Rainbow Rowell
Aufstieg und Fall des außerordentlichen Simon Snow
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Rainbow Rowell studierte Journalismus an der University of Nebraska-Lincoln und arbeitete danach mehrere Jahre als Kolumnistin beim Omaha World-Herald. Mit ihrem ersten Jugendroman »Eleanor & Park« (dtv 62639) gewann Rowell 2013 den Boston Globe Horn Book Award und den Printz Award und war nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen im Bundesstaat Nebraska. Sie schreibt Jugendliteratur und Romane für Erwachsene.
Baz und Simon haben Rainbow Rowell keine Ruhe gelassen, nachdem sie ihren Roman »Fangirl« beendet hatte. Denn hier tauchen die Figuren zum ersten Mal auf. Die Geschichte der beiden wollte die Autorin unbedingt erzählen. Und so ist »Aufstieg und Fall des außerordentlichen Simon Snow« entstanden.
»Simon Snow ist der schlimmste Auserwählte, der jemals auserwählt wurde.« Das jedenfalls behauptet sein Zimmergenosse Baz. Und Baz mag ja böse, ein Vampir und darüber hinaus ein kompletter Idiot sein, aber wahrscheinlich hat er damit sogar recht.
Simon kann zwar nicht mal richtig mit seinem Zauberstab umgehen, aber seine nähere und auch weitere Umgebung mit einem Handstreich in Schutt und Asche legen. So mächtig ist seine Zauberkraft und so ungezügelt.
Sein Mentor geht ihm aus dem Weg, seine Freundin will ihn verlassen, und dann ist da noch das magiefressende Monster, das die magische Welt terrorisiert und das eigentlich Simon beseitigen soll. Baz würde einen Heidenspaß haben zu sehen, wie Simon leidet – wenn er denn da wäre. Aber nach den Ferien ist der einfach nicht im Watford Internat, Schule für Magier, aufgetaucht. Da muss man sich doch echt Sorgen machen. Und die macht Simon sich auch und außerdem auf die Suche nach seinem Obererzfeind und der Ursache all seiner Wutausbrüche.
Deutsche Erstausgabe
2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2015 Rainbow Rowell
Titel der Originalausgabe: ›Carry on – The Rise and Fall of Simon Snow‹, St. Martin’s Press, New York
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:
© 2017 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG München
Umschlaggestaltung: dtv unter Verwendung einer Illustration von Andrea Offermann
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
eBook ISBN 978-3-423-43237-5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-64032-9
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423432375
Für Laddie und Rosey –
Möget ihr eure eigenen Schlachten schlagen
und eure eigenen Flügel formen
Ich gehe allein zur Bushaltestelle.
Bevor ich mich verabschiede, gibt es immer ein Mordstheater wegen meiner Papiere. Den ganzen Sommer über dürfen wir ohne Begleitperson nicht mal in den Supermarkt, aber im Herbst melde ich mich im Kinderheim ab und verschwinde.
»Er besucht eine besondere Schule«, erklärt eine der Bürofrauen ihrer Kollegin. Sie sitzen in einem Plexiglas-Kabuff, und ich schiebe ihr meine Papiere durch einen Schlitz zu. »Eine Schule für schlimme Kinder«, flüstert sie.
Die andere Frau schaut nicht mal auf.
So ist das jeden September, obwohl ich nie zweimal im selben Heim bin.
Das erste Mal, ich war gerade elf, holte mich der Magier persönlich ab. Im folgenden Jahr meinte er dann, ich könne mich allein nach Watford durchschlagen. »Du hast einen Drachen getötet, Simon. Dann schaffst du bestimmt einen langen Fußweg und ein paar Busse.«
Ich hatte den Drachen nicht töten wollen, denn er hätte mir bestimmt nichts getan. (Manchmal träume ich immer noch davon, wie ihn das Feuer von innen heraus verbrannt hat, ähnlich wie eine Zigarette ein Blatt Papier.)
An der Haltestelle esse ich einen Schokoriegel mit Minzgeschmack und warte auf den ersten Bus. Danach kommt noch ein Bus. Dann ein Zug.
Als ich endlich im Zug sitze, versuche ich – mit der Tasche im Schoß, die Füße auf dem Sitz gegenüber – ein wenig zu schlafen, aber ein Mann ein paar Reihen weiter hinten beobachtet mich ständig. Ich spüre seinen durchdringenden Blick im Nacken.
Könnte durchaus ein Perversling sein. Oder ein Polizist.
Oder aber ein Knochengeldjäger, der von den diversen Prämien weiß, die auf mich ausgesetzt sind … (»Es heißt Kopfgeldjäger«, sagte ich zu Penelope, als wir das erste Mal gegen einen antreten mussten. »Nein – Knochengeldjäger«, meinte sie. »Weil sie nämlich Knochen bekommen, wenn sie dich schnappen.«)
Ich wechsle den Wagen und gebe es auf zu schlafen. Je näher ich Watford komme, umso unruhiger werde ich. Jedes Jahr überlege ich, ob ich aus dem Zug springen und mich den Rest der Strecke zur Schule zaubern soll, auch wenn ich dann im Koma wäre.
Ich könnte dem Zug mit einem Beeil dich nachhelfen, aber das ist oft ein riskanter Zauber, zumal meine ersten Versuche am Schuljahresbeginn immer besonders unsicher sind. Eigentlich sollen wir während der Sommerferien üben – kleine, überschaubare Zaubereien, wenn niemand hinsieht. Zum Beispiel die Nachtlichter einschalten. Oder Äpfel in Orangen verwandeln.
»Zaubert eure Knöpfe und Schnürsenkel zu«, schlug Miss Possibelf vor. »Solche Sachen.«
»Ich habe aber nur einen Knopf«, sagte ich, und als ihr Blick dann nach unten zu meiner Jeans wanderte, wurde ich rot.
»Dann nutz deine Magie beim Erledigen von Hausarbeiten«, sagte sie. »Zum Geschirrspülen. Silberputzen.«
Ich hatte keine Lust, Miss Possibelf darauf hinzuweisen, dass meine Mahlzeiten in den Sommerferien auf Wegwerftellern serviert werden und ich mit Plastikbesteck esse (Gabeln und Löffel, niemals Messer).
Ich hatte auch keine Lust, in diesem Sommer meine Zauberkünste zu trainieren.
Es ist langweilig. Und sinnlos. Außerdem bringt es nichts. Üben macht keinen besseren Zauberer aus mir; es führt nur dazu, dass ich explodiere.
Niemand weiß, warum meine Magie so ist, wie sie ist. Warum sie losgeht wie eine Bombe, statt mich zu durchströmen wie ein Fluss oder wie immer es bei anderen funktioniert.
»Ich weiß es nicht«, sagte Penelope, als ich wissen wollte, wie ihre Magie sich anfühlt. »Sie fühlt sich an wie ein Brunnen in mir. So tief, dass ich den Grund nicht sehen oder auch nur ahnen kann. Aber statt einen Eimer runterzuwerfen, stelle ich mir einfach vor, dass ich sie hochziehe. Und dann steht sie mir zur Verfügung, meine Magie – so viel ich davon brauche, so lange ich konzentriert bin.«
Penelope ist immer konzentriert. Und sie ist mächtig.
Agatha nicht. Jedenfalls nicht wie Penelope. Und Agatha redet nicht gern über ihre Magie.
Einmal allerdings – es war Weihnachten – hielt ich Agatha so lange wach, bis sie müde war, und dann erzählte sie mir, dass sich Zaubern bei ihr so anfühlt, als würde sie einen Muskel anspannen und die Spannung halten. »Wie croisé devant«, sagte sie. »Verstehst du?«
Ich schüttelte den Kopf.
Sie lag auf einem Wolfsfell vor dem Kamin, eingerollt wie ein hübsches Kätzchen. »Das ist Ballettsprache«, sagte sie. »Ich halte die Position, so lange ich kann.«
Baz erzählte mir, bei ihm sei es wie das Anzünden eines Streichholzes. Oder wie das Abdrücken einer Waffe.
Er hatte mir das nicht freiwillig erzählt. Es passierte, als wir im fünften Jahr im Wald gegen die Schimäre kämpften. Sie hatte uns in die Enge getrieben, und Baz war nicht stark genug, um sie allein zu erledigen. (Nicht einmal der Magier ist mächtig genug, um es allein gegen eine Schimäre aufzunehmen.)
»Mach schon, Snow!«, schrie Baz mich an. »Mach schon. Leg los, verdammt. Jetzt.«
»Ich kann nicht«, versuchte ich ihm zu erklären. »Es funktioniert nicht einfach so.«
»Doch, verdammt noch mal.«
»Ich kann es nicht mir nichts, dir nichts einschalten«, sagte ich.
»Versuch es.«
»Es geht nicht, Scheiße.« Ich fuchtelte mit meinem Schwert herum – mit 15 konnte ich schon ziemlich gut mit Schwertern umgehen –, aber die Schimäre war nicht wirklich greifbar. (Was so ziemlich immer mein Pech ist. Seit ich mein Schwert trage, lösen sich meine Feinde in Nebel und Spinnfäden auf.)
»Schließ die Augen und zünde ein Streichholz an«, rief Baz. Wir versuchten uns hinter einem Felsen zu verstecken. Baz sagte eine Zauberformel nach der anderen auf, er sang sie fast.
»Was ist los?«
»Genau das hat meine Mutter immer gesagt«, erwiderte er. »Zünde ein Streichholz in deinem Herzen an, dann blase auf den Zunder.«
Baz hat es ständig mit dem Feuer. Es grenzt fast an ein Wunder, dass er mich noch nicht eingeäschert oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat.
Als wir Drittklässler waren, drohte er mir oft mit einem Wikinger-Begräbnis. »Weißt du, was das ist, Snow? Ein lodernder Holzhaufen, ausgesetzt auf dem Meer. Dein Begräbnis halten wir in Blackpool ab, dann können alle deine prolligen Normalo-Freunde kommen.«
»Verpiss dich!«, sagte ich dann und versuchte ihn zu ignorieren.
Ich hatte nie normale Freunde gehabt, weder prollige noch sonst welche.
Wenn es irgendwie geht, meiden mich alle in der normalen Welt. Penelope meint, sie spüren meine Macht und schrecken instinktiv zurück. Wie Hunde, die keinen Augenkontakt mit ihrem Herrchen aufnehmen. (Nicht, dass ich das Herrchen von irgendwem wäre – das meine ich nicht.)
Bei Zauberern bewirke ich das genaue Gegenteil. Sie lieben den Geruch der Magie; ich muss mich richtig anstrengen, damit sie mich hassen.
Mit Ausnahme von Baz. Er ist immun. Vielleicht hat er eine Abwehrtoleranz gegen meine Magie entwickelt, nachdem er sich seit sieben Jahren ein Zimmer mit mir teilt.
An dem Abend, als wir gegen die Schimäre kämpften, schrie er mich so lange an, bis ich explodiert bin.
Ein paar Stunden später wachten wir beide in einer schwarzen Grube auf. Der Fels, hinter dem wir uns versteckt hatten, war zu Staub zerfallen, die Schimäre nur noch Dampf. Vielleicht war sie auch einfach verschwunden.
Baz behauptete, ich hätte ihm die Augenbrauen versengt, aber ich fand, er sah gut aus wie immer.
Typisch.
In den Ferien verdränge ich alle Gedanken an Watford.
Nach meinem ersten Jahr – ich war elf – dachte ich den ganzen Sommer über an die Schule. An alle, die ich dort kennengelernt hatte – Penelope, Agatha, den Magier. An die Türme und das Gelände. Den Tee. Den Pudding. Die Magie. Die Tatsache, dass ich zaubern konnte.
Ich war ganz krank vom vielen Denken an die Watford School of Magicks, bis es irgendwann einfach nur noch ein Tagtraum war. Eine weitere Fantasie, um mir die Zeit zu vertreiben.
Es war so wie früher, als ich davon träumte, später mal Fußballer zu werden – oder dass meine Eltern, meine richtigen Eltern, mich wieder zu sich holen würden …
Mein Vater wäre auch Fußballer. Und meine Mutter ein schickes Model. Sie würden mir erklären, dass sie mich hatten weggeben müssen, weil sie zu jung für ein Baby waren und weil seine Karriere auf dem Spiel stand. »Aber wir haben dich immer vermisst, Simon«, würden sie sagen. »Wir haben dich gesucht.« Und dann würden sie mich in ihre Villa mitnehmen.
Die Villa eines Fußballers … ein Internat für Zauberer …
Bei Tageslicht besehen ist natürlich beides Quatsch. (Vor allem, wenn man in einem Raum mit sieben anderen abgeschobenen Kindern aufwacht.)
In jenem ersten Sommer hatte ich die Erinnerung an Watford jedenfalls stark strapaziert, bis endlich im Herbst meine Busfahrkarte und Anmeldeunterlagen ankamen, zusammen mit einer Nachricht vom Magier persönlich.
Echt. Alles war echt.
Und so verbot ich mir im nächsten Sommer, nach meinem zweiten Jahr in Watford, jeglichen Gedanken an Zauberei. Monatelang. Ich wollte mich davon abschotten. Und mir hat nichts gefehlt, ich hatte keine Sehnsucht danach.
Ich wollte die Welt der Magier im September wie eine große Überraschung auf mich zukommen lassen, wenn es denn so sein sollte. (Und sie kam tatsächlich auf mich zu. Wie bisher immer.)
Der Magier sagte oft, dass ich vielleicht irgendwann die Ferien in Watford verbringen dürfe – oder vielleicht bei ihm, wohin auch immer er in den Ferien verschwindet.
Doch dann kam er zu dem Schluss, dass es besser wäre, wenn ich einen Teil des Jahres bei den Normalen verbringen würde. Um in Kontakt mit der Sprache zu bleiben und meine fünf Sinne beisammenzuhalten: »Möge Härte deine Klinge schärfen, Simon.«
Ich dachte, er meinte meine echte Klinge, das Schwert des Magiers. Irgendwann wurde mir klar, dass er mich meinte.
Ich bin die Klinge. Das Schwert des Magiers. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob mich die Sommer in den Kinderheimen wirklich schärfen. Auf alle Fälle machen sie mich hungriger. Sie sorgen dafür, dass ich mich nach Watford sehne wie, ich weiß nicht, wie nach dem Leben selbst.
Baz und seine Leute – die vielen alten, reichen Familien – bilden sich ein, dass niemand Magie besser verstehe als sie. Sie halten sich für die Einzigen, denen man sie anvertrauen kann.
Aber niemand liebt die Magie wie ich.
Kein anderer Zauberer – keiner meiner Klassenkameraden, keiner ihrer Eltern – weiß, wie es ist, ohne Magie zu leben.
Nur ich weiß es.
Und ich werde alles tun, um sicherzustellen, dass ich immer in ihren Schoß zurückkehren kann.
Wenn ich fort bin, versuche ich nicht an Watford zu denken – aber in diesem Sommer war das fast unmöglich.
Nach allem, was im vergangenen Jahr passiert war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass der Magier etwas so Banalem wie dem Schuljahresende überhaupt Beachtung schenken würde. Wer unterbricht einen Krieg, um die Kinder nach Hause in die Sommerferien zu schicken?
Außerdem bin ich kein Kind mehr. Von Gesetzes wegen hätte ich mit 16 die Pflege verlassen und mir irgendwo eine eigene Wohnung besorgen können. Vielleicht in London. (Ich könnte es mir leisten. Ich besitze eine ganze Tasche voll Kobold-Gold – eine große Reisetasche, und es verschwindet nur, wenn man es anderen Zauberern geben will.)
Aber der Magier hat mich in ein neues Heim geschickt. Nach all den Jahren schiebt er mich immer noch herum wie eine Erbse in der Schale. Als wäre ich dort in Sicherheit. Als könnte der Schatten mich nicht einfach holen oder was immer er mit mir und Penelope am Ende des Schuljahrs angestellt hatte.
»Er kann dich holen?«, wollte Penelope wissen, nachdem wir ihm entkommen waren. »Über ein Gewässer hinweg? Das ist unmöglich, Simon. Dafür gibt es keinen Präzedenzfall.«
»Wenn er mich das nächste Mal wie einen bescheuerten Eichkatzendämon herbeizitiert«, sagte ich, »richte ich es ihm aus!«
Penelope hatte das Pech gehabt, mich am Arm festzuhalten, als es mich erwischte, und so erwischte es sie zusammen mit mir. Ihr schnelles Denken ist der einzige Grund, warum wir heil entkommen konnten.
»Simon«, sagte sie an dem Tag, als wir schließlich im Zug zurück nach Watford saßen. »Die Sache ist ernst.«
»Siegfried und Roy, verdammt, Penny, das weiß ich auch. Er hat mich durchschaut. Ich durchschaue mich nicht mal selbst, aber der Schatten tut es.«
»Wie kommt es, dass wir immer noch so wenig über ihn wissen?«, sagte sie wütend. »Er ist so …«
»Hinterhältig«, sagte ich. »›Der Hinterhältige Schatten‹ und alles.«
»Hör auf herumzualbern, Simon. Die Sache ist wirklich ernst.«
»Ich weiß, Penny.«
Als wir zurück in Watford waren, mussten wir dem Magier unsere Geschichte erzählen. Er wollte sich vergewissern, dass wir nicht verletzt waren, dann schickte er uns fort. Er schickte uns einfach … nach Hause.
Das ergab keinen Sinn.
Und so dachte ich natürlich den ganzen Sommer an Watford. An alles, was passiert war, und alles, was passieren könnte, und alles, was auf dem Spiel steht. Ich zermarterte mir das Hirn.
Und trotzdem verbot ich mir jeden Gedanken an die guten Dinge in Watford. Die machen einen nämlich verrückt, wenn man sie vermisst.
Ich führe eine Liste von Dingen, die ich am meisten vermisse, und ich darf erst an sie denken, wenn ich ungefähr eine Stunde von Watford entfernt bin. Dann gehe ich die Liste Punkt für Punkt durch. Es ist so ähnlich wie langsam in kaltes Wasser eintauchen. Oder vermutlich eher das Gegenteil – wie wenn man nach und nach herunterschaltet, damit einen der Schock nicht überwältigt.
Mit der Liste, meiner Gute-Dinge-Liste, fing ich an, als ich elf war, und wahrscheinlich sollte ich mittlerweile einiges streichen, aber das ist schwerer, als man denkt.
Jedenfalls bin ich jetzt ungefähr eine Stunde von der Schule entfernt, rufe in Gedanken meine Liste auf und presse die Stirn an das Zugfenster.
Was ich vermisse, wenn ich nicht in Watford bin:
Nr. 1 – Sauerkirsch-Scones
Vor Watford hatte ich noch nie Kirsch-Scones gegessen. Nur welche mit Rosinen – und noch häufiger die schlichten aus irgendwelchen Läden, die immer zu lange im Ofen waren.
In Watford gibt es jeden Morgen Kirsch-Scones zum Frühstück, wenn man will. Und auch am Nachmittag zum Tee. Den Tee trinken wir im Speisesaal nach dem Unterricht, vor den Klubs, Fußball und Hausaufgaben.
Ich sitze immer bei Penelope und Agatha, und ich bin der einzige von uns dreien, der Scones isst. »In zwei Stunden gibt es Abendessen, Simon«, sagt Agatha oft pikiert, selbst nach all den Jahren. Einmal wollte Penelope ausrechnen, wie viele Scones ich seit meinem ersten Jahr in Watford schon verdrückt habe, aber dann wurde ihr langweilig, bevor sie die Lösung hatte.
Ich kann einfach nicht auf Scones verzichten, wenn sie vor mir stehen. Sie sind weich und leicht und ein bisschen salzig. Manchmal träume ich von ihnen.
Nr. 2 – Penelope
An dieser Stelle stand früher »Roastbeef« auf der Liste. Aber vor ein paar Jahren beschloss ich, mich auf ein Nahrungsmittel zu beschränken.
Vielleicht sollte ich Agatha über Penelope setzen; Agatha ist meine Freundin. Aber Penelope war zuerst auf der Liste. Wir haben uns in der ersten Schulwoche angefreundet, im Zaubersprüche-Unterricht.
Zuerst wusste ich nicht, was ich von ihr halten soll – ein dickliches kleines Mädchen mit hellbrauner Haut und knallrotem Haar. Sie trug eine spitze Brille, wie eine Hexe auf einer Kostümparty, und an ihrer rechten Hand prangte ein riesiger violetter Ring. Sie wollte mir bei einer Aufgabe helfen, und ich glaube, ich habe sie nur angestarrt.
»Ich weiß, du bist Simon Snow«, sagte sie. »Meine Mum hat mir erzählt, dass du hier bist. Sie sagt, du bist sehr mächtig, wahrscheinlich mächtiger als ich. Ich bin Penelope Bunce.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wie du Penelope heißt«, sagte ich. Eine dumme Bemerkung. (Im ersten Jahr war alles dumm, was ich von mir gab.)
Sie rümpfte die Nase. »Wie sollte ›jemand wie ich‹ denn heißen?«
»Ich weiß nicht.« Ich wusste es wirklich nicht. Andere mir bekannte Mädchen, die so aussahen wie sie, hießen Saanvi oder Aditi – und sie waren definitiv nicht rothaarig. »Saanvi?«
»Jemand wie ich kann jeden Namen haben«, sagte Penelope.
»Oh«, sagte ich. »Stimmt, entschuldige.«
»Und mit unserem Haar können wir machen, was wir wollen.« Sie wandte sich wieder der Aufgabe zu und schüttelte ihren roten Pferdeschwanz. »Anstarren ist unhöflich, weißt du, selbst wenn wir Freunde sind.«
»Sind wir denn Freunde?«, fragte ich sie ziemlich überrascht.
»Ich helfe dir im Unterricht, oder nicht?«
Das stimmte. Sie hatte mir eben geholfen, einen Fußball auf die Größe einer Murmel zu schrumpfen.
»Ich dachte, du hilfst mir, weil ich dumm bin«, sagte ich.
»Alle sind dumm«, erwiderte sie. »Ich helfe dir, weil ich dich mag.«
Es stellte sich heraus, dass sie beim Ausprobieren eines neuen Zauberspruchs ihre Haare versehentlich so gefärbt hatte, aber sie blieb das ganze Jahr bei dem Rot. Im nächsten Jahr versuchte sie es mit Blau.
Penelopes Mutter ist Inderin, ihr Vater Engländer – das heißt, eigentlich sind beide aus England; die indische Seite ihrer Familie lebt schon seit Ewigkeiten in London. Später erzählte sie mir, ihre Eltern hätten gesagt, dass sie mir möglichst aus dem Weg gehen soll. »Meine Mum sagt, keiner weiß genau, woher du kommst. Und dass du gefährlich sein könntest.«
»Warum hast du nicht auf sie gehört?«, fragte ich.
»Weil niemand wusste, woher du kommst, Simon! Und weil du gefährlich sein könntest!«
»Du hast einen sehr schlechten Überlebensinstinkt.«
»Außerdem hast du mir leidgetan«, sagte sie. »Du hast deinen Zauberstab verkehrt herum gehalten.«
Ich vermisse Penny jeden Sommer, auch wenn ich mich dagegen wehre. Der Magier sagt, dass mir im Sommer niemand schreiben oder mich anrufen darf, aber Penny findet immer Möglichkeiten, mir eine Nachricht zu schicken: Einmal hat sie den alten Mann unten im Laden in Besitz genommen, den Mann, der immer seine Zähne einzusetzen vergisst, und direkt durch ihn gesprochen. Es war schön, von ihr zu hören, aber auch so verstörend, dass ich sie bat, es nicht mehr zu tun, höchstens im Notfall.
Nr. 3 – Der Fußballplatz
Ich spiele nicht mehr so oft Fußball wie früher. Für die Schulmannschaft bin ich zu schlecht, außerdem habe ich ständig ein Projekt oder ein Drama am Hals, oder ich bin für den Magier in einer Mission unterwegs. (Wie soll ich verlässlich ein Tor hüten, wenn der gottverdammte Schatten mich jederzeit holen könnte?)
Aber manchmal spiele ich noch. Und der Platz ist toll. Schönes Gras. Die einzige ebene Fläche auf dem Gelände. Angenehm schattige Bäume in der Nähe, unter denen man sitzen und sich das Spiel ansehen kann.
Baz spielt für unsere Schule. Natürlich. Der Wichser.
Auf dem Platz ist er genauso wie überall sonst. Stark. Anmutig. Verdammt rücksichtslos.
Nr. 4 – Meine Schuluniform
Ich schrieb sie auf die Liste, als ich elf war. Dazu muss man wissen, dass meine erste Uniform das bisher Einzige war, was mir wirklich passte, und ich zum ersten Mal einen Blazer mit Krawatte trug. Ich fühlte mich schlagartig groß und schick. Bis Baz in unser Zimmer marschierte, größer als ich – und schicker als alle anderen.
Es gibt acht Klassen in Watford. Die Erst- und Zweitklässler tragen gestreifte Blazer – zwei Violett-Töne und zwei Grüntöne – mit dunkelgrauer Hose, grünem Pullover und roter Krawatte.
Bis zur sechsten Klasse muss man auf dem Gelände einen Strohhut tragen, der eigentlich nur als Test dient, ob dein An Ort und Stelle! wirksam genug ist, um einen Hut am Platz zu halten. (Penny hat meinen zurechtgezaubert. Sonst hätte ich am Ende mit dem verdammten Ding schlafen müssen.)
Jeden Herbst wartet eine nagelneue Uniform auf mich, wenn ich in unser Zimmer komme. Sie liegt ausgebreitet auf dem Bett, sauber gebügelt und perfekt sitzend, ganz gleich, ob ich mich verändert habe oder gewachsen bin.
Die älteren Jahrgänge – zu denen ich inzwischen zähle – tragen grüne Blazer mit weißen Paspeln. Dazu rote Pullover, wenn wir möchten. Auch Capes stehen zur Wahl. Ich trage nie eins, weil ich mir darin idiotisch vorkomme, aber Penny mag es und sagt, sie fühle sich dann wie Stevie Nicks (von den Fleetwood Mac).
Ich mag die Uniform, weil ich gern weiß, was ich jeden Tag anziehe. Ich weiß nicht, was ich nächstes Jahr tragen werde, wenn ich mit Watford fertig bin.
Vielleicht schließe ich mich den Männern des Magiers an. Sie haben eigene Uniformen – so auf die Art Robin Hood trifft MI6. Aber der Magier sagt, das sei nicht mein Weg.
So redet er mit mir. »Das ist nicht dein Weg, Simon. Dein Schicksal liegt anderswo.«
Er will, dass ich mich von allen fernhalte. Getrenntes Training. Sonderunterricht. Wahrscheinlich würde er mich gar nicht in Watford zur Schule gehen lassen, wenn er dort nicht Direktor wäre – und wenn er nicht überzeugt wäre, dass ich dort in Sicherheit bin.
Wenn ich den Magier fragen würde, was ich nach Watford anziehen soll, würde er mich wahrscheinlich wie einen Superhelden ausstaffieren.
Wenn ich gehe, werde ich niemanden fragen, was ich anziehen soll. Ich bin 18. Ich muss mich selbst entscheiden.
Oder vielleicht hilft mir Penny.
Nr. 5 – Mein Zimmer
Ich sollte sagen »unser Zimmer«, doch auf das Teilen mit Baz kann ich gut verzichten.
Man bekommt sein Zimmer und seinen Mitbewohner als Erstklässler in Watford zugewiesen; danach zieht man nicht mehr um. Man muss seine Sachen nicht packen oder seine Poster abnehmen.
Ein Zimmer mit jemandem zu teilen, der mich seit meinem elften Lebensjahr umbringen wollte, war immer … Nun ja, das war immer Mist.
Aber vielleicht hatte der Schmelzkessel ein schlechtes Gewissen, als er mich und Baz zusammenbrachte (nicht wörtlich zu verstehen; ich glaube nämlich nicht, dass der Schmelzkessel ein fühlendes Wesen ist), denn wir haben das schönste Zimmer in Watford bekommen.
Wir wohnen in Mummers House am Rand des Schulgeländes. Es ist ein viereinhalbstöckiges Gebäude aus Stein, unser Zimmer ist ganz oben, in einer Art Türmchen mit Blick auf den Wassergraben. In das Türmchen passt nur ein Zimmer, aber es ist größer als die anderen Schülerzimmer. Und da es früher eine Lehrerunterkunft war, haben wir ein eigenes Bad mit Toilette.
Es ist ziemlich angenehm, sich mit Baz ein Bad zu teilen. Er besetzt es zwar den ganzen Morgen, aber er ist sauber; und da er nicht will, dass ich seine Sachen anfasse, räumt er sie immer weg. Penelope zufolge riecht unser Bad nach Zedernholz und Goldmelisse, und das kann nur an Baz liegen, ich bin das definitiv nicht.
Ich würde gern erzählen, wie Penny in unser Zimmer kommt – Mädchen dürfen nicht in die Jungenhäuser und umgekehrt –, aber ich weiß es immer noch nicht. Es könnte an ihrem Ring liegen. Einmal war ich dabei, als sie damit eine Zelle entsiegelt hat, möglich ist also alles.
Nr. 6 – Der Magier
Der Magier kam ebenfalls auf die Liste, als ich elf war. Aber ich dachte schon einige Male daran, ihn zu streichen.
Als er mich zum Beispiel im sechsten Jahr ständig ignoriert hat. Immer, wenn ich mit ihm reden wollte, hieß es, er sei gerade mit etwas Wichtigem beschäftigt.
Manchmal sagt er das immer noch. Ich habe Verständnis dafür. Er ist der Direktor. Und noch mehr als das – er ist der Leiter des Hexenzirkels und somit für die gesamte Welt der Magier verantwortlich. Außerdem ist er ja nicht mein Vater. Er ist mein gar nichts …
Aber er ist derjenige, dem ich am nächsten stehe.
Der Magier kam in der normalen Welt auf mich zu und hat mir erklärt (oder es zumindest versucht), wer ich bin. Er passt immer auf mich auf, auch wenn ich es manchmal gar nicht merke. Und wenn er mal Zeit hat, länger mit mir zu reden, fühle ich mich richtig geerdet. In seiner Nähe kämpfe ich besser. Denke ich besser. Wenn er da ist, nehme ich ihm fast ab, was er immer behauptet – dass ich der mächtigste Zauberer bin, den die Welt der Magier je gesehen hat.
Und dass all die Macht etwas Gutes ist oder es zumindest eines Tages sein wird. Dass ich mich irgendwann zusammenreißen und mehr Probleme lösen als verursachen werde.
Der Magier ist auch der Einzige, der im Sommer mit mir Kontakt aufnehmen darf.
Und er denkt immer an meinen Geburtstag im Juni.
Nr. 7 – Magie
Nicht unbedingt meine Magie. Die ist immer bei mir und, ehrlich gesagt, nichts, wodurch ich mich besonders fühle.
Was mir fehlt, wenn ich nicht in Watford bin, ist das schlichte Von-Magie-umgeben-Sein. Beiläufiger, atmosphärischer Magie. Dass Leute auf den Gängen und im Unterricht zaubern. Dass jemand einen Teller mit Würstchen über den Esstisch gleiten lässt, als ob er sich auf Rollen bewegt.
Die Welt der Magier ist genau genommen keine eigene Welt. Wir haben keine Städte. Oder gar Viertel. Zauberer haben immer im Diesseits gelebt. Laut Penelopes Mutter ist es so sicherer; es bewahrt uns davor, zu weit vom Rest der Welt abzudriften.
Sie sagt, das sei auf die Feen zurückzuführen. Sie wollten sich nicht mehr mit anderen abgeben, haben sich für mehrere Jahrhunderte in die Wälder zurückgezogen und dann den Weg zurück nicht mehr gefunden.
Der einzige Ort, an dem Zauberer miteinander leben, sofern sie nicht verwandt sind, ist Watford. Es gibt ein paar magische Vereine und Feste, jährliche Zusammenkünfte – solche Sachen. Aber Watford ist der einzige Ort, wo wir ständig zusammen sind. Das ist auch der Grund, warum sich in den letzten Jahren alle wie wild in Paaren zusammentun. Penny sagt, wer seinen Partner nicht in Watford findet, bleibt am Ende allein – oder nimmt mit 32 an Reisen für Singles im Magischen Britannien teil.
Ich weiß nicht, warum Penny sich überhaupt Sorgen macht; seit unserem vierten Jahr hat sie einen Freund in Amerika. (Er war Austauschschüler in Watford.) Micah spielt Baseball, und er hat ein so ebenmäßiges Gesicht, dass man damit einen Dämon anlocken könnte. Wenn sie zu Hause bei ihren Eltern ist, kommunizieren sie per Video-Chat, wenn sie in der Schule ist, schreibt er ihr fast jeden Tag.
»Ja«, sagt sie oft, »aber er ist Amerikaner. Die denken anders über die Ehe als wir. Vielleicht serviert er mich wegen einer schönen Normalen ab, die er in Yale kennenlernt. Mum sagt, so weit kommt es mit unserer Magie – sie verwässert durch unüberlegte Ehen mit Amerikanern.«
Penny zitiert ihre Mutter so oft, wie ich Penny zitiere.
Sie bilden sich da beide etwas ein. Micah ist ein zuverlässiger Typ. Er wird Penelope heiraten – und dann will er sie bestimmt mit nach Amerika nehmen. Darum sollten wir uns alle Sorgen machen.
Egal …
Magie. Wenn ich weg bin, fehlt sie mir.
Wenn ich allein bin, ist Magie etwas Persönliches. Meine Bürde, mein Geheimnis.
Aber in Watford ist Magie die Luft, die wir atmen. Sie lässt mich Teil von etwas Größerem sein und schließt mich nicht aus.
Nr. 8 – Ebb und die Ziegen
Im zweiten Jahr in Watford fing ich an, Ebb, der Ziegenhirtin zu helfen. Und eine Zeit lang war das Herumhängen mit den Ziegen so ziemlich meine Lieblingsbeschäftigung. (Worüber Baz sich ständig lustig machte.) Ebb ist die netteste Person in Watford. Jünger als die Lehrer. Und erstaunlich mächtig für jemanden, der sein Leben dem Hüten von Ziegen verschrieben hat.
»Was bedeutet es schon, mächtig zu sein?«, sagt Ebb oft. »Große Leute müssen nicht unbedingt Kübelball spielen.«
»Du meinst Basketball.« (Durch das Leben in Watford ist Ebb ein bisschen weltfremd geworden.)
»Wo ist der Unterschied? Ich bin kein Soldat. Warum sollte ich für meinen Lebensunterhalt kämpfen müssen, nur weil ich gut zuschlagen kann?«
Dem Magier gemäß sind wir alle Soldaten, jeder, der ein Quäntchen Magie besitzt. Genau das sei das Gefährliche an den alten Methoden, sagt er – Zauberer hätten immer nur ihr eigenes Süppchen gekocht und getan, wozu sie Lust hatten; sie hätten Magie wie ein Spielzeug gehandhabt, wie etwas, das ihnen zusteht, und nicht wie etwas zu Schützendes.
Ebb braucht keinen Hund zum Ziegenhüten. Nur ihren Stab. Sie kann die ganze Herde mit einem Handwink zum Umdrehen bewegen. Sie hat angefangen mir beizubringen, wie man eine Ziege nach der anderen zurückholt, wie man allen gleichzeitig das Gefühl vermittelt, dass sie zu weit gegangen sind. In einem Frühling durfte ich ihr sogar beim Werfen der Zicklein helfen.
Inzwischen bin ich nicht mehr oft bei Ebb, weil mir die Zeit fehlt.
Aber sie und die Ziegen bleiben auf meiner Liste von Dingen, die mir fehlen. Nur damit ich kurz innehalten und an sie denken kann.
Nr. 9 – Der Schwankende Wald
Den sollte ich von der Liste streichen.
Zum Teufel mit dem Schwankenden Wald.
Nr. 10 – Agatha
Vielleicht sollte ich Agatha auch von der Liste streichen.
Jetzt ist es nicht mehr weit bis Watford. In ein paar Minuten erreiche ich den Bahnhof. Wahrscheinlich kommt jemand von der Schule, um mich abzuholen.
Früher hob ich mir Agatha immer bis zum Schluss auf. Es gelang mir, den ganzen Sommer über nicht an sie zu denken, und erst wenn ich fast in Watford war, durfte ich wieder an sie denken. Auf diese Weise musste ich mir nicht den ganzen Sommer über einreden, dass sie zu schön war, um wahr zu sein.
Aber jetzt … Ich weiß nicht, vielleicht ist Agatha wirklich zu schön, um wahr zu sein, zumindest für mich.
Im vergangenen Schuljahr, kurz bevor Penny und ich vom Schatten erwischt wurden, sah ich Agatha mit Baz im Schwankenden Wald. Wahrscheinlich hatte ich schon vorher geahnt, dass zwischen den beiden etwas laufen könnte, aber ich hätte nie gedacht, dass sie mich so betrügen würde – dass sie diese Grenze überschreitet.
Hinterher hatte ich keine Zeit, mit Agatha darüber zu reden – ich war zu sehr damit beschäftigt, gekidnappt zu werden und mich zu befreien. Und im Sommer konnte ich nicht mit ihr reden, weil ich ja mit niemandem reden darf. Und jetzt weiß ich nicht … Ich weiß nicht, was Agatha für mich ist.
Ich bin nicht einmal sicher, ob ich sie vermisst habe.
Am Bahnhof ist niemand, um mich abzuholen. Zumindest niemand, den ich kenne – da ist nur ein gelangweilt aussehender Taxifahrer mit einem Pappschild, auf dem Snow steht.
»Das bin ich«, sage ich. Er wirkt misstrauisch. Ich sehe nicht wie ein feiner Pinkel aus einer elitären Internatsschule aus, schon gar nicht ohne Uniform. Mein Haar ist zu kurz – ich rasiere es mir am Ende jedes Schuljahres ab –, meine Turnschuhe sind billig, und ich sehe nicht gelangweilt aus, meine Augen stehen nie still.
»Das bin ich«, wiederhole ich. Leicht aggressiv. »Soll ich meinen Ausweis zeigen?«
Er seufzt und lässt das Schild sinken. »Wenn du am Ende der Welt abgesetzt werden willst, Kumpel, leg ich mich nicht mit dir an.«
Ich steige hinten ein, packe meine Tasche auf den Sitz neben mir. Der Fahrer startet den Motor und schaltet das Radio ein. Ich schließe die Augen; schon an guten Tagen wird mir hinten im Auto immer schlecht, und heute ist kein guter Tag – ich bin nervös und habe bisher nur einen Schokoriegel und eine Tüte Käse-Zwiebel-Chips gegessen.
Wir sind fast da.
Es ist das letzte Mal. Das letzte Mal, dass ich im Herbst nach Watford zurückkehre. Natürlich werde ich irgendwann wieder zurückkommen, aber nicht so, nicht, als käme ich nach Hause.
Im Radio läuft »Candle in the Wind«, der Fahrer singt mit.
Kerze im Wind ist ein gefährlicher Zauberspruch. Die Jungs in der Schule behaupten, man könne ihn zur Stärkung der eigenen Ausdauer verwenden. Wenn man aber die falsche Silbe betont, setzt man am Ende ein Feuer in Gang, das nicht zu löschen ist. Ein echtes Feuer. Ich würde den Spruch nie benutzen, selbst wenn ich einen Anlass dazu hätte; bei Zweideutigkeiten war ich nie gut.
Das Auto fährt über ein Schlagloch. Ich falle vorwärts und fange mich gerade noch am Vordersitz ab.
»Schnall dich an«, faucht der Fahrer.
Ich gehorche und sehe mich um. Wir sind bereits aus der Stadt und fahren über Land. Ich schlucke und ziehe die Schultern zurück.
Der Taxifahrer singt wieder mit, jetzt etwas lauter – »never knowing who to turn to« – er ist richtig begeistert. Vielleicht sollte ich sagen: »Und du halt die Klappe.«
Wir fahren wieder über ein Schlagloch, mein Kopf knallt fast an die Decke. Wir sind auf einer Schotterstraße. Das ist nicht der übliche Weg nach Watford.
Ich sehe den Fahrer im Rückspiegel an. Irgendwas stimmt nicht – seine Haut ist dunkelgrün, seine Lippen sind rot wie rohes Fleisch.
Dann betrachte ich ihn, so wie er vor mir sitzt. Ein Taxifahrer. Schiefe Zähne, krumme Nase. Singt Elton John.
Dann wieder im Spiegel: Grüne Haut. Rote Lippen. Attraktiv wie ein Popstar. Kobold.
Ich warte nicht ab, was er vorhat. Ich halte die Hand über meine Hüfte und murmle langsam die Beschwörungsformel für das Schwert des Magiers. Es ist eine unsichtbare Waffe, mehr noch als unsichtbar; sie ist erst vorhanden, wenn man die magischen Worte spricht.
Der Kobold hört mich, unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Er grinst und greift in seine Tasche.
Wenn Baz hier wäre, würde er mit Sicherheit eine Liste aller Zaubersprüche aufstellen, die ich in diesem Augenblick verwenden könnte. Vermutlich gibt es auch irgendwas Französisches, das gut passen würde. Doch sobald das Schwert in meiner Hand erscheint, beiße ich die Zähne zusammen, schwinge es über den Vordersitz und rasiere den zu mir umgedrehten Kopf des Kobolds ab – mitsamt der Kopfstütze. Voilà.
Er fährt noch eine Weile weiter, dann spielt das Lenkrad verrückt. Dank des Zaubers ist keine Barriere zwischen uns – ich löse den Sicherheitsgurt, hechte über den Sitz (und die Stelle, wo der Kopf des Kobolds war) und packe das Lenkrad. Allem Anschein nach ist sein Fuß noch auf dem Gaspedal, denn obwohl wir von der Straße abgekommen sind, werden wir immer schneller.
Ich versuche, zurück auf die Straße zu steuern. Da ich aber eigentlich nicht fahren kann, knallt das Taxi in einen Holzzaun, als ich das Lenkrad nach links reiße. Der Airbag löst aus und prallt mir ins Gesicht, ich fliege rückwärts, das Auto knallt immer noch in irgendwas, wahrscheinlich noch mehr Zaun. Ich hätte nie gedacht, dass ich so sterben würde.
Das Taxi kommt zum Stehen, bevor ich eine Idee habe, wie ich mich retten könnte.
Ich liege halb auf dem Boden, habe mir den Kopf erst am Fenster, dann am Sitz angestoßen. Später, als ich Penny alles erzähle, verschweige ich ihr den Teil mit dem geöffneten Sicherheitsgurt.
Ich greife nach oben und ziehe am Türgriff. Die Tür öffnet sich, ich falle mit dem Rücken aus dem Taxi ins Gras. Wie es aussieht, sind wir durch den Zaun gebrettert und auf einem Feld gelandet. Der Motor läuft immer noch. Stöhnend rapple ich mich auf die Füße, lange durchs Fahrerfenster und stelle ihn ab.
Im Inneren herrscht eine einzige Sauerei. Überall ist Blut. Auf dem Airbag. Auf der Leiche. Und mir.
Ich durchsuche das Jackett des Kobolds, finde aber nur eine Packung Kaugummi und ein Teppichmesser. Das Ganze sieht nicht nach dem Werk des Schattens aus – in der Luft ist kein Kribbeln zu spüren. Um sicherzugehen, atme ich einmal tief ein.
Dann war es vermutlich nur ein weiterer Racheakt. Die Kobolde sind hinter mir her, seit ich dem Hexenzirkel half, sie aus Essex zu vertreiben. (Sie verschlangen ständig Betrunkene in Klubtoiletten, und der Magier befürchtete, der regionale Slang könnte verloren gehen.) Der Kobold, der mich um die Ecke bringt, wird wahrscheinlich zum König ernannt.
Der hier bekommt die Krone jedenfalls nicht. Mein Schwert steckt im Sitz neben ihm, also reiße ich es heraus und lasse es wieder in meiner Hüfte verschwinden. Dann fällt mir meine Tasche ein. Ich hole sie ebenfalls und wische mir die Hand an meiner grauen Jogginghose ab, ehe ich sie öffne und meinen Zauberstab herausfische. Ich darf dieses Chaos nicht einfach hinterlassen, und irgendwelche Beweise aufzuheben lohnt sich nicht.
Ich halte meinen Zauberstab über das Taxi und spüre, wie meine Zauberkraft durch alle Poren dringt. »Du musst mit mir zusammenarbeiten«, flüstere ich. »Weg, weg, verdammter Fleck!«
Ich habe gesehen, wie Penelope mithilfe dieses Zauberspruchs entsetzliche Dinge losgeworden ist. Bei mir allerdings verschwindet nur ein bisschen Blut von der Hose. Ich schätze, das ist besser als nichts.
Die Magie sammelt sich in meinem Arm – so massiv, dass meine Finger zittern. »Komm schon«, sage ich und deute darauf. »Machs weg!«
Funken sprühen aus meinem Zauberstab und meinen Fingerspitzen.
»Verdammt, mach schon …« Ich schüttle mein Handgelenk aus und deute wieder hin. Der Kopf des Kobolds liegt im Gras neben meinen Füßen, inzwischen ist er wieder grün. Kobolde sind attraktive Teufel. (Die meisten Teufel sind ziemlich fit.) »Ich nehme an, du hast den Taxifahrer verschlungen«, sage ich und kicke den Kopf in Richtung Auto. Mein Arm fühlt sich an, als ob er brennt.
»In Luft auflösen!«, rufe ich.
Ein heißer Schwall schießt vom Boden in meine Fingerspitzen, und das Taxi verschwindet. Der Kopf verschwindet. Der Zaun verschwindet. Und die Straße …
Eine Stunde später sehe ich endlich das Schulgebäude vor mir. Ich bin verschwitzt und voll von vertrocknetem Koboldblut und dem Staub, der immer aus Airbags dringt. (Ich musste nur ein kleines Stück Schotterstraße verschwinden lassen, und es war sowieso keine besondere Straße. Dann bin ich zur Hauptstraße zurück und ihr gefolgt.)
Alle Normalen glauben, dass Watford ein ultraexklusives Internat ist. Was vermutlich auch stimmt. Das Gelände ist von Glamour umhüllt. Ebb erzählte mir mal, dass wir die Schule ständig mit Zauber belegen, wenn wir neue Zaubersprüche entwickeln. Es gibt also jede Menge schützende Schichten. Wenn man ein Normaler ist, brennen einem vor lauter Magie die Augen.
Ich erreiche das hohe Eisentor – oben steht THE WATFORD SCHOOL – und lege meine Hände auf die Gitterstäbe, damit sie meine Zauberkraft spüren.
Früher war es damit getan. Das Tor ist für jeden Zauberer aufgesprungen. Auf der Querstange befindet sich diesbezüglich sogar eine Inschrift – MAGIE TRENNT UNS VON DER WELT. MÖGE NICHTS UNS VONEINANDER TRENNEN.
»Ein schöner Gedanke«, sagte der Magier, als er den Hexenzirkel um strengere Schutzmaßnahmen ersuchte, »aber wir sollten uns nicht an die Sicherheitsanordnungen eines sechshundert Jahre alten Tors halten. Ich erwarte ja auch nicht, dass Leute, die mich besuchen, die eingestickten Sinnsprüche auf meinen Dekokissen befolgen.«
Ich war auf diesem Hexenzirkeltreffen, zusammen mit Penelope und Agatha. (Der Magier wollte uns dabeihaben, um zu zeigen, was auf dem Spiel stand. »Kinder! Die Zukunft unserer Welt!«) Allerdings konnte ich nicht die ganze Zeit zuhören. Meine Gedanken sind abgeschweift, und ich habe überlegt, wo der Magier wohl wirklich wohnt und ob er mich irgendwann dorthin einlädt. Ich konnte ihn mir nur schwer in einem Haus vorstellen, geschweige denn mit Dekokissen. In Watford bewohnt er mehrere Zimmer, aber er ist oft wochenlang verschwunden. Als ich jünger war, dachte ich, der Magier würde im Wald leben, sich von Nüssen und Beeren ernähren und in Dachshöhlen schlafen.
Die Sicherheitsvorkehrungen am Eingangstor von Watford und entlang der Außenmauern sind mit jedem Jahr strenger geworden.
Heute ist einer der Männer des Magiers – Penelopes Bruder Premal – gleich innen am Tor postiert. Wahrscheinlich ist er stinksauer über diesen Auftrag. Der Rest des Teams wird oben im Büro des Magiers die nächste Offensive planen, während Premal hier unten Erstklässler abfertigt. Er tritt vor mich hin.
»Alles klar, Prem?«
»Sieht so aus, als sollte ich dich das fragen …«
Ich blicke auf mein blutiges T-Shirt. »Kobold«, sage ich.
Premal nickt, richtet seinen Zauberstab auf mich und murmelt einen Säuberungszauber. Er ist genauso mächtig wie Penny und kann praktisch im Flüsterton zaubern.
Ich hasse es, wenn man Säuberungszauber bei mir anwendet. Ich komme mir dann vor wie ein Kind. »Danke«, sage ich trotzdem und will an ihm vorbei.
Premal hält mich auf. »Kleinen Moment noch«, sagt er und hebt seinen Zauberstab an meine Stirn. »Heute gelten Sondermaßnahmen. Der Magier sagt, der Schatten läuft mit deinem Gesicht herum.«
Ich zucke zusammen, weiche aber nicht vor seinem Zauberstab zurück. »Ich dachte, das soll ein Geheimnis bleiben.«
»Richtig«, sagt er. »Ein Geheimnis, das Leute wie ich kennen müssen, wenn sie dich beschützen sollen.«
»Wenn ich der Schatten wäre«, sage ich, »hätte ich dich inzwischen schon verschlingen können.«
»Vielleicht schwebt das ja dem Magier vor«, sagt Premal. »Dann wüssten wir wenigstens mit Sicherheit, dass er es war.« Er lässt den Zauberstab sinken. »Du bist sauber. Geh weiter.«
»Ist Penelope da?«
Er zuckt die Schultern. »Ich bin nicht der Aufpasser meiner Schwester.«
Ich habe kurz den Eindruck, dass er das sehr nachdrücklich sagt, mit Magie, und dass er einen Zauber wirkt – aber er dreht sich von mir weg und lehnt sich ans Tor.
Auf dem Großen Rasen ist niemand zu sehen. Offenbar bin ich einer der ersten Schüler, die zurückkommen. Ich fange an zu laufen, einfach so, und schrecke ein paar im Gras versteckte Schwalben auf. Zwitschernd stieben sie in die Luft, und ich renne weiter. Über den Rasen, über die Zugbrücke, vorbei an einer weiteren Mauer, durch das zweite und dritte Tor.
Watford besteht seit 1500. Es ist angelegt wie eine ummauerte Stadt – Felder und Wald außerhalb der Mauern, Gebäude und Höfe im Inneren. Nachts wird die Zugbrücke hochgezogen, dann kommt nichts über den Wassergraben und durch die inneren Tore.
Ich bleibe erst stehen, als ich ganz oben in Mummers House bin und gegen meine Tür falle. Ich ziehe das Schwert des Magiers heraus, ritze mir den Daumen und presse ihn auf den Stein. Es gibt einen Zauberspruch, mit dessen Hilfe ich nach mehreren Monaten Abwesenheit in mein Zimmer kommen könnte – aber Blut ist dicker und sicherer, zumal Baz nicht da ist und es riecht. Ich stecke mir den Daumen in den Mund und stoße grinsend die Tür auf.
Mein Zimmer. In ein paar Tagen ist es wieder unser Zimmer, aber vorläufig gehört es mir. Ich gehe zu den Fenstern und öffne eines. Die frische Luft riecht hier drin noch süßer. Noch immer am Daumen lutschend, öffne ich das andere Fenster, betrachte die im Sonnenlicht wirbelnden Staubpartikel und lasse mich dann auf mein Bett fallen.
Die Matratze ist alt – ausgestopft mit Federn und gut erhalten durch Zaubersprüche –, jetzt bin ich richtig angekommen. Merlin. Merlin und Morgan und Methusalem, es ist schön, zurück zu sein. Es ist immer schön, zurück zu sein.
Als ich das erste Mal nach Watford zurückkam, im zweiten Jahr, habe ich mich sofort ins Bett gelegt und geweint wie ein Baby. Ich weinte immer noch, als Baz hereinkam. »Warum heulst du jetzt schon?«, knurrte er. »Du ruinierst meine Pläne, ich wollte dich doch zum Weinen bringen.«
Ich schließe die Augen und atme so tief wie möglich ein:
Federn. Staub. Lavendel.
Wasser, aus dem Graben.
Und diesen leicht beißenden Geruch, der laut Baz von den Wasserwölfen stammt. (Man darf Baz nicht mit den Wasserwölfen kommen; manchmal lehnt er sich aus dem Fenster und spuckt in den Wassergraben, nur um sie zu ärgern.)
Wenn er hier wäre, würde ich außer seinem vornehmen Seifengeruch kaum etwas riechen. Ich atme wieder tief ein und versuche einen Hauch von Zedernholz zu erhaschen.
Es poltert an der Tür. Ich springe auf, halte die Hand an die Hüfte und wünsche erneut das Schwert des Magiers herbei. Heute schon zum dritten Mal; vielleicht sollte ich es einfach draußen lassen. Die Beschwörungsformel ist die einzige, die ich immer richtig hinbekomme, vielleicht weil sie sich von anderen unterscheidet. Sie gleicht eher einem Gelöbnis: »Um der Gerechtigkeit willen. Mut. Zur Verteidigung der Schwachen. Im Angesicht des Mächtigen. Durch Magie und Weisheit und Glück.«
Es muss nicht zwangsläufig erscheinen.
Das Schwert des Magiers ist zwar bei mir, aber es gehört niemandem. Es taucht erst auf, wenn es dir vertraut.
Der Griff nimmt in meiner Hand konkrete Form an, und ich schwinge das Schwert über die Schulter, als Penelope die Tür aufschiebt.
Ich lasse das Schwert sinken. »Eigentlich solltest du das nicht können«, sage ich.
Sie zuckt die Schultern und fällt auf Baz’ Bett.
Ich muss unwillkürlich lächeln. »Eigentlich solltest du noch nicht mal durch die Haustür kommen.«
Penelope zuckt wieder die Schultern und schiebt sich Baz’ Kissen unter den Kopf.
»Wenn Baz merkt, dass du sein Bett angerührt hast«, sage ich, »bringt er dich um.«
»Soll er es versuchen.«
Ich drehe mein Handgelenk ein wenig, und das Schwert verschwindet.
»Du siehst schrecklich aus«, sagt sie.
»Mir ist unterwegs ein Kobold begegnet.«
»Können die ihren nächsten König nicht einfach wählen?« Ihre Stimme klingt unbeschwert, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mich von oben bis unten mustert. Als sie mich das letzte Mal sah, war ich ein Bündel aus Zaubersprüchen und Lumpen. Als ich Penny das letzte Mal sah, fiel gerade alles auseinander …
Wir waren dem Schatten entkommen, zurück nach Watford geflohen und mitten in die Jahresschlusszeremonie in der Weißen Kapelle geplatzt – die gute Elspeth bekam eben einen Preis für vorbildliche Teilnahme. Ich blutete immer noch (aus den Poren, keiner weiß, warum). Penny weinte. Ihre Familie war da – die Familien aller Schüler waren da –, und ihre Mutter fing an, den Magier anzuschreien. »Sieh sie dir an – das ist deine Schuld!« Und dann ging Premal dazwischen und schrie zurück. Die Leute dachten, der Schatten würde Penny und mir folgen. Sie rannten mit gezückten Zauberstäben aus der Kapelle. Mein typisches Jahresabschluss-Chaos hoch hundert, aber es war schlimmer als nur chaotisch. Es war wie das Ende.
Dann wünschte Penelopes Mutter die ganze Familie fort, selbst Premal. (Wahrscheinlich nur zu ihrem Auto, aber es war trotzdem sehr dramatisch.)
Seither habe ich nicht mehr mit Penny gesprochen.
Ein Teil von mir möchte sie auf der Stelle packen und von Kopf bis Fuß berühren, nur um sicherzugehen, dass sie heil ist – aber Penny hasst Szenen so sehr, wie ihre Mutter sie liebt. »Begrüß mich nicht, Simon«, sagt sie oft. »Sonst müssen wir uns nämlich auch verabschieden, und Abschiede kann ich nicht leiden.«
Meine Uniform liegt ausgebreitet am Fußende des Bettes, ich räume sie Stück für Stück weg. Neue graue Hose. Neue grün-violett gestreifte Krawatte …
Hinter mir seufzt Penelope laut. Ich gehe zurück zum Bett, fläze mich hin, das Gesicht ihr zugewandt und darum bemüht, nicht von einem Ohr bis zum anderen zu grinsen.
Sie wirkt irgendwie beleidigt.
»Was ist dir denn jetzt schon über die Leber gelaufen?«, frage ich.
»Aimée«, faucht sie. Aimée ist ihre Zimmergenossin. Penny sagt, sie würde Aimée gegen ein Dutzend übler, hinterhältiger Vampire eintauschen. Auf der Stelle.
»Was hat sie gemacht?«
»Sie ist zurückgekommen.«
»Hast du was anderes erwartet?«