Yoga Psychologie
Handbuch zur Entwicklung der Persönlichkeit
Yoga Publications Trust, Munger, Bihar, India
© Practical Yoga Psychology
Bihar School of Yoga Indien 2005
Printed by Yoga Publications Trust
First edition 2005
Reprinted 2006, 2008, 2009, 2012
© Yoga Psychologie – Handbuch zur Entwicklung der Persönlichkeit Satyananda Yoga Zentrum e.V. (SYZ) Germany 2017
Für die deutsche Ausgabe:
1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten. Mechanische, elektronische oder fotografische Nachbildung, Übertragung oder Speicherung in einem Datenabfragesystem sind ausdrücklich nur mit schriftlicher Genehmigung vom SYZ möglich.
Die Begriffe Satyananda Yoga und Bihar Yoga sind eingetragene Warenzeichen der IYFM. Die Nutzung dieser Namen ist nur für dieses Buch genehmigt und berechtigt nicht zu einer weiteren Nutzung.
Deutsche Übersetzung: Christa Thompson
Satz: Ute Bley, Christoph Hoffmann
Lektorat: Swami Prakashananda Saraswati
ISBN Buch 978-3-928831-45-1
ISBN ePub eBook 978-3-928831-47-5
ISBN .mobi eBook 978-3-928831-46-8
Satyananda Yoga Zentrum e.V.
Ananda Verlag
Fischerstraße 25
23909 Ratzeburg Germany
www.satyananda–yoga.de / www.yoga–anandaverlag.de
Druck: SeeDruck Germany http://www.druckamsee.de/
Widmung
Swami Sivananda Saraswati, der Swami Satyananda Saraswati in die Geheimnisse von Yoga eingeweiht hat, in tiefer Ergebenheit gewidmet.
Dieses Buch ist Swami Satyananda Saraswati gewidmet, der es überhaupt möglich machte und Swami Niranjanananda Saraswati, der die entscheidende Empfehlung gab.
SWAMI SIVANANDA SARASWATI
Swami Sivananda Saraswati wurde 1887 in Pattamadai (Tamil Nadu) geboren. Sein Leben als Arzt ließ er schon früh hinter sich, ging nach Rishikesh und wurde 1924 von Swami Vishwananda Saraswati in die Dashnami Sannyasa Tradition eingeweiht. Er bereiste intensiv ganz Indien und inspirierte die Menschen, Yoga zu üben und ein spirituelles Leben zu führen. Unter seiner Anregung entstanden folgende Einrichtungen: 1936 – Divine Life Society in Rishikesh; 1945 – Sivananda Ayurvedic Pharmacy; 1948 – Yoga Vedanta Forest Academy; 1957 – Sivananda Eye Hospital. Als große spirituelle Stimme seiner Zeit gab er unzähligen spirituell Suchenden, Jüngern und Aspiranten in der ganzen Welt Hilfe und Führung und verfasste über zweihundert Bücher.
SWAMI SATYANANDA SARASWATI
Paramahamsa Satyananda Saraswati wurde 1923 in Almora, Uttar Pradesh, geboren. 1943 begegnete er in Rishikesh seinem Guru Swami Sivananda und wurde von ihm in die Dashnami Sannyasa Tradition eingeweiht. 1955 verließ er den Sivananda Ashram und begab sich auf Wanderschaft. 1956 rief er die International Yoga Fellowship Movement (IYFM) ins Leben und gründete 1963 die Bihar School of Yoga (BSY), die über achtzig von ihm inspirierte Bücher herausgab. Die nächsten zwanzig Jahre seines Lebens lehrte er in Indien und vielen anderen Ländern. 1987 gründete er Sivananda Math, eine karitative Einrichtung für die ländliche Bevölkerung, sowie die Yoga Research Foundation. 1988 löste sich Paramahamsa Satyananda von allen organisatorischen Verpflichtungen, wurde in Kshetra Sannyasa eingeweiht und lebte viele Jahre als Paramahamsa Sannyasin. Im Dezember 2009 ging er in Maha Samadhi ein.
SWAMI NIRANJANANANDA SARASWATI
Swami Niranjanananda Saraswati wurde 1960 in Rajnandgaon, Madhya Pradesh, geboren. Bereits mit vier Jahren kam er zur Bihar School of Yoga und wurde mit zehn in die Dashnami Sannyasa Tradition eingeweiht. Mehr als elf Jahre verbrachte er im Ausland und wurde 1983 nach Indien zurückgerufen. Zu diesem Zeitpunkt ernannte Paramahamsa Satyananda ihn zum Präsidenten der Bihar School of Yoga. Elf Jahre führte er Ganga Darshan, Sivananda Math und die Yoga Research Foundation. 1990 wurde er in die Paramahamsa Tradition eingeweiht und übernahm 1993 offiziell die Nachfolge von Swami Satyananda. Er leitet nationale und internationale Kongresse und verfasste unzählige Bücher. 1994 wurde die Bihar Yoga Bharati unter seiner Leitung gegründet. Bis 2009 leitete er die Bihar School of Yoga in Munger und übergab sie dann an Swami Suryaprakash Saraswati. 2010 gründete er Sannyasa Peeth, damit die erhabene Sannyasa Lebensweise aufrecht erhalten bleibt.
SWAMI SATYASANGANANDA SARASWATI
Swami Satyasangananda (Satsangi) wurde am 24. März 1953 in Chandorenagore, Westbengalen, geboren. Mit 22 Jahren hatte sie mehrere innere Erlebnisse, die sie zu ihrem Guru Swami Satyananda führten. Seit 1981 begleitete sie ihren Guru auf seinen vielen Reisen in Indien und weltweit. In ihr entwickelte sich ein tiefes Verständnis für die yogische und tantrische Tradition und auch für moderne Wissenschaften und Philosophien. Sie ist eine ausgewählte Übermittlerin der Lehren ihres Gurus. Sivananda Math in Rikhia wurde von ihr gegründet; für alle damit im Zusammenhang stehenden Aktivitäten arbeitet sie unermüdlich, um der unterprivilegierten Bevölkerung bessere Lebensbedingungen zu verschaffen. Sie vereinigt in sich Mitgefühl mit gesundem Menschenverstand und ist das Fundament der Vision ihres Gurus, der sie 2009 zur Peethadishwari von Rikhiapeeth und in Paramahamsa Sannyasa eingeweiht hat. Heute ist sie Paramahamsa Satyasangananda.
Inhalt
Einführung
Einige Grundlagen von Yoga
1. Was ist Yoga?
2. Die Koshas – Das große Erbe der Menschheit
3. Die Chakra Ordnung – Zentren der Einheit
4. Die Gunas – Stufen der Persönlichkeitsentwicklung
5. Swara Yoga – Gleichgewicht des Lebens
6. Der Geist und die Persönlichkeit
Persönlichkeit und Entwicklung eines Yogis
7. Persönlichkeit und die Aspekte der Chakra Systeme
8. Entwicklung der Persönlichkeitsaspekte
9. Persönlichkeitsbestimmende Aspekte der Chakras
10. Ein siebendimensionales Persönlichkeitsmodell
Die Vorzüge einer yogischen Lebensweise
11. Allgemeine Betrachtungen
12. Lebensprinzipien im Raja Yoga
13. Das Leben mit Karma Yoga
14. Der Bhakti Weg
15. Jnana Yoga in unserem Leben
Yoga Techniken zur Persönlichkeitsentwicklung
16. Körperübungen
17. Meditationsübungen
Ein Überblick: Yoga und unsere Entwicklung
18. Wie mit Hilfe von Yoga Teufelskreise in Tugendkreise verwandelt werden
19. Yogische Entwicklungsmechanismen
Abschluss
Glossar
Literaturverzeichnis
Referenzen
Stichwortverzeichnis
Einführung
Was brauchen wir Menschen in der heutigen Zeit? Was ist mit unserem inneren Frieden geschehen? Ein alter chinesischer Fluch lautet: „Mögest du in interessanten Zeiten leben.“ Das Wort ‚interessant‘ deutet darauf hin, dass viel passiert, dass das Leben aufgrund all der Konflikte um uns herum sehr schwierig ist. Das trifft tatsächlich genau auf die Zeit zu, in der wir gerade leben. Die Welt ist im Umbruch, überall herrscht Chaos, in persönlichen Beziehungen, auf politischer Ebene und in der Umwelt. Viele Menschen haben den Kontakt zu ihren spirituellen Wurzeln verloren und unser Bewusstsein kann mit dem raschen Wandel, der sich vollzieht, nicht mithalten. Auch unser Gefühlsleben ist durch die Überflutung mit mentalen Eindrücken, emotionalen Reizen, denaturierter Nahrung und Getränken sowie durch vieles mehr beeinträchtigt. Und obwohl es in vielen Regionen der Welt nicht genügend Nahrung gibt, nehmen wir in den reichen Ländern viel zu viel Fett, Salz, Zucker und verunreinigte Nahrungsmittel zu uns.
Gerade jetzt, wo überall nach Lösungsmöglichkeiten für das sich immer weiter verschärfende menschliche Dilemma gesucht wird, breitet sich die jahrtausendealte Wissenschaft des Yoga immer schneller aus. Was ist Yoga? Können wir Yoga verstehen? Hält er für uns eine Erklärung dafür bereit, wie wir miteinander umgehen? Kann Yoga uns helfen, einander zu verstehen? Welchen Nutzen können wir von Yoga erwarten? Kann er uns helfen, die Eigenschaften unserer Persönlichkeit zu entwickeln? Die Antwort auf alle diese Fragen ist ein klares „Ja“.
Es ist die uralte Frage: Warum verhalten sich andere Menschen so, wie sie es tun? Warum verhalte ich mich so? Irgendwie sind wir uns alle sehr ähnlich und doch ganz verschieden. Wenn wir nicht wissen, warum wir selbst so denken, fühlen und handeln, wie wir es tun, dann können wir auch den anderen nicht verstehen. Und wo so wenig Verständnis herrscht, wie könnten wir einander dann lieben? So viele der ‚Missverständnisse‘ zwischen Menschen, Ländern, kulturellen Gruppen, Religionen usw. sind darauf zurückzuführen, dass wir die Unterschiede zwischen uns nicht verstehen und auch nicht wissen, wie sie entstehen. Wenn wir es schaffen, uns selbst kennen zu lernen und einander zu verstehen, dann wird es uns möglicherweise gelingen, mit uns selbst, mit anderen Menschen und der Welt um uns herum in Einklang zu leben. Wenn wir lernen können, uns selbst zu verstehen, können wir beginnen, uns in Richtung unseres höchsten Potenzials zu entwickeln. Aber wie?
Yoga hat eine einzigartige Antwort auf die Frage der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Entwicklung. Die tiefen Einblicke in die Persönlichkeitsstruktur sind über einen Zeitraum von einigen Tausend Jahren von Menschen in hohen Bewusstseinszuständen mittels Intuition und spiritueller Einsicht entwickelt worden. So ist es kaum überraschend, dass einige dieser Antworten den Schlussfolgerungen sehr ähnlich sind, die von westlichen Beobachtern unserer Zeit gezogen wurden. Einige Antworten sind jedoch ganz anders und diese sollten im Westen größere Beachtung finden.
Wonach suchst Du?
Wenn du als ein ganz normaler Mensch auf der Suche nach innerem Frieden und dem Sinn des Lebens bist, dann findest du in diesem Buch Erläuterungen zur yogischen Sicht des menschlichen Lebens und seiner Bestimmung. Es zeigt, wie wir unser Potenzial entwickeln können. Für den Anfang wirst du auch einige einfache aber effektive Übungen finden.
Wer weitergehen und seiner innersten Natur näher kommen will, wird hier einige Antworten und Vorschläge für seine weitere Suche finden.
Psychiatern, Psychologen oder Therapeuten wird dieses Buch eine erweiterte Sicht der menschlichen Persönlichkeit und ihrer Möglichkeiten geben, die als Ergänzung zu ihrem bereits erworbenen Wissen dient. Es wird ihnen ein ganzheitliches Bild der menschlichen Persönlichkeitsstruktur und Bestimmung vermitteln, das weit umfassender ist, als wir im Westen auch nur erahnen können.
Yoga ist einfach zu verstehen, und die Übungen kann jeder, angemessen vorbereitet ist, gut ausführen.
Im Voraus eine Bitte um Entschuldigung
Eine Anmerkung zur geschlechtergerechten Sprache
Beim Sprechen oder Schreiben versuche ich immer, beide Geschlechter gleichermaßen zu berücksichtigen, aber das ist bei der Verwendung des Singulars nicht immer einfach. Die Pluralform ist unproblematisch. Ich schreibe einfach ‚sie‘, wie zum Beispiel „wenn Menschen lachen, stärken sie ihr Immunsystem.“ Beim gleichen Sachverhalt im Singular war es lange üblich, das Maskulinum zu benutzen, zum Beispiel „wenn jemand lacht, stärkt er sein Immunsystem.“ Das ist heutzutage jedoch nicht mehr akzeptabel, weil es diskriminierend ist. Welche Möglichkeiten haben wir also? Wir könnten ‚er oder sie‘ oder umgekehrt oder mal er und mal sie am Anfang verwenden. Möglich wäre auch ‚er/sie‘, ‚sie/er‘ oder beide abwechselnd. Doch diese Formen wirken ein wenig hölzern und sie verlangsamen das Lesen. Ich habe auch schon eine Kombination von s/he gesehen, doch auch das überzeugt mich nicht. Die Lösung, die ich für mich und dieses Buch gewählt habe, ist die Regeln eines nicht diskriminierenden Umgangs miteinander höher zu achten als die Regeln der Grammatik. Und so benutze ich sie, ihre, ihnen usw. für den Plural und den Singular. Ich weiß, dass das grammatikalisch falsch ist, doch dient es dem Lesefluss und ist gängige Praxis in der gesprochenen Sprache, selbst bei hoch gebildeten Menschen.
In einem Fall weiche ich jedoch grundsätzlich von diesem Prinzip ab, nämlich wenn ich direkt aus dem Werk eines anderen Autors zitiere. Denn hier besagt die Regel eindeutig, dass der Name des Autors und die Quelle genannt werden müssen und dass das Zitat wörtlich sein muss.
Eine Anmerkung zu den Sanskrit Begriffen
Warum habe ich in diesem Buch Sanskrit Begriffe verwendet? Hätte ich nicht einfach bei einer modernen Sprache wie Englisch oder Deutsch bleiben können? Was ist Sanskrit überhaupt? Sanskrit ist die Sprache des alten Indien, daher wurden die klassischen Schriften, aus denen Yoga entstanden ist, in dieser Sprache verfasst. So ist es kaum verwunderlich, dass Yoga voll von Sanskrit Begriffen ist, aber in diesem Buch habe ich immer dann darauf verzichtet, wenn es ein passendes deutsches Äquivalent gibt (auch wenn dieses manchmal etwas ungenau ist). Häufig habe ich den Sanskrit Begriff kursiv oder in Klammern dahinter gesetzt, damit es einfacher ist, ihn in den Schriften der Literaturempfehlungen zu finden. Du kannst, wenn du willst, erst einmal darüber hinweggehen, und später, wenn du sie brauchst, zu ihnen zurückkehren.
Doch manche Begriffe haben keine passende Übersetzung. Sie stehen für Konzepte und Bewusstseinszustände, von denen der nicht yogisch Denkende nicht einmal träumt. Deshalb gibt es keine entsprechenden Worte in Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Deutsch oder einer anderen Sprache. Für diese Begriffe musste ich das Sanskritwort verwenden. Zudem ist es so, dass die Übersetzung den Sachverhalt manchmal nicht gänzlich trifft. Selbst das Wort ‚Haltung‘ zur Beschreibung der ‚Asana‘ genannten körperlichen Übung gibt sie nicht völlig in allen ihren Wirkungen wieder. Aber wir tun unser Bestes.
Eine Anmerkung zu meiner Herangehensweise
Ich werde in diesem Buch einen sehr kleinen Teil des riesigen Themengebietes Yoga präsentieren, eines Systems, das unzählige Verzweigungen hat, grobstofflich und feinstofflich. Zur Vereinfachung habe ich versucht, mich auf den Aspekt der Persönlichkeit und die Themen zu konzentrieren, die meiner Meinung nach als wichtigste yogische Konzepte ihrer Entwicklung anzusehen sind. Sollten Yoga Gelehrte mir nun vorwerfen, dass ich ihren Spezialgebieten nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hätte oder meine Betrachtungsweise ungewöhnlich sei, dann kann ich dem nur zustimmen. Aber vielleicht, nur vielleicht, ist genau das von Wert.
Was erwartet uns also?
Wir wollen nun gemeinsam einige der Grundprinzipien von Yoga näher beleuchten, um uns so einen Überblick über die yogische Sicht der Persönlichkeit und ihrer Entwicklung zu verschaffen. Dann können wir verstehen, wie jeder von uns auf dem Weg der Weiterentwicklung durch Yoga und die entsprechenden Techniken eine große Hilfe erhält.
Zunächst werde ich im ersten Kapitel der Frage nachgehen „Was ist Yoga?“ und direkt versuchen, die Frage zu beantworten. In den nächsten fünf Kapiteln werde ich einige der Grundlagen von Yoga erläutern. Das zweite Kapitel zu den Koshas wird unsere Sichtweise erweitern, so dass wir das volle Ausmaß des menschlichen Potenzials erfassen können. Das dritte Kapitel wird in das System der Chakras einführen, der Zentren, die die verschiedenen Aspekte unserer Persönlichkeit repräsentieren und definieren. Dann befassen wir uns im vierten Kapitel mit den Gunas, die, neben anderen Dingen, den Grad der Evolution unserer Persönlichkeit erklären. Dies führt uns im fünften Kapitel zu dem wichtigen Prinzip unseres inneren Gleichgewichts und danach, in Kapitel 6, zur Funktionsweise des menschlichen Geistes aus yogischer Sicht. Dabei werden wir auch die Bereiche herausarbeiten, in denen Einvernehmen mit der westlichen Psychologie besteht.
Anschließend wird es in Kapitel 7 – 10 unsere Aufgabe sein, die bis dahin behandelten Prinzipien zu einem klaren Gesamtbild zusammenzufügen, das uns zeigt, wie diese gemeinsam unsere Persönlichkeit formen. Daraus ergeben sich klare Richtlinien, wie wir unsere Persönlichkeit entwickeln können. So wird in Kapitel 7 anschaulich dargestellt, wie das Chakra System die verschiedenen Aspekte unserer Persönlichkeit repräsentieren. In Kapitel 8 werden die unterschiedlichen Ebenen der Entwicklung dieser Persönlichkeitsaspekte aus der Perspektive der Gunas heraus betrachtet. Wie die Persönlichkeit eines Menschen durch die Dominanz eines oder zwei dieser Aspekte beeinflusst wird, erfahren wir im 9. Kapitel. Schließlich werden all diese Konzepte in Kapitel 10 zu einem siebendimensionalen Modell der menschlichen Persönlichkeit zusammengefügt.
In Kapitel 11–15 werden dann hilfreiche Yoga Grundlagen vorgestellt, die sich in das Leben integrieren lassen, gefolgt von einer praktischen Übersicht in Kapitel 16–17 über eine ganze Reihe yogischer Techniken, die unseren yogischen Lebensstil bereichern und so zur Entfaltung unserer Persönlichkeit beitragen. Schließlich fügen wir in Kapitel 18–19 alle bis dahin behandelten Grundsätze zu einem Gesamtbild zusammen, das die Evolution aller Aspekte unserer Persönlichkeit durch Yoga beschreibt.
Einige Grundlagen von Yoga
1
Was ist Yoga?
Natürlich weiß jeder, was Yoga ist, oder? Das Zeug, was Filmstars heutzutage machen, um schlank zu bleiben? Vielleicht. Wichtig ist jedoch nicht, wie man es nennt. Was man macht, sagt viel mehr darüber aus, ob es Yoga ist oder nicht.
Körperliche Verrenkungen in der Turnhalle? Je geschmeidiger und müheloser sie sind, desto näher kommen sie vielleicht der wirklichen Yoga Übung. Viele sind jedoch nur eine Reihe von rhythmischen Gymnastikübungen, die auf Yoga Haltungen basieren und aufgrund ihrer schnellen und extremen Dehnungen, kombiniert mit hüpfenden ‚ballistischen‘ Bewegungen, keineswegs Yoga sind.
‚Ohne Schmerzen kein Gewinn‘. Das mag eine Grundregel bei masochistischem Sport sein, gehört jedenfalls nicht zu Yoga.
Sich wie eine Brezel zu verrenken und zu verbiegen, entspricht oft dem Bild, das sich Menschen von Yoga Haltungen machen. Tatsächlich sind jedoch die vollkommenen Haltungen jene einfachen entspannenden Dehnübungen, die der Erfahrungswelt normaler Menschen vertraut sind.
Allgemeiner Stressabbau? Yoga hat sich als heilsame Methode zur Entspannung erwiesen, die vonjedem in einer Stress-situation unmittelbar genutzt werden kann. Das ist schon näher dran, aber das macht nur einen kleinen Teil von Yoga aus.
Die Yoga Kurse vor Ort, von denen es zigtausende überall auf der Welt gibt? Ja, wir kommen der Sache schon näher, wenn sie von kompetenten Yoga Lehrern vermittelt werden, die eigene Erfahrung haben und einfache Techniken benutzen, die auf die Fitness, Beweglichkeit und Erfahrung der Schüler zugeschnitten sind. Unter diesen Voraussetzungen können wir dort sicherlich einen kleinen Teil dessen verstehen, was wir durch Yoga zu erreichen versuchen.
Der in einer Höhle in tiefe Meditation versunkene Yogi – das ist ein weiteres Bild, das Menschen mit Yoga verbinden. Allerdings haben die meisten Yogis nur wenig Zeit, in Höhlen zu sitzen, weil sie zum Wohle der Menschen ganz und gar in der Welt aktiv sind.
Die Leute haben die unterschiedlichsten Vorstellungen davon, was Yoga ist, aber nur selten erfassen sie auch nur annähernd die wahre Bedeutung von Yoga in seiner ganzen Weite und Tiefe. Ziel dieses Buches ist es, ein Bild von dem ganzen Umfang der Yoga Lehre zu zeichnen und zu erläutern, wie wir Yoga in unserem Leben nutzen können, um unser höchstes Potenzial zu verwirklichen.
DEFINITIONEN VON YOGA
Man sagt, wenn man ein Publikum einschläfern will, soll man den Vortrag mit einer Definition beginnen. Vielleicht gilt dies auch für Bücher. Wenn wir allerdings verstehen wollen, worum es in diesem Buch geht, müssen wir uns zunächst darauf verständigen, was bestimmte Begriffe, wie ‚Yoga‘, ‚Persönlichkeit‘ usw., bedeuten.
Es gibt viele Definitionen von Yoga, je nachdem, von welchem Standpunkt aus wir Yoga betrachten. Drei dieser Sichtweisen sind:
Wir werden uns nun der Reihe nach mit diesen Fragen beschäftigen und dabei immer im Blick behalten, dass sie Teile eines zusammenhängenden Ganzen darstellen, das wir uns nur aus verschiedenen Perspektiven ansehen.
Was wollen wir im Leben erreichen und wie kann Yoga uns dabei helfen?
Diese Frage bringt uns zu der ersten Definition von Yoga, die dies folgendermaßen klar und deutlich beantwortet: Wir sind bestrebt, alle unsere unterschiedlichen Dimensionen als Individuen zu ENTWICKELN. Aus dieser Perspektive könnte eine Definition in Anlehnung an Swami Niranjanananda Saraswatis Worte so lauten:
Yoga ist ein uraltes System, das in sich eine Philosophie, eine Lebensweise und Techniken vereinigt, die den Menschen in seiner Ganzheit weiterentwickelt, das Körperliche, die Vitalität, den Verstand und die Gefühle, Weisheit, ethische Grundsätze und eine höhere Qualität der Beziehungen, sowie die Erkenntnis einer spirituellen Realität in jedem von uns.
Er fügt noch hinzu:
Nach der Yoga Tradition ist Entwicklung ein systematischer Prozess, in dem wir lernen, uns selbst ins Lot zu bringen. Es ist ein Prozess, in dem wir die Fähigkeit erlangen, unsere guten Eigenschaften optimal und kreativ zum Ausdruck zu bringen.
In dieser Definition sind wichtige Ansatzpunkte enthalten, die wir nun einzeln nacheinander betrachten wollen.
1. Yoga ist sehr alt – es sind die frühen Anfänge
Da Yoga ein System der persönlichen Erforschung und Erfahrung ist, könnte man sagen, dass seine Ursprünge bereits dort liegen, wo Menschen sich zum ersten Mal ihrer selbst bewusst wurden und sich zu fragen begannen, wer sie sind. Tiere können etwas ‚wissen‘, aber ‚wissen sie, dass sie wissen‘? Menschen verfügen über eine solche Wahrnehmung und dies bildete die Grundlage für unser Streben nach Selbsterkenntnis. Das Wissen über den eigenen Körper und seine Funktionsweise war der Beginn des Selbstverständnisses. Das Wissen über den Verstand und die Denkprozesse war der Beginn der Selbsterkenntnis, und die Erfahrung der transzendentalen Kraft war der Beginn der Selbstverwirklichung.
Dies war nur möglich mit einem gesunden und vitalen Körper, deshalb entwickelten die Menschen die Yoga Haltungen, die Reinigungs- und Atemübungen. Sie brauchten geistige Klarheit, also entwickelten sie Übungen zur Konzentration und Klärung des Geistes, woraus dann die Meditationsübungen entstanden. Später, mit der landwirtschaftlichen Revolution, begannen sie in größeren Gemeinschaften zu leben und entwickelten Philosophien und Verhaltensformen, die ein harmonisches Zusammenleben ermöglichten.
Während die Menschen die verschiedenen Manifestationen der Natur beobachteten, begannen sie, Fragen zu ihrer Bestimmung, zum Schöpfer, zum Sinn des Lebens und des eigenen Platzes in dieser Welt zu stellen. Das Wort ‚Yoga‘ stammt vom Sanskrit Wort Yug, ‚Joch‘, was so viel bedeutet, wie etwas zusammenfügen. Das wiederum verweist auf Verbundenheit, Einheit, Harmonie, Gleichgewicht zwischen innerem und äußerem Bewusstsein und den Manifestationen der äußeren Welt. Somit bedeutet Yoga Selbsterkenntnis, Einsicht, Bewusstheit und Einheit mit dem höchsten Bewusstsein als letzte Entwicklungsstufe.
Das früheste schriftliche Zeugnis dessen, was wir als ‚Yoga‘ bezeichnen würden, reicht mehr als 4.000 Jahre zurück in die Zeit der frühen Veden, der ältesten erhaltenen Schriften der Menschheit. Es liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass Yoga einmal in verschiedenen Teilen der Welt verbreitet war, aber aufgrund der Unwägbarkeiten von Politik, Krieg und Hungersnöten hat er hauptsächlich in dem Teil der Welt, den wir heute Indien nennen, überlebt. Und von dort breitet er sich jetzt wieder weltweit aus. Wahrscheinlich wurde er bereits vor der Zeit, in der er schriftlich niedergelegt wurde, über Generationen hinweg mündlich zwischen Lehrer und Schüler übermittelt. Selbst nachdem er verschriftlicht wurde, dauerte die Tradition der mündlichen Weitergabe fort. Und so ist es immer noch, vor allem in Bezug auf die kraftvolleren ‚geheimen‘ Übungen.
2. Philosophie
Die philosophischen Grundlagen von Yoga sind vielfältig und umfassen zahlreiche alte Systeme wie Samkhya, Vedanta und Tantra. Sie befassen sich natürlich mit der Realität der eigenen Existenz, dem Platz, den wir in der Familie und der Gesellschaft, auf dem Planeten Erde und im gesamten Universum einnehmen.
Durch die Yoga Philosophie erhalten wir Antworten auf unsere grundsätzlichen Fragen über uns selbst: Wer sind wir und was ist der Sinn unseres Hierseins? Zu unserem Lebenszweck: Gibt es einen Grund, warum wir hier sind, hat das Leben einen Sinn oder kommen und gehen wir wie Wellen des Meeres? Zu Gesundheit, Wohlbefinden, Krankheit, Schmerz: Haben sie eine Bedeutung, oder haben wir einfach nur Glück oder Pech? Enthalten sie gar eine Lektion für unser Leben? Und schließlich der Tod: Ist er das Ende von allem oder gibt es ein Leben danach, und hat am Ende alles irgendeine Bedeutung gehabt?
Die Yoga Lehre befasst sich auch mit unserer Beziehung zu anderen Menschen – wie diese grundlegend beschaffen ist – ebenso wie mit dem Platz jedes Einzelnen in der Gesellschaft, unseren Pflichten und Rechten. Sie betrachtet auch unser Verhältnis zum Göttlichen, ob dieses höchste Bewusstsein wirklich existiert, und wenn ja, welche Rolle es bei der Erschaffung von ‚allem, was ist‘ und seiner Erhaltung spielt.
Dennoch ist es wichtig zu bedenken, dass Yoga auf einem komplexen philosophischen Gedankengebäude basiert, also keine Lehre ist, an die wir glauben sollen. Allein daran wird schon deutlich, dass Yoga auf keinen Fall eine Religion ist. Yoga ist kein Glaubenssystem, auch wenn es darin spezielle Bereiche gibt, wie Bhakti Yoga, die denen zugänglich sind, die bereits ganz auf das Göttliche ausgerichtet sind. Es geht wirklich nur um die persönliche Erfahrung. Wir werden ermutigt, die Philosophie als Möglichkeit zu betrachten, die Übungen und die Richtlinien zur Lebensführung zu befolgen und uns auf diesem Weg weiter zu bewegen, einfach weil er gut und sinnvoll ist. Und dann, wenn wir selber immer mehr zu dem werden, was wir im Innersten sind, erhalten wir Schritt für Schritt größere Klarheit über die Wirklichkeit und unseren persönlichen Platz in ihr.
3. Richtlinien zur Lebensführung
Wir werden uns in den späteren Kapiteln weit ausführlicher mit dem Thema der yogischen Lebensweise befassen. An dieser Stelle möchte ich nur anmerken, dass sich die Yoga Lehre im Kern damit befasst, wie wir unser Leben führen in Bezug auf: (i) unsere eigene Gesundheit, Hygiene und unser Wohlbefinden, (ii) unser persönliches Umfeld, (iii) wie wir mit anderen Menschen umgehen, (iv) wie wir arbeiten und uns generell verhalten, (v) unser Leben als Lernprozess sowie (vi) unsere Beziehung zum höchsten Bewusstsein, falls das auf dieser Stufe unserer Entwicklung für uns von Bedeutung ist.
4. Yoga Übungen
Yoga ist wie eine riesige Schatzkiste, gefüllt mit Techniken und Übungen, die eine heilsame Wirkung auf unsere körperliche Verfassung, Vitalität, unseren Geist, unsere Emotionen, Denkmuster und Gefühlsverfassungen haben und uns befähigen, das in uns schlummernde Potenzial zum Leben zu erwecken. Auch diesen Bereich werden wir in den folgenden Kapiteln ausführlich – in Theorie und Praxis – behandeln.
Doch warum bemühen wir uns überhaupt um Veränderung? Warum tun wir das alles? Warum interessiert uns Yoga überhaupt? Wegen des nächsten Begriffes in der Definition: „sich weiter entwickeln“. Das ist die Crux des Ganzen.
5. Entwicklung
Entwicklung ist der Schlüsselbegriff des gesamten Buches und auch sein zentrales Thema. In der Yoga Lehre ist die persönliche Entwicklung das Schlüsselkonzept des gesamten Lebens. Sie ist der Prozess, der alles andere in Bewegung setzt. Sie führt uns die Erkenntnis vor Augen, dass jedes menschliche Wesen fähig ist, weit über den gegenwärtigen Zustand seines Denkens, Fühlens und Handelns hinaus zu schreiten, und das im Verlauf eines einzigen Lebens. Yoga zeigt uns vor allem, wie wir uns in diesem Sinne entwickeln können.
Was aber wollen wir ‚weiter entwickeln‘? Dies erfahren wir im restlichen Teil der Definition, in dem einige der Eigenschaften des ‚ganzen Menschen‘ aufgeführt werden. Hier erhalten wir mit der Yoga Lehre einen Einblick in die ganzheitliche Sichtweise des einzelnen Menschen. Sie befasst sich mit den fünf Hüllen (Koshas) des Menschen: dem physischen Körper, dem Energiekörper, dem Mentalkörper, dem Weisheitskörper und schließlich mit dem Glückseligkeitskörper, der uns zur Erkenntnis der eigenen spirituellen Wirklichkeit führt. Dies alles werden wir in den folgenden Kapiteln ausführlich behandeln.
Aber vergiss nicht, dass Swami Niranjanananda Saraswati zwei weitere wichtige Punkte der Definition hinzugefügt hat: Erlangung des inneren Gleichgewichts und Ausdruck unserer persönlichen Eigenschaften.
6. Wir lernen, unser inneres Gleichgewicht zu finden
Die Harmonie, die wir mit Hilfe von Yoga in uns herstellen, vollzieht sich auf vielen Ebenen. Wie du dich vielleicht erinnerst, kommt das Wort ‚Yoga‘ vom Sanskrit Wort Yug, ‚Joch‘, was so viel bedeutet wie etwas zusammenzufügen, Einheit, Harmonie, Gleichgewicht.
Genau das geschieht durch die Yoga Übung. Zum einen verbessert sich durch Yoga die Verbindung zwischen den fünf Hüllen. Auch die Schwachpunkte, wie ein kranker Körper, niedrige/unausgeglichene Energie, ein unruhiger Geist und schwankende Emotionen, werden gestärkt. Durch Yoga werden zudem die verschiedenen Elemente innerhalb der einzelnen Koshas ausgeglichen. Die körperlichen Übungen wirken harmonisierend auf das endokrine und neurologische System sowie auf das Immunsystem. Meditationsübungen harmonisieren unsere Wahrnehmung, unser Denken, Fühlen und Verhalten usw.
Schließlich aber führt all dies gemäß der Yoga Lehre zu Harmonie und Einheit des individuellen Bewusstseins mit dem höchsten, dem kosmischen Bewusstsein.
7. Wir entwickeln die Fähigkeit, unsere Eigenschaften optimal und kreativ zum Ausdruck zu bringen
Geht es vielleicht darum? Wir entwickeln uns in Richtung unseres vollen Potenzials, um uns selbst in der Welt bestmöglich und kreativ zum Ausdruck zu bringen? Aus Swami Niranjanandas Sicht ist das ein guter Ausgangspunkt. Vielleicht liegt der Hauptzweck der ganzen Übung von persönlicher Evolution darin, dass wir fähig werden, unseren Platz im Dienste des Planeten Erde und all der Geschöpfe, die auf ihm leben, auszufüllen. Das mag für all jene, die sich darauf gefreut hatten, sich nach der Erleuchtung zur Ruhe zu setzen und durch das Nirvana zu schweben, eine eher enttäuschende oder ernüchternde Botschaft sein. Ein altes buddhistisches Sprichwort lautet: „Vor der Erleuchtung steht Holz hacken und Wasser schleppen; nach der Erleuchtung folgt Holz hacken und Wasser schleppen.“ Dieses ‚Holz hacken und Wasser schleppen‘ geschieht jedoch von einer völlig anderen Bewusstseinsebene aus. Welch enormen Beitrag könnten wir damit zum Wohl des Ganzen leisten! Und damit nicht genug, auf dem Weg dorthin werden in dem Maße, wie wir uns weiterentwickeln, auch unsere Lebensfreude, Liebe, unser innerer Friede, unsere Kreativität und die Qualität unseres Handelns zunehmen. Wenn diese Vorstellung auch für dich verlockend ist, dann lass uns hier weitermachen und sehen, wo wir landen werden.
Wodurch funktioniert Yoga?
Vor mehr als 2.500 Jahren schrieb der große Weise Patanjali eine der wichtigsten philosophischen Abhandlungen aller Zeiten über die Natur des Menschen. Die Yoga Sutras sind ein ‚Handbuch‘ für die Meditation. Es erklärt klar und deutlich den Weg, wie wir Menschen unser höchstes Potenzial verwirklichen können. Der von ihm benutzte Schreibstil war jedoch kurz und knapp und zudem in Sanskrit, so dass seine Lehren in ihrer ursprünglichen Fassung nur wenigen Menschen zugänglich sind.
Zum Glück haben erleuchtete Weise im Laufe der Jahrhunderte leicht verständliche Kommentare zu den Sutras geschrieben und einer der jüngsten und verständlichsten ist Swami Satyanandas Buch ‚Four Chapters on Freedom‘. In diesem Kommentar wird die wunderbare Klarheit der Gedanken dieses großen Meisters deutlich, der offenkundig die höheren Bewusstseinszustände, über die er geschrieben hat, aus eigener Erfahrung kannte.
Bereits zu Beginn der Yoga Sutras erklärt uns der Weise Patanjali, dass es in der Yoga Lehre darum geht, den geistigen Frieden zu finden, jedoch auf einer weitaus höheren Ebene, als wir uns das vorstellen können. Seine genaue Definition von Yoga lautet:
Yogaschitta Vritti Nirodhah
Die Muster des Bewusstseins zum Stillstand zu bringen, das ist Yoga.
Swami Satyananda Saraswati erläutert dies so: „Chitta bedeutet ‚individuelles Bewusstsein‘.“ Hiermit ist das gesamte Bewusstsein eines Menschen gemeint, das alltägliche Wachbewusste zusammen mit all den Erinnerungen im Unterbewussten, einschließlich der verdrängten Inhalte, sowie alle feinstofflicheren Dimensionen des erweiterten Bewusstseins (das manchmal auch als ‚Überbewusstes‘ bezeichnet wird).
Dann fährt er fort: „Der in diesem Sutra genannte Begriff Nirodhah ist offensichtlich als ein Prozess des Blockierens gemeint, wobei jedoch nicht das Bewusstsein an sich blockiert werden soll. Aus diesem Sutra geht eindeutig hervor, dass die Muster (oder die störenden Elemente) des Bewusstseins blockiert werden sollen, nicht das Bewusstsein selbst.“
Nun, das ist wirklich ein gewaltiges Unterfangen. Diese Ebene der geistigen Ruhe ist nur schwer erreichbar. Jenen unter uns, die regelmäßig meditieren, ist das Gefühl des Friedens bekannt, den wir spüren, wenn wir unsere üblichen bewussten Denkmuster hinter uns lassen. Vielleicht haben wir sogar die nachhaltigen positiven Auswirkungen erfahren, die die Löschung unerwünschter, verdrängter Bewusstseinsinhalte aus dem Tiefengedächtnis mit sich bringt, die uns zuvor immer wieder bedrängt und unseren Seelenfrieden gestört haben. Allerdings die Wellen aller störenden Gedankenmuster im Bewusstsein unter Kontrolle zu bringen ...
Über diese hohen Verwirklichungsebenen zu sprechen, die von den wenigen selbstverwirklichten Menschen in der Welt erreicht werden, ist zwar schön und gut, aber was ist mit uns? Was ist mit all den Normalsterblichen, die noch immer mit negativen Gefühlen wie Widerstände, Sorgen, Eifersucht, Rachegedanken, Fanatismus usw. zu kämpfen haben? Die gute Nachricht lautet, dass die Blockaden, die uns daran hindern, unser höchstes Potenzial zu verwirklichen, dieselben sind, die uns Tag für Tag Konflikte und Probleme bereiten. Deshalb sind die Meditationsübungen genauso nützlich für die Verbesserung unserer alltäglichen Erfahrungen und Beziehungen, wie zur Verwirklichung der höchsten Bewusstseinszustände.
Von diesem Ausgangspunkt aus werden wir nun betrachten, was uns der Weise Patanjali zu sagen hat.
Fünf Bewusstseinsmuster
Wir haben bereits festgestellt, dass wir die Muster in unserem eigenen Bewusstsein blockieren, zum Stillstand bringen müssen. Doch was sind diese Vrittis oder Muster? Patanjali zählt sie in Sutra 6 auf:
Pramana Viparyaya Vikalpa Nidra Smritayuh
Die fünffachen Modifikationen des Bewusstseins sind: rechtes Wissen, falsches Wissen, Einbildung, Schlaf und Erinnerung
Dies mag sich etwas merkwürdig anhören, aber wenn wir es genau betrachten, dann werden wir feststellen, dass Patanjali genau die Bereiche beschreibt, die auch Gegenstand der modernen Psychologie und Psychiatrie sind. Deren Arbeit ist jedoch auf die Ebene des Alltagsbewusstseins und der Erinnerung beschränkt und umfasst nicht das gesamte individuelle Bewusstsein. Dennoch gibt es hier Anknüpfungspunkte.
1. Rechtes Wissen: Die Dinge, von denen wir wissen, dass sie wahr sind. Die Ursache für viele unserer Probleme liegt darin, dass wir die Gegebenheiten unseres Lebens überbewerten und überinterpretieren oder ihnen zu viel Gewicht beimessen, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Je negativer wir über sie denken und je weniger wir uns in der Lage fühlen, sie zu bewältigen, desto belastender werden sie. Einen Großteil meiner Arbeitszeit als Psychiater habe ich damit verbracht, Menschen dazu zu ermutigen, Lösungen für die realen Probleme in ihrem Leben zu finden, von denen sie annahmen, sie niemals bewältigen zu können. Dann versuchte ich, ihnen dabei zu helfen, solche, die nicht zu lösen sind, zu akzeptieren und ihnen weniger Bedeutung beizumessen. Viele Menschen verbringen viel Zeit damit, Kleinigkeiten zu Riesenproblemen aufzubauschen. Yoga ermöglicht es uns, diese ‚Realitäten‘ in das richtige Licht zu rücken und sie genauso wahrzunehmen und damit umzugehen, wie sie tatsächlich sind.
2. Falsches Wissen: Die Dinge, von denen wir nur glauben, dass sie wahr sind. Das gesamte Gebiet der kognitiven Psychologie beschäftigt sich mit den unrealistischen Annahmen der Menschen über sich selbst, über andere Menschen und über ihre Umwelt. Unsere Wahrnehmung der Welt und der Menschen in ihr, unsere Denkmuster, Meinungen und Einstellungen sowie unsere gewohnten Verhaltensweisen können alle falsch sein.
Aaron Beck sprach von ‚kognitiven Verzerrungen‘ als der Form, wie Menschen sich selbst emotional und psychisch krank machen, indem ihre Gedanken um falsches ‚Wissen‘ kreisen. Er beschrieb, wie Menschen sich selbst in eine Depression treiben können, indem sie ihre eigenen Stärken, Schwächen, Handlungen und vollbrachten Leistungen sowie die ihrer Mitmenschen generalisieren, personalisieren, größer oder kleiner machen, bagatellisieren und falsch interpretieren.
3. Einbildung: Nur in der Einbildung bestehende Probleme, Ängste wegen Dingen, die gar nicht existieren, oder zukünftige Ereignisse, die niemals eintreffen werden, oder Schuldgefühle wegen längst vergangener Handlungen. Dazu gehören auch Tagträumereien über positive Dinge, Fantasien, die wir nie verwirklichen werden, weil wir zu viel Zeit mit Träumen verbringen.
4. Schlaf: Sogar wenn wir schlafen, können die geistigen Vorgänge Störungen in unserem Bewusstseinsfeld verursachen. Yogis, die sich in hohen Bewusstseinszuständen befinden, sagen von sich selbst, dass sie sogar im Tiefschlaf ‚wach‘ sind. Doch die meisten von uns wissen nicht um diesen Zustand. Wir wissen jedoch, dass Träume verstörend sein können. Wie viele Menschen werden ständig von wiederkehrenden Albträumen ‚verfolgt‘, wenn sie versuchen, Erholung im Schlaf zu finden. In meiner psychiatrischen Praxis habe ich früher viele Kriegsveteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung behandelt. Viele litten in ihren nächtlichen Träumen unter schrecklichen Flashbacks, sie waren wieder mitten im Krieg. Viele hatten regelmäßig wiederkehrende Albträume, in denen sie von feindlichen Soldaten erschossen wurden, und dies über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren, seit dem 2. Weltkrieg.
5. Erinnerungen: Das Unterbewusstsein ist eine machtvolle Quelle für störende mentale, emotionale, physische u.a. Bewusstseinsmuster. Im Westen hat man dies vor mehr als hundert Jahren entdeckt, in der Yoga Lehre ist dies seit Jahrtausenden bekannt. Viele emotional stark belasteten Erinnerungen und Wünsche werden tief ins Unbewusste verdrängt und verursachen dann Störungen auf allen Ebenen unseres Seins. Langfristig ist der richtige Weg, sich mit ihnen zu beschäftigen, sie durch Meditation oder Psychotherapie wieder ins Bewusstsein zu holen, dann, wenn man sich in einem neutralen, ausgeglichenen Bewusstseinszustand befindet. So entzieht man ihnen ihre Ladung schmerzhafter Energie und neutralisiert sie auf diese Weise.
Wohin geht also die Reise? Und wie gelangen wir dorthin? Der Weg, der in diesem Buch beschrieben wird, ist der Weg des Yoga. Patanjali hat eine einfache Antwort auf diese Fragen. Sie sind als die „acht Stufen“ des Raja Yoga bekannt:
Natürlich haben sich seit Patanjalis Zeiten die uns zur Verfügung stehenden Yoga ‚Werkzeuge‘ in hohem Maße vervielfältigt und verfeinert, die Prinzipien sind jedoch dieselben geblieben.
Patanjali hat genau beschrieben, wie wir mit dem menschlichen Geist umgehen können: durch Betrachtung unseres persönlichen Verhaltens im Alltag, der Qualität unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, durch körperliche Übungen, durch Meditation. Zuerst werden durch sie die Störungen in unserem Bewusstsein aufgelöst und durch sie können wir unser höchstes Potenzial verwirklichen.
Mit welchen Übungen können wir dieses Ziel erreichen?
Dazu befragt, was Yoga ist, würde der Durchschnittsbürger wahrscheinlich damit beginnen, Yoga Haltungen zu beschreiben. Es ist durchaus möglich, dass ihnen die zuvor erläuterten Aspekte und Sichtweisen gar nicht in den Sinn kommen würden, was völlig in Ordnung ist, da die meisten Menschen Yoga nur mit bestimmten Übungen verbinden, insbesondere den körperlichen Übungen. Viele Menschen wissen überhaupt nicht, dass Meditationsübungen ein sehr wichtiger Bestandteil von Yoga sind – tatsächlich sind sie sein Herzstück – oder dass Meditation zuerst in der Yoga Lehre existierte und daraus erst die anderen, heute bekannten Meditationsschulen entstanden, wie buddhistische Meditation, Zen und andere.
Welche Übungen hält Yoga also für uns bereit? Unzählige, so dass wir hier nur eine geringe Anzahl der am häufigsten verwendeten nennen können. Wir können sie in zwei Hauptgruppen unterteilen und unterscheiden sie danach, ob wir sie regelmäßig ausführen, wie Yoga Haltungen und Meditationen, oder ob sie Teil unserer Lebensweise sind. Diese Unterteilung ist nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Wenn wir tiefer in das Thema Yoga einsteigen, erkennen wir, dass beide Gruppen sich in vielen Punkten überschneiden. Zu diesem Zeitpunkt ist diese Unterteilung jedoch für unsere Zwecke erst einmal praktisch.
An dieser Stelle werden die Übungen nur kurz erwähnt, da wir uns später eingehend damit beschäftigen werden.
Auszuführende Übungen
Körperhaltungen (Asanas): Dies sind die bekannten Bewegungsabläufe und Haltungen, die man gemeinhin als Yoga bezeichnet, und es gibt Tausende von ihnen. Einige sind sehr leicht auszuführen. Tatsächlich sind die einführenden Dehnungsübungen, die wir Anfängern in Satyananda Yoga vermitteln, so einfach, dass sie sogar Kranke und sehr alte Menschen mit großem Nutzen ausführen können. Normale Schüler lernen sie zu Beginn, um ihre Beweglichkeit zu verbessern und um die höheren Übungen später korrekt ausführen zu können.
Reinigungsübungen (Shatkarmas): Die Shatkarmas sind eine Gruppe von sechs Körperreinigungsübungen, die Menschen mit verschiedensten körperlichen Schwächen empfohlen werden, ebenso Schülern, die mit Übungen für Geübte beginnen wollen.
Atemübungen (Pranayamas): Sie haben viele Wirkungen, erhöhen unsere Energie, dienen der Entspannung und stellen verloren gegangenes Gleichgewicht auf vielen Ebenen wieder her.
Gesten und Kontraktionen (Mudras und Bandhas): Dies sind Hand- und Körperhaltungen sowie willentlich ausgeführte Muskelblockierungen mit unterschiedlichen Auswirkungen.
Mantra Yoga: Mantras sind bestimmte Schwingungen und Klänge, die alle Dimensionen des Individuums berühren. Das wahrscheinlich bekannteste Mantra ist der Klang AUM.
Mentale Entspannung (Pratyahara): Pratyahara erlaubt es uns, unsere Achtsamkeit von dem Wirrwarr des äußeren Lebens nach innen zu wenden und dort Ruhe zu finden. Sie dienen auch als Vorbereitung auf die Meditation.
Meditation (Dharana, Dhyana und Samadhi): Dharana und Dhyana sind zunehmend tiefere Bewusstseinszustände, die bis zu Samadhi, dem Zustand der Einheit mit dem universellen oder göttlichen Bewusstsein, führen. Auch wenn die meisten von uns weit davon entfernt sind, diese Bewusstseinszustände zu erleben, bringen doch die Übungen, die dorthin führen, auch uns – auf der jeweiligen Stufe unserer Entwicklung – großen Nutzen.
Lebensstil
Allgemeiner Lebensstil: Einfachheit in unserem Leben, Effizienz, Regelmäßigkeit, Mäßigung, Aktivität, Achtsamkeit in Bezug auf das, was wir unserem Körper an Nahrung, Getränken und Medikamenten zuführen. Außerdem: Achtsamkeit hinsichtlich der Aufnahme von emotionalen und mentalen Inhalten, insbesondere von anderen Menschen in unserem Umfeld oder aus den Medien.
Raja Yoga: Der Weise Patanjali hat die positiven Auswirkungen guter, ethischer Beziehungen und des fürsorglichen Umgangs mit uns selbst auf unseren geistigen Frieden sehr präzise beschrieben. Er hat sie in den ersten beiden Teilen des Raja Yoga, den Yamas und Niyamas aufgezählt.
Karma Yoga: Dies ist eine Lebensweise, deren Verständnis für uns im Westen sehr wichtig ist. Karma Yoga ist eine besondere Lebens- und Arbeitseinstellung, bei der das Dienen im Mittelpunkt steht. Jede Tätigkeit wird für andere und die Welt, losgelöst von persönlichen Erwartungen und Gegenleistungen, mit maximaler Bewusstheit, Konzentration und Versunkenheit in die gegenwärtige Aufgabe ausgeführt.
Bhakti Yoga: Bhakti Yoga ist der Weg der Liebe und Hingabe, der lebendige emotionale Prozess der Liebe zum Göttlichen und das selbstlose Dienen für andere.
Jnana Yoga: Jnana Yoga ist der Weg, der zu wahrem Wissen führt, zur Erkenntnis der Grundwahrheiten, der grundlegenden Realitäten des Lebens und der Bedeutung des höchsten Bewusstseins.
Yoga für den ganzen Menschen
Dies war eine kurze Einführung in Yoga, um eine Ahnung von der Reichweite dieses großartigen Systems zu erhalten. Yoga ist unbestreitbar eine umfassende, philosophische Lehre, die uns viele verschiedene Wege eröffnet, um uns weiterzuentwickeln. Es gibt also für jeden einen Weg, der genau passt. Auch wenn wir uns natürlich einige Übungen oder Grundsätze für unser eigenes Leben herauspicken können, raten die Yogis zu einer Kombination vieler verschiedener Teile des Systems, um den größtmöglichen Nutzen zu erfahren.
In seinem Buch ‚Meditations of the Tantras‘ erklärte Swami Satyananda Saraswati dies folgendermaßen:
Alle Formen von Yoga zielen darauf ab, die Übenden in einen meditativen Zustand zu versetzen. Keine Form sollte ausschließlich geübt werden. Auch wenn sie normalerweise als die verschiedenen Wege von Yoga bezeichnet werden, ist Yoga der Weg und die unterschiedlichen Formen sind die verschiedenen Richtungen dieses Weges, vergleichbar mit einem Seil, das aus mehreren Strängen geknüpft ist. Die einzelnen Stränge haben eigenständige Identitäten, aber nur aus ihnen gemeinsam kann ein Seil entstehen. Auf die gleiche Weise bilden die einzelnen Stränge der Yoga Formen gemeinsam ein Ganzes, das uns zur Meditation führt, vorausgesetzt sie werden alle geübt.
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Die Koshas – Das große Erbe der Menschheit
Aus yogischer Sicht ist ein Mensch etwas Großes und Erhabenes. Yoga lehrt uns, dass der Kern unseres Wesens, unsere spirituelle Realität, göttlich, reines Bewusstsein (Atman) ist. Demnach ist ein Mensch ein spirituelles Wesen, das mit der materiellen Welt interagiert, wobei der Körper/ Geist Aspekt als Vehikel dient.
Der Körper/Geist Aspekt ist ausgestattet mit:
Dabei sollte bedacht werden, dass die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten höchst unterschiedlich sein kann. Die Bandbreite reicht von triebgeleiteter Stumpfheit bis zur erleuchteten Weisheit eines verwirklichten menschlichen Wesens. Dies gilt auch für die emotionalen Fähigkeiten. Hier reicht die Bandbreite von Apathie und Hass zu höchstem inneren Glücksgefühl und allumfassender Liebe.
Das menschliche Wesen, das hier beschrieben wird, ist ein vom Körper unabhängiges spirituelles Bewusstsein, das sich jedoch des Körper/Geist-Komplexes als Mittel zur Interaktion mit der Welt bedient und sich auf diese Weise weiterentwickelt. Aus yogischer Sicht sind wir mehr als nur intelligente Tiere.
Eknath Easwaran sagt hierzu in The Compassionate Universe:
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