An einem sonnigen Nachmittag im August verschwinden an der Küste Kamtschatkas die beiden Schwestern Sofija und Aljona spurlos. Die Nachricht löst Entsetzen und Misstrauen in der eng verbundenen Gemeinschaft dieser entlegenen Region aus, doch noch nach Wochen tappt die Polizei im Dunkeln. Das Verschwinden der Mädchen erinnert an einen Vorfall nur Monate zuvor in der indigenen Bevölkerung, als die Studentin Lilja wie vom Erdboden verschluckt worden war. Wie eine düstere Wolke hängt der ungelöste Fall fortan über Kamtschatka und beeinflusst das Leben ganz unterschiedlicher Frauen in einer gespaltenen, männerdominierten Gesellschaft. Während das Netz zwischen den Einzelschicksalen dichter wird, hält die Suche nach den Mädchen die ganze Bevölkerung in Aufruhr.
Brillant konstruiert und einfühlsam erzählt, entführt uns der Roman in eine extreme und faszinierende Welt am Rande der Welt: in die graue Stadt Petropawlowsk, die spektakulären Weiten der Tundra und die Schatten schneebedeckter Vulkane.
Für Alex, mein dar, mein дap
Familie Golosowski
Marina Alexandrowna, Journalistin in Petropawlowsk-Kamtschatski
Aljona, ihre ältere Tochter
Sofija, ihre jüngere Tochter
Familie Solodikow
Alla Innokentjewna, Leiterin des Kulturzentrums von Esso
Natalija, genannt Natascha, ihre älteste Tochter
Denis, ihr zweites Kind und einziger Sohn
Lilja, ihre jüngste Tochter
Rewmira, ihre Cousine zweiten Grades, Krankenschwester
Lew und Julija, genannt Julka, Nataschas Kinder
Familie Adukanow
Ksenija, genannt Ksjuscha, Studentin
Sergei, genannt Tschegga, ihr Bruder, Fotograf
Ruslan, Ksjuschas Freund
Nadeschda, genannt Nadja, Tscheggas Freundin
Ljudmila, genannt Mila, Nadjas Tochter
Familie Rjachowski
Nikolai Danilowitsch, genannt Kolja, Polizeiinspektor
Soja, seine Frau, Mitarbeiterin einer Umweltbildungseinrichtung im Nationalpark, zurzeit im Mutterschaftsurlaub
Alexandra, genannt Sascha, ihr Baby
Oksana, Forscherin am Institut für Vulkanologie
Maxim, genannt Max, Forscher am Institut für Vulkanologie
Jekaterina, genannt Katja, Zollbeamtin im städtischen Containerhafen
Jewgeni Pawlowitsch Kulik, Polizeigeneral von Kamtschatka
Anfisa, Sachbearbeiterin in der Polizeibehörde
Walentina Nikolajewna, Schulsekretärin in einer Grundschule
Diana, Walentina Nikolajewnas Tochter
Lada, Rezeptionistin in einem Stadthotel
Olga, genannt Olja, Schülerin
Sofija stand barfuß, ohne Sandalen, am Ufer. Das Meer kroch näher, als wollte es ihre Zehen verschlucken. Graues Salzwasser auf heller Haut.
»Geh nicht weiter rein«, sagte Aljona.
Das Wasser zog sich zurück. Aljona sah, wie die angeschwemmten Kieselsteine unter den Füßen ihrer Schwester die Wölbung der Fußsohle ausfüllten. Sofija bückte sich, um die Hosenbeine hochzukrempeln, ihr Pferdeschwanz fiel nach vorn über den Kopf. Auf den Waden schorfige Spuren von aufgekratzten Mückenstichen. Die straffe Linie der Wirbelsäule zeigte Aljona, dass ihre Schwester nicht auf sie hören würde.
»Wehe …«, sagte sie.
Sofija richtete sich auf und blickte übers Wasser. Es lag ruhig in der Bucht, nur ein leichtes Kräuseln flog über die Wellen, sodass es aussah wie ein Stück gehämmertes Blech. Die Strömung wurde erst weiter draußen stärker, wo das Wasser in den Pazifik zog, Russland hinter sich ließ, um ins offene Meer überzugehen, doch hier war es noch zahm. Es gehörte ihnen. Sofija hatte die Hände in die schmalen Hüften gestemmt und betrachtete die weite Bucht, die Berge am Horizont und die weißen Lichter der Militäranlage am anderen Ufer.
Der Kies unter ihren Füßen bestand aus Splittern größerer Steine. Aljona lehnte an einem Felsbrocken, so groß wie ein Rucksack, vor der bröckelnden Klippenfassade des Sankt-Nikolaus-Hügels. Wasser auf der einen Seite, eine Steinwand auf der anderen, so waren sie heute Nachmittag an der Küste entlanggewandert, bis sie diesen Flecken gefunden hatten, frei von Flaschen oder Federn, wo sie sich niederlassen konnten. Wenn Möwen in der Nähe landeten, schwenkte Aljona den Arm, um sie zu verscheuchen. Den ganzen Sommer über war es kühl und regnerisch gewesen, doch dieser Augustnachmittag war so warm, dass man kurze Ärmel tragen konnte.
Sofija machte einen Schritt nach vorn, und ihre Ferse versank im Wasser.
Aljona setzte sich auf. »Ich habe Nein gesagt, Sof.« Ihre Schwester zog den Fuß zurück. Eine Möwe flog über sie hinweg. »Warum nervst du so?«
»Tu ich nicht.«
»Doch. Tust du immer.«
»Nein«, sagte Sofija und drehte sich um. Alles an ihr – die schräg stehenden Augen, die schmalen Lippen, der knochige Kiefer, selbst ihre Nasenspitze –, alles ärgerte Aljona. Sofija war acht und sah immer noch aus wie sechs. Aljona war drei Jahre älter und klein für ihr Alter, ihre Schwester aber war geradezu winzig, alles an ihr, vom Hüftumfang bis zu den Handgelenken, und manchmal benahm sie sich auch wie ein kleines Kind: Am Fußende ihres Bettes saß ein Haufen Stofftiere, beim Spielen tat sie so, als sei sie eine weltberühmte Ballerina, und wenn sie im Fernsehen auch nur eine Szene aus einem Horrorfilm mitbekam, konnte sie nicht einschlafen. Ihre Mutter verhätschelte sie. Weil sie die Zweitgeborene war, durfte Sofija ihr ganzes Leben lang ein Baby bleiben.
Jetzt konzentrierte sie sich auf eine Stelle hoch über Aljonas Kopf, nahm einen Fuß aus dem Wasser, stellte sich auf die nassen Zehenspitzen und hob die Arme in die fünfte Position. Sie schwankte und fing sich wieder. Aljona veränderte ihre Sitzhaltung auf den Steinen. Ihre Mutter wollte immer, dass Aljona ihre kleine Schwester mitnahm, wenn sie Schulfreundinnen zu Hause besuchte, doch genau wegen solcher Albernheiten ließ sie es lieber bleiben.
Stattdessen hatten sie die Sommerferien allein miteinander verbracht. Auf dem matschigen Parkplatz hinter dem Haus zeigte Aljona ihrer Schwester, wie man den Bogengang rückwärts macht. Im Juli waren sie mit dem Bus vierzig Minuten zum städtischen Zoo gefahren, wo sie eine gierige schwarze Ziege mit Bonbons fütterten. Die Ziege verdrehte ihre Schlitzpupillen. Am selben Nachmittag hatte Aljona ein Karamellbonbon durch den Maschendrahtzaun einem Luchs zugesteckt, der die Schwestern dermaßen anfauchte, dass sie zurückschreckten. Das Bonbon blieb auf dem Zementboden liegen. So viel zum Zoo. Wenn ihre Mutter ihnen morgens, bevor sie zur Arbeit fuhr, etwas Geld hinlegte, gingen sie ins Kino und teilten sich danach Blini mit Bananen und Schokolade im Café im zweiten Stock. Meistens aber trieben sie sich in der Stadt herum und sahen zu, wie sich die Regenwolken auftürmten oder die Sonne ausbreitete. Nach und nach wurden ihre Gesichter braun. Sie gingen spazieren, fuhren Fahrrad oder kamen hierher, ans Meer.
Während Sofija das Gleichgewicht zu halten versuchte, betrachtete Aljona das Ufer. Ein Mann bahnte sich einen Weg über die Felsen. »Da kommt jemand«, sagte Aljona. Das eine Bein ihrer Schwester platschte ins Wasser, und sie streckte das andere in die Luft. Sofija war es vielleicht egal, ob jemand sah, dass sie sich wie eine Idiotin benahm, aber Aljona, ihrer unfreiwilligen Begleiterin, nicht. »Hör auf damit«, sagte Aljona. Lauter. Ihre Stimme wurde schärfer. »HÖR AUF!«
Sofija hörte auf.
Unten am Ufer war der Mann jetzt verschwunden. Vermutlich hatte auch er eine saubere Stelle zum Sitzen gefunden. Der ganze Frust, der sich in Aljona aufgestaut hatte, floss ab wie Wasser aus einer Wanne, wenn man den Stöpsel zog.
»Mir ist langweilig«, sagte Sofija.
Aljona lehnte sich zurück. Der Fels war hart an den Schultern und kalt am Kopf. »Komm her«, sagte sie, und Sofija kam aus dem Wasser, stakste hinüber zu Aljona und kuschelte sich neben sie. Kleinste Steinchen knirschten unter ihr. Der leichte Wind hatte Sofijas Körper genauso abgekühlt wie den Boden. »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte Aljona.
»Ja.«
Aljona warf einen Blick auf ihr Handy. Sie mussten rechtzeitig zum Essen nach Hause, doch es war noch nicht mal vier Uhr. »Hast du schon mal von der Stadt gehört, die weggeschwemmt wurde?«
»Nein.« Dafür, dass sie nie gehorchte, konnte Sofija sehr aufmerksam sein. Jetzt hob sie das Kinn und presste konzentriert die Lippen aufeinander.
Aljona zeigte auf die Klippen in der Ferne. Rechts von den Mädchen lag das Stadtzentrum, von dort waren sie heute Nachmittag gekommen; links markierten die schwarzen Felsbrocken die Mündung der Bucht. »Da drüben war sie.«
»In Sawojko?«
»Noch hinter Sawojko.« Sie saßen unter dem Gipfel des Sankt-Nikolaus-Hügels. Wären sie noch weiter am Ufer entlanggegangen, hätten sie schließlich über den steinigen Hang hinweg die dicht gedrängt stehenden Klötze in dem dahinterliegenden Stadtteil sehen können. Vierstöckige Wohnblocks aus Sowjetzeiten, ein Flickenteppich aus Beton. Die Holzgerüste eingestürzter Häuser. Ein verspiegeltes Hochhaus, rosa und gelb, mit einem Schild, auf dem Geschäftsräume zur Miete angeboten wurden. Sawojko, noch mehrere Kilometer hinter dem Ganzen, war der letzte Stadtteil ihrer Stadt, Petropawlowsk-Kamtschatski, das letzte Stück Land vor dem Meer. »Sie lag am Fuß der Klippe, da, wo der Ozean auf die Bucht trifft.«
»War es eine große Stadt?«
»Eher so was wie eine Siedlung. Ein Dorf. Nur fünfzig Holzhäuser, voll von Soldaten, Frauen und Babys. Das ist schon Jahre her. Nach dem Großen Vaterländischen Krieg.«
Sofija dachte nach. »Gab es auch eine Schule?«
»Ja. Einen Markt, eine Apotheke. Alles. Ein Postamt.« Aljona beschrieb die Stadt: aufgestapelte Holzscheite, geschnitzte Fensterrahmen, türkis gestrichene Türen. »Es sah aus wie im Märchen. Und in der Stadtmitte gab es einen Fahnenmast und einen Platz, wo die Leute ihre altmodischen Wagen parkten.«
»Verstehe«, sagte Sofija.
»Gut. Und eines Morgens, die Leute sind gerade dabei, sich Frühstück zu machen, ihre Katzen zu füttern, sich für die Arbeit anzuziehen, da fängt die Klippe plötzlich an zu zittern. Ein Erdbeben. So stark wie noch nie. Wände wackeln, Tassen zerspringen, Möbel …«
An dieser Stelle musterte Aljona das Geröll ringsum, doch sie sah keinen angespülten Zweig, den sie hätte knicken können –
»… Möbel gehen kaputt. Babys schreien in ihren Wiegen, und ihre Mütter können nicht zu ihnen. Sie können nicht mal aufstehen. Es ist das stärkste Erdbeben, das die Halbinsel jemals erlebt hat.«
»Die Häuser stürzten über ihnen ein?«, tippte Sofija.
Aljona schüttelte den Kopf. Der Fels drückte gegen ihren Schädel. »Hör einfach zu. Nach fünf Minuten ist das Erdbeben vorbei. Für die Leute fühlt es sich an wie eine Ewigkeit. Die Babys schreien immer noch, aber die Menschen sind froh. Sie krabbeln zueinander und umarmen sich. Es gibt vielleicht Risse in den Straßen, vielleicht sind Stromleitungen kaputt, aber sie haben es geschafft – sie leben noch. Sie liegen da, halten sich fest, und dann sehen sie durch die Löcher, wo ihre Fenster waren, diesen Schatten.«
Sofija starrte sie an.
»Es ist eine Welle. Doppelt so hoch wie ihre Häuser.«
»Über Sawojko?«, gab Sofija zurück. »Unmöglich. Das ist viel zu hoch.«
»Hinter Sawojko, hab ich doch gesagt. So gewaltig war dieses Erdbeben. Selbst in Hawaii konnte man es spüren. Sogar weit weg, in Australien, fragten Leute ihre Freunde: ›Hast du mich gerade geschubst?‹ So heftig wackelte der Boden unter ihnen. So stark war das Erdbeben.«
Ihre Schwester sagte nichts.
»Der ganze Ozean schwankte«, fuhr Aljona fort. »Das Beben löste eine Welle aus, zweihundert Meter hoch. Und dann –« Sie streckte die Hand aus, brachte sie auf eine Linie mit dem Horizont und wischte darüber.
Die Luft strich kalt über ihre nackten Arme. Irgendwo in der Nähe sangen Vögel.
»Was ist aus ihnen geworden?«, fragte Sofija schließlich.
»Niemand weiß es. In der Stadt waren alle von dem Erdbeben abgelenkt. Nicht mal in Sawojko bekam man mit, wie der Himmel immer dunkler wurde; die Leute waren zu sehr damit beschäftigt, alles aufzuräumen, nach ihren Nachbarn zu sehen, Dinge zu reparieren. Als das Wasser durch die Straßen flutete, glaubten sie, irgendwelche Leitungen oben auf dem Hügel wären geplatzt. Aber später, als es wieder Strom gab, bemerkte jemand, dass drüben am Fuß der Klippen kein Licht brannte. Da, wo die Stadt gestanden hatte, war nichts mehr.«
Die kleinen Wellen in der Bucht machten einen leisen Rhythmus zu ihren Worten. Schsch, schsch. Schsch, schsch.
»Sie gingen hin und fanden nichts mehr vor. Keine Menschen, keine Gebäude, keine Ampeln, keine Straßen. Keine Bäume. Kein Gras. Es sah aus wie auf dem Mond.«
»Wo waren sie hin?«
»Weggeschwemmt. Die Welle hatte sie mitgerissen, einfach so.« Sie stützte sich auf einen Ellbogen und packte Sofija an der Schulter, sodass sich deren Knochen unter der Berührung leicht bewegten. »So. So fest hatte das Wasser sie im Griff. Es sperrte sie in ihren Häusern ein. Es hob die ganze Stadt hoch und riss sie mit in den Pazifik. Niemand hat sie je wieder zu Gesicht bekommen.«
Im Schatten des Hügels war Sofijas Gesicht dunkel. In dem halb geöffneten Mund war eine Reihe von unregelmäßig gezackten Schneidezähnen zu sehen. Aljona brachte ihre Schwester gerne so weit, dass sie vor Angst erstarrte.
»Das ist nicht wahr«, sagte Sofija.
»Ist es wohl. Ich weiß es aus der Schule.«
Das Wasser hielt seinen Rhythmus, undurchdringlich im Nachmittagslicht. Es sah aus wie Silber. Die Steine, auf denen Sofija eben gestanden hatte, tauchten auf und verschwanden wieder.
»Können wir jetzt nach Hause?«, fragte Sofija.
»Es ist noch früh.«
»Trotzdem.«
»Hab ich dir Angst gemacht?«
»Nein.«
In der Mitte der Bucht bewegte sich ein Trawler in Richtung Süden, was immer ihn da erwartete – Tschukotka, Alaska, Japan. Die Schwestern hatten die Halbinsel Kamtschatka nie verlassen. Eines Tages, sagte ihre Mutter, würden sie Moskau besuchen, aber das lag neun Flugstunden, einen ganzen Kontinent weit entfernt, und sie müssten alle Berge und Seen und Verwerfungslinien überqueren, die Kamtschatka isolierten. Sie selbst hatten nie ein größeres Erdbeben erlebt, aber ihre Mutter schon. Sie erzählte ihnen, wie es sich 1997 in ihrer Wohnung angefühlt hatte: Die Küchenlampe schaukelte an ihrer Aufhängung so heftig hin und her, dass sie gegen die Decke schlug, die Türen der Speisekammer sprangen auf, Dosen fielen heraus, Gas trat aus und stank so widerlich, dass sie Kopfschmerzen bekam. Später auf der Straße sah sie, dass sich Wagen ineinander verkeilt hatten und das Straßenpflaster aufgeplatzt war.
Bevor sie diesen Flecken hier zum Hinsetzen fanden, waren die Schwestern am Fuß des Berges so weit gegangen, dass sie fast alle Anzeichen von Zivilisation hinter sich gelassen hatten. Nur das Schiff und gelegentliche Abfälle – Zweiliter-Bierflaschen mit halb abgerissenen Etiketten, leere Heringsdosen mit aufgebogenen Deckeln, durchnässte Kuchenuntersetzer aus Pappe – trieben vorbei. Wenn jetzt ein Erdbeben kam, gäbe es weit und breit keinen Türsturz, unter dem sie Schutz suchen konnten. Von oben würden Felsbrocken auf sie herunterstürzen. Und dann würde eine Welle ihre Körper mit sich reißen.
Aljona stand auf. »Na gut. Gehen wir.«
Sofija schlüpfte wieder in ihre Sandalen. Die Hose war noch immer bis zu den Knien aufgekrempelt. Gemeinsam kletterten sie über die größten Felsen und gingen zurück in Richtung Stadtzentrum. Aljona verscheuchte unterwegs die Mücken. Obwohl sie zu Mittag gegessen hatten, bevor sie von zu Hause aufgebrochen waren, bekam sie schon wieder Hunger. »Du wächst«, hatte ihre Mutter warnend und staunend zugleich gesagt, als Aljona sich Anfang der Woche beim Abendessen ein zweites Fischpastetchen genommen hatte. Aber sie wurde nicht größer; sie war noch immer eins der kleinsten Mädchen in der Klasse, gefangen im aufnahmebereiten Körper eines Kindes mit grenzenlosem Appetit.
Neben dem Kreischen der Möwen waren das Geschrei von Menschen und gelegentlich Autohupen zu hören. Feuchte Kieselsteinchen gerieten unter ihren Füßen ins Rutschen. Aljona sprang auf einen kniehohen Felsen und sah, wie sich der Weg vor ihnen entlangschlängelte. Bald würde die Felswand an ihrer Seite sanft absinken und in einen steinigen Strand übergehen, bevölkert mit Sommerfrischlern. An einem Ende standen zahlreiche gut besuchte Imbissbuden, das andere wurde von einer Reparaturwerft eingenommen. Wenn sie den Strand erreichten und sich von der Bucht abwendeten, hätten sie das zertrampelte Gras des größten Fußgängerplatzes der Stadt vor sich. Dahinter und jenseits der Autoschlangen erhoben sich die Lenin-Statue, eine Werbung für Gazprom und ein breites, beflaggtes Regierungsgebäude. Dort würden Aljona und Sofija im Herzen von Petropawlowsk-Kamtschatski stehen und könnten die Hügel sehen, die sich wie lange Rippen zu beiden Seiten der Stadt ausbreiteten. Und dahinter den blauen Gipfel eines Vulkans.
Ein Bus würde sie aus der Stadtmitte nach Hause bringen. Fernsehen, eine Sommersuppe und die lustigsten Bürogeschichten ihrer Mutter. Sie würde fragen, was sie an diesem Tag gemacht hätten. »Hör mal, sag Mama nichts davon, was ich dir erzählt habe«, sagte Aljona. »Über die Stadt.«
»Warum nicht?«, fragte Sofija hinter ihr.
»Darum.« Aljona wollte nicht für irgendwelche Träume verantwortlich gemacht werden, die Sofija hatte, Albträume oder nicht.
»Aber wenn es doch wahr ist, warum soll ich sie dann nicht danach fragen?«
Aljona schnaubte durch die Nase. Sie stieg hinunter, ging geschickt um ein paar Steinhaufen herum und blieb stehen.
Zwei Meter entfernt saß der Mann, den sie zuvor am Ufer hatte entlanglaufen sehen, mit ausgestreckten Beinen mitten auf dem Weg. Sein Rücken war gekrümmt. Aus der Ferne hatte er wie ein Erwachsener ausgesehen, doch jetzt wirkte er eher wie ein übergroßer Teenager: aufgedunsene Wangen, sonnengebleichte Augenbrauen, strohblondes Haar, das abstand wie die Stacheln eines Igels.
Er hob das Kinn. »Hallo.«
»Hallo«, sagte Aljona und trat näher. »Tag.«
»Könnt ihr mir helfen? Ich hab mich verletzt.«
Sie starrte mit zusammengekniffenen Augen auf sein Hosenbein, als könnte sie durch den grünen Stoff bis auf die Knochen sehen. An den Knien war die Hose fleckig von Erde. Der Anblick eines erwachsenen Mannes, der aussah wie ein auf dem Schulhof hingefallener Junge, war irgendwie komisch.
Sofija holte sie ein und legte die Hand auf Aljonas Rücken. Aljona schüttelte sie ab. »Können Sie laufen?«, fragte sie.
»Ja, vielleicht.« Der Mann starrte auf seine Turnschuhe.
»Haben Sie sich den Knöchel verstaucht?«
»Wahrscheinlich. Diese verdammten Felsen.«
Sofija prustete, erfreut über den Fluch. »Wir könnten Hilfe holen«, bot Aljona an. Sie waren nur einen Katzensprung vom Stadtzentrum entfernt; man konnte das Bratöl der Imbissbuden beinahe riechen.
»Geht schon. Mein Wagen ist ganz in der Nähe.« Er streckte ihr den Arm entgegen, sie ergriff seine Hand und zog ihn hoch. Ihr Gewicht war keine große Hilfe, genügte aber, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. »Jetzt kann ich allein weiter.«
»Sind Sie sicher?«
Er schwankte leicht. Trat unsicher und unter Schmerzen auf. »Wenn ihr zwei bei mir bleibt und aufpasst, dass ich nicht wieder falle.«
»Geh du vor, Sof«, sagte Aljona. Ihre Schwester ging voran, dann folgte der Mann, vorsichtig. Aljona ging hinter den beiden her und passte auf. Er hatte runde Schultern. Vor dem leisen Plätschern der Wellen hörte sie ihn langsam, angestrengt atmen.
Der Weg mündete in den steinbedeckten Strand, Familien saßen auf den Bänken, die Flügel grauer Vögel flatterten über Brötchen mit Würstchen, und Verladekräne reckten ihre langen nackten Hälse. Sofija war stehen geblieben und wartete auf sie. Der Hügel lag jetzt fast hinter ihnen. »Geht’s?«, fragte Aljona den Mann.
Er zeigte nach rechts. »Wir sind gleich da.«
»Zum Parkplatz?« Er nickte und humpelte hinter den Imbissbuden entlang, wo Generatoren auf Kniehöhe ihre Abgase ausstießen. Die Schwestern folgten ihm. Ein älterer Junge mit eng sitzender Kappe sauste auf seinem Skateboard vorn an den Buden vorbei, und Aljona starrte beschämt vor sich hin. Sie wollte nicht gesehen werden, wie sie mit ihrer kleinen Schwester im Schlepptau hinter einem behinderten Fremden hertrottete. Sie wünschte, sie wären schon zu Hause. Sie nahm Sofija an der Hand und schloss zu dem Mann auf.
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Aljona.«
»Schließt du bitte mal die Wagentür auf, Aljona?« Damit zog er die Wagenschlüssel aus der Hosentasche.
»Das kann ich machen«, sagte Sofija. Sie hatten den sichelförmigen Parkplatz auf der anderen Seite des Hügels bereits erreicht.
Er gab dem kleineren Mädchen den Schlüsselbund. »Der schwarze dort. Der Surf.«
Sofija hüpfte voraus und schloss die Fahrertür auf. Der Mann stieg ein und stöhnte erleichtert. Sie hielt den Türgriff fest. Ihr Körper in lila Baumwolle und hochgekrempeltem Kaki spiegelte sich im makellosen Lack der Karosserie. »Wie fühlt es sich an?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ihr zwei habt mir wirklich geholfen.«
»Können Sie fahren?«, fragte Aljona.
»Ja«, sagte er. »Wo wollt ihr hin?«
»Nach Hause.«
»Und wo ist das?«
»Gorizont.«
»Ich nehme euch mit«, sagte er. »Steigt ein.« Sofija ließ den Türgriff los. Aljona blickte über die Straße zur Bushaltestelle. Mit dem Bus würden sie mehr als eine halbe Stunde brauchen, mit dem Auto wären sie in zehn Minuten zu Hause.
Der Mann hatte den Motor angelassen. Er wartete auf ihre Antwort. Sofija schielte bereits auf den Rücksitz. Aljona nahm sich als ältere Schwester noch ein bisschen Zeit: Sie wog einige Sekunden den Stadtbus (das Anfahren und Anhalten, das Schnaufen, der Schweißgeruch der Leute) gegen das Angebot des Mannes ab. Seine Schwäche, seinen verstauchten Knöchel und sein jungenhaftes Gesicht. Wie einfach es wäre, sich mitnehmen zu lassen. Das Auto würde sie so schnell nach Hause bringen, dass vor dem Abendessen noch Zeit für einen kleinen Imbiss wäre. Ähnlich wie Tiere im Zoo füttern und gruselige Geschichten erzählen wäre es ein weiterer Nervenkitzel am helllichten Tag, ein Zeichen des Ungehorsams in den Sommerferien, ein Geheimnis zwischen Sofija und ihr.
»Danke«, sagte Aljona. Sie ging um den Wagen herum und setzte sich auf den sonnenwarmen Beifahrersitz. Das Leder fühlte sich weich an, wie ein Schoß. Auf dem Handschuhfach war eine kreuzförmige Ikone befestigt. Wenn der Skateboarder sie jetzt nur sehen könnte – vorn in dem großen Wagen. Sofija glitt auf den Rücksitz. Ein Stück weiter vorn ließ eine Frau ihren weißen Hund aus dem Heck eines geparkten Lieferwagens, um ihn auszuführen.
»Wohin?«, fragte er.
»Akademika Korolewa einunddreißig.«
Er blinkte und fuhr langsam aus der Parklücke. Eine Packung Zigaretten rutschte über das Armaturenbrett. Im Wagen roch es nach Seife, Tabak und schwach nach Benzin. Die Frau ging mit dem Hund zwischen den Imbissbuden hindurch. »Tut es noch weh?«, fragte Sofija.
»Geht schon viel besser, dank eurer Hilfe.« Er reihte sich in den Verkehr ein. Auf den Gehsteigen wimmelte es von einheimischen Teenagern in Neonklamotten und von asiatischen Kreuzfahrttouristen, die für Fotos posierten. Eine kurzhaarige Frau reckte ein Schild mit dem Namen einer Abenteuerreise-Agentur empor. Petropawlowsk-Kamtschatski, einzige Stadt auf der Halbinsel, war der erste Anlaufpunkt für Kamtschatkas Sommerurlauber. Sie wurden mit Schiffen oder Flugzeugen hierher gekarrt, um sich die Bucht anzusehen, und anschließend hinter die Stadtgrenzen gebracht, wo sie wandern, auf Flößen fahren oder in der menschenleeren Wildnis jagen konnten. Ein Lastwagen hupte. Immer weitere Scharen von Fußgängern überquerten den Zebrastreifen. Dann sprang die Ampel um, und sie konnten weiterfahren.
Vom Beifahrersitz aus betrachtete Aljona das Gesicht des Mannes. Breite Nase und ein dazu passender Mund. Kurze braune Wimpern. Rundes Kinn. Sein Körper sah aus wie aus frischer Butter geformt. Wahrscheinlich war er zu schwer. Deshalb hatte er sich am Ufer wohl so ungeschickt angestellt.
»Haben Sie eine Freundin?«, fragte Sofija.
Er lachte, legte einen anderen Gang ein und fuhr rasch den Hügel hinauf. Unter ihnen summte der Motor. Hinter ihnen zog sich die Bucht zurück. »Nein.«
»Und verheiratet sind Sie auch nicht.«
»Nein.« Er zeigte ihnen seine Hand mit gespreizten Fingern.
»Hab ich schon gesehen«, sagte Sofija.
»Schlaukopf«, sagte er. »Wie alt bist du?«
»Acht.«
Er sah sie im Rückspiegel an. »Und ebenfalls unverheiratet, stimmt’s?«
Sofija kicherte. Aljona wandte sich ab und sah auf die Straße. In seinem Wagen saß man höher als in dem ihrer Mutter. Sie konnte auf Dachgepäckträger und auf rosa Arme der anderen Autofahrer hinabschauen. Nach diesem einen sonnigen Tag hatten die Leute schon einen Sonnenbrand. »Darf ich das Fenster aufmachen?«, fragte sie.
»Mir ist die Klimaanlage lieber. An der Straßenkreuzung geradeaus?«
»Ja, bitte.« Die Bäume auf dem Gehsteig waren groß und grün nach dem verregneten Sommer. Sie fuhren an ramponierten Plakatwänden links und an Plattenbauten rechts vorbei. »Hier«, sagte Aljona. »Hier. Oh.« Sie drehte sich zu ihm. »Sie haben die Ausfahrt verpasst.«
»Sie haben die Ausfahrt verpasst«, sagte Sofija vom Rücksitz aus.
»Ich will euch zuerst mit zu mir nach Hause nehmen«, erklärte der Mann. »Ich brauche noch ein bisschen Hilfe.«
Die Straße zog sie vorwärts. Sie gelangten zum Kreisel, und er fuhr weiter in den Kreisverkehr hinein und auf der anderen Seite wieder heraus. »Hilfe für den Knöchel?«, fragte Aljona.
»Genau.«
Da fiel ihr ein, dass sie seinen Namen nicht kannte. Sie sah über die Schulter hinweg Sofija an, die aus dem Hinterfenster auf die Straße zurückblickte. »Ich sage nur eben meiner Mutter Bescheid«, sagte Aljona und zog ihr Handy aus der Tasche. Der Mann ließ den Schaltknüppel los, streckte die Hand aus und nahm es ihr weg. »He«, sagte sie. »Moment mal!« Er nahm das Handy in die andere Hand. Ließ es in das Fach in seiner Tür fallen. Das Geräusch des Aufpralls auf dem Plastik. »Geben Sie es mir zurück!«
»Du kannst sie anrufen, wenn wir da sind.«
Ihre leeren Hände machten sie panisch. »Bitte geben Sie es mir zurück.«
»Du kriegst es wieder, wenn wir da sind.«
Der Sicherheitsgurt war zu eng. Er fühlte sich an wie eine Fessel um ihre Lungen. Sie bekam nicht genügend Luft. Sie schwieg. Konzentrierte sich. Dann warf sie sich in seine Richtung und streckte den Arm nach der Tür aus. Der Gurt hielt sie zurück.
»Aljona!«, sagte Sofija.
Sie wollte den Gurt lösen, doch der Mann kam ihr zuvor, packte ihre Hände und drückte den Verschluss wieder in die Schnalle zurück. »Lass das.«
»Geben Sie es mir zurück!«
»Bleib sitzen und warte. Du kriegst es wieder. Ich verspreche es dir.« Sein Griff war so fest, dass er ihre Knöchel zu zerquetschen drohte. Wenn das passierte, würde sie sich übergeben müssen. Die Flüssigkeit sammelte sich bereits in ihrem Mund. Sofija beugte sich nach vorn, und der Mann sagte: »Bleib sitzen.«
Sofija lehnte sich wieder zurück. Sie atmete schnell.
Irgendwann würde er die Hand wegnehmen müssen. Nie im Leben hatte sich Aljona etwas so sehr gewünscht wie in diesem Augenblick ihr Handy. Seine schwarze Rückseite, das verschmierte Display, den Vogel aus Elfenbein, der als Talisman an der Ecke baumelte. Noch nie hatte sie jemanden so verabscheut wie diesen Mann. Ihr war übel. Sie schluckte.
»Ich habe eine Regel«, sagte der Mann. Sie hatten bereits die Kilometermarke zehn passiert und fuhren an der Busstation vorbei, die die nördliche Grenze von Petropawlowsk markierte. »Kein Handy, solange ich am Steuer sitze. Aber wenn wir da sind und ihr beide euch bis dahin benehmt, gebe ich es dir zurück. Ich fahre euch auch nach Hause, und ihr könnt heute Abend mit eurer Mutter zu Abend essen. Hast du verstanden?« Erneut quetschte er ihre Finger zusammen.
»Ja«, sagte Aljona.
»Dann sind wir uns ja einig.« Er ließ sie los.
Sie schob die Hände, eine taub vor Schmerz, unter die Schenkel und richtete sich auf. Sie atmete durch den offenen Mund, damit ihre Zunge trocknete. Kilometer zehn. Davor, am Kilometer acht, hielten die Busse vor der Stadtbibliothek, am Kilometer sechs vor dem Kino, am Kilometer vier vor der Kirche, am Kilometer zwei vor der Uni. Jenseits von Kilometer zehn gab es nur noch vereinzelte Siedlungen, verstreute Dörfer, Touristencamps, und dann nichts mehr. Nirgendwo. Ihre Mutter hatte für die Arbeit früher viel reisen müssen und ihnen erzählt, was man außerhalb der Stadt erwarten konnte: Pipelines, Kraftwerke, Landeplätze für Hubschrauber, heiße Quellen, Geysire, Berge und Tundra. Tausende von Kilometern offene Tundra. Sonst nichts. Norden.
»Wo wohnen Sie?«, fragte Aljona.
»Werdet ihr schon sehen.«
Hinter ihr hörte sie Sofija hecheln wie einen kleinen Hund. Aljona musterte den Mann. Sie würde ihn sich gut einprägen. Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um. »Das ist ein Abenteuer.«
Sofijas elfenhaftes Gesicht war in der Sonne überbelichtet. Ihre weit aufgerissenen Augen glänzten. »Ja?«
»Ja. Hast du Angst?« Sofija schüttelte den Kopf. Man sah ihre Zähne. »Gut.«
»Braves Mädchen«, sagte der Mann. Eine Hand löste sich vom Steuer und verschwand in der Seitenverkleidung der Tür. Aljona erkannte am abfallenden Klingelton, dass er das Handy ausschaltete.
Die ganze Zeit beobachtete er sie im Spiegel. Blaue Augen. Dunkle Wimpern. Keine Tattoos auf den Armen – also kein Krimineller. Wieso achtete Aljona erst jetzt auf seine Arme? Ihre Mutter würde sie umbringen, wenn sie nach Hause kamen.
Aljona drehte sich um und presste die Brust gegen die Rücklehne des Sitzes. Arbeitshandschuhe, deren Handflächen mit rotem Latex verstärkt waren, steckten in dem Getränkehalter der Mittelkonsole. Sie waren schmutzig. Aljona zwang sich, Sofija anzusehen. »Willst du noch eine Geschichte hören?«
»Nein«, sagte ihre Schwester.
Aljona wäre ohnehin nichts eingefallen. Sie drehte sich wieder nach vorn.
Schotter knirschte unter den Wagenreifen. Weite Flächen voll mit Grasklumpen zogen vorbei. Die Sonne warf kurze Schatten auf die Straße. An einem dunklen Metallschild, das die Abzweigung zum Flughafen anzeigte, fuhren sie vorbei und weiter geradeaus.
Als der Straßenbelag schlechter wurde, ruckelte der Wagen. Der Türgriff auf ihrer Seite bebte. Einen Augenblick stellte sie sich vor, wie sie hineinfasste, ihn herunterdrückte, sprang, doch dann – es war, als stellte man sich das eigene Sterben vor. Die Geschwindigkeit, die Schotterstraße, die Reifen. Und Sofija. Was würde Aljona tun – Sofija allein lassen?
Hätte Aljona heute nur allein bleiben dürfen! Ständig zwang ihre Mutter sie, Sofija mitzunehmen. Wenn jetzt etwas passierte –
Sofija käme nicht allein zurecht. Neulich hatte sie gefragt, ob es Elefanten tatsächlich gab – sie dachte, sie wären mit den Dinosauriern ausgestorben. Was für ein Baby.
Aljona presste die Fäuste gegen die Schenkel. Vergiss die Elefanten. Das Sitzleder war noch immer heiß, ihre Lunge verkrampfte sich, in ihrem Kopf flimmerte es, und die Luft roch nach frisch gewalztem Teer. Sie hatte ihrer Schwester diese blöde Geschichte von der Springflut erzählt. Von dem Stück Erde, das verschwunden war. Sie wünschte, ihr wäre etwas anderes eingefallen. Jetzt konnte sie es nicht mehr ungeschehen machen – sie musste sich konzentrieren. Sie saßen in seinem Wagen. Sie waren irgendwohin unterwegs. Bald wären sie wieder zu Hause. Sie musste stark sein für Sofija.
»Aljona?«, fragte ihre Schwester.
Sie machte ein fröhliches Gesicht und drehte sich um. Die Muskeln in ihren Wangen zuckten. »Hm?«
»Ja«, sagte Sofija. Aljona sah sie an. Erinnerte sich nicht. »Ja, erzähl mir eine Geschichte.«
»Gut«, sagte sie. Die Straße war staubig und leer, gesäumt von dünnen Bäumen. Sie waren nach vorn geneigt, trieben sie voran. Am Horizont waren die Gipfel der drei Vulkane sichtbar, die der Stadt am nächsten waren. Die Berge gezackt wie der Rand einer Säge. Jetzt standen ihnen keine Gebäude mehr im Weg. Aljona dachte wieder an den Tsunami. An seine plötzliche Wucht. »Eine Geschichte«, sagte sie. »Na gut.«