utb 1758
[1] Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage
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Eine Grundlegung
8., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage
Haupt Verlag
[4] Prof. Dr. Tobias Singelnstein ist Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Kriminologie sowie im Strafrecht und Strafprozessrecht. Er ist Mitherausgeber der Fachzeitschriften „Kriminologisches Journal“ und „Neue Kriminalpolitik“. Näheres zur Person unter https://www.kriminologie.rub.de.
Prof. Dr. Karl-Ludwig Kunz war Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Kriminologie und rechtswissenschaftliche Grundlagenfächer an der Universität Bern. Näheres zur Person unter http://kaluku.blogspot.com.
8. Auflage: 2021
7. Auflage: 2016
6. Auflage: 2011
5. Auflage: 2008
4. Auflage: 2004
3. Auflage: 2001
2. Auflage: 1998
1. Auflage: 1994
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
http://dnb.dnb.de
UTB-Bandnr.: 1758
ISBN 978-3-8252-5643-2 (Buch)
ISBN 978-3-8463-5643-2 (E-Book)
Alle Rechte vorbehalten.
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Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.
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Satz: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen
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[5] Die Neuauflage bietet eine umfassend überarbeitete Fassung des seit 1994 bewährten Lehrbuches. Daten, Literatur und Text wurden vollständig aktualisiert und die Darstellung durchgehend auf den aktuellen Stand der Forschung gebracht. Mehrere Kapitel wurden im Zuge dessen um neue Abschnitte erweitert, etwa zu neueren Theorien, Kriminalität im Kontext staatlicher Macht, Migration und Digitalisierung. An manchen Stellen ist der Aufbau der Darstellung zugunsten einer besseren Verständlichkeit verändert worden. Schließlich hat das Buch eine neue Gestaltung erfahren und das Stichwortverzeichnis wurde deutlich erweitert.
Der besondere Charakter des Buches als grundlegende wie auch tiefgehende Einführung in die Kriminologie wurde beibehalten. Als solche versucht der Band, die derzeitige soziale Wahrnehmung des „Kriminalität“ genannten Phänomens und die Stile seiner Verarbeitung aufzuspüren. Selbst wenn Veränderungen eher klein erscheinen, zeigt ihre wissenschaftliche Aufzeichnung doch Bewegungen, die auch im Großen bedeutsam sind, da sie auf grundlegendere gesellschaftliche Veränderungen hinweisen.
Die Neuauflage wurde erneut von uns beiden gemeinsam bearbeitet. Dabei wurden wir mit großem Engagement von den Wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen am Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum unterstützt, wofür wir uns sehr herzlich bedanken möchten. Jana Berberich, Johannes Busch, Benjamin Derin, Julia Habermann und Louisa Zech haben uns nicht nur bei der Aktualisierung von Daten und Befunden sowie der Auswertung neuer Literatur unterstützt, sondern auch wichtige inhaltliche Beiträge geliefert. Dank gebührt auch den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften Nicky Aryanfar, Carla Burchartz, Marie Fischer, Julia Gruß, Lina Makrutzki, Matthias Michel, Franca Nonn und Kira Rusert, die uns bei Recherchen, Formalien und Korrekturen sehr unterstützt haben.
Bern und Bochum im Mai 2021,
Karl-Ludwig Kunz und Tobias Singelnstein
[6] Das Buch ist ein Lehrbuch und ein Nachschlagewerk, doch es ist hoffentlich mehr. Es unternimmt eine „Darstellung“ der Kriminologie im doppelten Wortsinne: Indem eine Bestandsaufnahme des Fachs präsentiert und zugleich dem Umstand Rechnung getragen wird, dass jede Präsentation eine Inszenierung ist, die aus Geschriebenem auswählt, es szenisch verdichtet und zu einem neuen Gesamtbild arrangiert.
Mit einiger Vermessenheit könnte man das Werk als eine Denk-Schrift bezeichnen. Erstrebt wird eine durchaus anspruchsvolle, doch allgemeinverständliche Vermittlung des Standes der allgemeinen Kriminalitätsforschung. Das Buch setzt auf die entlarvende Kraft des Nach-Denkens über eine Disziplin, über die schon manch Gescheites gedacht und gesagt worden ist. Die Philosophie bezeichnet dieses Vorgehen als Reflexion; burschikoser könnte man – mit Horst Schüler-Springorum – von einem „think twice“ reden. Solches Denken hat mit Verständigung zu tun, die darauf hofft, dass der Funke des Gedankens auf die Leserin und den Leser überspringen und dort ein Feuerwerk von Assoziationen auslösen möge, die im Buch nicht einmal im Keime angelegt sind.
Erstrebt wird so etwas wie eine Unterhaltung, durchaus in der doppelten Bedeutung von Dialog wie Divertimento. In der Wiener Klassik bezeichnet Divertimento ein in meist kleiner Besetzung aufgespieltes Instrumentalwerk, dazu bestimmt, eine tafelnde Gesellschaft zu unterhalten. Die unterhaltsame Zerstreuung der kriminologischen Tafelrunde verfolgt verschiedene Anliegen: Sie will gewisse inhaltliche Aspekte des Gesprächs aufgreifen und vertiefen, mittlerweile gängige Betrachtungswinkel erweitern und zu einer Verständigung über Gemeinsames und Trennendes anregen. Um einen hoch gegriffenen Vergleich zu wagen: Die verfolgten Anliegen lassen sich in der Aussage bündeln, die Ludwig Wittgenstein seiner berühmten Logisch-Philosophischen Abhandlung vorangestellt hat: Der „Zweck“ des Buchs „wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete“1.
Lesefreundlichkeit wird durch eine Reihe von Vorkehrungen erstrebt. Den meisten Abschnitten sind knappe Lektüreempfehlungen vorangestellt, die Hinweise für eine vertiefende Befassung etwa zur Prüfungsvorbereitung geben. [7] Querverbindungen im Text sind durch Verweise auf Vorangehendes (< § … Rn …) und Nachfolgendes (> § … Rn …) leicht nachvollziehbar. Tabellen und Schaubilder sollen komplexe Aussagen anschaulich machen. Das Stichwortregister erlaubt die rasche punktuelle Information. Das verwertete Schrifttum ist im Literaturverzeichnis dokumentiert. Die berücksichtigte Literatur stellt eine Auswahl dar, die versucht, die Vielfalt der Sichtweisen einzufangen. Vollständigkeit anzustreben widerspräche der Konzeption des Buchs.
1 Wittgenstein 1969, Vorwort.
[15] AJS | American Journal of Sociology |
ASR | American Sociological Review |
BBl (CH) | Bundesblatt, Schweiz |
BetmG (CH) | Betäubungsmittelgesetz der Schweiz |
Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Ausländische Bevölkerung [Berichtsjahr] | Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Ausländische Bevölkerung. Ergebnisse des Ausländerzentralregisters. Fachserie 1 Reihe 2 |
BewHi | Bewährungshilfe |
BGBl. | Bundesgesetzblatt |
BGHSt | Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Amtliche Sammlung |
BKA | Bundeskriminalamt |
BR-Drs. | Bundesrats-Drucksache |
Crit Crim | Critical Criminology |
Drogen und Strafrecht (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik: Drogen und Strafrecht |
Entschädigung und Genugtuung (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik: Entschädigungs- und Genugtuungsfälle nach Kanton und Leistungen |
Erster Periodischer Sicherheitsbericht | Bundesministerium des Innern; Bundesministerium der Justiz: Erster Periodischer Sicherheitsbericht |
Freiheitsentzug: Insassenbestand (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik: Freiheitsentzug, Insassenbestand am Stichtag |
GA | Goltdammer’s Archiv für Strafrecht |
Gerichtliche Kriminalstatistik (AT) [Berichtsjahr] | Statistik Austria – Bundesanstalt Statistik Öster-reich: Gerichtliche Kriminalstatistik |
GG | Grundgesetz, Deutschland |
JGG | Jugendgerichtsgesetz, Deutschland |
JRCD | Journal of Research in Crime and Delinquency |
KFN | Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen |
[16] KJ | Kritische Justiz |
KrimJ | Kriminologisches Journal |
KrimOJ | Kriminologie – Das Online-Journal |
KriPoZ | Kriminalpolitische Zeitschrift |
KritV | Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft |
KZfSS | Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie |
MschrKrim | Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechts-reform |
NJW | Neue Juristische Wochenschrift |
NK | Neue Kriminalpolitik |
NStZ | Neue Zeitschrift für Strafrecht |
Opferberatungen (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik: Opferberatungen nach Leistungen |
Personal in der Strafjustiz (EU) | Eurostat: Personal in der Strafjustiz nach Geschlecht – Anzahl und Quote für die jeweilige Geschlechtsgruppe |
PKS [Berichtsjahr] | Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik, Bundesrepublik Deutschland |
PKS (AT) [Berichtsjahr] | Bundesministerium für Inneres; Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik (Öster-reich) |
PKS (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik (zuvor: Bundesamt für Polizeiwesen): Polizeiliche Kriminalstatistik (Schweiz) |
Prisoners (USA) [Berichtsjahr] | US Department of Justice, Bureau of Justice Statistics: Prisoners in [Berichtsjahr] |
RdJB | Recht der Jugend und des Bildungswesens |
Rechtspflege – Bestand der Gefangenen und Verwahrten [Berichtsjahr] | Statistisches Bundesamt: Rechtspflege – Bestand der Gefangenen und Verwahrten in den deutschen Justizvollzugsanstalten |
Rechtspflege – Staatsanwaltschaften [Berichtsjahr] | Statistisches Bundesamt: Rechtspflege – Staatsanwaltschaften. Fachserie 10 Reihe 2.6 |
Rechtspflege – Strafverfolgung [Berichtsjahr] | Statistisches Bundesamt: Rechtspflege – Strafverfolgung. Fachserie 10 Reihe 3 |
[17] Rechtspflege – Strafvollzug [Berichtsjahr] | Statistisches Bundesamt: Rechtspflege – Strafvollzug. Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen. Fachserie 10 Reihe 4.1 bzw. Reihe 2 |
RevIntCrim | Revue Internationale de Criminologie et de Police Technique |
Rückfallraten – Erwachsene (CH) | Bundesamt für Statistik: Rückfall innerhalb von drei Jahren nach einer Entlassung 2014 für ein Verbrechen oder ein Vergehen, nach demografischen Merkmalen und Anzahl Vorstrafen |
Sanktionen und Untersuchungshaft (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik: Hauptsanktion, Mass-nahmen und Untersuchungshaft |
Sicherheitsbericht (AT) [Berichtsjahr] | Bundesministerium für Inneres: Sicherheitsbericht |
Sicherheitsbericht (AT) [Berichtsjahr]– Strafjustiz | Bundesministerium für Justiz: Sicherheitsbericht. Bericht über die Tätigkeit der Strafjustiz |
SozProb | Soziale Probleme |
Ständige Wohnbevölkerung (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik: Ständige Wohnbevölkerung nach Staatsangehörigkeitskategorie, Geschlecht und Gemeinde |
StGB | Strafgesetzbuch, Deutschland |
StGB (AT) | Strafgesetzbuch, Österreich |
StGB (CH) | Strafgesetzbuch, Schweiz |
StPO | Strafprozessordnung, Deutschland |
StPO (AT) | Strafprozessordnung, Österreich |
StPO (CH) | Strafprozessordnung, Schweiz |
StraFo | Strafverteidiger-Forum |
Strafvollzug: Einweisungen, mittlerer Bestand, Aufenthaltstage (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik: Straf- und Massnahmenvollzug: Einweisungen, mittlerer Bestand, Aufenthaltstage |
Strafvollzug: Entlassungsart und Aufenthaltsdauer (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik: Straf- und Massnahmenvollzug: Entlassungsart und Aufenthaltsdauer |
StV | Strafverteidiger |
StVollzG | Strafvollzugsgesetz, Deutschland |
Verurteilungen (CH) [Berichtsjahr] | Bundesamt für Statistik: Verurteilungszahlen für Erwachsene und Jugendliche |
[18] Verurteilungen Erwachsene (CH) 1984-2019 | Bundesamt für Statistik: Erwachsene: Verurteilungen für ein Vergehen oder Verbrechen nach Artikeln des Strafgesetzbuches (StGB), Schweiz und Kantone, 1984-2019 |
Verurteilungen Erwachsene nach Hauptstrafe (CH) 1984-2019 | Bundesamt für Statistik: Erwachsene: Verurteilungen für ein Verbrechen oder Vergehen, nach Art und Dauer der Hauptstrafe, Schweiz und Kantone (CH), 1984-2019 |
Verurteilungen Jugendliche (CH) 1999-2019 | Bundesamt für Statistik: Jugendliche: Verurteilungen für eine Übertretung, ein Vergehen oder ein Verbrechen nach Artikeln des Strafgesetzbuches (StGB), Schweiz und Kantone, 1999-2019 |
Wiederverurteilung Erwachsene nach Ausprägung des Rückfalls (CH) | Bundesamt für Statistik: Erwachsene: Wiederverurteilung innerhalb von drei Jahren nach einem 2015 erfolgten Referenzurteil, nach unterschied-lichen Ausprägungen des Rückfalls |
Wiederverurteilung Erwachsene nach Merkmalen der Ausgangsbevölkerung (CH) | Bundesamt für Statistik: Erwachsene: Wiederverurteilung innerhalb von drei Jahren nach einem 2015 erfolgten Referenzurteil, nach Merkmalen der Ausgangsbevölkerung |
ZeFKo | Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung |
ZfRSoz | Zeitschrift für Rechtssoziologie |
ZfStrVo | Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe |
ZIS | Zeitschrift für internationale Strafrechtsdogmatik |
ZJJ | Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe |
ZRP | Zeitschrift für Rechtspolitik |
ZStrR | Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht |
ZStW | Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft |
Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht | Bundesministerium des Innern; Bundesministerium der Justiz: Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht |
1
[20] Kriminologie bedeutet wörtlich Lehre vom Verbrechen. Erstmals in einem Buchtitel des italienischen Juristen Raffaele Garofalo (1851-1934) so benannt1, ist das heutige Verständnis der Disziplin weiter. Es umfasst nicht nur die gesellschaftlich als „kriminell“ gedeuteten Verhaltensweisen und Personen, sondern auch den gesellschaftlichen Umgang damit (→ § 2 Rn 1). Zu diesen Themen produziert die Kriminologie forschungsbasiertes Expert:innenwissen. Dieses Wissen unterscheidet sich von den Inhalten alltäglicher, moralischer und populistisch-politischer Diskurse durch seine Ansprüche an eine Vernunft, welche von der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannt wird. Anders als etwa die Naturwissenschaften hat die Kriminologie kein Autoritätsmonopol über ihr Fachthema. Sie agiert vielmehr in einem Umfeld, das von ungesicherten Alltagsverständnissen und Vorurteilen gegenüber Kriminalität geprägt ist und diesen oft den Vorzug vor Expert:innenwissen gibt.
2
Die Kriminologie thematisiert – anders als die normative Strafrechtswissenschaft – Kriminalität als Realphänomen. Es geht um Geschehensabläufe von denen sich sagen lässt: Es ereignet sich, es geschieht. Von der ebenfalls mit der Kriminalitätswirklichkeit befassten Kriminalistik unterscheidet sich die Kriminologie durch ihre Fragestellungen und die größere Distanz zum Kriminaljustizsystem. Die Kriminalistik verschreibt sich der fallbezogenen Vorbeugung und Aufdeckung von Straftaten. Sie versteht sich als dienende Hilfswissenschaft, insbesondere der Strafverfolgung, und ist in Einrichtungen der Polizei sowie der Gerichtsmedizin institutionalisiert. Demgegenüber bestimmt sich die Kriminologie als akademische Wissenschaft, welche insbesondere die Funktionsweise und die Wirksamkeit des Kriminaljustizsystems zur Kriminalitätsbearbeitung zum Thema macht. Sie nimmt daher gegenüber der Strafrechtspraxis eine Art Metaperspektive ein, die sich vom Anliegen der Kriminalitätsbearbeitung entfernt.
3
Kriminologische Bezugswissenschaften wie etwa Kriminalsoziologie, -psychologie, -biologie und dergleichen fokussieren bestimmte Bereiche der sozialen [21] Wirklichkeit: Die Soziologie die gesellschaftlichen Beziehungen2, die Psychologie das menschliche Verhalten und Erleben und die Biologie die naturgesetzlichen Grundbedingungen des (menschlichen) Lebens. Bei der Kriminologie gibt es keinen solchen fachspezifischen Bereich, sondern ein umfassend auf Kriminalität bezogenes Erkenntnisanliegen, das sich der Methoden und Ergebnisse sämtlicher Bezugsfächer bedient. Als Fach, das eine gegenstandsbezogene interdisziplinäre Perspektive einnimmt, ist es multiperspektivisch, disparat und den Einflüssen des Zeitgeists über den jeweils maßgeblichen fachspezifischen Bezug ausgesetzt.
4
Die Kriminologie ist gegenüber ihren Bezugswissenschaften organisatorisch und institutionell eigenständig. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird das Fach weltweit an Universitäten in Studiengängen und in der Postgraduiertenausbildung unterrichtet – im deutschsprachigen Raum vor allem im Rahmen des Studiums der Rechtswissenschaft. Zahllose universitäre Institute, Departemente, Colleges sowie nationale und internationale Vereinigungen sind ihm gewidmet. Zudem existieren in den Führungsetagen der Sicherheitsinstitutionen, etwa beim FBI und bei internationalen Instanzen (UNO, Europarat), kriminologische Forschungsdienste3. Diese Selbstständigkeit verdankt die Kriminologie freilich nicht der Kohärenz ihres Fachwissens, sondern der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung des sich auf Kriminalität richtenden Erkenntnisinteresses.
5
Die intellektuelle Originalität des Fachs ist hingegen umstritten. Die Kriminologie pflegt ein bestimmtes Genre des Diskurses über Kriminalität, welches sich um eine theoriegeleitete, empirisch geprüfte, nicht moralisch aufgeladene Argumentation bemüht. Es organisiert in diesem Sinne die Zusammenkunft von Forschenden, welche dieses Bemühen und das Interesse für das Thema Kriminalität teilen. Das scheinbar einheitliche kriminologische Forschungsfeld ergibt sich indes aus bezugswissenschaftlichen Zugängen, die nebeneinander relativ unabhängige Versionen des Fachs produzieren. Ob in der Diversität der Perspektiven überhaupt ein einheitliches Fach erkennbar ist, wird bezweifelt – speziell von Forschenden, die sich theoretisch stark an einer bestimmten Grundlagendisziplin orientieren.4 Demgegenüber beschwören andere – die zumeist [22] um Einflussnahme auf die Strafrechtspraxis bemüht und darum am „Gütesiegel“ fachlicher Eigenständigkeit interessiert sind – die Unabhängigkeit und Eigenart der Kriminologie.5
6
Indem wir der historischen Entwicklung des Fachs nachspüren, werden die Muster der Verteilung und Streuung wissenschaftlicher Aussagen über Kriminalität und gesellschaftliche Reaktionen darauf in der kriminologischen Ideengeschichte sichtbar (→ § 4). In der vormodernen klassischen Phase des 18. Jahrhunderts gelang es der Kriminologie nur unzureichend, im Spektrum von aufklärerischer Strafrechtskritik und ökonomischem Kalkül des wirksamen Strafens ihr spezifisches Markenzeichen zu setzen. Die moderne Schulrichtung des 19. Jahrhunderts nahm die individuelle, besonders die gewaltsame, Kriminalität mit ihren möglichen Ursachen ins medizinisch geprägte Blickfeld und vernachlässigte dabei deren soziale Produktionsbedingungen. Die massenhafte Alltagskriminalität sozial Benachteiligter fand im frühen 20. Jahrhundert in den USA durch Sozialisation in Kulturkonflikten eine Erklärung. Mit der weitgehend von Strafe verschonten, aber strafbedürftigen Kriminalität der Mächtigen und des Weißen Kragens gab Edwin H. Sutherland (1883-1950) erstmals die thematische Bindung der Kriminologie an förmlich strafbares Verhalten auf. Die Kriminologie beschäftigte sich fortan mit der Kriminalfrage, also dem gesellschaftlichen Umgang mit Normabweichungen, nicht nur mit Kriminalität. Das Fach beschränkt sich nicht auf das Vorkommen und die Ursachen des Handelns, das der nationale Gesetzgeber hier und heute als strafbar erklärt hat. Die Kriminalfrage ist politisch: Sie bezieht die soziale Verunsicherung durch Kriminalitätsfurcht, die Entstehung von Straferwartungen und die Prozesse der Ent- oder Neukriminalisierung mit ein. Später wird die Kriminalfrage auf Phänomene ausgeweitet, die ursprünglich in einem rein politischen Kontext verstanden wurden: Ordnungsvorstellungen, System- und Staatsunrecht, Polizeigewalt, moderner Terrorismus, normative oder faktische Praktiken der systematischen Impunität (Straflosigkeit).
7
Die Kriminalität markiert einen „sozialen Problembereich“, der mit Dramatik ausgestattet ist und mit Handlungsbedarf assoziiert wird. Als Wissenschaft über etwas, das ein Übel darstellt und gegen das etwas unternommen werden sollte, ist die Kriminologie von gesellschaftlichen Problemwahrnehmungen beeinflusst und gibt ihrerseits Impulse für deren Inhalte. Soweit die derzeitige Gesellschaft [23] aus verschiedenen zu erörternden Gründen (→ § 24) mehr als früher darauf angewiesen ist, die Zukunft zu beherrschen, Risiken zu kontrollieren und Sicherheit im Inneren zu schaffen, gewinnt die Aufgabe der Prävention und Reduktion von Kriminalität an Bedeutung. Der Ruf nach drastischen oder gar definitiven „Lösungen“ des Kriminalitätsproblems (→ § 23 Rn 43 ff.) steigert den Erwartungsdruck auf die Wissenschaft, dafür zweckdienliche Erkenntnisse zu produzieren. Indessen besteht ein Konflikt zwischen wissenschaftlicher Autonomie und praxisdienlicher Wissensproduktion, der innerhalb des Fachs eine Kluft zwischen akademischer und instanzennaher, eher „kriminalistischer“ Kriminologie öffnet.6
8
In der Nähe von Instanzen der Strafverfolgung und der sonstigen Kriminalitätsbearbeitung wird die Kriminologie zur anwendungsbezogenen Bedarfsforschung und zielt auf die Produktion eines empirisch geprüften Erfahrungswissens.7 Dabei geht es um das Erklären von Daten, welche als Indikatoren für Umfang und Struktur des tatsächlichen Kriminalitätsvorkommens verstanden werden, durch deren statistische Inbezugsetzung zu anderen Sozialdaten. Die Beschreibung von tatsächlichen Funktionsabläufen der Strafverfolgung erlaubt dieser eine folgenorientierte Selbstbeurteilung mit der Möglichkeit, aus Erfahrung zu lernen. Die systematische Analyse der faktischen Auswirkungen von Interventionen der Strafverfolgungsinstanzen ermöglicht die Prüfung, ob diese den erwarteten Erfolg haben. Die Eignung der kriminologischen Bedarfsforschung zur Optimierung der staatlichen Kriminalitätskontrolle und zur Evaluation kriminalpolitischer Handlungsstrategien macht diese Forschung zu einer bedeutsamen Informations- und Beratungsinstanz der praktischen Kriminalpolitik. Freilich geht es bei einer solchen Bedarfsforschung einzig um die Befriedigung des Informationsbedarfs staatlicher Instanzen zur Optimierung ihrer Strategien der Kriminalitätsverhütung und -bearbeitung.
9
Die Servicefunktion der erklärenden Bedarfsforschung sollte indes nicht überschätzt werden. Empirische Befunde fallen selten genug eindeutig aus und noch seltener wecken sie einen ganz bestimmten kriminalpolitischen Handlungsbedarf. Da praktische Kriminalpolitik und Strafrechtsanwendung von Repräsentant:innen verschiedener politischer Interessen und Gruppen betrieben werden, verwundert es nicht, wenn jede der Gruppen aus dem reichlich vorhandenen erfahrungswissenschaftlichen [24] Informationsangebot auf die ihr genehme Empirie zurückgreift bzw. sie im eigenen Interesse interpretiert.
10
Als Gegenrichtung zur Bedarfsforschung haben sich verschiedene Strömungen der akademischen Kriminologie entwickelt. Diese bündeln sich heute im Wesentlichen im Erkenntnismodell des Verstehens, welches dem des Erklärens gegenübersteht (→ § 2). Ihnen ist gemein, dass sie die der Kriminologie zugedachte Rolle der Stabilisierung des Kriminaljustizsystems ablehnen. Im Rahmen dessen wird verschiedentlich ein explizit „kritisches“, „radikales“ Fachverständnis vertreten (→ § 13 Rn 11, 22 ff.). So haben in den 1930er Jahren Georg Rusche (1900-1950) und Otto Kirchheimer (1905-1965)8 erstmals auf der Basis der marxistischen Gesellschaftstheorie bezweifelt, dass das Kriminaljustizsystem Kriminalitätsverhütung bezwecke. Die Autoren nehmen an, die Kriminalitätskontrolle und gerade der Strafvollzug schaffe vielmehr ein vorbildhaftes Muster für die Disziplinierung der proletarischen Klasse. Ihre ökonomische Analyse des Strafvollzugs kommt zu dem Ergebnis, dieser steuere im Wesentlichen den Zufluss und die Abschöpfung von Arbeitskräften.9 Die Arbeitssituation im Strafvollzug sei eine Imitationsvorlage für die allgemeine Arbeitsmoral.10 1945 skandalisierte Edwin H. Sutherland die Kriminalität der Mächtigen und stellte mit Blick darauf die provokante Frage:
„Is ‚White Collar Crime‘ Crime?“11
11
Die Frage bezieht ihre bleibende Aktualität aus der darin anklingenden Annahme, dass das Kriminaljustizsystem kriminelle Handlungen und Personen selektiv erfasst und andere verschont. Das Schlagwort crimes of the powerful12 steht seither als Sinnbild für die zumeist nicht wahrgenommene, nicht verfolgte und nicht bestrafte Kriminalität der Träger:innen sozialer, ökonomischer und politischer Macht.
12
Im Gefolge der 1968er-Studierendenbewegung entwickelt sich in der westlichen Welt eine zunächst vor allem marxistisch inspirierte kritische Kriminologie. Diese sieht in der offiziellen Ideologie der Kriminalitätsbekämpfung eine Verschleierung der Disziplinierung von sozial ohnehin Benachteiligten, die im Interesse der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo erfolgt. [25] Michel Foucault (1926-1984) sah seinerseits gerade in der vermeintlich zivilisatorischen Entwicklung des Strafrechts von den „grässlichen“ und „pittoresken“ Strafen hin zur disziplinierenden Freiheitsstrafe die Herrschaftslogik des modernen Strafrechts verwirklicht, das sich durch subtilere Kontrollmechanismen fortschreitend der Individuen bemächtige.13 Der vernichtende Zugriff auf den Körper wird danach durch die umfassendere und effektivere Vereinnahmung der Seele ersetzt.
„Das Gefängnis, diese düstere Region im Justizapparat, ist der Ort, wo die Strafgewalt, die ihr Geschäft nicht mehr mit offenem Antlitz zu betreiben wagt, stillschweigend ein Feld von Gegenständlichkeit organisiert, damit die Bestrafung als Therapie und das Urteil als Diskurs des Wissens öffentlich auftreten kann.“14
13
In Großbritannien kritisiert die radikale Kriminologie den professionellen control talk des crime control establishments als ein Muster, das unter dem Deckmantel von Sozialnutzen, Wohltätigkeit und wissenschaftlicher Notwendigkeit operiere.15 Als von Vertreter:innen des left realism entdeckt wird, dass auch die Opfer von Straftaten sozialen Benachteiligungen ausgesetzt sind, gewinnt die Forderung nach Ersetzung des Strafrechts durch andere gesellschaftliche Umgangsformen mit konflikthaften Situationen an Bedeutung. Die vor allem in den USA und Skandinavien starke Bewegung des Abolitionismus (Abolition = Abschaffung, Aufhebung, Beseitigung) knüpft an die Abschaffung der Sklaverei an. Die Assoziation, dass in der Sklaverei wie im Gefängnis Menschen wie Tiere gehalten werden, will gegen das Gefängnis einen ähnlichen Sturm moralischer Entrüstung auslösen wie dies der Roman „Onkel Toms Hütte“ gegen die Sklaverei tat. Der Buchtitel „Überwindet die Mauern!“16 steht hierfür als Programm. Aus der Ablehnung der „durchstaatlichten“ Gesellschaft ergibt sich zudem die antietatistische Grundtendenz, soziale Konflikte, aus denen Kriminalität entsteht, in ihren unmittelbaren gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang zurückzuverweisen und auf die Selbstheilungskräfte autonomer zwischenmenschlicher Verständigung zu vertrauen.17 In Deutschland werden diese verschiedenen Tendenzen einer kritischen Deutung der Kriminalitätskontrolle vor allem im Kontext des Labeling Approach (→ § 13 Rn 7 ff.) diskutiert, der auf Kriminalisierungsprozesse anstatt auf kriminelles Verhalten fokussiert ist.18 [26] Kriminalität stellt danach keine Gegebenheit an sich dar, sondern wird durch Diskurse der Ausgrenzung hergestellt. Infolgedessen gilt es, nicht das kriminelle Verhalten, sondern die ordnungsstiftende Funktion des Strafrechts zur erklärungsbedürftigen Variable19 zu machen.
14
Inzwischen richtet die kritische Kriminologie ihr Augenmerk auf die zunehmenden Unterschiede von Macht und Wohlstand in einer globalisierten politischen Ökonomie. Risikogeschäfte in internationalen Finanzmärkten, Staatskriminalität und ihre mangelhafte Aufarbeitung, als Polizeiaktionen getarnte militärische Einsätze, die Ursachen des neueren Terrorismus, Umweltschäden, welche von multinationalen Unternehmen zur Gewinnmaximierung systematisch einkalkuliert werden, die Gewalt von Rechtsextremen und die häusliche männliche Gewalt werden auch von der kritischen Kriminologie als bearbeitungsbedürftige Szenarien verstanden.20 Dabei entsteht mitunter ein gewisses Spannungsfeld mit einer staatskritischen, formale Sanktionen ablehnenden Grundeinstellung.
15
Weiterentwicklungen des kritischen Ansatzes finden sich in der feministischen Kriminologie (→ § 9 Rn 36 ff.) sowie in der besonders im englischsprachigen Raum verbreiteten Cultural Criminology (→ § 13 Rn 29 ff.). Dabei handelt es sich um eine Heranführung der Kriminologie an die Kulturwissenschaften (cultural studies). Kriminalität und ihre Kontrolle werden dabei als Ausprägungen des kulturellen Lebens verstanden – von Lebensstilen, der Dynamik der Massenmedien, gebräuchlichen Riten und Symbolen. Diese Richtung untersucht etwa, wie Polizei, Justiz und Strafvollzug ihre Autorität in Sprachstil, Auftreten und Gebäuden zum Ausdruck bringen oder welche besonderen Kriminalitätsbilder Massenmedien und Politiker:innen vermitteln. Die kriminologischen Themen werden dabei als Wahrnehmungsphänomene verstanden, denen von Täter:innen, Opfern, Kontrollierenden und Bürger:innen eine womöglich unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird.21
16
Methodisch hat sich die Kriminologie ebenfalls differenziert. In der beginnenden Moderne an den biologisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen orientiert, war sie dem einheitswissenschaftlichen Positivismus verpflichtet, der gesellschaftliche Zusammenhänge nach denselben Regeln wie ein den Kausalgesetzen [27] der Physik unterworfenes Objekt der Natur durch quantitativen Vergleich mit anderen vermeintlich vorgegebenen Objekten zu bestimmen trachtet. Diese Traditionslinie wurde nie aufgegeben, aber durch alternative qualitative anthropologische und kulturwissenschaftliche Sichtweisen ergänzt.
17
Verglichen mit dieser vielfältigen und uneinheitlichen Präsentation des Fachs scheint dessen Gegenstand, die Kriminalität, auf den ersten Blick leichter zugänglich. Wir alle haben dazu illustrierende Alltagsvorstellungen. Indes sollte eine seriöse Bestimmung mehr leisten – und stößt dabei auf erstaunliche Schwierigkeiten. Kriminalität ist nicht direkt anschaubar oder betastbar. Sie verbirgt sich im common sense des Alltagsverständnisses, das wir für eine wissenschaftliche Bestimmung aufbereiten und rekonstruieren müssen. Auf dem Umschlag eines Einführungsbuchs in die Humanmedizin kann das Thema durch die anatomische Zeichnung eines menschlichen Körpers vollständig versinnbildlicht werden. Aber wie sollte man Kriminalität korrekt illustrieren?
18
Das Wort „Kriminalität“ geht zurück auf das lateinische crimen (Anklage, Beschuldigung), eine Ableitung von cernere (auswählen, entscheiden). Es bedeutet ursprünglich etwas, das ausgewählt und beurteilt wird. Später erfolgte die semantische Einengung auf den förmlichen strafrechtlichen Vorwurf und die Handlungen, auf welche sich dieser Vorwurf bezieht. Etymologisch weist der Begriff Kriminalität zunächst auf eine strafrechtliche Attribution und sodann auf die in dieser Attribution als strafrechtlich relevant bestimmten Handlungen hin. „Kriminalität“ hat also einerseits mit dem Vorgang der Zuschreibung dieser Bezeichnung im strafrechtlichen Vorwurf zu tun und andererseits mit dem Verhalten, auf welches sich diese Zuschreibung bezieht. Dieses in der ursprünglichen Begriffsbedeutung angelegte ambivalente Verständnis der Kriminalität als Verhalten und als Zuschreibung wurde in der Kriminologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und führte zu einem Grundlagenkonflikt zwischen erklärenden traditionellen Richtungen und der seinerzeit neuen Perspektive des Labeling Approach (→ § 13 Rn 7 ff.).
19
Der Begriff „Kriminalität“ ist einerseits ein ordnender Sammelbegriff, andererseits ein zu emotionaler Distanzierung animierender Unterscheidungsbegriff. Als Sammelbegriff bestimmt er die Gesamtheit der vom Gesetz mit Strafe bedrohten Handlungen unter diesem Gesichtspunkt als artgleich. Als Unterscheidungsbegriff [28] ist Kriminalität negativ besetzt und markiert eine Sinndifferenz zu positiv besetzten Begriffen wie Ansehen, Erwünschtheit oder Privileg. Das Wissen über die ordnende und die orientierende Funktion von Kriminalität wird in einem vorurteilsbesetzten Verständnis erarbeitet und ist als ein generelles und implizites, jedoch bei Bedarf situativ explizierbares Hintergrundwissen den sozialen Akteur:innen präsent. Durch Aktivierung dieses Hintergrundwissens lassen sich wahrgenommene Handlungen in einen Vorrat an Unterscheidungen einordnen und Sinnzuschreibungen vornehmen.
20
Für Begriffe wie Kriminalität ist charakteristisch, dass ihr Bedeutungskern nicht fix bestimmt ist, sondern sich je nach seiner Rahmung in einem spezifischen kulturellen Kontext innerhalb des Begriffshofs verschiebt. Die relative Flexibilität