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Es waren immer Geschichten gewesen, die mir das Leben gerettet haben. Eine Tiergeschichte, wenn ich mir das Knie aufgeschlagen hatte, ein Piratenabenteuer bei Bauchschmerzen, eine Geschichte über traurige Feen, als Urgroßmutter Josette gestorben war, Jojo Moyes bei Liebeskummer, Sartre und Camus, wenn ich die Welt vor lauter Terror, Krieg, Kummer und Leid nicht mehr verstand.

Sie waren immer da gewesen und ich hatte mir nie die Frage gestellt, wo sie herkamen, wer sie gefunden hatte, ob sie sich wirklich so ereignet hatten – wenn auch ohne Feenstaub und tanzende Papageien.

Bis zu dem Tag, an dem Frédéric Leblanc in mein Leben trat. Ich sage in mein Leben trat, weil es buchstäblich so war. Ich kannte ihn zuvor nur flüchtig, wir waren dazu verdammt worden zusammenzuarbeiten. In mein Leben trat er erst, als er diese zerfledderte Ausgabe des Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry aus der Hosentasche zog. Als ich die Liebe, die Tränen, die kleinen Kinderhände sah, die in diesen Seiten geblättert hatten. Erst da begriff ich, dass Geschichten so viel mehr sein können als Druckerschwärze auf Papier. Sie sind Leben in Sätzen. Wahrhaftigkeit im Mantel eines Buchumschlags.

Der kleine Prinz hatte Frédéric gerettet. Und ich beschloss, dass es an der Zeit war, den Geschichten auf den Grund zu gehen. Ich würde sie suchen und finden, egal welchen Kodex, welche heilige Familienregel ich damit brechen würde.

Ich hatte genug von den Lügen und Geheimnissen.

 

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Ein ungebetener Besuch

Meine Freundin Zoé war schon immer der Meinung gewesen, ich hätte die beste Familie der Welt. Und als ich sie alle da sitzen sah, zusammengekuschelt auf dem großen Familiensofa, die funkelnden Blicke erwartungsvoll auf mich gerichtet, da wusste ich, wie recht sie doch hatte.

»Mesdames, Mesdemoiselles, Meschats«, sprach ich mit erhobener Stimme, »ich präsentiere Ihnen heute die magische Schreibfeder!« Ich nahm meinen petrolfarbenen Rock zwischen die Fingerspitzen, zog ihn auseinander wie ein Zelt und machte einen eleganten Knicks, als stünde ich vor Publikum auf der Bühne und nicht im winzigen Wohnzimmer meiner Familie. Normalerweise behagte es mir nicht, im Mittelpunkt zu stehen, doch bei meiner Familie fühlte ich mich gelöst und unbeschwert. Hier konnte ich ganz ich selbst sein: eine buchvernarrte Literaturstudentin, in deren Zimmer die kleine Meerjungfrau, Harry Potter und Co. neben den Klassikern der Literaturgeschichte standen. Ich hatte mit meinen neunzehn Jahren bereits so viele Bücher gelesen wie kaum ein anderer Kommilitone meines Jahrgangs und doch plagte mich das Gefühl unwissend zu sein, niemals genug von den Welten aufnehmen zu können, die zwischen den Buchdeckeln steckten und flüsternd auf mich warteten. Ein Leben war einfach nicht genug.

Während ich mich verbeugte, klatschte die kleine Lucy begeistert in ihre Kinderhände und hopste auf Zoés Schoß auf und ab, sodass diese beinahe ihre Tasse heiße Schokolade über das weiße Sofa verschüttete.

Wir hatten Lucy erst vor einem Jahr als Pflegekind bei uns aufgenommen und doch gehörte sie bereits so selbstverständlich zur Familie Olivier wie die drei Hauskatzen Pomme, Pêche und Prune, die es sich mit schläfrigem Blick zwischen den Menschen auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten. Dass die drei den Namen eines Obstgartens trugen – Apfel, Pfirsich und Pflaume – war Léa zu verdanken, meiner vierzehnjährigen Schwester, die im Schneidersitz zwischen meiner Mutter Audrey und Oma Odette saß, das blonde Haar zu zwei abstehenden Zöpfen gebunden. Sie rückte ihre Brille zurecht und hob den rechten Zeigefinger, wie es bei unserem Ritual üblich war.

»Haben wir genug Törtchen?«, fragte sie mit strenger Stimme.

»Natürlich«, antwortete ich freundlich. »Vanilletörtchen für alle!«

»Haben wir genug Kakao?«, fuhr sie fort.

»Auch das, Fräulein Léa«, säuselte ich und zeigte auf die dampfenden Tassen von Kakao, die auf dem Wohnzimmertisch ein Meer aus duftender Schokolade bildeten.

»Und nun die wichtigste aller Fragen: Wird heute Nacht eine Liebesgeschichte geschrieben, Lily Olivier?«

Ich unterdrückte ein Grinsen, indem ich meine Lippen aufeinanderpresste. Dann strahlte ich die acht Damen an, die auf dem Sofa saßen (Katzen mit eingerechnet!).

»Nein«, platzte es aus mir heraus und ein enttäuschtes »Oooh« schallte mir entgegen. Katze Prune, unser schwarzes Teufelchen, bleckte die Zähne und die rotweiß getigerte Pêche gab ein leises Mauzen von sich. Ich richtete den Kopfschmuck, den ich jedes Mal während unserer Zeremonien trug: einen Hut in Form eines aufgeschlagenen Buches, geschmückt mit drei bunten Federn in Blau, Schwarz und Rosa. Ein Erbstück meiner Urgroßmutter mütterlicherseits, wie so vieles in meinem Leben. Mein langes blondes Haar hatte ich unter dem Hut zu einem Dutt gebunden, nur mein Pony schaute darunter hervor. Ich fühlte mich immer ein bisschen wie eine Zirkuszauberin – aber was sollte ich sagen? Die Schreibnächte waren die schönsten Nächte, die die Frauen der Familie Olivier (und oftmals auch Zoé) miteinander verbrachten.

»Es wird keine Liebesgeschichte geschrieben, meine Damen«, fuhr ich mit meinem Vortrag fort. »Dafür wandern Meuchelmörder durch die Stadt, gefühllose Henker, Frauen in bauschend roten Kleidern und vielleicht sogar eine Horde sprechender Ratten. Es wird Nacht, es wird regnen, ihr werdet den Schlamm riechen können und den Morast, das Klappern der Kutschen auf dem Kopfsteinpflaster hören genauso wie das Läuten der Glocken und den rasselnden Atem des Mörders, des Mörders von Paris …«

Lucy quiekte vergnügt und klatschte weiter mit ihren Patschehändchen. Oma Odette vergrub sich tiefer unter ihrer Decke, Zoé schien zu überlegen, ob sie den Abend nicht doch lieber mit ihrem Lernstoff für die Krankenschwesterschule verbringen sollte – nur Léa und meine Mutter Audrey schienen höchst zufrieden mit dem heutigen Abendprogramm. Meine Schwester hatte schließlich gerade Stephen King für sich entdeckt, da konnte sie ein Meuchelmörder nicht mehr schrecken.

Ich löschte das Licht, jetzt waren das Wohnzimmer und die Gesichter der anderen nur noch vom Kerzenschein beleuchtet. Draußen war es bereits seit Stunden dunkel, es hatte sogar angefangen zu schneien. Paris schien sich schlafen gelegt zu haben – in unserem Wohnzimmer würde es gleich wieder auferstehen, im Lichte einer früheren, einer dunkleren Zeit. Das Papier für die Geschichte, in die wir uns vertiefen würden, lag bereits fein säuberlich gestapelt auf dem alten Holzschreibtisch meiner Urgroßmutter. Ich öffnete die Schublade und zog eine Schatulle aus blauem Samt hervor, außerdem ein Tintenfass, das ich neben das Papier stellte. Dann öffnete ich die Schatulle und entnahm die Gänsefeder, die darin verborgen lag. Ein Raunen ging durch den Raum. Ein Raunen über eine alte, abgenutzte Schreibfeder. Ich schaute fast liebevoll auf sie hinab. Sie mochte aussehen wie eine gewöhnliche Feder mit weißem Kiel und struppig weißgrauen Härchen. Doch sie war alles andere als gewöhnlich. Sie bannte Worte auf Papier, die glühten wie schwarze Sterne. Sie erschuf ein Sternenzelt aus Buchstaben, das sich so allumfassend über uns legen würde, dass wir für eine Nacht glaubten, in ihren Geschichten zu ertrinken. So eine Feder war sie. Einzigartig auf der Welt, zumindest so viel ich wusste. Und ich war ihre Hüterin, seitdem mir das Familienerbe im Alter von sechs Jahren übertragen worden war.

»Welche Zutaten wirst du heute nutzen, Lily?«, fragte Léa vom Sofa aus.

Ich legte die Feder vorsichtig auf das Papier und drehte mich wieder zu den anderen um. »Was würdet Ihr vorschlagen, Fräulein Léa?«

»Sie brauchen Blut, holde Lily, eindeutig«, sagte Léa trocken und rückte erneut ihre Brille zurecht. Sie hatte wieder den obercoolen Ausdruck im Gesicht, den sie sich angewöhnt hatte, seit sie ihre Abende damit verbrachte, amerikanische Serien zu streamen. »Ich stelle mich gerne zur Verfügung.«

»Pferdeäpfel«, rief Zoé lachend, »können auch nicht schaden.«

»Ein Stück Nacht, vielleicht in Form eines schwarzen Halstuchs?«, schlug Audrey vor.

»Vergesst das schöne rote Kleid nicht«, sagte Oma Odette, deren faltige Wangen bereits vor Aufregung ganz rosafarben glühten.

»Sehr gut«, sagte ich. »Statt Pferdeäpfeln tut es auch Katzenkot. Wir nehmen einen Fetzen des schwarzen Halstuchs und den Faden eines roten Kleides. Léas Blut. Und ich füge etwas Ruß und Regenwasser hinzu.«

Ich öffnete meinen Zutatenkoffer und griff nach den eben aufgezählten Zutaten, die sich alle in kleinen Döschen, Tüten und Reagenzgläsern befanden. Léa kam nach vorne, pikste sich mit einer Nadel in den Daumen und ließ einen Tropfen Blut in das Tintenfass fallen. Ich fügte die anderen Zutaten hinzu, rührte alles einmal um und flüsterte noch ein paar Worte in die Flüssigkeit: »Henker. Rattennacht. Gruselwalzer.«

»Oh mon dieu im Himmel, lass mich diese Nacht überleben!«, stöhnte Oma Odette im Hintergrund. Sie hatte sich mittlerweile die arme Pêche gekrallt und fuhr ihr mit zittrigen Händen übers Fell. Audrey griff nach der Fernbedienung und schaltete damit das Musikgerät an. Eine schaurige Melodie füllte das Wohnzimmer, wie aus einem Gruselfilm.

»Seid ihr bereit, edle Zuschauer und Geschichtenverschlinger?«, fragte ich theatralisch in die Runde. Lucy japste, Léa nickte, Zoé hatte die Augenbrauen hochgezogen, in schreckhafter Erwartung dessen, was auf sie zukommen würde, und Oma Odette versank fast vollständig unter ihrer Decke. Die Katzen blickten teilnahmslos ins Kerzenlicht, nur Audrey saß ganz entspannt auf dem Sofa und lächelte. Lächelte, wie sie es immer tat, wenn ich an einem unserer Schreibabende die Feder zum Leben erweckte. Sie wirkte dann irgendwie stolz und ziemlich zufrieden. Glücklich darüber, dass ihre Tochter die geborene Schreibmagierin war.

Es gab in Paris wohl nur wenige Menschen, die ihren Unterhalt mit Magie verdienten. Und es gab bloß eine einzige Familie, deren magisches Metier das Metier des Geschichtenfindens war. Ihr Name war Famille Olivier, ein Haufen verrückter Frauen, die irgendwann beschlossen hatten, dass sie zum Glücklichsein nichts weiter brauchten als gute Geschichten, Vanilletörtchen, literweise Kakao und das Schnurren einer schläfrigen Katze.

»Dann soll das Spektakel beginnen«, rief ich in den Raum. Ich tunkte den Federkiel in das präparierte Tintenfass, hielt die Feder über das oberste Blatt Papier und sprach: »Finde die Geschichte, die im Verborgenen liegt. Finde die Geschichte, die ruft und schreit, die flüstert und weint, die glitzert und lacht. Reiche ihr die Hand, führe sie über die Grenze und lasse sie leuchten wie schwarze Sterne in der Nacht. Sei ihre Stimme, sei ihr Zeuge. Schreibe Geschichten mit deiner Macht.«

Und lasse sie heute äußerst gruselig werden, fügte ich noch in Gedanken hinzu.

Dann lösten sich meine Finger von der Feder. Sie blieb wie durch Zauberhand in der Luft stehen, als bräuchte sie einen kurzen Moment zum Nachdenken. Dann senkte sie sich auf das Blatt Papier und begann zu schreiben. Ganz von alleine. Das Einzige, was ich tun musste, war, in ihrer Nähe zu bleiben, sodass sie durch meine Energie am Leben gehalten wurde.

Ich tapste rückwärts zum Sofa, ließ mich neben Zoé und die kleine Lucy sinken und zog die Beine an.

Es war so still, als hätten alle die Luft angehalten, einzig das Schaben der Feder auf dem Papier war zu hören. Sie tunkte den Federkiel ganz eigenmächtig in das Tintenfass, wenn es nötig war, und blätterte das Papier mit einem sanften Luftstoß um, sobald es vollgeschrieben war. Und während sie so schrieb und schrieb, Zoé, ich und die anderen schweigend unsere Törtchen aßen und unseren Kakao schlürften, begann sich eine Kulisse im Wohnzimmer aufzubauen, wie aus einem Film, in der ein Meuchelmörder, ein Henker und eine Dame in Rot ihre ganz persönliche Gruselgeschichte erlebten. Wir folgten gebannt der Szenerie, lauschten den Dialogen, spürten den Regen, der unter unseren Kragen kroch, und die Ratten, die um unsere Füße schlichen, wir rochen den Morast der Seine, hörten das Schlagen der Hufe und spürten die Leidenschaft des Walzers. Und während die Feder schrieb und schrieb, die Kerzen flackerten und draußen unablässig der Schnee fiel, schliefen wir ein – und die Geschichte folgte uns in unsere Träume.

Die Feder würde nicht ruhen, bis diese zu Ende erzählt war.

***

So liefen unsere Schreibabende normalerweise ab. Doch was an jenem Abend passierte, konnte sogar die beste Gruselstimmung zerstören. Es läutete plötzlich an der Tür. Sofort waren wir alle hellwach und Oma Odette hatte einen riesigen Schrecken im Gesicht (wahrscheinlich dachte sie an den Meuchelmörder), doch Audrey beruhigte sie: »Macht einfach weiter, ich schaue nach, wer das ist.«

Die Feder fuhr unablässig fort. Ich versuchte mich wieder auf sie und die Geschichte zu konzentrieren, doch aus dem Treppenhaus drang ein hysterisches Gezeter in die Wohnung, das meine Gedanken ablenkte. Und plötzlich stürzte eine fremde Person ins Wohnzimmer, mitten in die Szene, in der sich Henker und Frau in Rot zum ersten Mal küssten (die Wahrheit ist: Es gibt einfach keine Geschichten ohne Liebe). Natürlich war diese Person nicht wirklich fremd, ich kannte sie nur zu gut. Es handelte sich um meinen unausstehlichen Cousin Vincent, den Sohn von Audreys Schwester Florence.

Sofort befahl ich der Feder in Gedanken, aufzuhören und sich wie tot auf den Stapel Papier zu legen. Doch es war natürlich zu spät, Vincent hatte sie längst erblickt. Als die Feder zu schreiben aufhörte und friedlich auf den Schreibtisch hinabsegelte, löste sich auch die nächtliche Pariser Gruselkulisse im Wohnzimmer auf, verschwamm wie Farbe in einem Wasserglas, verstummte wie Musik, die kontinuierlich leiser gedreht wurde.

Vincent begann leise und verächtlich zu lachen. »Was wird das hier?«, fragte er. »Märchenstunde?« Dann zeigte er auf mich. »Du trägst diesen albernen Hut wirklich? Also wenn ich das Mama erzähle, kriegt sie sich nicht mehr ein vor Lachen.«

»Was willst du, Vincent?« Audrey stand im Türrahmen und schaute ihren Neffen unglücklich an. Sie hatte allen Grund, ihn nicht zu mögen, doch es schien sie eher traurig zu machen, dass sie so ein schlechtes Verhältnis zueinander hatten.

Vincent näherte sich dem Schreibtisch und griff nach der Feder. Als er sie in seine Faust schloss, zog sich mein Magen zusammen. Es war, als zerquetschte er mein Herz und mein Hirn gleichzeitig mit einem Teil meiner Seele.

»Wer weiß«, sagte er, »vielleicht kehrt sie ja doch eines Tages an ihren Bestimmungsort zurück, die magische Feder. Hier ist sie ja nun wirklich nicht richtig aufgehoben!«

Widerwillig legte er die Feder zurück auf den Schreibtisch. Sein abschätziger Blick glitt über unsere Wohnungseinrichtung, dann über unsere Gesichter auf dem Sofa. Léa streckte ihm die Zunge raus. Prune bleckte wieder die Zähne. Ich hatte genug von seinen Spielchen. Wütend zog ich mir den Hut vom Kopf und baute mich vor Vincent auf, der zwar ein Jahr jünger, dafür aber einen ganzen Kopf größer war als ich.

»Spuck endlich aus, was du von uns willst, oder zieh Leine, Vincent«, fuhr ich ihn an.

»Du hast recht, Cousinchen«, schleimte er. Die Schleimspur schien sich über seinen ganzen Haarschopf zu ziehen. Akkurat gescheitelt glänzten seine roten Haare im Kerzenlicht. Auch er trug eine Brille, wie Léa. »Ich möchte ja gar nicht länger als nötig in dieser kleinen Wohnung bleiben, sonst bekomme ich noch Platzangst. Oder Flöhe.«

Die letzte Bemerkung ließ er mit einem verächtlichen Blick auf die Katzen fallen. »Ich habe euch etwas mitgebracht.«

Triumphierend drückte er mir einen Briefumschlag in die Hand. Ich zog das Blatt Papier daraus hervor und starrte auf die vielen Zahlen, die mir entgegensprangen. Audrey hatte sich mittlerweile hinter mich gestellt und schaute mir über die Schulter.

»Eine Rechnung«, flüsterte sie.

»Ganz recht«, flötete Vincent und lächelte auf seine schwarzen Lackschuhe hinab. Er war immer ziemlich lächerlich gekleidet. Heute trug er einen schwarzen Anzug, der ihm viel zu groß war. Vincent war eine Bohnenstange, eine große zwar, aber eine Bohnenstange. Die Anzugjacke war viel zu weit für seine schmächtigen Schultern. Eigentlich kannten wir uns kaum und doch überfiel mich bei Vincent immer ein ungutes Gefühl. Vielleicht, weil er nur zu Besuch kam, um sich an unserem Unglück zu erfreuen? Was hatte ich meinem Cousin angetan, dass er sich mir gegenüber wie ein Scheusal verhielt? Als Kinder hatten wir noch gemeinsam im Garten meiner Urgroßmutter gespielt und heute war er mir vollkommen fremd.

»Eine Rechnung für die Villa?«, fragte ich meine Mutter.

»Wir mussten einige Reparaturen am Dach vornehmen«, antwortete Vincent an ihrer Stelle, »und da haben wir gleich einen Teil des Speichers zu einem gläsernen Wintergarten ausgebaut – Mama liebt doch die Sonne so sehr! Und da beide Schwestern in Urgroßmutters Testament dazu verpflichtet wurden, in gleichen Teilen für die Villa aufzukommen, wirst du die Hälfte der Sanierungen zahlen müssen, liebe Tante Audrey. Mama erwartet das Geld zum Monatsende auf ihrem Konto.«

»Wir wohnen nicht mal in dieser bescheuerten Villa«, schrie Léa plötzlich. Sie war aufgesprungen und stand nun ebenfalls wutentbrannt neben mir. »Wir werden einen Anwalt einschalten und dann könnt ihr euch euren Wintergarten hinstecken, wo der Pfeffer wächst!«

Fast hätte ich gelacht oder meine kleine Schwester geknuddelt, doch leider war da immer noch Vincents überhebliche Visage in unserem Wohnzimmer.

»Das ist wohl euer Problem, niemand verbietet euch ebenfalls in der Villa zu wohnen«, sagte er in ganz unschuldigem Ton. »Außerdem kann man nicht alles haben: Ihr habt uns die Feder gestohlen, ihr werdet für den Wintergarten aufkommen. Alles hat seinen Preis.«

Die letzten Worte kamen nicht mehr ganz so freundlich aus Vincents Mund. Zum Abschied grinste er noch mal blöd, dann stakste er aus dem Wohnzimmer, nicht ohne erneut zu betonen, wie erbärmlich es doch sei, dass die Zauberfeder ein solch trostloses Dasein in einer solch unwürdigen Umgebung friste. »Märchenstunden, pfff … Wir würden ihren wahren Wert zu schätzen wissen!«

Als er unsere Wohnung verlassen hatte, krallte sich Audreys Hand in meine Schulter. »Sie wollen zehntausend Euro. Bis zum Ende des Monats. Wo bitte sollen wir dieses Geld hernehmen?«

»Wir bezahlen das nicht, Mama. Keinen Cent!«, rief Léa.

»So einfach ist das nicht …«, sagte Audrey. »Dieses Testament, dieses verdammte Testament …«

»Das Lily zur Hüterin der Feder gemacht hat. Du musstest es annehmen«, sagte Oma Odette sanft und schloss Audrey in die Arme. »Die Feder gehört zu euch, sie ist hier so viel besser aufgehoben als bei deiner Schwester.« Odette strich Audrey über die dunklen Locken und zog sie zurück aufs Sofa.

Odette war unsere Oma väterlicherseits. Sie lebte bei uns, sie liebte uns, auch wenn mein Vater sich bereits vor Jahren gegen uns entschieden hatte. Das Familienleben in Paris war ihm irgendwann zu spießig geworden, deshalb hatte er sich zu den Ureinwohnern im brasilianischen Regenwald abgesetzt. Ab und zu schickte er einen Brief. Geld hatte er natürlich auch nicht – er hatte uns bei seinem Abschied bereits alles vermacht, was er besessen hatte.

Ich spürte, wie ein hässliches Stückchen Ohnmacht durch meinen Körper kroch. Ich hasste es, meine Mutter so zu sehen. Voller Gram und Sorge. Sie war der herzlichste Mensch der Welt und es quälte sie wirklich, dass ihre Schwester Florence sie so dermaßen triezte. Aber wir würden uns nicht unterkriegen lassen. Die Oliviers gaben nicht auf, schließlich waren sie eine magische Familie!

»Ich werde den Auftrag annehmen«, sagte ich bestimmt. »Die Verlagsanfrage, die ich abgelehnt hatte.«

»Aber Lily, unsere Prinzipien!« Audrey schüttelte verzweifelt den Kopf, doch ich kniete mich zu ihr und griff nach ihren Händen. Sie waren eiskalt.

»Scheiß drauf«, sagte ich, und brachte damit Léa, Odette und Zoé zum Grinsen. »Es ist kein Verbrechen, einem unsympathischen, aufgeplusterten Millionärssöhnchen zu Ruhm und noch mehr Kohle zu verhelfen, oder? Auch wenn wir die Feder nicht zu solchen Zwecken einsetzen wollten, dieser Auftrag würde uns mit einem Schlag ziemlich viel Geld einbringen. Es ist die einzige Möglichkeit, die Rechnung bis zum Monatsende zahlen zu können.«

Audrey schien noch immer nicht glücklich, doch sie nickte. »Danke!«, sagte sie und schloss mich in die Arme. »Danke, meine kleine große Magierin!«

***

Eine Stunde später saß ich mit Audrey in der Küche und legte das Telefon beiseite. Die anderen hatten sich bereits schlafen gelegt und meine Euphorie war einem unbehaglichen Gefühl gewichen. Ich würde diesen Auftrag für meine Familie annehmen, keine Frage! Gut fühlte es sich dennoch nicht an.

»Muriel, die Lektorin, ist beinah ausgeflippt«, sagte ich leise. »Sie hat mich für morgen zu einem Treffen im Verlag eingeladen, an dem auch Frédéric Leblanc teilnehmen wird.«

»Dieser Millionärssohn, der den Roman geschrieben hat?«, fragte Audrey.

»Einen Liebesroman«, sagte ich und zog dabei die Augenbrauen in die Höhe. »Laut Muriel ist er Schrott, aber sie wollen ihn unbedingt verlegen. Schließlich ist Frédéric das bekannteste Millionärssöhnchen von ganz Frankreich, und Youtube-Star noch dazu.«

»Die Feder wird einen wundervollen Roman aus seinem Manuskript machen.« Audrey legte ihre warme Hand auf meine. »Ist das nicht ein kleiner Trost? Dass seine Leserinnen eine wunderschöne Liebesgeschichte werden lesen können?«

»Für die er in den Himmel gelobt werden wird und noch mehr Kohle kassiert … Ich weiß, ich tue das nur für unsere Familie, weil Florence uns dazu zwingt! Aber wir hatten uns geschworen, die Feder niemals einzusetzen, um uns selbst zu bereichern oder einem Hochstapler wie Leblanc zu Ruhm zu verhelfen. Das ist doch der einzige Grund, warum sich fast alle Geschichten, die die Feder schon auf Papier gebannt hat, hier in unserer Wohnung stapeln und nicht in den Buchhandlungen liegen und gelesen werden! Ich fände es falsch, sie als meine Werke auszugeben und es ist ebenso falsch, sie Leblanc zu schenken …«

»Ich verstehe dich«, sagte Audrey, »und deine Prinzipien sind löblich. Ich selbst war ja auch dagegen, dass du für diesen Leblanc arbeitest. Aber manchmal, Kleines, muss man in dieser Welt auch ein bisschen an sich selbst denken. Sonst tut es nämlich keiner. Und nur, weil du die Feder einmal einem Möchtegern-Autoren wie Leblanc zur Verfügung stellst, muss das ja nicht zur Regel werden. Du kannst auch in Zukunft Aufträge ablehnen und nur solche Manuskripte annehmen, von denen du überzeugt bist.«

Ich ließ meinen Blick durch die nächtliche Küche streifen. Tausende Seiten beschriebenes Papier stapelten sich auf den Regalen, nahmen die Lücken zwischen Zimt, Zucker und Koriander ein, bildeten einen Turm auf den Kacheln neben dem alten Gasherd, versperrten auf der Fensterbank den Blick nach draußen auf die Kreuzung und das rot blinkende Etablissement von Madame Rouge. So ähnlich sah es in jedem Raum unserer Altbauwohnung aus, am schlimmsten war es in meinem Zimmer, wo sich die Bücherregale vom Boden bis zur Decke zogen. Meinen Kleiderschrank hatte ich bereits in Léas Zimmer ausgelagert. Ich lebte zwischen Geschichten, ich ertrank in ihnen, ich atmete sie, ich hatte manchmal sogar das Gefühl, selbst zu einer zu werden – zu einer unbedeutenden Protagonistin, die bloß noch auf Papier existierte. Und doch konnte ich all diese Romane nicht in die Freiheit entlassen. Sie gehörten nicht mir, ich hatte sie nicht erfunden. Sie waren alle das Werk der Feder, ich selbst hatte eigentlich kein Talent. Ich musste bloß anwesend sein, um die Feder zum Leben zu erwecken. Ich musste ihr bloß den Schubs in die richtige Richtung geben. Welche Geschichte sie dann fand und erzählte, darauf hatte ich keinen Einfluss mehr. Und doch fühlte ich mich am Ende eines Schreibabends immer ziemlich ausgepowert, als wäre ich mit der Feder einmal um die ganze Welt gelaufen, um die eine, wahre Geschichte zu finden. Als hätte ich alles mit den Figuren durchlebt, Minuten, Jahre, Jahrzehnte, Höhen und Tiefen, euphorische Momente, aber auch die tiefsten menschlichen Abgründe. In Wahrheit war ich auch nur Zuschauerin. Ich sah einer Feder beim Geschichtenweben zu. Märchenstunde. Vincent hatte nicht ganz unrecht.

Ich seufzte und betrachtete mich im Spiegel, der an der Wand neben dem Tisch hing. Ich sah das blasse Gesicht einer jungen Frau, blaue, manchmal etwas scheue Augen und langes hellblondes Haar. Ich sah meinen Pony, der etwas störrisch wirkte, eine unerklärliche Sehnsucht in meinem Blick, die mich manchmal unvollkommen wirken ließ, und einen Körper, mit dem ich im Großen und Ganzen zufrieden war. Ich fühlte mich ganz normal. Mir blickte im Spiegel sicher keine außergewöhnliche Frau entgegen. Keine vor Selbstbewusstsein und Zauber sprühende Magierin. Ich war nichts Besonderes, fand ich.

Audrey zog einen Stapel Papier zu sich heran, griff nach ihrem Bleistift und begann kleine Illustrationen in Form von Vögeln neben den Text zu zeichnen. Sie machte das häufig, mit jeder Geschichte, die die Feder niedergeschrieben hatte. Sie schenkte ihnen Bilder, kleine Löwenköpfe, Rosenranken, Henkerskutten, Kusslippen, Herzballons. Sie tat das, obwohl sie wusste, dass niemand diese Seiten zu Gesicht bekommen würde.

Audrey hatte schon immer Talent zum Zeichnen und Malen gehabt, nicht umsonst reihten sich in unserem Wohnzimmer die gemalten Porträts der Familie Olivier aneinander. Das Geld, um die Familie über Wasser zu halten, verdiente sie jedoch als Altenpflegerin, einem Beruf, auf den ihre Schwester Florence immer nur verächtlich herabgeschaut hatte. Doch Audrey liebte die Arbeit mit den alten Menschen. Sie war ein energischer und herzlicher Mensch, der selten länger als zehn Minuten still sitzen konnte. Das gelang ihr nur, wenn sie zeichnete. Wenn sie für einen kurzen Moment in eine andere Sphäre zu gleiten schien. Oder den Geschichten der Feder folgte.

Während sie immer mehr in ihren Zeichnungen versank und in der Küche nur noch das Ticken der großen Standuhr zu hören war, dachte ich an mein morgiges Treffen beim Verlag. Ich würde Frédéric Leblanc gegenüberstehen. Ob er wirklich so unausstehlich war, wie alle sagten?

Und warum schrieb ausgerechnet ein Typ, der sich sonst nur beim Austernschlürfen auf Papas Yacht oder beim Shoppen in New York filmen ließ, einen Liebesroman?

 

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Der schlechteste Liebesroman aller Zeiten

Am nächsten Tag verließ ich die Sorbonne über den eingeschneiten Vorplatz, auf dem sich frierende Studenten tummelten. Ich studierte im zweiten Semester Literaturwissenschaft, es war mein großer Traum, später als Lektorin oder Lehrerin für Sprache und Literatur zu arbeiten, doch leisten konnten wir uns meinen Traum nur, weil ich ab und zu Geld als Ghostwriterin verdiente. Eigentlich nicht ich, sondern die Feder. Aber das wussten die Auftraggeber aus den Pariser Verlagen natürlich nicht.

»Hey, Lily, warte mal!« Benoît stand so plötzlich vor mir, dass ich ihm nicht mehr ausweichen konnte. Er trug einen dicken Wintermantel und eine beigefarbene Mütze, die sein dunkles Haar bedeckte. »Mireille geht's nicht gut.«

»Ach?« Ich straffte die Träger meiner Tasche und versuchte zu verbergen, wie schwer es mir fiel, ihm in die Augen zu sehen.

»Sie sagt, du hättest sie wieder grundlos angefahren.«

Ich schnappte nach Luft, sie war viel zu eisig auf meiner Zunge. »Grundlos? Wie du vielleicht verstehen kannst, habe ich wenig Lust, Zeit mit ihr oder gar euch beiden zu verbringen. Jeder lebt für sich allein. Das war doch die Entscheidung, die du getroffen hast, oder? Und jetzt entschuldige mich: Ich habe einen Termin.«

Ich versuchte an ihm vorbeizuziehen, doch leider rutschten meine Stiefel auf dem vereisten Schnee am Boden und ich musste mich an ihm festhalten, um nicht zu fallen. Ausgerechnet. Was für eine Symbolik! Als würde ich wie ein hilfloses Mädchen am Boden liegen, wenn er nicht wäre.

Dabei lag ich seinetwegen am Boden. Weil er mich nie so hatte lieben können wie ich ihn. Weil er meinte, sich in eine meiner besten Freundinnen verliebt zu haben. Mireille, Zoé und ich waren zu Schulzeiten mal unzertrennlich gewesen. Jetzt waren eben nur noch Zoé und ich übrig. Mireilles Verrat konnte ich nicht verzeihen. Ich musste erst mal selbst damit klarkommen, wieder allein zu sein. Am Wochenende nicht Hand in Hand mit Benoît eiszulaufen, Lebkuchen zu backen oder den ganzen Tag im Bett liegen zu bleiben. Wir hatten stundenlang reden und albern können, nur von der Feder, von der hatte ich ihm nie erzählt. Ich hatte nicht gewollt, dass er mich für eine irre Magierin hielt, für ein Mädchen, das irgendwie nicht normal war. Vielleicht hatte es auf ihn deshalb so gewirkt, als würde ich ihn aus einem Teil meines Lebens ausschließen, als würde ich ihm etwas verheimlichen, manchmal einfach unnahbar sein. Wir hatten uns viel zu oft deswegen gestritten. Ich wusste selbst nicht, warum ich es ihm nicht einfach erzählt hatte. Bei Zoé hatte es ja auch geklappt. Aber bei dem Menschen, der mir so nah war wie kein anderer, bei dem brachte ich es nicht über die Lippen. Einfach weil ich geliebt werden wollte wie ein ganz normales, langweiliges, buchvernarrtes Mädchen. Und nicht wie eine Zauberin.

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Ich wollte nicht vor Benoît heulen, ich wollte nicht, dass er und Mireille Mitleid mit mir hatten. Am liebsten würde ich sie nicht mehr wiedersehen, doch leider studierten die beiden ebenfalls an der Sorbonne. Manchmal saßen wir sogar im selben Seminar oder die beiden knutschten in der Mensa, anstatt ihren Schokoladenpudding zu essen.

»Ich muss los«, presste ich hervor und stakste in Richtung Bushaltestelle. Benoît sah mir nach, ich spürte seinen Blick in meinem Rücken. Welch seltsames Gefühl, sich bei dem Menschen, dem man einst so nah war, so fremd zu fühlen. Als hätte es all die Blicke, die Küsse, die Geständnisse und Berührungen nicht gegeben. Als lägen sie irgendwo eingefroren unterm Schnee.

Ich stieg in den Bus und fuhr in Richtung Rue de Rivoli, zum Verlag Édition Nouvelle. Aufgrund meiner Platzangst war es mir unmöglich, in Paris Metro zu fahren. Doch was für andere undenkbar gewesen wäre, war für mich zur Normalität geworden. Ich liebte es mittlerweile sogar, im Schneckentempo und überirdisch durch die Stadt zu zuckeln. Nirgendwo sonst konnte man so viel unterschiedliches Leben beobachten wie durch ein Busfenster in Paris.

***

In der Lobby des Verlags stand bereits ein überdimensionaler Weihnachtsbaum voller Lametta, der rot und golden blinkte. Muriel, die Lektorin, eilte auf mich zu, sobald ich die große Drehtür passiert hatte.

»Lily, Sie sind unsere Rettung!«, sagte sie und begrüßte mich mit drei hektischen Wangenküsschen. »Dieses Manuskript, ich habe es nun ganz gelesen und ich kann Ihnen sagen: Es ist Müll! Es ist wirklich Müll!«

Ihre rot gefärbten Locken wippten auf und ab, während ich Mühe hatte, ihrem schnellen Schritt durch das Verlagsgebäude zu folgen.

»Seit wann verlegen Sie Müll?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, dass diese Diskussion zu nichts führen würde.

»Ich bitte Sie«, sagte Muriel auch sogleich, »der Programmchef besteht darauf und er hat natürlich vollkommen recht! Ein Liebesroman des bekanntesten Millionärssöhnchens und Youtube-Stars von ganz Paris – das können wir uns doch nicht entgehen lassen! Wenn allein seine Fangemeinde den Roman kauft, machen wir ein Riesengeschäft.«

»Wenn es aber Müll ist …«, gab ich zu bedenken.

»Dafür haben wir ja Sie!« Muriel war vor einer weiteren Glastür im oberen Stock stehen geblieben und strahlte mich an. »Sie werden dieses Manuskript in einen ganz zauberhaften Roman verwandeln, da sind wir uns sicher. Schließlich haben Sie schon zweimal für uns gearbeitet und wir waren mehr als begeistert.« Sie zwinkerte mir zu, dann wurde ihr Gesichtsausdruck wieder ernst. »Es gibt da nur ein kleines Problem. Frédéric Leblanc … nun ja … er ist nicht sonderlich kooperativ, ein schwieriger Charakter. Er ist sehr überzeugt von seinem Text, verstehen Sie? Sie müssen äußerst behutsam mit ihm umgehen. Er muss stets das Gefühl haben, wir nähmen nur minimale Veränderungen vor.«

»Wie soll das möglich sein, wenn ich eigentlich alles umschreiben muss?«

»Sie werden sicher eine Lösung finden. Im Grunde seines Herzens ist er ja auch ein ganz Lieber!«

So langsam ging mir Muriels zuckersüßes Strahlen auf die Nerven. War ich jetzt etwa auch noch für das Seelenheil eines Autors zuständig? So war das nicht abgemacht gewesen, eigentlich wollte ich mich nur um seinen Text kümmern!

Muriel richtete Rock und Bluse, atmete tief durch und öffnete dann die Glastür. Dahinter bogen wir in den Konferenzraum ein, durch dessen große Fensterfront man einen Blick auf die Seine und das gegenüberliegende Flussufer mit seinen prächtigen Gebäuden hatte.

Mir wäre beinah ein »Wow« entfahren, doch ich hielt es in letzter Sekunde zurück. In dem Konferenzraum war doch tatsächlich ein Tisch mit Häppchen aufgebaut, die Anwesenden hielten Champagnergläser in den Händen und lachten gekünstelt. Ich meinte, den Programmchef zu erkennen, die beiden anderen Verlagsmitarbeiter konnte ich nicht einordnen. Vielleicht vom Marketing oder Vertrieb? Wer jedoch eindeutig zu erkennen war, war Frédéric Leblanc. Er hockte auf der Lehne eines Stuhls, wie alle anderen trug er feine Businesskleidung. Irgendwie sah er so ganz anders aus als in seinen Youtube-Videos, in denen er sich am liebsten in eng anliegenden T-Shirts (damit man die Konturen seines Waschbrettbauchs erkennen konnte) und mit Basecap zeigte. Heute hatte er sein braunes Haar ordentlich zur Seite gegelt, nur das typische verschmitzte Lächeln spielte um seine Lippen, wenn er den Blick über die Anwesenden wandern ließ. Manche hätten es auch als überheblich bezeichnet. Ich fühlte mich jedenfalls plötzlich um einiges jünger, dabei war Frédéric nur ein paar Jahre älter als ich. Außerdem ziemlich unpassend in meiner Straßenkleidung aus Jeans und Karomantel. Als wäre ich in dieser feinen Gesellschaft ein kindlicher Eindringling und nicht die herbeigesehnte Ghostwriterin.

»Monsieur Leblanc, ich möchte Ihnen Lily Olivier vorstellen«, trällerte Muriel und klatschte dabei erfreut in die Hände. »Bei ihr wird Ihr Text in den besten Händen sein. Sie ist eine wahre Zauberin!«

Leblanc nickte mir zu und raffte sich dann auf mich, ebenfalls mit Wangenküsschen zu begrüßen. Er war einen Kopf größer als ich und trug ein aufdringliches Parfüm. Ich brachte bloß ein müdes »Auf eine gute Zusammenarbeit« zustande, aber was sollte ich auch sagen? Ich hatte mich zwar gestern dazu entschieden, den Auftrag anzunehmen, doch ich fühlte mich von der Vorstellung, mit diesem Angeber zusammenzuarbeiten, noch immer überfahren. Frédéric hingegen schien überrascht zu sein, dass die vielgepriesene Ghostwriterin eine so unscheinbare Studentin war.

»Sie sind wirklich die Frau, die so talentiert sein soll? Die aus meinem Text den besten Roman der Welt macht?«

Ja. Das war ich. Was hatte er erwartet? Wonderwoman? Mit so viel Power und Leidenschaft konnte ich leider nicht aufwarten.

»Nun ja, den besten Roman der Welt vielleicht nicht«, sagte ich, »aber mit Sicherheit einen sehr guten Liebesroman.«

»Monsieur Dubois«, er zeigte auf den Programmchef, »sagte mir, mein Text sei schon ziemlich gut. Sie werden also nicht viel Arbeit haben.« Er setzte sich wieder auf die Stuhllehne, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und grinste mich an. Unter seiner geöffneten Anzugjacke konnte ich seine breite Brust erkennen, über die sich ein weißes Hemd spannte.

»Dann ist ja gut«, sagte ich. »Ich mache mich so schnell wie möglich an die Arbeit und werde Muriel die neue Version bereits in ein paar Tagen überreichen.«

»Herrlich, solch schnelle und zuverlässige Arbeit!« Muriel klatschte wieder begeistert in die Hände. Frédéric aber schien weniger beeindruckt.

»Ich bestehe darauf, dass jede Änderung vor Veröffentlichung von mir abgesegnet wird«, sagte er an den Programmchef gewandt.

»Natürlich Monsieur Leblanc, das ist bei uns Standard. Der Autor hat das letzte Wort.«

Der Autor …, dachte ich frustriert. Vom Autoren Leblanc würde nach dem Eingriff der Feder wahrscheinlich nicht viel übrig bleiben, wenn es stimmte, was Muriel erzählt hatte.

»Darf ich Sie noch etwas fragen?« Die Worte waren mir einfach aus dem Mund gerutscht. Frédéric sah mich leicht verstört an. Wahrscheinlich sah er in mir ein hysterisches Mädchen mit zerzauster Frisur und altem Karomantel, das so unverschämt war, ihn, den großen Leblanc, mit nervigen Fragen zu löchern.

»Ja?«

»Warum haben Sie diesen Roman geschrieben?«

Er zog eine Augenbraue in die Höhe. Jetzt hatte sein Blick endgültig etwas Abschätziges an sich. »Was soll diese Frage? Spielt das irgendeine Rolle für Ihre Arbeit? Ich nehme an, die Antwort lautet Nein. Zaubern Sie einfach, Lily Olivier. Wie die kleine Zauberin, als die sie mir angepriesen wurden. Hex-Hex.« Sein Grinsen schien immer größer zu werden. Ich wollte am liebsten im Boden versinken.

Stattdessen sagte ich: »Stimmt, ich zaubere. Ich kann sogar aus solch unterirdischen Manuskripten noch etwas richtig Gutes zaubern.« Ich lächelte ihn entwaffnend an und spürte, wie die Luft zwischen uns immer angespannter wurde. Als begänne sie zu flimmern. Leblanc starrte mich bloß an, dann musterte er mich von oben bis unten, als bräuchte er ein bisschen Zeit, um sich eine schlagfertige Antwort einfallen zu lassen. Oder überraschte es ihn einfach nur, dass ich seinen Spruch gekontert hatte? Sah er mich gerade zum ersten Mal so richtig an? Fast fühlte ich mich nackt unter meinem Karomantel und seinen Röntgenaugen, was bei einem Geschäftstreffen definitiv kein passendes Gefühl war!

»Ich wünsche den Herrschaften noch einen schönen Nachmittag«, sagte ich schnell, nickte Muriel und den anderen Mitarbeitern zu, machte auf dem Absatz kehrt und eilte hinaus auf den Flur. Als ich schon im Treppenhaus angekommen war, hörte ich Muriels schweren Atem und das Klappern ihrer Absätze hinter mir.

»Lily, warten Sie doch!«, rief sie. »Das war aber nicht sehr diplomatisch!« Ihr Blick war tadelnd, als sie mich einholte. »Und außerdem brauchen Sie doch noch das Manuskript.« Sie drückte mir einen Stapel Papier in die Hand. »Am Rand finden Sie einige Anmerkungen. Soll ich es Ihnen auch noch elektronisch zuschicken?«

»Nicht nötig«, sagte ich. Plötzlich schämte ich mich ein wenig dafür, einfach so abgerauscht zu sein.

»Gut. Ungewöhnlich, aber solange Sie mir ein überarbeitetes Manuskript abliefern, bin ich zufrieden …«, sagte Muriel und blieb auf dem Treppenabsatz stehen. »Dann wünsche ich uns allen viel Erfolg.« Sie seufzte wieder. Ihr Job schien wirklich nicht einfach zu sein.

Als ich aus dem Verlagsgebäude trat, hatte es wieder zu schneien begonnen.

***

So ein Blödmann!, dachte ich, während ich mich durch die nassen Schneeflocken kämpfte. Warum hatte er sich in den Kopf gesetzt, ausgerechnet Buchautor werden zu müssen? Warum quälte er die Welt mit seiner Liebesschnulze, wenn er augenscheinlich null Talent hatte? Warum musste ich mir einen solchen Auftrag aufbürden, der nur Probleme mit sich bringen würde? Weil wir sonst die Rechnung von Florence und ihrer Sippe nicht bezahlen können, ging es mir durch den Kopf. Weil Paris Mamas hart erarbeitete Kröten frisst wie ein gieriges Monster. Weil ich studieren möchte und Léa in den Sommerferien an ihrem Forschungscamp teilnehmen soll. Weil es ein kleines Übel ist für das, was wir uns davon werden leisten können.

Ich versuchte mich abzuregen, doch jede Schneeflocke, die mir in die Augen und auf die Lippen fiel, ließ mich wieder aus der Haut fahren. Stell dich nicht so an, Lily, sagte ich mir. So viele Menschen mussten ihren Unterhalt mit einer Arbeit verdienen, die sie nicht glücklich machte. Wir hatten mit der Feder ein riesengroßes Glück geerbt!

Ich überquerte die Straße und versuchte, nicht auf dem Schnee auszurutschen. Der Räumungsdienst schien heute seine liebe Mühe zu haben, die ganze Stadt lag da wie in einer wirbelnd weißen Schneekugel.

Als ich die andere Straßenseite erreicht hatte, wurde ich plötzlich von der Seite angerempelt. Ein Mann in dunklem Mantel und mit Hut huschte eilig an mir vorbei, ohne sich zu entschuldigen. Er hatte sich nicht mal zu mir umgesehen. Ich wollte gerade wieder damit beginnen mich aufzuregen, als mir der Briefumschlag auffiel, der plötzlich in meiner Jackentasche steckte. Das obere Stück des weißen Umschlags schaute aus meinem Mantel hervor. Ich war mir sehr sicher, dass die Tasche vorher leer gewesen war. Verwirrt zog ich den Umschlag heraus. Es standen weder Absender noch Empfänger drauf. Meinen Fingern, die in dicken rosafarbenen Wollhandschuhen steckten, fiel es schwer, ihn zu öffnen, doch schließlich gelang es mir das Blatt Papier daraus hervorzuziehen. Der Schnee legte sich auf die geschwungenen, von Hand geschriebenen Buchstaben und mein Blick flog in Windeseile über die Zeilen. Anscheinend waren sie wirklich an mich gerichtet.

Chère Lily,

und wieder so ein Kunde, dem du die Magie der Feder schenkst? Weißt du denn gar nicht, wofür sie eigentlich bestimmt ist? Wozu sie wirklich imstande ist? Kann es denn wirklich sein, dass deine liebe Mutter dich im Dunkeln tappen lässt, selbst nach all den Jahren?

Öffne die Augen, Lily. Und erschaffe dir endlich dein Glück, statt stets dem Glück der anderen auf die Sprünge zu helfen. Befreie die Feder aus ihrem Korsett, sie wird es dir danken.

Herzlichst,

ein wohlmeinender Beobachter

Ein wohlmeinender Beobachter? War das etwa der Mann, der mich eben angerempelt hatte? Hatte er den Brief in meine Manteltasche gesteckt? Und was war das überhaupt für ein seltsamer Brief? Er war von jemandem geschrieben worden, der von der Existenz der Feder wusste. Das konnte doch nur jemand aus meiner Familie sein! Hatte Florence ihre Finger im Spiel? Ließ sie mich beschatten? Wollte sie einen Keil zwischen mich und Audrey treiben? Na, das würde ihr sicher nicht gelingen! Was meinte sie mit dem Korsett, aus dem ich die Feder befreien sollte? Sie war doch bloß neidisch, weil ihre eigene Großmutter sie enterbt und damals bestimmt hatte, dass ich die neue Hüterin der Feder sein sollte.

Ich knüllte das Papier zwischen meinen Handschuhen zusammen, stopfte es zurück in meine Tasche und blickte mich noch einmal um. Als ich nichts Verdächtiges erkennen konnte, machte ich mich endlich auf den Weg nach Hause. Ich hatte schließlich noch viel zu tun. Ich musste mich mit Frédérics Manuskript befassen. Und dann musste ich es aufpolieren. Er sollte schließlich der nächste Shooting-Star der Literaturszene werden. Ich würde ihn in die Sterne katapultieren, Feder sei Dank.

***

Auf dem Rückweg war ich so in Gedanken, dass ich sogar vergaß, dem traurigen Pianisten ein paar Münzen in den Hut zu werfen. Er saß jeden Tag unter der Platane an der Kreuzung und spielte Chopin und Strawinsky, selbst bei diesem Winterwetter. Léa und Odette dachten sich immer Geschichten aus, in Léas neuester Kreation war der Pianist eine abgestürzte Sternschnuppe, die Menschengestalt angenommen hatte, um sich mit trauriger Musik zurück in den Himmel zu spielen.

Zuhause im Treppenhaus quoll mir ein Haufen Post aus dem Briefkasten entgegen. Audrey schien noch nicht da zu sein. Ich schleppte alles nach oben, langsam wurde auch das Manuskript in meiner Tasche schwer. Die morschen Holztreppen knarrten und ich war froh, unsere Wohnung im oberen Stock erreicht zu haben, ohne dem alten Monsieur Morel begegnet zu sein, der mich immer zum Kartenspielen und Pflaumenschnapstrinken in seine Wohnung locken wollte. Oder der versnobten Madame Faure, die einen sprechenden Papagei besaß und mir immer beibringen wollte, wie man sich damenhafter kleidete. Ihre Wohnung sah aus wie eine Nachbildung des Spiegelsaals von Versailles. Da war mir die Opernsängerin Louanne mit ihren drei kleinen Kindern wesentlich lieber, auch wenn ihre kräftige Stimme öfter mal durch die Hauswände dröhnte.

Im Wohnzimmer stieß ich auf Léa, die in ihren Einhorn-Plüsch-Hausschuhen auf dem Sofa stand und Milch auf einen Teller Cornflakes auf dem Couchtisch hinabtropfen ließ.

»Ist das wieder irgendein Experiment für die Schule?«, fragte ich und ließ mich neben sie aufs Sofa sinken, um die Post zu sortieren.

»Pscht!« Léa schien äußerst konzentriert. »Ich berechne die Fallgeschwindigkeit von Milch.«

»So was gibt es?«

»Natürlich gibt es so was. Alles, was fallen kann, hat auch Geschwindigkeit.«

»Und warum musst du das unbedingt auf dem Sofa stehend machen?«

Doch Léa antwortete nicht mehr. Sie fixierte die Milchtropfen so konzentriert, als könne sie so die Fallgeschwindigkeit aus ihnen herauslesen.

Ich löste meinen Dutt und schüttelte den Kopf. Die langen Haare fielen mir ins Gesicht und es war wie eine Befreiung, als sich die Spannung auf meiner Kopfhaut löste. Trotz der kleinen Milchtropfen, die sich ab und zu wie ein Sprühregen auf mich und die Post legten, musste ich lächeln. Léa war ein kleiner Freak, keine Frage, aber sie war ein wunderbarer Freak. Wer konnte schon von sich behaupten, eine Schwester zu haben, die mit vierzehn Jahren alle Physik- und Chemiemeisterschaften des Landes gewonnen hatte?

Ich sortierte die Post in Stapel für Odette, Audrey und mich. Dabei fiel mir ein Fotoabzug in die Hände. Hatte der auch im Briefkasten gesteckt? Das Bild zeigte eine vergilbte Aufnahme, auf der zwei Frauen zu sehen waren. Eine der beiden erkannte ich sofort – es war Audrey in jungen Jahren. Auf dem Bild war sie schwanger, wahrscheinlich mit mir.

Die andere Frau, die Audrey lachend in den Armen lag, war Tante Florence, wie mir nach genauerem Hinsehen klar wurde. Ihr rotes Haar leuchtete trotz des vergilbten Fotopapiers wie Feuer. Sie hatte dieselbe große, schlanke Statur wie ihr Sohn Vincent heute. Auf dem Bild sahen die Schwestern ziemlich glücklich aus. Kaum zu glauben, dass sie sich heute nichts mehr zu sagen hatten.

Als ich das Foto umdrehte, entdeckte ich eine Notiz auf der Rückseite. 1998, stand da, also mein Geburtsjahr. Daneben hatte jemand in kleinen, kaum leserlichen Buchstaben geschrieben: Nur die Feder kann uns wiedervereinen, meine geliebte Schwester.

Aus einem mir unerfindlichen Grund fröstelte ich. War heute der Tag der Familien-Nostalgie? Warum lag dieses Foto in unserem Briefkasten? War es vielleicht aus einem der Umschläge gerutscht? Oder hatte es sogar etwas mit dem Brief zu tun, den der mysteriöse Mann mir zugesteckt hatte? Florence sollte uns einfach in Ruhe lassen, schließlich taten wir das auch!

Entschieden steckte ich das Foto zu dem Manuskript in meiner Tasche. Dann applaudierte ich Léa, die es geschafft hatte, den halben Couchtisch unter Milch zu setzen.

»Hast du was dagegen, wenn ich gleich das Bad besetze?«, fragte ich. »Ich bin reif für die Badewanne.«

Und außerdem wird die Feder Frédérics Manuskript überarbeiten, fügte ich noch in Gedanken hinzu, alleine, ohne Publikum.

Ich wollte dieses Ereignis nicht unnötig aufplustern, es war eine einmalige Sache, also würde ich kein Spektakel draus machen. Ich wäre einfach nur froh, wenn ich es endlich hinter mich gebracht hätte.

Léa nickte, sie schien sehr zufrieden mit ihrer Versuchsreihe zu sein. Während sie eine neue Packung Milch aus der Küche holte, stibitzte ich Feder und Tintenfass, griff nach meiner Tasche mit dem Manuskript und dem Zutatenkoffer und schloss mich für den restlichen Nachmittag im Bad ein.

 

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Schmerzhafte Erinnerungen

Während ich Frédérics Manuskript auf die Waschmaschine neben der Badewanne legte und heißes Wasser einlaufen ließ, musste ich an den Tag denken, an dem alles begonnen hatte. Heute schien die Arbeit mit der Feder manchmal so selbstverständlich, doch in Wirklichkeit war ich nur aus einem Grund Schreibmagierin geworden: weil meine Urgroßmutter es so bestimmt hatte.

***