Über das Buch

Dario ist 16 und voller Wut. Einer, dem alles egal ist, vor allem, seitdem der Vater die Familie verlassen hat. Nachdem Dario in der Schule randaliert hat, wird er zu gemeinnütziger Arbeit verdonnert. Er soll sich um Andy kümmern, der im Rollstuhl sitzt und sich kaum mitteilen kann. Dario hat seine eigenen Vorstellungen von Fürsorge und nimmt Andy kurzerhand mit auf die Suche nach seinem Vater. Es wird eine abenteuerliche Reise, immer der Sonne nach ans Meer. Dario lernt Andys feine Signale zu lesen und diesen »Halbidioten im Rolli« mit anderen Augen zu sehen. Vor allem aber erkennt er, dass nicht die anderen für seine Wut verantwortlich sind. Er hat durchaus die Wahl, welchen Weg er gehen will.

Gabriele Clima

Der Sonne nach

Aus dem Italienischen von Barbara Neeb und Katharina Schmidt

Carl Hanser Verlag

Für Andrea.

Und für Fabiola, die ihm Flügel geschenkt hat.

Eins

Dario wusste nicht, was er eigentlich hier sollte. Er hatte diesmal doch nichts Großes angestellt, mein Gott, macht euch nicht ins Hemd, ein kaputter Türgriff, davon gab es hier im Gymnasium doch sooo viele. Sogar an der Tür zum Büro des Direktors, das er gerade betreten hatte. Aber vielleicht hatten diese Vollpfosten das ja nicht einmal mitbekommen.

»Dario!«, rief die Delfrati. Er zuckte auf seinem Stuhl zusammen. »Der Herr Direktor spricht mit dir.« Sie fügte halblaut hinzu: »Niete.«

Niete. Die Delfrati wusste einfach, wie sie ihre Schüler motivierte.

An Niete war Dario schon gewöhnt. Was er allerdings gar nicht abkonnte, war das, was sie vorhin vor der versammelten Klasse zu ihm gesagt hatte und woraufhin ihm die Sicherungen durchgebrannt waren. »Du bist eine Niete, Dario, aus dir wird nie was«, hatte sie zu ihm gesagt. »Das weiß doch jeder, oder? Auch dein Vater. Deswegen hat er sich ja davongemacht.« Das hatte sie zu ihm gesagt, vor der ganzen Klasse, einfach so, als ob nichts dabei wäre. Und Dario war aufgestanden, hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, die Hände fest zusammengeballt, und alle hatten schon gedacht, er würde jetzt auf sie losgehen, so stark hatten seine Arme gezittert. Stattdessen war er aus dem Klassenzimmer gestürmt und hatte die Tür so fest hinter sich zugeknallt, dass der Griff weggeflogen war wie ein Korken aus einer Sektflasche.

»Dario«, sagte der Direktor. Seine Stimme klang staubtrocken. »Du weißt, warum du hier bist?« War das eine Frage? »Du bist hier, weil du endlich Verantwortung für dich übernehmen musst.«

Dario starrte auf seine Stirn. Der Ansatz des Toupets lugte zwischen den künstlichen Haaren hervor wie eine grobe Naht. Wie in den alten Frankensteinfilmen. Dario musste grinsen und schaute zu Boden.

»Du findest das witzig?«

»Nein. Ich hab an was anderes gedacht.«

»Natürlich, wie immer. Nur keine Sorge, ich lass dich gleich gehen, ich habe nicht die Absicht, dir hier lange Vorträge zu halten, inzwischen weiß ich, dass so etwas sinnlos ist.« Der Direktor stand auf, ging zum Fenster, sah mit vorgerecktem Kinn nach draußen. »Merkst du nicht, dass heute ein anderer Wind weht?« Er kehrte zum Schreibtisch zurück und nahm ein Blatt Papier aus einem Aktenordner. »Hier, bitte«, sagte er und hielt es ihm unter die Nase. »Seit heute bist du bei der Ehrenamtlichen Pflegebegleitung dieser Einrichtung angemeldet.«

Die Delfrati kicherte höhnisch.

»Ehrenamtliche …«, wiederholte Dario stammelnd.

»… Pflegebegleitung«, ergänzte der Direktor für ihn. »Was heißt« — er stand auf und kam um den Schreibtisch herum —, »dass du dich ab sofort und bis zu einem Termin, der noch festgelegt wird, um die ›weniger vom Schicksal begünstigten‹ Personen kümmern wirst, die diese Schule besuchen.«

Dario schaute kurz zur Delfrati hinüber. Sie grinste, als ob sie im Lotto gewonnen hätte.

»Wie jetzt … um Behinderte!?«

»Nein, um Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Diesen Ausdruck solltest du dir einprägen, denn du wirst ihn ab sofort benutzen.«

Dario sagte nichts dazu. Der Direktor drehte auf den Hacken um und kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück.

»Du bist doch ein schlaues Kerlchen. Ich bin sicher, dass du uns alle überraschen wirst. Morgen fängst du an.«

Er wedelte verabschiedend mit der Hand und widmete sich wieder seinen Unterlagen.

Dario stand auf und ging zur Tür.

»Übrigens, ich warne dich«, fügte der Direktor hinzu, ohne vom Schreibtisch aufzublicken. »Noch so eine Dummheit, und du hast ein echtes Problem. Dann kommst du nicht mehr so leicht davon.«

Dario antwortete nicht. Er drehte sich einfach um und packte den Türgriff. Der Griff brach mit einem satten KRAAACKS ab.

Die Delfrati quiekte erschrocken auf.

»Uups«, sagte Dario und hob den Griff auf. »Der gehört bestimmt Ihnen.« Und warf ihn quer durch den Raum.

Der Griff beschrieb einen perfekten Bogen durch die Luft. Der Direktor sprang hoch, beugte sich vor und fing ihn auf, ehe er auf der Schreibtischplatte landete.

»Raus!«, brüllte er mit hochrotem Kopf.

Aber Dario stand schon draußen auf dem Gang. Und grinste, während er mit den Händen in den Hosentaschen davonging.

An der Sache hatte das jedoch nichts geändert.

Ehrenamtliche Pflegebegleitung. Bei Behindis.

So ein Mist!

Zwei

»Bist du das, Schatz?« Die Stimme seiner Mutter kam aus der Küche und erreichte ihn zusammen mit dem üblichen Essensgeruch.

Dario nahm weder das eine noch das andere wahr. Er ging durchs Wohnzimmer in sein Zimmer und warf sich aufs Bett.

Er blieb erst mal liegen, das Gesicht ins Kissen vergraben, und versuchte, an nichts zu denken, während der ganze Ärger dieses verkackten Tages sich in seinem Magen zusammenklumpte wie geronnene Milch.

»Dario?« Die Mutter steckte ihren Kopf durch die Tür. »Du hast den hier draußen vergessen.«

Sie kam ins Zimmer und stellte den Schulrucksack auf den Stuhl.

»Ist alles in Ordnung?«

Dario antwortete nicht.

»Dario …«

Schweigen.

Die Mutter seufzte.

Was soll ich dir schon sagen, Mama, dachte Dario. Es ist überhaupt nichts in Ordnung, und das weißt du ganz genau. Es ist alles ätzend, so wie gestern und wie vorgestern. Es ist wie immer, nichts Neues. Aber wenn du es genau wissen willst, dann ist es heute noch einen Tick ätzender, mit dieser Scheißpflegebegleitung, zu der man mich gerade verdonnert hat.

»Dario …«

»Schon gut, Mama, alles klar.«

»Bist du sicher?«

Die Mutter kam näher, setzte sich auf die Bettkante und berührte sanft seine Hand.

»Wenn es irgendetwas gibt, was du mir sagen musst …«

»Nein, Mama, mir geht’s gut. Ich will bloß allein sein. Nur kurz.«

»Willst du denn gar nichts essen?«

»Keine Ahnung. Nachher. Vielleicht.«

»Ich lass alles für dich stehen. Den Teller, die Suppe …«

Ja, Mama, mach das, wie du willst.

Die Mutter strich ihm noch einmal über die Hand, dann stand sie auf und verließ das Zimmer. Wenn sein Vater hier gewesen wäre, hätte er ihn hochgehoben, so wie damals, als er noch klein war. Sein Vater kannte keine halben Sachen, etwas war entweder so oder nicht. Und das war etwas Schönes. Schön und richtig gut. Dario fühlte sich dann ganz von seiner Kraft erfüllt. Und genau so sollte doch ein Vater sein, oder? Dazu ist er doch da.

Sein Vater nannte ihn immer Darius den Großen, nach dem persischen König. Der Große. Und er lachte, wenn er das sagte, und boxte Dario in die Schulter, um ihm zu verstehen zu geben, wie groß er war, wenn er mit seinem Vater zusammen war. Aber offensichtlich hatte Dario sich nicht als groß genug erwiesen. Sonst wäre sein Vater ja wohl kaum gegangen. Vor neun Jahren.

Dario hörte, wie die Mutter im Wohnzimmer nebenan den Fernseher einschaltete.

Er streckte einen Fuß vor und stieß die Tür mit einem satten Tritt zu. Vergrub den Kopf noch tiefer im Kissen.

Stille erfüllte Augen und Ohren.

Und er schlief ein.

Drei

»Dario, komm doch herein, mein Guter!«

Die Stimme der Delfrati schrillte durch die ganze Turnhalle. Quäkend wie eine Gummiente. Und falsch. Genau wie sie selbst.

»Das ist Andrea«, sagte sie und zeigte auf den Jungen im Rollstuhl neben sich. »Aber wir nennen ihn Andy, ja, das ist unser Andy.«

Sie streichelte ihn. Andy verdrehte die schwarz glänzenden Augen.

»Von heute an wirst du dich um ihn kümmern, Dario, du wirst bei ihm bleiben und ihm helfen, wenn er etwas braucht.«

Dario betrachtete die merkwürdige Gestalt vor sich, die da so schräg im Rollstuhl hing. Sie bewegte sich nicht, sah ihn schief von der Seite an, mit verdrehten Augen, als ob sie etwas suchte, was die anderen nicht sahen. Der Junge wirkte wie ein geknickter Blumenstängel. Was konnte so ein Halbidiot in einem Rollstuhl schon brauchen?

Hinter ihm stand eine mollige Frau, weich wie ein Marshmallow, lächelnd, und hielt die Griffe des Rollstuhls fest umklammert.

Die Delfrati hüstelte. »Nun, Dario, willst du deinen neuen Freund nicht begrüßen, wie es sich gehört?«

Dario schnaubte genervt, trat aber einen Schritt nach vorn und streckte die Hand aus. »Hallo.«

Andy starrte ihn an. Er legte den Kopf zur Seite und öffnete den Mund in einer Art Gähnen.

»Dario, du Dummerchen«, flötete die Delfrati. »Andy kann sich nicht bewegen, siehst du das denn nicht? Du musst seine Hand nehmen und sie schütteln. Aber sei vorsichtig, ja, er ist sehr empfindlich.«

Dario beugte sich vor und nahm Andys Hand. Sie war unglaublich leicht. Wie der Flügel eines Vögelchens.

»Hallo, ich bin Dario«, wiederholte er. Er kam sich albern vor.

»Ach wie schön«, seufzte die Delfrati. »Und wo ihr euch nun vorgestellt habt, lasse ich euch allein. Aber seid schön brav, ja? Und wenn ihr mich braucht, wisst ihr ja, wo ihr mich findet.«

Sie drehte sich um und verschwand eilig.

Seid schön brav. Was für ein dämlicher Satz. Seid schön brav sagt man zu kleinen Kindern. Oder Vollidioten. Aber vielleicht hielt die Delfrati sie ja beide dafür.

»Ich heiße Elisa«, sagte der Marshmallow. »Wenn du willst, dann erklär ich dir ein paar Dinge.«

»Wow. Ich kann’s gar nicht erwarten.«

Elisa lächelte. »Also, ich kümmere mich gern um Andy. Aber ich kann verstehen, wenn das nicht jeder so sieht.«

»Hör mal, ich habe mich nicht darum gerissen, hier zu sein, also mach es kurz, in Ordnung?«

Elisa lächelte wieder. »Es tut mir leid«, sagte sie, »aber ›mach es kurz‹ trifft es nicht ganz. Das hier ist nicht so etwas wie Radfahren lernen, es ist etwas komplizierter. Und vor allem braucht es Zeit. Je mehr Zeit du dir nimmst, desto besser wird es dir gelingen. Daher ist ›mach es kurz‹ nicht der richtige Ausdruck.«

»In Ordnung, okay, was für ein Nervkram, sag mir einfach, was du zu sagen hast, damit wir es hinter uns haben.«

Elisa lächelte. »Das wird nicht einfach für dich, stimmt’s?«

Andy lachte. Ein Speichelfaden lief ihm das Kinn hinunter.

Nein, das würde bestimmt nicht einfach.

Vier

Die erste Woche war richtig hart. Und zog sich grässlich lange hin. Vier Stunden ehrenamtliche Pflegebegleitung konnten wirklich eine Ewigkeit sein.

Das Problem war dabei eigentlich nicht so sehr Andy, sondern Elisa. Es ist einfach extrem anstrengend, wenn man ständig jemanden neben sich hat, der ununterbrochen lächelt, egal was passiert. Jede Minute, jeden Augenblick des Tages, jedes Mal, wenn Dario sie ansah, lächelte Elisa. Als wäre das nicht nur ein Gesichtsausdruck, sondern eben ihr Gesicht. Einfach widerlich. Wie Karamellzucker. Denn wenn du jeden Tag Karamellzucker isst, wird dir davon irgendwann bloß noch schlecht.

Andy dagegen war halb so wild. Gut, manchmal lief ihm die Spucke aus dem Mund und man musste ihm das Kinn mit einem Taschentuch abwischen. Aber abgesehen davon fühlte es sich für Dario an, als wäre er gar nicht da. Er sagte nie was, nur ab und zu kam von ihm ein Laut oder ein Stöhnen, na ja, warum hätte er auch reden sollen? Schließlich gab es ja Elisa, die an alles dachte, bevor Andy es überhaupt brauchte. Allzeit bereit. Immer. Mit einem Lächeln. Eine Konstante. Eine Landplage.

Wie schaffte Andy das bloß, sie zu ertragen? Aber vielleicht merkte er gar nicht, was um ihn herum passierte. Oder vielleicht merkte er doch alles, und es war ihm einfach egal.

Dario übernahm kleinere Tätigkeiten, er gab Andy zu trinken, band ihm für das Mittagessen ein Lätzchen um und machte es ihm wieder ab. Und Elisa brachte ihm bei, wie er den Rollstuhl innerhalb und außerhalb der Schule bewegen musste: wie er mit ihm die Treppen hinunterkam und auf die Bürgersteige hoch, wie er diese blöden Bordsteine meisterte, die irgendein Arsch einfach so grundlos in die Landschaft gesetzt hatte.

Dario brachte Andy jeden Tag vom Stockwerk mit den Klassenräumen zum Wintergarten gleich neben der Bibliothek, ein Raum mit riesig hohen Fenstern, wo die Sonne großartige Lichteffekte schuf wie im Innern einer Kathedrale.

Von dort aus sah man den Schulhof mit den Bäumen, den Bänken und den Kindern, die dort herumliefen, stehen blieben und sich unterhielten.

Und Andy saß da und lächelte, verdrehte die Augen und schaute, wohin auch immer, betrachtete, was auch immer.

Ab und zu stand Elisa auf und sagte: »Ich gehe mal für kleine Mädchen.« Und dann schwabbelte sie den Gang entlang, bis sie verschwunden war.

Und Dario hatte seine fünf Minuten. Fünf Minuten ohne Elisa. Fünf Minuten, um ein bisschen Gras zu rauchen.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Dario, während er ein Plastiktütchen aus der Tasche holte. »Das ist Gras. Und zwar vom Feinsten.« Er nahm eine Prise zwischen zwei Finger und rollte sie in ein Blättchen. »Ein bisschen davon«, sagte er, »und all deine Probleme wären wie weggeblasen.«

Dann zündete er den Joint an, setzte sich mit dem Rücken an die Wand und nahm ein paar volle, tiefe Züge.

Ein Zug, und alles wurde leicht. Ein Zug, und sogar Elisas Idiotengrinsen war verschwunden. Ein Zug, und Dario war frei, war irgendwo anders, und es ging ihm gut. Ein Zug. Und er hielt bis zum Abend durch.

An dem Tag brannte die Sonne richtig heiß. Die Fenster des Wintergartens glühten wie ein Grillrost.

»Ist der nicht zu dick angezogen?«, fragte Dario mit einem Blick auf Andy, der schwitzte.

»Aber nein, was denkst du denn?«, antwortete Elisa. »Kälte ist tödlich.«

»Kälte? Wo mir heiß ist wie mitten im August.«

»Also das ist doch gar nicht wahr. Außerdem ist es für Menschen wie Andy besser, wenn es etwas wärmer ist, als dass ihnen zu kalt ist.« Elisa beugte sich über Andy, lächelte ihn an und zog ihm die Mütze noch weiter ins Gesicht. »Kälte ist tödlich, stimmt’s, Andy?«, sagte sie zu ihm. »Kälte ist böse. Böse, böse Kälte.«

Andy verdrehte die Augen.

»Nehmen wir ihm doch wenigstens die Mütze ab. Siehst du denn nicht, dass ihm zu warm ist?«

»Das sagst du.«

»Hm, das ist doch sonnenklar.«

»Und warum ist das sonnenklar?«

»Siehst du nicht, er bewegt doch ständig den Kopf hin und her. Ist doch klar, dass ihn die stört.«

Elisa schickte einen verzweifelten Blick zum Himmel. »Andy bewegt ständig den Kopf, weil er das immer tut. Hast du das vielleicht noch nicht bemerkt?«

»Also ich glaube, er bewegt ihn, weil die Mütze ihn stört. Wie sollte er dir das denn sonst mitteilen?«

»Er muss es mir gar nicht mitteilen. Ich weiß es. Das ist mein Beruf.«

Dario sah Andy an. Und der ihn.

»Also ich glaube wirklich, dem ist warm.«

»Hörst du jetzt endlich auf? Was weißt du denn schon?«

»Ich seh das doch.«

»Tja, und ich weiß es.« Schnaubend drehte sie den Rollstuhl herum und stellte ihn vor Dario hin. »Da, halt mal kurz. Ich muss mal für kleine Mädchen.«

Prima, bleib am besten gleich dort.

»Und nimm ihm ja nicht die Mütze ab!«

Darauf verschwand sie schwabbelnd wie immer.

Dario setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer.

Er sah Andy an, dann holte er das Plastiktütchen aus der Jackentasche.

»Mein Gott, die ist wirklich eine Nervensäge.« Er nahm mit zwei Fingern ein wenig Gras und rollte sich in der Plastiktüte einen Joint.

Andy stieß einen Laut aus.

»Ich weiß nicht, wie du das aushältst. Also ich würde der von morgens bis abends eine reinhauen.«

Andy gurgelte etwas, schüttelte den Kopf.

»Was ist los?«, fragte Dario.

»Onne«, sagte Andy.«

»Ach, du sprichst ja doch.«

»Onne«, wiederholte Andy.

»Sonne? Du willst die Sonne sehen? Du willst, dass ich dich in die Sonne drehe?«

Andy lächelte und öffnete den Mund.

Daraufhin stand Dario auf, nahm die Griffe des Rollstuhls und drehte ihn zum Fenster hin.

Er blickte hinaus, zur Sonne, die hell an einem wolkenlosen Himmel strahlte.

»Mann, ist das heiß heute«, sagte er, dann sah er Andy an, beugte sich über ihn und nahm ihm die Mütze ab.

»Weißt du, was wir machen?«, murmelte er dann. Er drehte den Rollstuhl um und schob ihn in den Flur.

Als sie hinaus in den Hof kamen, hatte es schon zum Pausenende geklingelt. Die Schüler waren auf dem Weg hinein, manche hatten es eilig, andere nicht so, denn an einem solchen Tag konnte es einem doch egal sein, ob man zu spät dran war, es konnte einfach nichts schiefgehen.

Ein Mädchen prallte gegen den Rollstuhl.

»He!«, rief Dario.

»Tut mir leid«, sagte sie. Sah ihn an, sah Andy an, lächelte und lief weiter.

Andy gluckste.

»Hast du gesehen? Die stand auf dich«, sagte Dario. »Warum hast du es nicht bei ihr probiert?«

Andy grinste. Wer weiß das schon?, schien er sagen zu wollen.

»Jetzt hast du deine Chance verpasst.«

Da kann man nichts machen.

»Aber die nächste lässt du dir nicht entgehen.«

Sie blieben allein im Hof, Dario rauchte, Andy genoss die Sonne, beide ganz und gar versunken in dieses Blau, das so tief war wie das Meer.

Aber leider hielt dieser Moment nur kurz an, sehr kurz. Nach ein paar Minuten stürzte Elisa in den Hof wie ein Jagdbomber.

»Bist du verrückt? Was machst du denn da?«

»Keine Panik, wir haben nur eine Runde gedreht.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass Andy nicht rausdarf. Er darf keine Kälte abbekommen!«

»Aber wenn wir doch dreißig Grad haben!«

»Dreißig Grad! Was weißt du denn schon, was dreißig Grad für einen wie Andy bedeuten.«

»Jetzt mach doch kein Drama draus. Er hat geschwitzt. Das hätte er dir auch sagen können.«

Elisa verzog das Gesicht. »Aber das kann er eben nicht. Genau dafür bin ich da.« Sie packte den Rollstuhl. »Lass los«, sagte sie. »Ich nehme ihn.«

Dario umklammerte die Griffe.

»Hände weg, habe ich gesagt. Was willst du denn schon wissen! Zu mir sagt hier auf jeden Fall keiner Niete.«

Dario starrte sie an, kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Er ließ den Rollstuhl los, aber nicht, ohne ihn nach vorn zu schubsen.

Andy machte einen Satz, sein Kopf fiel nach vorn.

Elisa sah Dario fassungslos an, ihr stand der Mund offen, und die Augen fielen ihr fast aus dem Kopf.

»Was denn?«, meinte Dario. »Ich habe ihn wenigstens mal wachgerüttelt. Wenn es nach euch geht, würde dieser Halbidiot hier vor Langeweile eingehen.«

»Du wirst schon sehen«, zischte Elisa drohend. Sie wandte ihm den Rücken zu und schob Andy in Richtung Treppe.

Dario bewegte sich nicht. Er betrachtete die Sonne. Den Himmel. Die Bäume, die versuchten, diesen zu überqueren.

»Ach, leck mich«, sagte er.

Und ließ sich fallen, wo er gerade stand.

Fünf

»Du hast ihn einen Idioten genannt?«, fragte die Delfrati. »Du hast einen behinderten Jungen Idiot genannt?«

»Halbidiot«, erwiderte Dario. »Also, das ist doch das Gleiche, als würde man halb intelligent sagen, oder?«

Die Delfrati zog die Mundwinkel nach unten. »An deiner Stelle würde ich hier keine Witze reißen. Du hast einen Jungen beleidigt, der im Rollstuhl sitzt; du hast jemanden beleidigt, der eindeutig schwächer ist als du.«

»Na und? Nennen Sie mich nicht jeden Tag Niete?«

Die Delfrati tat, als hätte sie nichts gehört. »Er hätte auch aus dem Rollstuhl fallen können. Ich nehme mal an, daran hast du nicht gedacht.«

Oh doch, Dario hatte daran gedacht, und wie er daran gedacht hatte. Es war das Einzige gewesen, was ihm an der ganzen Sache nicht gefallen hatte. Alles Übrige, die Sonne, der Hof, Elisas hochrote Birne, das war der Hammer gewesen. Aber das eben nicht.