Über das Buch
Als hätte Robert Koldewey nicht schon genug unter den Ansichten seines Assistenten Buddensieg zu leiden, quält ihn auch noch eine Blinddarmentzündung. Die Probleme sind menschlich, die Aufgabe biblisch: die Ausgrabung Babylons. Dass sich zwischen Orient und Okzident ein Umbruch anbahnt, der die Welt bis in unsere Gegenwart hinein erschüttern wird, treibt Koldewey an, die mesopotamischen Schätze am Euphrat zu dokumentieren. Vor den Augen eines der letzten Universalgelehrten offenbart sich Stein für Stein die Wiege der Zivilisation und mit ihr die Fundamente einer der ältesten Geschichten der Bibel, des Turms zu Babel.
Kenah Cusanits literarische Expedition ins Herz des Abendlandes ist eine Archäologie der Moderne – klangvoll, hinreißend, klug.
Kenah Cusanit
Babel
Roman
Carl Hanser Verlag
FÜR T.
Buddensieg, sagte Koldewey, als sie nach Tagen oder Wochen Konstantinopel erreichten, und wies in eine Richtung, von der beide wussten, wohin sie führte.
Dr. Koldewey?
Gehen Sie, Buddensieg, wir sind geschiedene Leute. Melden Sie sich als Kriegsfreiwilliger, vielleicht finden Sie an der Front noch einen anständigen Tod.
Er ging und meldete sich, kam in Palästina in Gefangenschaft und setzte nach seiner Heimkehr in den Berliner Museen seine Arbeit fort, die wie einst in Babylon darin bestand, Fundgegenstände mit einer Inventarnummer zu versehen.
I
Von nun an ist die Vergangenheit so gewiß wie die Gegenwart, ist das, was man auf dem Papier sieht, so gewiß wie das, was man berührt.
ROLAND BARTHES, DIE HELLE KAMMER
Es war ein mesopotamisches Gelb. Wie gemacht zum Davorstehen, Hinsehen, Aquarellieren – seine Lieblingsart, diese Gegend zu kartieren. Schlamm als Impression, Lehm, der sich durch das Wasser bewegte, indem er sich drehte.
Koldewey sah aus dem Fenster seines Arbeitszimmers, nirgendwo davorstehend, nichts kartierend. Er hatte sich hingelegt, auf seine Liege, die Teil der Fensterbank war, und beobachtete den Fluss, der an den Ruinen entlangfloss, zog an seiner Pfeife und sah ihn an, als hätte er noch nie einen Fluss angesehen, ohne dabei über etwas anderes, etwas Übergeordnetes nachzudenken: das Schiff, die Fahrt, das Ziel, die Reliefziegel Nebukadnezars, die Reliefziegel des Ischtartors, des Palastes, der Prozessionsstraße, die sich im Hof des Grabungshauses mehrere hundert Kisten hoch stapelten und die von Babylon den Euphrat hinunter über drei Kontinente nach Hamburg, die Elbe, die Havel, die Spree hinauf, bis zum Kupfergraben an den Steg der Berliner Museen zu transportieren waren.
Noch einmal: langsam Anschwemmendes, Angeschwemmtes. Ein paar Vögel am Ufer. Unter ihnen Schlamm, der aus Lehm bestand, aus Ruhe und Wasser. Das Haus bestand aus Lehmziegeln, die gebrannt waren, damit sie Feuchtigkeit und Wind und Sand standhielten. Damit die Wände sich nicht, nachdem sie witterungsbedingt allmählich zusammengefallen wären, wieder mit dem Boden verbanden und, wenn auch erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten, zurück in den Fluss glitten.
Sich mit Flüssen zu beschäftigen. Koldewey nahm Liebermeisters Grundriss der inneren Medizin, legte das Buch vorsorglich auf seinen Bauch, als könnte es auf diese Weise die Symptome lindern, und sah hinüber zur Tür und durch ihr Fliegengitter hindurch auf die Tarma, den von Holzsäulen flankierten Gang, über den man vom Hof aus, wie über eine Loggia, Koldeweys Zimmer im oberen Geschoss betrat.
Wie weit mochte die Fliegengittertür entfernt sein: zwei, drei Meter?
Das Fliegengitter schien sich von Zeit zu Zeit zu bewegen, als wehte in unregelmäßigen, aber kürzer werdenden Abständen ein wenig Luft herein, die aber nicht, wie es für bewegte Luft charakteristisch wäre, Abkühlung brachte oder überhaupt auf der Haut zu spüren war. Als wollte etwas in Koldeweys Zimmer gelangen, aber nicht vollständig in Erscheinung treten, ähnlich aufdringlich wie das technische Geräusch – klick-klick-klick – des gestern eingetroffenen Photoapparates, mit dem zwei der drei Grabungsassistenten nahe der Tür hantierten und versuchten, einen Grabungsfund zu photographieren.
Koldewey wusste, wie der Apparat zu bedienen war. Er wusste, wie man etwas anfasste, das man verachtete, und losließ, was man mochte, und es war nicht seine Aufgabe, ihnen zu zeigen, wie man Letzteres machte.
Er sah wieder aus dem Fenster.
Und zurück zur Tür, deren Fliegengitter sich wohl infolge einer optischen Täuschung aufblähte, in drei Metern Entfernung, vielleicht zwei Meter und – Koldewey kniff ein Auge zusammen – neunzig.
Es war ein gedankliches Stöhnen, das ihm fast die Lippen passierte angesichts der Vorstellung, jetzt jemanden unterweisen zu müssen. Koldewey hörte in sich hinein, wie er keinen einzigen für ihn typischen Satz herausbrächte. Wie er nicht lachen könnte und sie deshalb seinen Raabe’schen Humor nicht erkennten, mit dem er gemeinhin Zustände wie diesen unter Kontrolle brachte, und dann ein Telegramm an den Bagdader Konsul aufsetzten, damit dieser Dr. Härle informierte. Es zumindest aufzusetzen versuchten, und wie er, Koldewey, wieder nicht lachen könnte, während er sich die Telegraphenlinie vorstellte, von der die Araber in regelmäßigen Abständen die Porzellanisolatoren herunterschossen, was der türkischen Verwaltung viele Sorgen bereitete, aber die Überlebensrate der Steinadler, die oben auf den Masten saßen, massiv erhöht hatte. Wie sie ihm dann abdominale Umschläge machen wollten, und er es zuließe, da seine Haut sich unter der Kühle zusammenzöge und er sich endlich einbilden könnte, es wehte doch ein wenig Luft herein, wenngleich seine Vorstellungskraft nicht ausreichte, die Bewegungen des Fliegengitters auf die taktile Wirkung eines Windzugs zurückzuführen.
Koldewey sah nach draußen. Schwimmende Schwemmböden. Alluviale Ruhe. Die Vögel jetzt am Wasser. In Lehm pickend, der aus Sand bestand, Schluff und Ton.
Und wieder zur Tür: Zwei Meter fünfundneunzig? Siebenundneunzig? Fünfundneunzig.
Er atmete laut in sich hinein, aber nicht so laut, dass es zu hören war. Es reichte, dass man ihn sah: einen etwas ekstatischer als sonst seine Pfeife rauchenden Grabungsleiter, der halb liegend, halb an eine Wand gelehnt so aussah, als läse er ein Buch, und nicht, als blickte er fast ununterbrochen aus dem Ausguckfenster seiner Bettnische, einer Liegestatt, deren Konstruktion nach seinen Wünschen detailliert ausgeführt worden war. Aus Koldeweys Zimmer hatte man eine im ganzen Haus einmalige Sicht, den palmengesäumten Fluss hinauf bis zu den nördlichsten Ausläufern des Grabungsareals. Darauf hätte Koldewey seine Aufmerksamkeit theoretisch eine ganze Pfeife lang richten können, wäre er nicht, von den Geräuschen des Photoapparates abgelenkt, gezwungen gewesen, hin und wieder wegzusehen von Fluss und Lauf und innerhalb der vierzig Minuten, die er für eine Pfeife benötigte, automatisch, wann immer ein Geräusch zu hören war, seinen Kopf vom Fenster zur Tür zu drehen.
Geschätzte zwei siebenundneunzig. Warum nicht.
Darum nicht. Als könnte man Distanzen allein mit den Augen erfassen. Jeder Archäologe, der auch Architekt war, würde jetzt aufstehen, die rechte Hand auf den Bauch legen und die Strecke ablaufen. Schritt für Schritt. Von der Liege zur Fliegengittertür. Von der Tür zum Euphrat. An der Stadtmauer entlang, die insgesamt etwa achtzehn Kilometer lang war, aber nicht über achtzig, wie Herodot angab. Auf die Prozessionsstraße und durch das Ischtartor, deren oberste Teile eingestürzt waren und nun in Kisten lagen, während die unteren noch immer meterhoch aufragten. Vorbei an den Wänden mit den Löwen und den Stieren, die jeden Europäer an die Symbole der biblischen Evangelisten erinnern mussten. Bis zum Turm zu Babel und einmal um dessen Fundament, das viereckig war und nicht rund. Das hieß, ein Architekt, der auch Archäologie und Kunstgeschichte studiert hatte, würde das tun. Obwohl in dem, was Koldewey tat, Architektur, Archäologie und Kunstgeschichte untrennbar zusammenwirkten, hatte er doch in den letzten Jahren oft das Gefühl gehabt, sich für ein Fachgebiet entscheiden zu müssen. Ob es Borchardt, der Architekt und Ägyptologe war, ähnlich ging? Dörpfeld hatte ja außer Architektur kein weiteres Fach studiert. Ob es Virchow schon so gegangen war, der als Prähistoriker gearbeitet hatte, aber auch Politiker und eigentlich Mediziner gewesen war? Allein Bell war Gesandte in jeder Hinsicht. Auch sie photographierte, aber meistens an einem vorbei, als hätte man sich nicht gerade vor der Stadt der Städte demonstrativ in Pose gebracht, einem mehrere tausend Jahre alten Mythos, dessen Originalvorlage jetzt nach der Beseitigung von zwanzig Metern Schutt (frühmittelalterlich, sassanidisch, parthisch, seleukidisch) so plötzlich ans Licht, wie sie ins 20. Jahrhundert geraten waren.
Es ging nicht. Die Gelassenheit des Flusses wirkte sich nicht auf Koldeweys Verfassung aus. Koldeweys Verfassung wirkte sich auf den Fluss aus, machte ihn zu einem, der sich nicht gelassen, sondern kraftlos durch seine Umgebung bewegte, seitdem er wusste, dass diese ihm Wasser entzog, einem Fluss, der sich selbst nicht entkam, Jahrhunderte ewig gleichen Schlamms mit sich ziehend, die so harmlos aussehend und untief dahintrieben, dass Boote oft auf Grund liefen, man deswegen von Aleppo nach Babylon lieber die Karawane nahm und ungefähr dreimal so lange unterwegs war wie ein Schiff von Hamburg nach Amerika.
Virchow war zweifellos eher Pathologe als Politiker gewesen, obwohl die Trennlinie, falls es eine gab, einer dynamischen Welle ähnelte und im euphratischen Stil an der einen Biegung Erde abtrug, um sie an der nächsten Biegung wieder aufzutragen. Könnte nicht der Politiker Virchow dem Pathologen Virchow die Augen verbunden haben, als dieser die Gewebeprobe Kaisers Friedrichs III. untersuchte und trotz freundschaftlicher Verbundenheit den Kehlkopfkrebs, an dem jener bald darauf sterben sollte, nicht bestätigen konnte? Archäologie studiert hatte Virchow nicht, aber über die theoretischen Grundlagen hatte er sich ausführlich belesen. Koldewey wiederum hatte alle grundlegenden medizinischen Schriften hinreichend erfasst, wie Härle bei einem seiner letzten Besuche festgestellt hatte. Und auch jetzt wieder feststellen würde, wozu es nicht käme, da Koldewey zwar grundsätzlich nichts dagegen hatte, einen alten Freund wiederzusehen, trotz seines ausgeprägten Diagnosebedürfnisses jedoch unfähig war, sich in die Hände angewandter Medizin zu begeben. Ärzte waren letzten Endes Handwerker, die reparierten, was sie selbst nicht konstruiert hatten.
Man musste die Strecke zur Fliegengittertür nicht gehen, man konnte auch kriechen. Den gewöhnlich aufrecht gehenden Körper, wenn waagerecht positioniert, der Schwerkraft überlassen und die eingesparte Bewegungsarbeit in Redeenergie umsetzen und endlich fragen:
Was macht der Photoapparat? Er übernimmt für Sie die Verantwortung. Was machen Sie? Sie vertrauen einem Gerät, das auf Ihr Kommando ein mechanisches Geräusch von sich gibt. Das ist, als würden wir vom Expeditionshaus aus die Grabung veranstalten und nicht einmal durchs Fenster sehen. Eine wahrhaft philologische Tätigkeit. Sind Sie Philologe, Reuther?
Nein, das würde Koldewey nicht fragen. Auch würde er sie nicht zum hundertsten Male gleichnishaft daran erinnern, wie der letzte oder der vorletzte oder vorvorletzte Philologe, bevor sie sämtliche Philologen der Grabung verwiesen, mit einem Keilschriftzeichen-Lexikon im Arm den Architekten Koldewey gebeten hatte, eine gerade ausgegrabene Mauer einzureißen – möglicherweise seien Gründungsurkunden darin, oder wiederverwendete Tontafeln, deren Übersetzung jede Grabung ersetzen könne. Nicht aus Lehmziegeln und Architektur, hatte der Philologe gesagt, aus Tontafeln und Schriften ergebe sich der Sinn der Mauer, ergebe sich der Sinn der Stadt, des Flussverlaufs, des Orients, der gesamten Menschheit, die sich wie das Licht aus dem Osten in der Wiege des fruchtbaren Halbmondes aufgehend gen Okzident ausgebreitet habe, während alles, was hinter ihr lag, auf der Stelle zu treten begann.
Nichts davon hatte Koldewey vor zu sagen. Denn er hatte nicht die Kraft, einen ganzen Satz oder auch nur ein längeres Wort auszusprechen, und auch nicht das Bedürfnis, eine vorübergehende Inkompetenz öffentlich zur Schau zu stellen. Insbesondere in einer Situation, in der er auf dem Boden hinter der Fliegengittertür kniete, zu der er eben gekrochen war, um beiden den Apparat aus der Hand zu nehmen und dessen Funktionsweise in annähernd systematischer Deutlichkeit zu erklären:
So. So. Und so. Nicht so!
So?
Nein, so!
Sie starrten Koldewey an, der noch eine Weile vor ihnen auf allen vieren blieb in großer Freude über den leichten Wind, der hier draußen wehte, ganz unangemessen wehte, während die beiden derart lange nichts sagten, dass er zu ahnen begann, was sie längst erfolgreich getan haben mussten. Sie hatten an Dr. Härle telegraphiert. Sie hatten zu ahnen begonnen, dass Koldeweys Zustand möglicherweise auf die drei Kannen Limonade zurückzuführen war, von der er am Vormittag bei den jüngsten Grabungsverhandlungen mit den Scheichs nicht umhingekommen war zu trinken, sehr wahrscheinlicher aber die jüngste Folge eines seiner Experimente war. Obwohl es dieses Mal ein recht harmloses gewesen war: Koldewey hatte lediglich alle Öffnungen seines Zimmers abgedichtet und, statt außerhalb des überhitzten Hauses, die Sommernächte drinnen verbracht. Es war der zweite Teil eines Experiments, das im Winter begonnen hatte, als er in Sommerkleidung, weißen Gewandes wie das schneebedeckte Europa zu dieser Jahreszeit, über die Grabung gelaufen war und am Ende des Tages sich nicht in sein Bett, sondern auf das nasskalte Dach zur Ruhe gelegt hatte, bis ihm ein akuter Rheumaschub über das informierte, was er in diesem Experiment herausfinden wollte: wann der Punkt erreicht war, an dem ihn seine Willenskraft verließ und sein Körper das Kommando übernahm.
Klack!
Immerhin war das Bild im Kasten. Das Bild eines Grabungsfundes, von dem nicht klar war, ob es den Grabungsfund zeigte oder die temporäre Begrenztheit des Photographen. Wenigstens glaubten an diesem Nachmittag zwei Leute, dass sie wissenschaftlich gearbeitet, indem sie etwas abgelichtet hatten, wenngleich sie nur die Eigenschaften, die das technische Gerät besaß, projiziert hatten.
Koldewey stöhnte jetzt, wie man stöhnte, wenn man krank war, und zwar – da Härle vermutlich bereits auf dem Weg war – in unerbittlicher Übertreibung seiner Enttäuschung, und stöhnte, als er sich zurück auf seine Liege zog, nach einer abgekrochenen Strecke von zwei Meter neunundsiebzig nur, eine Enttäuschung, die ihn mental erfrischte wie ein türkischer Kaffee, bevor sich das vertraute Gefühl einstellte, nach einem kurzen Irrweg wieder in das Territorium gesicherten Wissens zurückgekehrt zu sein.
Der Fluss hatte nie etwas anderes sein können als ein Fluss, der hin und wieder seinen Lauf änderte.
Aber Kowairesch hätte eine Sprache sein können oder ein Dialekt, wäre es nicht der Name des Dorfes gewesen, das sich im alten Bett des Euphrats von Süden her kommend an das Grabungshaus legte, jeden Tag in seiner freundlich gesinnten Art auf es zubewegte mit dem Ziel, Gastfreundschaft und Grabungsarbeiter auszutauschen, dessen Scheichs zusammen mit den Scheichs der in der Nähe liegenden Dörfer (Dschumdschuma, Sindschar und Ananeh) anreisten, und sie dann in dem für diese Art von Besuch eingerichteten Mudîf des Grabungshauses mehrere Stunden den Gastgebern gegenübersaßen, genau wie sie ihnen am Vormittag gegenübergesessen hatten, in einer bestimmten Abfolge Kaffee getrunken und geraucht und Limonade und wieder Kaffee getrunken hatten, bevor unter dem Palmblattdach den dort versammelten Spatzen vom Rauch der Schnabel nicht mehr zugegangen war und man angefangen hatte, über den Grund des Besuches zu parlieren.
Kowairesch hätte eine Sprache sein können.
Gastgeber zu sein hieß, sich in ein Gewand zu hüllen, dessen Sitzfestigkeit von der Kette einer Uhr abzuhängen schien, die sich unsichtbar, aber abzeichnend in der linken Brusttasche befand, kleine rhythmische Bewegungen an ihren Besitzer abgebend, als ginge dieser auch während der statischen Tätigkeit des Sitzens mit dem Messstab, nach vorgegebenem Takt, was auch immer messend, zählend auf und ab. Dabei aus einigem Abstand zum Sitznachbarn blickend: Reuther, der mit der Kamera hantierte, Buddensieg (was machte Buddensieg hier?), Wetzel, kurzer Blick zur Tür, mochte alle Ungeduld hinausgehen oder kein weiterer Gast hereinkommen, Blick zum Dach: die Spatzen atmeten noch.
Kowairesch war raumgewordene Sprache, wo Wüste kein akzeptabler Name für eine Landschaft war, mesopotamisches Flachland, dessen gebirgige Oberflächengestalt vom Persischen Golf bis zu den Ausläufern des Taurusgebirges aus Tells bestand, künstlich erzeugten Hügeln, übereinandergeschichteten Fundamenten, in Babylon die Bauten Nebukadnezars über den Bauten seines Vaters Nabopolassar und dessen Großvaters, eines Nachfahren König Hammurabis, dessen archetypische Gesetzesparagraphen aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. im ganzen Orient, aber offenbar nicht in Babylon zu finden waren. Die Franzosen hatten sie im elamischen Susa auf einer Stele entdeckt und im Louvre ausgestellt. Die Engländer hatten sie auf Tontafeln entdeckt, in Ninive, der Hauptstadt des assyrischen Herrschers Assurbanipal, der in Babylon, bevor er die Stadt 648 v. Chr. zerstörte, Gesetzestexte und andere babylonischen Tontafeln hatte abschreiben lassen, um sich aus den Abschriften eine eigene Bibliothek zu erstellen. Die Bibliothek bestand aus Briefen aus Babylon, Verträgen aus Babylon, Urkunden aus Babylon, Verwaltungstexten aus Babylon, babylonischen Königslisten, Liedern, Gebeten, Ritualanweisungen, medizinischen, astronomischen und literarischen Texten, die Nebukadnezars Vater Nabopolassar offenbar aus Respekt vor seiner eigenen Kultur nicht zerstört hatte, als er sich an Ninive revanchierte, weswegen die Dokumente nun als Zeugnisse der Wiege der Zivilisation Besucherscharen ins Britische Museum zogen, während die Deutsche Orientgesellschaft, die unter wilhelminischer Ägide die deutschen Ausgrabungen in Babylon organisiert hatte, statt einer handfesten Bibliothek allenfalls Photos von freigelegten Bücherregalen besaß.
Koldewey hätte am Vormittag die Grabungsverhandlungen ausfallen lassen sollen.
Der Fluss hatte nie etwas anderes sein können als ein Fluss, der hin und wieder seinen Lauf änderte. Grabungsverhandlungen waren keine Grabungsverhandlungen, wenn sie nicht immer gleich verliefen. Wenn sie nicht in einer Sitzung gipfelten, die umgekehrt zu einer deutschen Sitzung verlief, was Frequenz und Zeitpunkt des Gesagten betraf, gleichwohl nicht weniger anstrengend war.
Koldewey hätte nicht auf diese Sitzung gehen, hätte am Morgen überhaupt nicht aufstehen und gleich liegenbleiben sollen, um aus dem Fenster zu sehen, während er so tat, als studierte er Liebermeisters Grundriss der inneren Medizin.
Stattdessen war er um sechs Uhr aufgestanden, um minimal zu frühstücken und vor den Verhandlungen noch Besuch aus Deutschland über die Grabung zu führen, da später die Bewegungsfreiheit für einige Stunden eingeschränkt sein würde und er gestern, als er die Führung angesetzt hatte, noch nicht das Bedürfnis gehabt hatte, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Koldewey hatte den Besucher, einen Studenten der Mathematik, der zum Erstaunen aller aus Leipzig mit dem Fahrrad angereist war, auf direktem Weg zu den Ufern des Euphrats geführt, um ihn in Androhung der Temperaturen, die zurzeit schon morgens über der Stadt lägen und nicht durch Fahren eines Fahrrads in Hoffnung auf Fahrtwind missachtet werden könnten, gleich davon abzubringen, die Informationen zu überprüfen, die ihm zu Hause in öffentlichen Vorträgen des Philologen Friedrich Delitzsch zu Ohren gekommen waren. Die geflügelten Wesen der assyrischen Reliefs, hatte der Mathematikstudent gesagt, geflügelte Gestalten, von denen die assyrischen Könige ihre Paläste hatten bewachen lassen, sähen sie nicht genauso aus wie die goldenen Cherubim, die, wie das Alte Testament beschrieb, ihre Flügel über der Bundeslade ausgebreitet hatten? Dass die Heilige Schrift weder aus sagenhaften Geschichten bestehe, so habe der Philologe Delitzsch in seinen Vorträgen behauptet, noch das Wort Gottes sei. Dass diese Geschichten schon einmal in genau derselben Weise erzählt, habe der Philologe Delitzsch gesagt, Jahrhunderte vor Entstehung des Christentums von anderen Göttern offenbart worden oder tatsächlich sogar geschehen seien. Dass, bevor die biblische Schöpfungsgeschichte verschriftlicht wurde, die Mesopotamier schon fast zwei Jahrtausende geglaubt hätten, die Menschheit habe in einer fernen Urzeit den Zorn Gottes auf sich gezogen und sei daraufhin durch eine Sintflut bestraft worden. Und dass, so Professor Delitzsch, es nicht Noah gewesen sei, der sich auf eine Arche habe retten können, sondern Utnapischtim. Oder Ziusudra oder Atrahasis, wie Utnapischtim in anderen Sprachen geheißen habe. Mein Gott, wie viele Sprachen es damals schon gegeben habe, lange vor Erbauung des Turms. Die Tafeln, auf denen diese Geschichten geschrieben standen, wolle er gern sehen, oder zumindest ihre Fundorte. Oder wenigstens, wenn das nicht ginge, auf der Erde dieses Erdteils, auf deren lehmhaltiger Substanz wandeln, die dieses Wissen hervorgebracht habe und just hier in der Sonne liegend habe austrocknen und ewig werden lassen:
Das Rad erfunden. Quadratzahlen gekannt und Wurzeln gezogen. Die Mondbahn berechnet. Den Satz des Pythagoras angewandt, ohne den Satz des Pythagoras gekannt zu haben, und zugleich als gewissermaßen nach- und vorsintflutliche Kultur an solch abwegige Dinge wie Wahrsagerei geglaubt. Daran geglaubt, mit magischen Mitteln die Zukunft deuten und beeinflussen zu können.
Koldewey hatte, nachdem der Radfahrer wie die meisten Touristen an einem Ort bereits zu viel von dem gesehen hatte, was er nicht vor Ort in Erfahrung gebracht hatte, den Ort selbst sprechen lassen und spontan den Euphrat hinuntergezeigt, als habe er soeben eine verloren geglaubte Orientierung wiedergewonnen, nicht minder erstaunt über das Arrangement von Sinneseindrücken, das wahrzunehmen er in aller Herrgottsfrühe abseits der Ruine fähig war. Das sei er also, hatte Koldewey gesagt oder vielleicht auch nur gedacht, der Süden aus Sicht des Nordens, alluviale Schwemmböden inmitten eines Gebirges aus Staub, dennoch ein paar und für Wüstenverhältnisse gar nicht so wenige Vögel am Ufer, getrockneter Schlamm, Lehm zum Häuserbauen, um darin zu leben. Koldewey hatte sich zu ihm gedreht, als erwartete er auch von seinem Gesprächspartner, sich dringend thematisch umzuorientieren oder sich zumindest daran zu erinnern, dass ihm im Gegensatz zu Koldewey das Frühstück am Morgen geschmeckt hatte. Er hätte sich ja nicht auf die übermäßige Zahl der Vögel beziehen müssen oder die Bedeutung der Sedimente unter ihren Füßen, die der Fluss am Ufer abgesetzt hatte und die Koldeweys Aufmerksamkeit zu einem gewissen Grad noch immer beanspruchten. Lehm, der sich durch das Wasser bewegte, indem er sich drehte. Wissen, das sich durch den Kopf bewegte, indem es sich drehte. Mit magischen Mitteln, dachte Koldewey. Mit magischen Mitteln die Zukunft beeinflussen zu können? War die babylonische Idee der Divination, die Vorstellung, die Zukunft weissagen zu können, nicht etwas, was auch ihre Gesellschaft lenkte in ihrer wissenschaftlichen Vorstellung, die gesamte Welt basiere auf bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die man nur erkennen müsse, um schließlich ebenjene Welt mithilfe ebenjener Gesetzmäßigkeiten deuten und steuern zu können? Aber Koldewey hatte nicht den notwendigen Ehrgeiz aufgebracht, einen vorgeblich harmlosen Satz aufzusetzen, wie er es bei Delitzsch zu tun pflegte, um anschließend dessen Gegenargument abzuwarten und dieses nach einer künstlichen Pause vorgetäuschten Unterlegenseins zu entkräften. Er hatte lieber die Frage gestellt, die er immer an diesem Ort stellte. Wegen dieser Frage ließ er die Touristenführungen zwischen Ruinen und Flusslauf enden, wenn er sie nicht wie in diesem Fall gleich hier begann – im Palmenhain, der im Norden den Zugang zum Grabungshaus bildete, an der schönsten und zugleich unausweichlichsten Stelle im Umkreis von mehreren Kilometern, wo sehr weit oben in den Bäumen gerade die Datteln zu reifen begonnen hatten, wo zwischen den Palmenstämmen die Beine der Schafe und zwischen den Beinen der Schafe die Beine der Kinder hin- und hertrabten und wo die Kinder mit ihren Hirtenstäben die europäischen Gäste empfingen, die gewöhnlich aus dieser Richtung kamen. Durch den Palmenhain geleiteten sie diese zum Expeditionshaus, wenn sie nicht, wie Gertrude Bell gewöhnlich, schon einen ersten Ausflug über die Grabungshügel machten, um den berühmten Vorgängerort des Dorfes Kowairesch zu photographieren und nicht Kowairesch, das nicht ganz unbeteiligt eine fremde Stadt aus gleicher Bausubstanz neben sich auferstehen sah, mit Hinterlassenschaften von Menschen, die den Einwohnern von Kowairesch wie die von Eltern und Großeltern vorkamen, deren Sprache sie nicht mehr verstanden. Für die Einwohner von Kowairesch hatte Kowairesch eine neue Bedeutung angenommen. Es bedeutete jetzt, eine uralte Stadt inklusive besten Baumaterials auszugraben, aber neben sich stehen zu lassen mit dem unbegreiflichen Gefühl, etwas seit der Kindheit grundlegend missverstanden zu haben an der Vergangenheit in ihrer Funktion als Schutthügel und an Schutthügeln in ihrer Funktion als Steinbruch. Koldewey hatte schon Ziegelräuber eigenhändig aus den Ruinen hinausgeworfen, später mitgenommen und angeworben, als Wächter, als Arbeiter – zweihundert Leute, die morgens bis abends hügelauf und hügelab liefen, die Gräben aushoben, die vierundzwanzig Stunden Wache hielten oder mit Erde beladene Körbe von Stufe zu Stufe trugen, hinauf zur Feldbahn; die halfen, die künstlichen Hügel bis zu zwanzig Meter tief abzutragen und woanders wieder abzuladen. Arbeiter, deren Zahl und Bezahlung neuer Unterredung bedurfte, gleich nachdem Koldewey den Radfahrer herumgeführt hatte, der zigsten Unterredung in Monaten, in der erst, wenn ihnen aus dem Dach des Mudîf die Spatzen entgegenfielen, darüber verhandelt würde, wie viele Arbeiter ein Scheich auf die Grabung schicken durfte und wie viele ein anderer Scheich zurückziehen musste, weil er diesem und jenem gegenüber aus irgendeinem Grund verpflichtet war. Grabungsverhandlungen waren keine Grabungsverhandlungen, wenn sie nicht immer gleich verliefen.
Also, hatte Koldewey zu dem Radfahrer gesagt, um die Führung vorzeitig zu beenden, um zum Haus zurückkehren und dort die Sitzung mit den Scheichs vorbereiten zu können, aber zunächst um die Frage einzuleiten, die er seit 1899 jedem europäischen Gast am linksseitigen Ufer des Flusses, in diesem sechshundert Meter breiten Streifen aus Palmen, kleinen Gärten und Feldern gestellt hatte: Wie wolle er hier begraben werden? Und der Leipziger Gast hatte in der unwissentlichen Befolgung eines mittlerweile vierzehn Jahre alten Gesetzes in einer Mischung aus Unsicherheit und Belustigung zu ihm aufgesehen. Auf dem islamischen Friedhof dürfe sich kein Ungläubiger zu Grabe tragen lassen, hatte Koldewey gesagt. In der Wüste kämen Schakale und Hyänen und fräßen einen auf, im Euphrat werde man weggeschwemmt. Also?
Koldewey wollte sich für den Fall der Fälle auf der Nordseite des Palastes Nebukadnezars in einer elf Meter starken Wand einbetonieren lassen. Eine Idee, deren praktische Umsetzung er sich auf der Sitzung, unmittelbar als diese begonnen hatte, erstmals wirklich vorgestellt hatte. Denn umgesetzt werden müsste sie, so hatte Koldewey gedacht, wenn er Mudîf und Grabungsverhandlungen nicht gleich wieder verließe und sich für unbestimmte Zeit auf sein Zimmer zurückzöge, wenngleich er so die Verhandlungen auf unbestimmte Zeit in die Zukunft verlegte. Er hatte zu Reuther gesehen, der die Kamera hin und her drehte, während Bedri Bey, der türkische Kommissar aus Konstantinopel, der die Grabung überwachte, unbewegt in einer Ecke des Raumes gestanden hatte, als würde jeden Moment jemand eine Aufnahme von ihm machen. Als Koldewey nach der inzwischen fast täglich stattfindenden Touristenführung vom Fluss heraufgekommen war, ohne Begleitung, die er versunken in Gedanken über potentielle Begräbnisstätten am Euphratufer stehengelassen hatte, war Bedri Bey gerade dabei gewesen, sich eilig von seinem kleinen Garten zu entfernen, den er im Hof des Grabungshauses angelegt hatte und mit dem er, wenn sich einheimischer Besuch ansagte, nicht in Verbindung gebracht werden wollte, mit Rosenhecken, Gurkenpflanzen und Rettichen. Bedri Bey versuchte zu verbergen, dass er während der Überwachung der Grabung seine Zeit nicht damit verbrachte, die Grabung zu überwachen. Koldewey versuchte zu verbergen, was er davon hielt, dass Reuther während der Sitzung die Zeit dazu nutzte, die vor kurzem doch erst erfundene, aber von den technischen Möglichkeiten eines Rollfilms schon wieder überholte und in der Handhabung dem jüngsten Assistenten schon nicht mehr geläufige Trockenplattenkamera anzusehen und hin und her zu drehen, als habe er sie gerade aus einer der unzähligen Vergangenheiten vor Ort ausgegraben. Reuther wusste, wie man das beste Omelett zubereitete (mit Champignons und Kresse), er beherrschte die Kunst des Gurkeneinlegens (nicht einkochen, nur mit kochendem Wasser übergießen) und er beherrschte die Kunst, sich nur auf Dinge einzulassen, die direkt oder indirekt damit zu tun hatten. Etwa auf das moderne arabische Wohnhaus, worüber er seine Doktorarbeit geschrieben hatte, das arabische Wohnhaus mit seinem funktionierenden Herd, und eben nicht das antike babylonische mit seiner verfallenen Küche. Der manchmal noch vorhandene Ofen, auf dem man sich mit überdurchschnittlicher Phantasie eine Omelett-Pfanne hätte vorstellen können, bestand aus einem Ziegelsteinhäufchen, mit dem nichts anzufangen war, das man nur photographisch aufnahm, um es und seine Insuffizienz, versehen mit einer Nummer, in eine Kiste legen zu können. Das war wohl auch die Kiste, in die der insuffiziente Apparat gehörte. Koldewey hatte Reuther angesehen. Reuther hatte Koldewey angesehen. Und langsam hatte Reuther angefangen zu begreifen, dass er die Sitzungsdauer nicht verkürzte, indem er versuchte, die Kamera zu verstehen, sondern die Sitzung nicht enden beziehungsweise so lange nicht beginnen würde, bis der Grabungsassistent die Kamera verstanden hatte, da jeder anwesende Scheich mittlerweile davon ausgegangen war, warten zu müssen, bis Reuther den Apparat so weit vorbereitet hatte, dass er von allen ein Bild machen konnte.
Und das Bilderverbot? Für Reuther schien es jetzt nicht mehr darauf anzukommen, den Mund zu halten, nachdem er selbst mit der Festlegung einer neuen Verhaltensregel anscheinend eine alte aufgehoben hatte.
Koldewey hatte inwendig den Kopf geschüttelt, sich Limonade nachgeschenkt und Reuther die Kanne hingehalten, der sie Buddensieg gab, der sie Wetzel weiterreichte. Dass er nach sieben Jahren, die er nun hier sei, noch immer nicht begriffen habe, dass Muslime nichts lieber täten, als photographiert zu werden: Je muslimischer, desto lieber! Aus religiöser Sicht gebe es absolut nichts einzuwenden gegen das Photo, das ja lediglich eine Reproduktion einer Repräsentation sei. Das Abbild eines Spiegels stamme ja auch nicht von Menschenhand, es stamme von einem Gegenstand. Das Photo war kein Abdruck der Natur, wie Daguerre es genannt hatte, und auch kein Abdruck der individuellen Schöpfungen Gottes, auf die sich das Bilderverbot gern erstreckte. Das Photo war das sich stets und nicht zum Besten weiterentwickelnde Ergebnis eines aufeinander reagierenden Gemischs organischer, mineralischer und metallischer Substanzen, die Folge eines chemischen Ablaufs: reflektierende Silberteilchen, die das Licht einfingen, bis es auf der Gelatineschicht des Glasnegativs klebenblieb. Das war die Trägersubstanz der Photoplatten der Plattenkamera, die im Gegensatz zur Zelluloidschicht moderner Rollfilme moderner Rollfilmkameras hitzeverträglich war und nicht drohte, im unpassendsten Moment in Flammen aufzugehen. Weil die Deutsche Orientgesellschaft in Berlin es auch in den Sommermonaten nicht ohne Tontafelphotos aushielt, deren Philologen etwas zu übersetzen haben wollten und Lexika schreiben und Vorträge halten, hatten sie in Babylon die Plattenkamera wieder eingeführt, wenngleich Delitzsch stets ein halbes Jahr im Verzug war und die Übersetzungen der für einen Grabungsabschnitt wichtigen Tafeln erst nach Babylon schickte, wenn die Grabung in einen anderen Abschnitt vorgerückt war. Das Photo war kein Abdruck der Natur und es war auch kein Abdruck des Lichts, es war ein Abdruck mittels Lichts, das göttlichen Ursprungs war, und die Photographie in diesem Sinne eine Erfindung Gottes. Brauchten nicht beide, die Photographie wie die Epiphanie, einen besonderen Träger, um Erscheinungen empfangen und aufnehmen zu können? Erscheinungen, die niemals das Wesen des Photographierten zeigten, gar dessen Essenz. Das machte Photoapparate zu einem äußerst platonischen Kommunikationsmittel und den Photographen zu einem, der offenen Auges leidenschaftlich blind ist in seinem Ehrgeiz, Ort und Zeit festhalten zu wollen, und belohnt wird durch viele kleine, maßlos augenfällige, aber in ihrer Begreiflichkeit ganz unwahrscheinliche Ausschnitte. In ihrer Halbherzigkeit behandelte die Photographie jegliche Bildinhalte gleich, sagte in fast steinerner Ernsthaftigkeit aus, dass diese noch so verschwommene und unterschiedlich genährte Gruppe kleiner Kinder am Ufer des Euphrats, die Koldewey von seinem Fenster aus einmal heimlich photographiert hatte, ihre nackten Füße im Sand tatsächlich da waren und irgendwann, vielleicht schon morgen, nicht mehr da sein würden. Das Photo hielt nicht das Photographierte fest, es hielt die Zeit fest und prophezeite zugleich deren Vergehen. Umso mehr traf Koldewey diese Prophezeiung, wenn er auf einem Photo eine Person erblickte, die bereits gestorben war, aber nach den Gesetzen der Photographie das Sterben noch vor sich hatte. Er erschauerte dann – vor einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hatte. Sich einer Katastrophe zu nähern, ohne sich überhaupt zu bewegen. Die Photographie hatte den unwiederbringlich vergangenen und in seiner Unwiederbringlichkeit für immer festgehaltenen Augenblick erfunden. Das Photographieren kultivierte eine furchtbar evidente Geschichtsschreibung, die den poetischen Trost des Geschriebenen nicht kannte, des Liedes, des Gedichts, ja sogar den Trost, den ein altbabylonischer Gesetzesparagraph haben konnte, die allen mythischen Ballast abgeworfen hatte und im eigentlich wohlgesinnten Blick des Betrachters eine besinnungslose Bestürzung auslöste, nicht vor der eigenen Sterblichkeit, sondern vor dem, was schon bald nicht mehr sein würde, dem Leben.
Koldewey wusste nicht, wann er aufgehört hatte, den algerischen Gelehrten Abd el Kader, und angefangen, sich selbst zu zitieren, um schließlich dessen und seine Ansichten auf unkenntliche Weise zu vermengen, bevor er angedeutet hatte, sich nun auf sein Zimmer zu bewegen. Er hatte auf die schweren technischen Probleme verwiesen, die eine Photographie zum jetzigen Zeitpunkt leider unmöglich machten, und gewusst, dass dieser Verweis noch etwas anderes ermöglichte, etwas, das Koldewey nicht beabsichtigt hatte und vermutlich nie würde rückgängig machen können: dass in Zukunft jede Zusammenkunft mit einem Gruppenbild begann.