Für Carolyn, die mir von hier nach dort geholfen hat.
Dan Smith
Das Exodus-Projekt
Ein eiskalter Horrortrip!
Zak hatte sich ein Abenteuer gewünscht. Aber nach einer Bruchlandung mitten in der Antarktis geht es für ihn und seine Familie um viel mehr. Denn die Forschungsstation, für die seine Eltern arbeiten, ist vollkommen verlassen. Und draußen ist es bitterkalt. Als Zak sich auf den Weg macht, um Hilfe zu suchen, spürt er ein seltsames Unbehagen. Fast so, als würde ihn jemand beobachten. Und dann macht Zak eine furchtbare Entdeckung: Das Exodus-Projekt ist außer Kontrolle geraten! Sie müssen von hier verschwinden und zwar schnell. Doch wo ist eigentlich seine Familie abgeblieben?
Ein nervenzerfetzender Thriller, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt!
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Vita
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Für Carolyn, die mir von hier nach dort geholfen hat.
Irgendetwas stimmte nicht in Station Zero. Irgendetwas Merkwürdiges, Unheimliches ging hier vor sich – und Sofia Diaz wollte endlich wissen, was das war.
Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen, dachte sie, als sie das Schneemobil anwarf und auf der glatten Eisfläche beschleunigte. Aber es gab natürlich auch Sprichwörter, die genau das Gegenteil besagten. Wer nicht neugierig ist, erfährt nichts. Und wenn sie sich nicht vor Ort umsah, würde sie nie erfahren, was die Typen von BioMesa am großen Spalt, am Abgrund, zu suchen hatten.
Die Polarstation Zero wurde vom Exodus-Projekt betrieben. Sie diente acht Familien, insgesamt zweiunddreißig Menschen, dazu, ihr künftiges Leben auf dem Mars vorzubereiten.
Sofia, ihre Eltern und ihr Bruder Pablo waren eine der acht Familien. Sie nahmen auf Sofias Wunsch an dem Projekt teil und waren schon seit zwei Monaten in der Antarktis. Seit zwei dunklen, sonnenlosen Monaten.
Ein paar Wochen nach den Projektteilnehmern waren überraschend weitere Leute aufgetaucht. Acht von ihnen arbeiteten für eine Forschungsgesellschaft namens BioMesa. Sie hatten nichts mit der Mars-Mission zu tun, ihr Interesse galt dem gähnenden Abgrund, der sich vor einigen Monaten unweit des Außenpostens im antarktischen Eis aufgetan hatte.
Leider war kein Herankommen an die BioMesa-Typen. Selbst wenn sie sich im Gemeinschaftsmodul aufhielten, sonderten sie sich ab. Und wenn Sofia die anderen Familien fragte, was genau die Männer auf der Forschungsbasis trieben, machten alle sofort dicht und schüttelten den Kopf.
»Frag lieber nicht«, war das Einzige, was sie zu hören bekam. »Tu einfach so, als wären sie nicht da.«
Aber sie waren da. Sie waren allgegenwärtig. Liefen in knallroten Station-Zero-Jacken herum, genau wie alle anderen auch. Nur dass sie statt des Exodus-Abzeichens ein schwarzes BioMesa-Logo auf dem Arm trugen.
Jeden Morgen zur selben Zeit brachen sie zum Abgrund auf und jeden Abend zur selben Zeit kehrten sie zurück. Nur gestern nicht. Gestern waren sie drei Stunden später zurückgekommen, und als Sofia sich nach dem Grund erkundigte, hatte sie wieder bloß in verschlossene Gesichter geblickt.
Sofia war mit vierzehn Jahren die jüngste Projektteilnehmerin und man schien zu erwarten, dass sie tat, was man ihr sagte. Aber Sofia tat nur selten, was man von ihr erwartete, und fast nie, was man ihr sagte. Sie hatte abgewartet, bis die BioMesa-Leute sich zurückgezogen hatten, und war dann in ihre Schlafkabine geeilt. Auf dem Weg dorthin hatte sie beinahe einen jungen, bärtigen Typen umgerannt, der mit einem Kaffeebecher aus dem Küchentrakt kam. »Jennings« stand auf seinem blauen BioMesa-Pullover.
»Nichts passiert«, sagte er, wischte sich die Kaffeespritzer von der Hand und lächelte sie an.
Er wirkte nett und Sofia tat es fast ein bisschen leid, dass sie ihn angerempelt hatte.
Aber nur fast.
In der Schlafkabine schlüpfte sie in ihr Polaroutfit und verließ das Gebäude durch den Notausgang am Ende des Westtunnels. Mit einem nervösen Kribbeln im Magen sprang sie runter aufs Eis und schlich zu den Arctic Cats, die vor der Polarstation parkten. Sie schnappte sich das letzte Schneemobil in der Reihe und schob es außer Hörweite. Dann erst ließ sie den Motor an.
Sie war sich sicher, dass niemand ihren Aufbruch bemerkt hatte.
Schon bald war die Basis nur noch eine Ansammlung winziger Lichtpunkte. Mit klopfendem Herzen fuhr Sofia weiter, bis sie den rötlichen Schein der Leuchtfeuer sah, die das BioMesa-Forschungsareal umgaben. Auf dem Gelände angekommen, stellte sie das Schneemobil ab, zog Jennings Zugangskarte aus der Tasche und ging zu der Tür, die in die riesige Eiswand eingelassen war.
Er wird denken, dass er sie im Schnee verloren hat, dachte sie. Wahnsinn, wie einfach das war.
Sie wischte den Schnee vom Scanner an der Tür und hielt die Karte dagegen.
Die Tür glitt auf und Sofia schlüpfte hinein.
Jetzt werden wir ja sehen, was ihr hier treibt.
Durch einen Tunnel trat sie in eine riesige, quadratische Eishöhle. Auf der rechten Seite standen mehrere Computer, auf der linken war eine lange Reihe rechteckiger Löcher in den Boden eingelassen.
Wie Gräber, dachte sie. Kalte Gräber.
Am anderen Ende der Höhle klaffte ein tiefschwarzer Schlund. Der Abgrund.
Es war nicht das erste Mal, dass Sofia ihn sah, trotzdem zog er sie magisch an. Sie hätte zu gern gewusst, was sich in der Tiefe verbarg. Auf dem Weg zur Abbruchkante streifte ihr Blick eines der rechteckigen Löcher an der Seite und sie blieb wie angewurzelt stehen.
In dem Loch lagen mehrere längere Bohrkerne aus Eis, vermutlich aus großer Tiefe hervorgeholt. Sie sahen aus wie die langweiligen Dinger, mit denen Wissenschaftler herumhantierten, um Erkenntnisse über das Klima vergangener Epochen zu gewinnen. Das Merkwürdige: Die Bohrkerne unterschieden sich von denen in den anderen Löchern.
Etwas war in ihnen eingeschlossen. Tiefgefroren.
Sofia kniete sich hin und nahm vorsichtig einen Bohrkern heraus. Er steckte in einer durchsichtigen Plastikröhre mit aufgedrucktem BioMesa-Logo und der Nummer »31«. Sie drehte den Kern hin und her, aber mehr als ein paar daumennagelgroße, in das Eis eingeschlossene dunkle Punkte konnte sie nicht erkennen. Einer befand sich so weit am Rand des Kerns, dass man ihn mit ein bisschen Kratzen vielleicht herauslösen konnte.
Sofia streifte ihre klobigen Handschuhe ab, zog ein Messer aus der Tasche, klappte es auf und öffnete mit der Klingenspitze die Versiegelung der Röhre. Dann ließ sie den Bohrkern herausgleiten und kratzte die Eisschicht über dem schwarzen Punkt vorsichtig weg, bis er so weit hervorstand, dass sie ihn mit den Fingern lockern und herausziehen konnte.
Sie legte das Teil in ihre Handfläche und betrachtete es.
Es war eher braun als schwarz und sah aus wie ein Kokon. Wie irgendein verpupptes Insekt. Anfangs war es eiskalt, doch je länger sie es hielt, desto wärmer wurde es.
Als es sich schließlich bewegte, erschrak Sofia so, dass sie das Teil fast hätte fallen lassen.
Ihr Herz hämmerte und das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie hielt den Kokon weit von sich, als könnte jeden Moment etwas aus ihm herausplatzen.
Jetzt mach dir nicht ins Hemd! Das Ding ist winzig. Es wird dich wohl kaum beißen.
Entschlossen stopfte sie es in ihre Tasche. Sie würde es Doc Blair zeigen, der würde schon wissen, was das sein könnte. Oder es herausfinden. Eigentlich wäre es am besten, gleich den ganzen Bohrkern mitzunehmen. Denn dass hier etwas nicht stimmte, stand außer Frage. Und es war absolut nicht okay, dass BioMesa den Projektteilnehmern etwas verheimlichte. Sie hatten ein Recht zu erfahren, was hier gespielt wurde.
Sofia ließ den Bohrkern in die Röhre zurückgleiten, ging zu ihrem Schneemobil und klemmte das Behältnis auf den Gepäckträger. Dann streifte sie die Schneebrille über und startete den Motor.
Als sie auf die Lichter der Forschungsbasis zusteuerte, grübelte sie über die Gräber mit den Bohrkernen nach. Ob die BioMesa-Leute merken würden, dass einer fehlte? Na ja, eigentlich auch egal, oder? Was konnten die schon groß machen? Angst hatte sie vor denen jedenfalls nicht.
Aber das sollte sich bald ändern.
Sie würde Angst haben. Todesangst.
Die DHC-6 Twin Otter wackelte und schlingerte und schien ganz plötzlich an Höhe zu verlieren. Erschrocken blickte Zak von seinem Buch auf. Er hatte versucht sich mit der Abenteuergeschichte abzulenken, aber je tiefer sie in den Sturm hineinflogen, umso schlechter klappte das.
Es war das schlichteste Flugzeug, in dem er je gesessen hatte: Alles war total zweckmäßig, null komfortabel und schon ziemlich abgewrackt. Im vorderen Teil des Rumpfes waren Klappsitze an die Wände geschraubt, sechs auf jeder Seite, hinten stapelten sich Alufrachtkisten, die mit Nylongurten gesichert waren. Die Metallwände sahen wie tiefgefroren aus.
Wieder rüttelte es und das Flugzeug sackte in der dünnen Luft ab. Zak rutschte das Herz in die Hose. Ihm war eiskalt. Und er hatte Angst. Seine Hände zitterten so sehr, dass er das Buch nicht mehr halten konnte. Und da Jackson Jones’ Abenteuer ihn sowieso nicht mehr abzulenken vermochten, klappte er das Buch zu und starrte das Cover an.
Jackson Jones und die Geister der Antarktis.
Die Abbildung zeigte zwei kühne Abenteurer, die in der zerklüfteten Öffnung einer Eishöhle standen. Einer der beiden war Jackson Jones selbst. Er steckte in einer schwarzen winddichten Hose und einem dicken orangen Parka mit schwarzer Kapuze, ähnlich dem, den Zak trug. Hinter ihm stand ein Junge, der genauso angezogen war. Jackson machte eine Rückwärtsbewegung und schwang abwehrend seinen Eispickel. Aus der Dunkelheit glühten ihnen zwei rote Augen entgegen und auf der einen Seite ragte eine Art Klaue aus der Höhle. Aber Jackson und sein Begleiter hatten keine Angst. Jackson hatte nie Angst – was Zak Reeves leider nicht von sich behaupten konnte.
Er ließ das Buch auf seinen Schoß sinken und klemmte die Hände zwischen die Knie.
Das alte, klapprige Flugzeug transportierte fünf Passagiere, den Piloten mitgezählt. Die einzigen fünf Menschen auf der Welt, die blöd genug waren, während des heftigsten Sturms seit Jahren in die Antarktis zu fliegen.
Gegenüber von Zak saß seine Schwester May, ebenfalls mit einem Buch. Wahrscheinlich irgendeine Liebesschmonzette. May las nichts anderes als Liebesschmonzetten. Aber sie war mit den Gedanken nicht bei der Sache, das sah Zak genau. May wirkte eigentlich immer krank, was an ihrem kalkigen Make-up und dem schwarzen Eyeliner lag, aber jetzt sah sie richtig krank aus: weiß wie ein Bettlaken und mit tiefen Falten auf der Stirn. Ihre Hand krampfte sich in ihren Oberschenkel – mit gekreuztem Zeige- und Mittelfinger.
May war fünfzehn, drei Jahre älter als Zak, und gehörte zu den Leuten in der Schule, die stolz darauf waren, sich von der breiten Masse abzuheben. »Warum soll ich sein wie alle, wenn ich anders sein kann?«, war ihr Lieblingsspruch. May trug am liebsten Schwarz. Eigentlich trug sie nichts anderes als Schwarz. Schwarze Jeans (natürlich zerrissen), schwarzes T-Shirt (entweder mit einem Band-Logo oder dem Filmplakat eines Horrorschockers vorne drauf), schwarze Lederjacke. Ihre Piercings beschränkten sich auf drei Stück an jedem Ohr, aber auch nur, weil Mum Lippen- und Nasenpiercings nicht erlaubte. Ihre Augen waren pechschwarz geschminkt und ihre schwarzen Haare hingen ihr tief ins meist finstere Gesicht. May bezeichnete sich selbst als eine Mischung aus »Emo-Punk und Fan chinesischer Horrorfilme« – eine absolut einzigartige Kombination an der West Allen School. Mays Schuluniform war übersät mit Badges und ihre Schulbücher hatte sie mit Bildern aus Horrorfilm-Magazinen beklebt. Auf ihrem Rucksack prangte die Aufschrift »The Evil Dead«. Abgesehen von einer Handvoll Freunden hielten ihre Mitschüler sie für durchgeknallt und gingen ihr aus dem Weg. Ein Mädchen, Vanessa Morton-Chandler, war sogar richtig fies zu ihr. Sie beleidigte sie und verbreitete Gerüchte hinter ihrem Rücken. May warf Vanessa meist nur vernichtende Blicke zu, konterte mit sarkastischen Bemerkungen und tat im Übrigen so, als würde sie sich nichts aus dem Gezicke machen, aber Zak wusste, dass es sie verletzte. Er wusste auch, dass ihre schwarze Kleidung eine Art Schutzpanzer war.
Er hätte es zwar nie zugegeben, aber im Grunde seines Herzens fand er seine Schwester cool.
Als sie merkte, dass er sie beobachtete, strich sich May die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Mundwinkel rutschten ein paar Millimeter nach oben und sie nickte ihm kurz zu.
Neben ihr nahm Dad seine Brille ab und zwinkerte Zak zu. »Alles okay mit dir, mein junger Padawan?« Seine Worte hingen als warmes Wölkchen in der eisigen Luft. »Ziemliches Abenteuer, was?« Er rieb sich den Nasenrücken und setzte die Brille wieder auf. »Und wir sind noch nicht angekommen … Du wirst deinen Freunden einiges zu erzählen haben, wenn wir wieder zu Hause sind.«
»Ich würde ihnen lieber von der Tropensonne in St. Lucia erzählen«, bemerkte May. »Können wir nicht umdrehen?«
»Wir uns nähern.« Die Stimme des Piloten mit dem krassen russischen Akzent knackte in den Lautsprechern. »Wir Station Zero gleich sehen.«
Erneutes Geschaukel und Gerüttel. Zak biss die Zähne zusammen und versuchte nicht an den Tod zu denken. Mit dem Gedanken hatte er sich in letzter Zeit oft genug herumgeschlagen und er war es leid. Trotzdem, irgendwie war die Vorstellung, er käme bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, lustig – nach allem, was ihm die Ärzte prophezeit hatten. Na ja, nicht wirklich lustig. Lustig auf die Art, bei der einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Sie alle vier, Opfer eines Flugzeugunglücks – das würde alle Erwartungen durchkreuzen. Wo doch sämtliche Prognosen besagten, dass nur er sterben würde. Er alleine. In einem Klinikbett, mit einem von der Krankheit zerfressenen Gehirn. Die Prognosen sahen vor, dass Zak seine Familie zurückließ. Deshalb war er sich auch ziemlich sicher, dass heute nichts passieren würde. Es handelte sich bloß um ein paar Turbulenzen. Einen Sturm. Über der Antarktis. Kein Problem. Kein Grund zur Panik.
Jawohl!
Er schielte zu Mum hinüber, die neben ihm saß und die Lippen so fest zusammenpresste, dass die kleine Zickzacknarbe unter ihrer Nase ganz weiß war. Die Narbe hatte sie, seit sie als kleines Mädchen in Hongkong vom Fahrrad gefallen war – Zak hatte die Geschichte mindestens tausendmal gehört –, und wenn sie weiß wurde, hieß das, dass Mum entweder verärgert oder besorgt war. Das Funkeln in ihren braunen Augen war ebenfalls verschwunden, und als sie sich die Haare aus ihrem schmalen Gesicht strich, musste sie sich zu einem Lächeln geradezu zwingen.
»Wir sind bald da«, krächzte sie.
Zak drehte sich um und schaute aus dem kleinen runden Fenster hinter sich. Der Propeller sah aus wie eine verschwommene Scheibe. Und hinter dem Propeller sah man nichts. Rein gar nichts – oder buchstäblich nichts, wie May sagen würde. Nur tiefste Schwärze. Nicht ein einziges Licht.
Zak wusste, dass sich die Bewohner von Station Zero auf eine lange Nacht vorbereitet hatten, als die Sonne vor drei Wochen hinter dem Horizont verschwunden war. Eine Nacht, die mehrere Monate dauern würde. Wäre der Himmel klar gewesen, hätte man wahrscheinlich Sterne sehen können, aber die Wolken verdeckten alles.
Dad hatte Zak erklärt, dass der Außenposten in einer Senke lag, wie in einer Schüssel oder im Krater eines erloschenen Vulkans, im Westen geschützt von niedrigen Bergen, im Osten von einer gewaltigen Eiswand. Und hinter der Eiswand der klaffende Abgrund. Jetzt allerdings war nichts von alledem zu sehen. Sie hätten genauso gut den Amazonas überfliegen können – oder den Mars. Alles war schwarz.
»Wir jetzt gehen in Sinkflug«, meldete sich der Pilot. »Direkt in Sturm hinein. Wird gleich holprig. Sehr hol…prig.«
Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da ging ein heftiger Ruck durch das Flugzeug und es stürzte in die Tiefe.
Zaks Eingeweide schienen plötzlich in seinem Hals zu stecken und sein Hintern hob vom zerfetzten Polster des Klappsitzes ab. Der Anschnallgurt schnitt ihm in die Hüfte, aber immerhin verhinderte er, dass er durch den Frachtraum flog. Mit einem unsanften Aufprall landete er wieder auf dem Sitz, während das Flugzeug zu rütteln begann wie eine Waschmaschine im Schleudergang.
»Was ich hab gesagt?«, lachte Dima. »Holprig!«
Ja, super, du bist echt ein Prophet, dachte Zak, während das Flugzeug drastisch an Höhe verlor und wild nach rechts und links geworfen wurde.
Nein, wir werden nicht abstürzen, wiederholte er wie ein Mantra. Wir werden NICHT abstürzen. Das ist nicht vorgesehen. So werde ich nicht sterben. Bitte lass uns nicht abstürzen.
Ein Bild schoss ihm durch den Kopf: Er im Krankenhausbett, ruhig und mit geschlossenen Augen. Mum, Dad und May um ihn herum. Grandma und Grandpa im Hintergrund. So würde er sterben – und nicht anders.
Die Stimme mit dem russischen Akzent knackte wieder im Lautsprecher. »Keine Angst.« Dima drehte sich um und blickte durch die offene Cockpittür in den Frachtraum. »Familie Reeves ist sicher. Ich werde Familie sicher zum Außenposten bringen, heil und in einem Stück, okay?«
Er hatte leichtes Übergewicht und einen wüsten Haufen schwarzer Haare auf dem Kopf, die an den Schläfen grau wurden. Sein Gesicht war wettergegerbt und seine Nase von zahlreichen Brüchen total schief. »Keine Angst. Ich in schlimmeren Situationen gelandet. Viel schlimmer. Einmal, totales Whiteout am Boden. Ich nix gesehen. Gar nix. War schlechte Landung, Flugzeug kaputt, konnte nicht mehr fliegen, nie mehr. Aber am Ende: Horrorshow.«
Horrorshow? Das Flugzeug im Eimer? Was zum Teufel erwartete sie hier?
Zak starrte den Piloten an. Der Typ hatte wirklich einen an der Waffel.
»War nur Scherz.« Dimas Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Eine tabakgelbe Zahnreihe mit einer Lücke in der Mitte kam zum Vorschein. »Wirklich, nur Scherz. Niemand kann in totalem Whiteout landen, nicht mal ich. Völlig unmöglich, man nichts sehen.«
Na super. Zak schaute wieder aus dem Fenster. Jetzt zuckten Blitze am Himmel. Er erhaschte einen Blick auf dichte, tief hängende Wolkenberge. Aber die schreckten ihn nicht. Was ihn schreckte, war, was sich unter den Wolken befand. Diese wirbelnde Masse aus Schneeflocken und Eisklumpen, die gegen den Rumpf prasselte, als sie tiefer gingen.
Verdammt, wenn das kein Whiteout war, dann wusste Zak nicht, was sonst.
»Hör nicht auf ihn, Zak.« Seine Mutter legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. »Alles wird gut, du wirst sehen.« Aber ihr Gesicht war ganz zerknittert vor Sorge, wie ein altes Stück Papier. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, alles okay.« Zak tat so, als würde er den Kragen seiner Polarjacke zurechtziehen, aber in Wirklichkeit wollte er nur Mum seinen Arm entziehen. Manchmal war Mitgefühl für ihn das Allerschlimmste.
»Sehen Sie Station jetzt?«, rauschte Dimas Stimme in den Lautsprechern. »Da, die Lichter.« Er deutete durchs Cockpitfenster, aber alles, was Zak erblickte, war Dimas verzerrtes Spiegelbild in der Scheibe. Erst als er den Hals reckte, sah er es: ein diffuses oranges Leuchten mitten im Sturm.
»Station Zero«, verkündete Dima. »Der Außenposten. Endlich.«
Das Leuchten wurde stärker, je näher sie kamen, und nach einer Weile konnte Zak die einzelnen Lichter sogar unterscheiden. Also wohl doch kein totales Whiteout, dachte er und wunderte sich, wie klein die Polarstation war. Viel kleiner, als er sie sich vorgestellt hatte.
Dima sprach in sein Mikro, während er die Flugzeugnase weiter absenkte. »Station Zero, bitte melden. Twin Otter 7-1-5 wartet auf Anweisung.«
Die Orkanböen warfen die Maschine hin und her. Dima hielt auf eine Stelle links der Lichter zu. Wieder sprach er ins Mikro, aber diesmal so leise, dass Zak nicht verstehen konnte, was er sagte. Dafür sah er, dass Dima wie ein Verrückter an den Knöpfen und Schaltern drehte, auf die Anzeigen klopfte und seine Unterlagen checkte. So, als würde irgendetwas nicht stimmen.
Als Zak realisierte, was das war, krampfte sich sein Magen zusammen. Es gab keine Lichter, die auf eine Landebahn hindeuteten. Nichts. Nicht den kleinsten Scheinwerfer. Okay, vielleicht würde er doch auf diese Weise sterben – entgegen allen ärztlichen Prognosen. Er würde nicht mehr mit Medikamenten und Infusionen vollgestopft werden und nicht in den weißen Laken eines Krankenhausbettes dahinsiechen. Er würde auch keine trauernden Familienangehörigen zurücklassen. Denn die würden mit ihm sterben, jetzt und hier, die ganze Familie auf einen Schlag. In einem riesigen Feuerball.
Draußen blitzte es und kurz war das Flugzeug von grellweißem Licht erhellt. Es klang, als würde Metall auseinanderreißen, dann jaulten die Triebwerke auf.
»Alles okay«, rief Dima und warf einen Blick über die Schulter. »Keine Angst. Alles wird gut gehen. Wird Horrorshow.«
Schon wieder dieses Wort!
»Müsste die Landebahn nicht beleuchtet sein?«, fragte Dad.
»Sie … ich erhalte keine Antwort von Station.« Dima fummelte immer noch an den Schaltknöpfen herum. »Vielleicht liegt am Wetter.«
»Und die Lichter?«, hakte Dad nach.
»Ich schon tausendmal hier gelandet. Kenne Landebahn wie … wie sagt man? … wie Jackentasche. Wird gut gehen. Zero ist beleuchtet, das reicht. Ich weiß, wo Landebahn ist.«
In dem Moment erlosch auch die Beleuchtung der Station. Das orange Glühen war weg, von einer Sekunde auf die andere. Nicht das kleinste Licht war mehr zu sehen, nirgends. Nur noch das wirbelnde Weiß des arktischen Schneesturms.
»Scheiße!« Dima ließ die Knöpfe los und konzentrierte sich darauf, die Nase des Fliegers hochzureißen. Offenbar wollte er durchstarten.
Wieder jaulten die Triebwerke und Zak rutschte auf seinem Klappsitz zur Seite, während sich das Flugzeug nach einem furchterregenden Fall plötzlich steil in die Höhe schraubte und dabei ratterte und wackelte wie ein Einkaufswagen mit kaputtem Rad. Zak begegnete dem Blick seiner Schwester. Er umklammerte das Buch so fest, dass seine Fingerspitzen schmerzten und die Knöchel weiß hervortraten.
Nein, ich sterbe nicht. Nicht hier. Und nicht so.
Mum legte ihm einen Arm um die Schultern, und obwohl er ihn eigentlich abschütteln wollte, so wie immer, rührte er sich nicht.
»Wird alles gut gehen«, sagte sie, aber sie zitterte und Zak wusste, dass sie genauso viel Angst hatte wie er. Vielleicht sogar mehr. Zak würde sowieso bald sterben. Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute brachte ihn dem Tod näher. Manchmal konnte Zak an nichts anderes mehr denken – wie auch, wenn alle Menschen in seiner Umgebung ihn ständig daran erinnerten? Einfach dadurch, dass sie so bemüht nett zu ihm waren.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte Dad. »Warum haben sie die Lichter ausgeschaltet?«
Dima antwortete nicht, er hatte alle Hände voll zu tun, das Flugzeug unter Kontrolle zu behalten, den steilen Aufstieg zu meistern und gegen die Orkanböen anzukämpfen. Als die Maschine endlich eine Flughöhe erreichte, in der die Rotoren wieder einigermaßen ruhig liefen, versuchte er erneut die Basis zu kontaktieren: »Station Zero, Twin Otter 7-1-5 wartet auf Anweisungen. Bitte melden.« Er klopfte auf seinen rechten Kopfhörer und wiederholte den Spruch: »Station Zero, Twin Otter 7-1-5 wartet auf Anweisungen. Bitte melden!«
»Und?«, fragte Dad. »Hören Sie was?«
Dima schimpfte auf Russisch, riss sich die Kopfhörer herunter und warf sie neben sich auf den Boden. Mit einer weiteren Schimpftirade drehte er sich zu ihnen um. Sein Gesichtsausdruck gefiel Zak nicht. Ganz und gar nicht.
»Und?«, wiederholte Dad.
»Ich … Alles in Ordnung. Vielleicht sie haben Energieproblem.«
»Vielleicht?«
»Ich meine, sieht so aus. Nach Problem mit Strom.« Er holte tief Luft, hangelte mit dem Arm nach dem Kopfhörer und setzte ihn wieder auf.
»Und jetzt?«, fragte Mum, während Dima einen weiten Bogen um den Außenposten flog. »Heißt das, wir müssen umkehren?«
»Unmöglich. Ich muss landen. Um zu tanken.«
»Wie bitte?« May riss die Augen auf und beugte sich vor, immer noch mit gekreuzten Fingern. »Wollen Sie etwa sagen, dass das Benzin nur für den Hinflug gereicht hat? Dass wir nicht genug für den Rückflug haben? Was ist denn das für ein bescheuertes Flugzeug?«
»Wir tanken es bei Station Zero auf.«
»Ja, klar, wenn Sie landen können. Aber das können Sie nicht, stimmt’s? Sie können ja nichts sehen. Wie wollen Sie da landen?« May schaute Mum und Dad an. »Ich meine, ehrlich, wie will der Typ hier landen?«
Mum und Dad tauschten einen Blick.
»Im Ernst!« May klang jetzt richtig aufgebracht. »Wie will er landen, wenn er die Landebahn buchstäblich nicht sieht? Wie sollen wir da heil runterkommen? Das ist doch Wahnsinn …«
»May«, unterbrach sie Mum.
»Wir überall können landen«, sagte Dima. »Boden hier ist ziemlich flach und wir haben Not-Biwak-Ausrüstung und Survival-Packs. Bin tausendmal hier gelandet. Alles gut. Ich verspreche. Was auch immer passiert, wir schaffen.«
Zak merkte genau, dass Dima versuchte zuversichtlich zu klingen, aber er hörte auch den Zweifel in seiner Stimme und sah die Besorgnis in seinen Augen. Keine Frage, der Pilot hatte genauso viel Angst wie sie.
Sofia stolperte über das Eis. Der Schneesturm riss an ihrer Jacke. Ihre Augen waren starr auf die Metalltreppe gerichtet, die zur Polarstation hinaufführte, und sie betete, dass sie es rechtzeitig bis dorthin schaffte. Damit sie nicht so endete wie all die anderen …
Die Treppe war ihr Rettungsanker. Die Station ihr einziger Zufluchtsort. Um sie herum nichts als Schnee und Eis, eine wirbelnde, tosende weiße Hölle. Der Wind pfiff um sie herum, griff mit eisigen Klauen unter ihre Kapuze, saugte die letzte Kraft aus ihr heraus.
Nur noch ein kleines Stück. Ein winziges Stück und sie war in Sicherheit …
Tick-tack-tick-tack-tick-tack.
Das Geräusch ließ sie vor Schreck erstarren.
Tick-tack-tick-tack-tick-tack.
Sie waren ihr auf den Fersen!
Sofia zwang sich weiterzulaufen. Als sie die Treppe endlich erreichte, umklammerte sie das Geländer und zog sich die Stufen hinauf. Oben angekommen, streckte sie ihre Hand nach dem kleinen Kasten neben der Tür aus. Sie brauchte eine Weile, bis ihre behandschuhten Finger den Griff der Klappe zu fassen bekamen, dann riss sie so heftig daran, dass sie fast rückwärts umgefallen wäre.
»Hilf mir!« Professor Peters’ letzte Worte dröhnten in ihren Ohren, als sie den Nothebel umklammerte, der sich hinter der Klappe verbarg. Sie hängte sich fast an den Hebel, um ihn umzulegen, und mit einem leisen Zischen glitt die Tür der Station auf. Geschafft!
Sie taumelte nach drinnen, drehte sich um und hämmerte auf den Schalter, der die Tür verschloss. Dann trat sie ein paar Schritte zurück und starrte auf den Horror, der sich durch das wirbelnde Weiß und den heulenden Wind näherte. Aber mehr als gruselige Silhouetten konnte sie nicht erkennen.
Die Tür brauchte eine Ewigkeit, um sich zu schließen. Es war zum Verrücktwerden, Sofia hätte am liebsten nachgeholfen. Als sie endlich im Schloss einrastete, gaben Sofias Beine nach und sie sank zu Boden, den Blick starr auf die Tür gerichtet.
Drinnen war außer dem gedämpften Pfeifen des Windes kein Geräusch zu hören. Sofia versuchte krampfhaft nicht daran zu denken, was sie gesehen hatte … was mit den anderen passiert war. Mit Professor Peters, Commander Miller, Dr. Asan, Lee, Doc Blair. Mit allen.
Aber es war ja noch nicht vorbei. Es gab noch eine Sache, die sie erledigen musste.
Mit letzter Kraft richtete sie sich auf. Das Schutzgebäude war nicht weit entfernt und dort musste sie hin. Sofort. Sie musste unbedingt das Video hochladen. Wenn die Leiter des Exodus-Projekts ein Rettungsteam vorbeischickten, dann konnte das Videomaterial vielleicht helfen Leben zu retten. Vielleicht.