der Terrasse ausgesucht, der ganz außen liegt.

Als alle da sind und bei Bobi am Tisch sitzen, kommt der Kellner zu ihnen, nimmt Bobi kurz in den Arm und sagt fröhlich:

„Hallo, ich bin Xabier, Bobis Vater, seid herzlich willkommen!“

„Das ist Amal, das Manuel und das Natalie“, stellt Bobi die kleine Gruppe vor.

„Schön, dass ihr hier seid, ihr seid heute unsere Gäste“, erwidert Xabier lächelnd, streicht sich seine wilden Wuschellocken aus der Stirn und nimmt ihre Bestellungen entgegen. Kurz darauf serviert er die Getränke.

„Heißt das was, Casa Acracia“, fragt Amal und zeigt auf das Schild über dem Eingang.

„Casa – mit scharfem s! – ist Spanisch und heißt Haus, und Acracia ist der Vorname von meiner Oma, meine Großeltern haben das Restaurant aufgemacht, irgendwann vor vierzig Jahren oder so.

„Bedeutet Acracia was?“

„Ja, sowas wie: ohne Herrschaft, ohne Macht.“

„Echt? Wer gibt denn seinem Kind so einen Namen?“, fragt Manuel.

Bobi zuckt die Achseln.

„Die Eltern, nehme ich mal an. Die waren Anarchisten, hat mir meine Oma erzählt. Haben gegen Franco gekämpft.“

„Anarchisten?“

Manuel bekommt runde Augen.

„So Bombenleger und so?“

Xabier, der ein Schälchen mit Erdnüssen und eines mit Oliven an den Tisch bringt, guckt Manuel an, grinst und sagt:

„Ach, Quatsch! Anarchisten sind Leute, die keine Regierung wollen, keinen Staat, keine Macht, alle Menschen sollen selber bestimmen. Weiter nix. Willst du doch auch, selber bestimmen, oder?“

„Schon“, brummt Manuel. „Aber wenn das nun jeder machen würde?“

„Eben, genau darum geht’s“, lächelt Xabier, legt ihm kurz die Hand auf die Schulter und läuft nach drinnen, weil die Küche klingelt.

Manuel guckt ihm mit großen Augen hinterher.

Amal sagt:

„Krasse Idee. Muss ich mir mal durch den Kopf gehen lassen.“

„Sowas macht Xabier gerne“, sagt Bobi. „Wirft einem solche Brocken hin und sagt dann: Denk mal drüber nach.“

„Nice“, sagt Amal und nickt.

„Aber jetzt nicht, jetzt wollen wir über das Projekt reden!“, sagt Natalie und guckt dabei so tatendurstig, als wollte sie einen Spatz in der Regenrinne vor dem Ertrinken retten. Als Erstes möchte sie klären, ob sie nun einen Film machen oder nicht. Manuel sperrt sich, bringt als Alternative Powerpoint ins Spiel, aber da verdrehen die anderen drei sofort die Augen. Powerpoint sei total abgerockt, gehe gar nicht. Weil niemandem was Besseres einfällt, bleibt es erst mal beim Film. Manuel besteht aber darauf, trotzdem Daten und Fakten schriftlich zu sammeln, er will eine Dropbox oder eine Cloud oder sowas einrichten.

„Okay. Und lasst uns ´ne Gruppe einrichten“, sagt Amal.

„Genau“, sagt Manuel und zückt sein Handy. „Ich weiß sogar schon einen Namen!“

„Und?“, fragt Bobi.

„Fantasten!“

„Wieso das denn?“, fragt Natalie irritiert.

„Na, wegen Patrick“, sagt Amal lächelnd. „Nice.“

„Das klingt blöd!“, sagt Natalie. „Wir meinen das doch ernst, oder?“

„Eben“, sagt Amal. „Genau deswegen.“

„Cool“, sagt Bobi. „Aber … wir haben doch auch Mädchen dabei!“

„Genau!“

Amal grinst.

„Sag ich doch! Wir sind doch gar keine Fantasten! Bloß in Patricks Augen. Ist sozusagen ein Zitat.“

Natalie blickt sie verwundert an, sagt aber nichts mehr.

Ein paarmal Tippen, und alle sind miteinander verbunden.

Jetzt endlich kommt Natalie dazu, auf den Tisch zu packen, was sie schon die ganze Zeit vorschlagen will. Sie möchte, dass sie als Erstes Interviews mit sich selbst machen.

„Vor der Kamera. Warum wir bei dem Projekt mitmachen, wer wir sind und so. Ich meine, wir kennen uns doch gar nicht richtig und so.“

„Wie jetzt?“, fragt Bobi erstaunt und nimmt einen Schluck von seiner Apfelschorle. „Geht’s jetzt um uns oder um Frieden und so?“

Für das Projekt müssten sie in jedem Fall Interviews machen, meint Natalie, da sei es doch gut, wenn sie das schon mal ausprobiert hätten. Also warum nicht erst mal bei sich selbst anfangen?

Skeptische Blicke.

„Guckt mal, das ist sozusagen ins Unreine“, sagt Natalie beschwörend. „So eine Art Selbstvergewisserung. Äh, sagen wir ein gespiegeltes Selfie.“

„Geht’s noch komplizierter?“, meint Manuel. „Also, du willst, dass wir uns vorstellen, also du zum Beispiel sagst vor der Kamera, wer du bist, wovon du nachts träumst, in wen du verliebt bist, und warum du das Projekt machst. So, ja?“

Natalie holt tief Luft, zieht die Augenbrauen hoch, antwortet aber nicht. Manuel grinst, dann fügt er hinzu:

„Okay, warum nicht. Kann lustig werden. Bin dabei.“

Amal hebt den Daumen, Bobi auch.

„Aber es müssen alle ehrlich sein“, sagt Amal. „Sonst mach ich nicht mit. Ich hab keinen Bock auf fake storys.“

Manuel zieht sein „Okay …“ kaugummilang, Bobi nickt eifrig und Natalie meint, sonst habe das alles ja keinen Sinn.

„Ich meine, ihr habt doch gehört, wie die anderen drauf sind.“

Das Telefon des Restaurants klingelt laut in ihr Gespräch. Xabier verschwindet hinter der Bar.

Gleichzeitig betritt eine größere Gruppe die Terrasse, Leute vom Chor Liederreigen, die nach dem Singen gemeinsam Essen gehen. Xabier kommt herausgeeilt, macht sich sofort daran, Tische zusammenzustellen und ruft dabei seinem Sohn zu:

„Bobi, te necesito. María llamó, está enferma, y hay un montón de trabajo.“

„Na toll“, erwidert Bobi und zieht ein Gesicht. „Und jeder kann machen, was er will, ja?”

„Venga, es otra cosa y tu lo sabes.”

Xabiers Ton lässt keinen Zweifel offen.

„Was ist denn los?”, fragt Natalie.

„Sorry, die Party ist zu Ende. Ihr müsst ohne mich weitermachen. Die Frau, die hinterm Tresen arbeitet, ist krank, ich muss einspringen; ihr seht ja, was los ist. Scheiße, aber was soll ich machen?“

Xabier verteilt Speisekarten an die neuen Gäste und nimmt die Getränke auf. Bobi geht hinter die Bar, Bier zapfen, Mineralwasser eingießen, Radler oder Schorle mischen, Weinflaschen aufmachen, Gläser spülen, Gläser spülen, Gläser spülen und Cafecitos zubereiten. Die meisten Gäste bestellen allerdings Espresso. Spanier oder Italiener, wer will das schon so genau wissen.

Kurz darauf beenden Natalie, Manuel und Amal das Treffen und brechen auf. Amal kommt zum Tresen und informiert Bobi:

„Wir treffen uns übermorgen um die gleiche Zeit im Schrebergarten von Natalies Eltern, in der Kolonie Unsere Scholle, und machen erst mal die Interviews mit uns, okay?“

Er nickt und überlegt krampfhaft, was er sagen könnte, damit sie noch ein bisschen bleibt. Aber da hat sie schon „Tschüs, bis morgen!“ gesagt, und weg ist sie. Enttäuscht blickt er ihr hinterher.