Ein umfassendes Wörterbuch, an dem mehrere Generationen gearbeitet haben, oder ein französischer Briefträger, der auf seinem täglichen Gang Steine und Muscheln sammelt, aus denen er in 33 Jahren ganz alleine einen fantastischen Palast errichtet: Manches braucht eben etwas mehr Zeit. Thomas Girst versammelt höchst unterhaltsame Geschichten von Künstlern und Wissenschaftlern mit langem Atem — einer Fähigkeit, die vielen von uns heute fehlt. Doch wenn er sich Zeit lässt, sind dem Menschen große Dinge möglich. Wir müssen nur lernen, uns die Zeit zu nehmen. Dieses Buch erhebt Einspruch gegen das Diktat des Tempos.
Thomas Girst
Alle Zeit der Welt
Carl Hanser Verlag
An die Leserin, an den Leser
Der Briefträger Cheval
Zeitkapseln
John Cage in Halberstadt
Aufmerksamkeitsökonomie
Was auf den Tisch kommt
Millennium- Probleme
Verfallsdaten
Muße und Müßiggang
Geduld
Der Tod muss sterben
Rendezvous
Éros, c’est la vie
Sprezzatura
Raumschiff Erde
Schwarze Schwäne
Ewigkeit
Pechtropfen
Nachhaltigkeit
1000 Jahre sind ein Tag
Kirschblüten
Epoche der Hast
Spuren im Schnee
Bleibende Werte
Die Eisprozession
Enzyklopädien
Klangkörper
Häuser, Apartments, Höhlen
Unvollendetes
Literaturverzeichnis, Quellenangaben
Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich zunächst einmal ganz für mich allein Halt gesucht. Halt in einer Welt, in der sich das Hässliche immer schneller auszubreiten und das Schöne umso schützenswerter scheint. Halt in Zeiten, wo mich oftmals die Sorge umtreibt, dass es unsere beiden Söhne und unsere Tochter einmal sehr viel schlechter haben werden als die meist mit unglaublichen Privilegien gesegnete Generation vor ihnen. Kann der Mensch neben Kriegen, Zerstörung, Wut, bösen Worten, Ressourcenverschwendung und Umweltverschmutzung, kann der Mensch inmitten des Gifts von Nationalismus, Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit und Populismus, das ganze Gesellschaften zersetzt, nicht doch auch Wunderbares erschaffen? Als einzige Lebewesen unseres Erdballs sind wir in der Lage, über Grenzen, Generationen und oft über Jahrtausende hinweg Herrliches hervorzubringen. Liegt eben genau darin nicht auch der Sinn unseres Daseins begründet? In der Poesie, den Künsten, den Wissenschaften, der großartigen Freiheit unserer Demokratie sowie in einer nachhaltigen Wirtschaft und ja, warum nicht, auch in der Religion, solange sie keinen Alleinanspruch für sich erhebt? In einer Politik, die mit Bedacht abwägt und von Menschen für Menschen maßvolle Entscheidungen trifft statt sich immer lauter und schneller sieben Tage die Woche und 24 Stunden am Tag um sich selbst zu drehen?
In den leisen Tönen und nicht im lauten Poltern, in der Ruhe und in der Stille, in der Konzentration und nicht in der hyperventilierenden Hetze, die tagtäglich an uns zerrt, offenbart sich zumeist das Schöne im Menschen, all jenes, das wir eben auch zu vollbringen imstande sind. Gut Ding will bekanntlich Weile haben. Doch allzu oft gerieren wir uns als Getriebene, was sich in unseren Taten wie in unseren Worten zeigt. »Hast du einen Augenblick für mich?« »Ich brauche dich mal für einen Moment«. Wie viele Sätze beginnen am Arbeitsplatz und selbst zuhause mit »Nur kurz, …«? Ein spürbares Unbehagen breitet sich unterdessen aus. Das irritierende Gefühl, nie irgendwo wirklich zu sein, nichts wirklich hinzubekommen. Das Unwohlsein, nie genug und alles nur auf halber Pobacke zu tun statt mit Leib und Seele dabei zu sein — und von Herzen.
»Alles in unserer Gesellschaft ist auf das kurze Sofortglück angelegt, Espresso, Zucker, Facebook-Likes, Porno, Drogen, Alkohol — immer geht es um Instantbefriedigung. Alle Hormone aber, die für echte Zufriedenheits- oder Glücksgefühle zuständig sind, werden bei diesem Verhalten eher heruntergefahren als angeregt. Die Sofortbefriedigung hindert uns an tieferem Wohlbefinden. Je mehr man das eine privilegiert, desto schwerer ist es, das andere zu empfinden.« In meinem eigenen Nachdenken und Schreiben über die Langsamkeit und die Dinge, die sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, fühlte ich mich durch diese Zeilen der Schriftstellerin Virginie Despentes bestätigt. Eine kurze Aufmerksamkeitsspanne ist fürwahr keine Grundlage für tief empfundenes Glück. Wie wenig hilfreich ist es obendrein, dass die Geschäftsmodelle der meisten Firmen des Silicon Valley, die neuerdings unser Leben bestimmen, auf gezielter und beständiger Ablenkung beruhen und überlegter Kontemplation, Besonnenheit, Muße oder geistiger Achtsamkeit gar nicht mehr bedürfen — alles Eigenschaften, zu denen wir Menschen mühelos befähigt sein sollten, mit deren Anwendung wir uns heute aber immer schwerer tun.
Über Snapchat, WhatsApp, Instagram und Facebook kommunizieren wir im Minutentakt mit Freunden, »Freunden«, Bekannten und Fremden — während die Zeit für wahrhaftigen Dialog knapp geworden ist. Schon 2003 eröffnete die Internetplattform Second Life ihre Pforten. In Echtzeit spazierte man durch dreidimensionale virtuelle Welten, in denen man als Avatar mit hunderttausenden anderen Nutzern in Verbindung treten konnte. Manche Staaten eröffneten tatsächlich digitale Botschaften im Second Life. Heute scheint es so, als wäre das Second Life vor den Bildschirmen unser First Life. Trotzdem bleibt die Sehnsucht nach wirklicher Nähe und Zuwendung bestehen, gerade je mehr wir uns im digitalen Raum zu entfremden drohen. Der Soziologe Hartmut Rosa hält mit seinem Kernbegriff der Resonanz dieser Dynamik entgegen und hebt die Bedeutung dessen hervor, was uns »auf lebendige Weise mit der Welt verbindet«. Nur fernab der Belastung, sich einander in den digitalen Echokammern der Eitelkeiten als Idealbilder zu präsentieren und tagtäglich unseren Platz in der Hackordnung oberflächlicher Geltungssucht zu behaupten, finden sich Raum und Zeit für eine unverfälschte Auseinandersetzung mit unserem Umfeld wie auch mit uns selber. Zeit, die es ermöglichen kann, in unserem Tun wieder einen Sinn zu entdecken, Zeit, die eben nicht mehr von innen hohl ist.
Wir müssen uns selbst den Druck nehmen. In der Ära der Abkürzung argumentiere ich für den Abstecher. In der Zeit des Algorithmus bevorzuge ich den Zufall. Nicht der Zufall als reine Koinzidenz, sondern vielmehr als das, was man im Englischen serendipity nennt und was der Kulturwissenschaftler Carlo Ginzburg einmal als »unvorhergesehene Entdeckungen, die durch Zufall und Intelligenz gemacht werden« umschrieben hat. Davon handelt dieses Buch. Es kann hier und anderswo nicht immer nur darum gehen, wie wir bei allem und jedem am schnellsten von A nach B kommen. Oder darum, dass Cookies, Tracking-Programme und Apps auf den Bildschirmen stets nur das anbieten, was uns vermeintlich am allermeisten interessiert. Ich rede keineswegs dem Digital Detox, einer kompletten digitalen Entgiftung, das Wort. Auch das vom Slow Movement propagierte Dogma der Entschleunigung bringt uns nicht weiter. Durch die Behauptung alternativer Maximen werden nur wieder neue Fronten geschaffen, die wir überhaupt nicht brauchen. Langsamkeit ist mitnichten Selbstzweck. Es ist schließlich ein Segen, wo immer man sich aufhält, in Windeseile mit nur einem Mausklick das gesuchte Zitat in einem Text zu finden anstatt dafür wochenlang bei der Fernleihe auf ein Buch zu warten. Andererseits gilt es, die Schönheit des Analogen zu wahren und nicht müde zu werden, auf den Unterschied von Information und Wissen hinzuweisen. Erstere steht uns im Technologiezeitalter immer und überall wunderbar zur Verfügung, Letzteres gilt es sich zu erarbeiten.
»Alles, was es wirklich zu tun wert ist, braucht seine Zeit.« Man muss nicht einmal ein Fan von Bob Dylan sein, um ihm aus ganzem Herzen zuzustimmen. 100 schlechte Lieder müsse man schreiben, damit ein gutes dabei rumkommt. »Dabei bist du ganz alleine auf dich gestellt und musst deinem eigenen Stern folgen.« Und welche Landschaften man entdecken kann, wenn man tief und weit in sich selber ohne Kompass unterwegs ist! Einzig der Ruhe, der Zeit und der Demut bedarf es für dieses allergrößte Abenteuer, von dessen Erfahrungen uns im 16. Jahrhundert bereits Teresa von Ávila umso ausführlicher berichtete, je mehr Räume sich in ihr auftaten. Ja, wir sind ganz allein dabei, aber niemals sind wir einsam. Bei allem, wofür wir uns Zeit nehmen, stehen wir auf den Schultern von Giganten, in Bibliotheken finden sich ganze Armeen uns zugewandter Menschen Seite an Seite, und Bücher können lebenslange Freunde sein. Charles Baudelaire sprach einmal davon, wie wir durch das geschriebene Wort oder durch Kunstwerke mit anderen Menschen durch Jahrhunderte und selbst Jahrtausende hindurch in Verbindung treten können wie die Lichtsignale der Leuchttürme entlang der nächtlichen Küste.
Die Leserin und den Leser möchte ich bitten, sich für die in diesem Buch versammelten Geschichten Zeit zu nehmen. So sehr ich mich bemüht habe, entspannt zu schreiben, so sehr musste ich meinen Mitteilungsdrang beherrschen. Sollte das nicht immer gelungen sein, muss ich um Nachsicht bitten. Mir geht es vor allem darum, großartigen Errungenschaften der Kulturgeschichte und Wissenschaft Raum zu geben, über Disziplinen und Kategorien hinweg aufzuzeigen, was Menschen alles bewerkstelligen können, was uns letztlich im Kern ausmacht und was jeder Einzelne von uns vermag. Ich erzähle über Dinge von Dauer, die jedem ein Bollwerk der Ruhe inmitten unserer Epoche der Rastlosigkeit sein können. Glücklich wäre ich, wenn sich bei der Lektüre eben jener reiche Erkenntnisgewinn einstellt, den ich beim Schreiben dieses Buches erlebt habe. Nun liegt »Alle Zeit der Welt« in Ihrer Hand.
»10.000 Tage, 93.000 Stunden, 33 Jahre Anstrengung.« Mit dieser in die Außenwand gemeißelten Inschrift beschloss der Landpostbote Ferdinand Cheval (1836—1924) die Arbeit an seinem Palais idéal. Am Ufer der Galaure, auf dem Grundstück seines ehemaligen Gemüsegartens im Örtchen Hauterives im Südosten Frankreichs, errichtete er zwischen 1879 und 1912 ein riesenhaftes, überbordendes Bauwerk aus Steinen, Kieseln und Muscheln, die er als Briefträger auf seinen langen Dienstwegen aufklaubte. Über 30 Kilometer führte ihn sein Weg tagtäglich durch entlegene Weiler und kleine Dörfer, vorbei an Hügeln, Tälern und Feldern. Ein Sohn verarmter Bauern, war Cheval 43 Jahre alt, als er bei einem dieser beschwerlichen Fußmärsche erstmals einen Stein aufhob und mitnahm. Der ruht heute auf einem kleinen Altar auf der Terrasse des Palais idéal, zu der den Besucher drei schmale Wendeltreppen hinaufführen. Und eben dieser Stein hatte ihn zum Bau des märchenhaften Palastes inspiriert. In seinen nachgelassenen Aufzeichnungen schreibt Cheval: »Der Stein ist von samtener Beschaffenheit, das Wasser hat an ihm seine Arbeit getan, der Zahn der Zeit hat diesen einen Kiesel gleich erhärten lassen. Den eigentümlichen Stein von Menschenhand nachzuahmen ist unmöglich. Jede Tiergattung, jede Form ist darin enthalten. Ich sagte mir, wenn die Natur Skulpturen wie diese erschafft, dann verlege ich mich aufs Maurerhandwerk und die Architektur.«
Chevals begehbarer Palais idéal misst 30 mal 15 Meter und erreicht bis zu 13 Meter Höhe. Die dicht gestalteten eklektischen Fassaden schmücken hunderte Tierskulpturen, Darstellungen von Pflanzen und Gemüsesorten, mythische Kreaturen, Porträts von Zeitgenossen und historische Figuren, Riesen und zahlreiche organische Formen — allesamt Gestalten, die dem Briefträger entweder im Traum erschienen oder ihm auf seinen langen Botengängen in den Sinn gekommen waren. Genauso war Cheval von den Bildern fasziniert, die er in den Zeitschriften und auf den Postkarten sah, die er in Hauterives und benachbarten Orten austrug. Eben erst hatten Fotografien damit begonnen, die Wunder der Welt auch Menschen in den entlegensten Gegenden Frankreichs vor Augen zu führen. Als Monument der Volkskunst ist der Palais idéal ohne Vergleich. Seine Architektur zitiert Hindutempel, mittelalterliche Schlösser, eine Moschee, ein ägyptisches Grabmal sowie Schweizer Almhütten. Eine gotische Fratze, ein Oktopus und ein Phönix bewachen Höhlen, die Rehkitzen und Pelikanen gewidmet sind. Ein Kamel und ein Elefant sind vor dem Eingang einer langen, mit hunderten Ornamenten versehenen Galerie platziert, an der auch Chevals eigene Aphorismen prangen: »Für meine Ideen überstand mein Körper alles: das Wetter, die Kritik, und die Zeit. Das Leben ist nur ein flüchtiger Augenblick. Meine Gedanken werden in diesen Steinen fortleben.« Ein Schrein ist seiner geliebten, selbstgezimmerten Holzschubkarre vorbehalten, mit der er über Jahrzehnte auf seinen Wegen die Steine für seinen Palast aufsammelte.
Durch Zufall wurde der junge französische Dichter Émile Roux-Parassac bereits 1904 auf Cheval aufmerksam und widmete dessen wunderlicher architektonischer Leistung ein Gedicht, das sein Bauwerk als Palais idéal pries. Cheval hatte seinen Palast zuvor auf den Namen Diese Originalgrotten getauft. Man mag ihm dafür verzeihen. T. S. Eliot nannte sein epochales Gedicht The Waste Land von 1922 ursprünglich He do the Police in Different Voices. Ähnlich wie Hemingway für A Moveable Feast, seine Erinnerungen an das ausschweifende Leben im Paris der 20er Jahre, zunächst Auf den Nagel beißen, Das frühe Auge und das Ohr oder Wie anders es war, als Du da warst als Titel vorgesehen hatte.
Cheval starb 1924, im gleichen Jahr erschien das erste surrealistische Manifest. Es verwundert kaum, dass der Palast des Postboten schnell zur Pilgerstätte für Künstler und Schriftsteller jener Bewegung wurde, die die Welt der Träume und des Unterbewusstseins für sich zu entdecken suchten. Ihr Begründer André Breton kam 1930 nach Hauterives, es folgten Dorothea Tanning, gemeinsam mit Max Ernst, der mit Le Facteur Cheval eine Collage schuf, die sich heute in der Sammlung des Guggenheim Museums befindet. Pablo Picasso hinterließ 1937 eine großformatige Kohlezeichnung und erklärte nach seinem Besuch: »Unser Bruder, Postbote Cheval, Du bist nicht tot, bitte erbaue uns Betten aus Stein dergestalt, wie Du Deinen Palast in Hauterives geschaffen hast!« Zwölf Jahre nach Chevals Tod erschienen 1937 zahlreiche Fotos seines Bauwerks im Katalog von Alfred J. Barrs wegweisender Ausstellung Fantastic Art, Dada, Surrealism im New Yorker Museum of Modern Art. Immer mehr Besucher machten sich auf den Weg nach Hauterives. Gertrude Stein beschrieb den Palast als »wunderschön«, als einen »außergewöhnlichen Ort«. In den folgenden Jahrzehnten sollten noch viele andere, darunter Jean Tinguely, Niki de Saint Phalle oder Susan Sontag den Enthusiasmus der Schriftstellerin teilen.
1969 bemühte sich der Schriftsteller und Abenteurer André Malraux als französischer Kultusminister um die Aufnahme des Palais idéal in die Liste historischer Denkmäler. Dessen Zustand verschlechterte sich ständig, und die einzige Möglichkeit einer Rettung bestand in umfangreichen Sanierungsmaßnahmen. Malraux schwärmte von Chevals Errungenschaften als Inbegriff autodidaktischer Art Brut, als urtümliche wie einzigartige Architektur. Auch wenn er schließlich den Denkmalschutz für den Palais idéal durchsetzen konnte, musste er sich zunächst in seinem eigenen Ministerium gegen Stimmen wehren, die die Anlage als »rundum abscheulich« abtaten, als »kläglichen Haufen Irrsinn, ersonnen von einem Dummkopf«.
Es wundert kaum, dass der Palais idéal heutzutage eine Touristenattraktion ist, die jährlich über 100.000 Menschen nach Hauterives lockt, ein Dorf mit weniger als 2000 Einwohnern. Ferdinand Chevals vormaliger Gemüsegarten ist mittlerweile von hässlichen Gebäuden aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und einer Mauer umgeben, die den Besucherstrom lenken und vor den Blicken all jener schützen soll, die für den Anblick der Schöpfung des Postboten nicht zu zahlen bereit sind. Der Weg dorthin führt durch Straßen voller Ramsch, wo Geschäftsleute alles Erdenkliche von Eisspezialitäten bis hin zu Immobilien feilbieten: Le palais d’immobilier, Le palais de glaces, Le palais du pedicure, Pizza idéal, Souvenirs idéal. Dieser Budenzauber wird irgendwann verschwunden sein, Chevals Palast hingegen besteht fort. Nach einem Besuch dieses Monuments menschlicher Phantasie und Beharrlichkeit lässt man am besten Verkaufsstände und Touristenbusse links liegen. Abseits der Hauptstraße gerät man schnell auf Felder, von denen aus der Friedhof nicht mehr weit ist. Hierher verirrt sich kaum einer, der nicht auch trauert. Ebendort hat Cheval allerdings ein weiteres Jahrzehnt gewerkelt. Nach Fertigstellung seines Palasts bis zu seinem Tod im Alter von 88 Jahren errichtete er dort das Familiengrab, für »Stille und unendliche Ruhe«, wie er schrieb. Zuvor hatte man sein Gesuch abgelehnt, im Palast selber seine letzte Ruhestätte finden zu dürfen. »Nicht die Zeit vergeht, wir vergehen«. Es sind diese Worte, die Cheval als Sinnspruch auf der östlichen Fassade seines Grabmals anbrachte. Auf dem Weg zurück nach Hauterives, vielleicht dort, wo man in der Nähe des Flusses an den Maisfeldern entlangläuft, lässt sich aus dem erdigen Grund gut ein Stein herauslösen, so wie es der Postbote tagtäglich tat. Zu Hause auf dem Schreibtisch wird er daran erinnern, was ein einziger Mensch damit zu vollbringen vermochte.
In den frühen 1880er Jahren schlendert ein junger Mann an einem Sonntagmorgen durch die Straßen von Paris und entdeckt in einem Antiquitätenladen ein Möbelstück. Er bewundert die italienische Arbeit aus dem 17. Jahrhundert, einigt sich mit dem Händler auf den Preis und lässt es zu sich nach Hause bringen. Eines Abends ertastet er in der Rückwand des Mobiliars ein verstecktes Fach, worin ein blonder Zopf mit goldenem Band zum Vorschein kommt. Der junge Mann verliebt sich augenblicklich in den Haarschopf, der ihm von nun an keinerlei Ruhe mehr lässt. Guy de Maupassants Erzählung Das Haar ist das Bekenntnis eines Geisteskranken. Durch seinen behandelnden Arzt in der Nervenheilanstalt erhält der Leser direkten Einblick in die Tagebucheinträge des Besessenen. Gottlob mögen nur die Allerwenigsten die nekrophilen Neigungen von Maupassants Protagonisten teilen, trotzdem lässt sich unsere Obsession mit Vergangenem gerade in jenen Momenten, wo wir mit ihm unmittelbar in Berührung kommen, kaum leugnen. Schatzsucher und Entdecker von Schiffswracks wissen davon genauso zu berichten wie jene, die am Strand eine Flaschenpost finden oder plötzlich zwischen den Seiten eines Buchs eine jahrzehntealte Notiz in den Händen halten.
Die Idee der Zeitkapsel, also des bewussten Verwahrens ausgewählter Objekte und Dokumente in einem Behältnis, das erst nach längerer Zeit wieder geöffnet werden soll, fällt mit dem Ende des 18. Jahrhunderts etwa in die Zeit, als die unbekannte Schöne aus Maupassants Novelle ihre Haarpracht dem Geheimfach übergeben haben mag — und erfreut sich seither weltweit wachsender Beliebtheit. So darf ein 1939 15 Meter unter der Erde eines New Yorker Parks vergrabener Container erst im Jahr 6939 wieder geöffnet werden. Wer immer ihn dann aufmacht, wird auch einen Brief von Albert Einstein darin entdecken, der mit den Worten endet: »Jeder, der über die Zukunft nachdenkt, muss in Furcht und Schrecken leben«. Während Einstein diesen Satz zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schrieb, schuf der US-amerikanische Pädagoge Thornwell Jacobs die »Krypta der Zivilisation« an der Oglethorpe University in Atlanta, ein luftdicht versiegelter Raum mit Alltagsgegenständen, deren Öffnung erst im Jahr 8113 gestattet ist. Allen Vorschriften zum Trotz fördert jedoch oft genug der Zufall für die Nachwelt bestimmte Dokumente vergangener Zeiten zu Tage. Als im südlichen Manhattan 1955 das Pulitzer World Building abgerissen wurde, entdeckte man einen Kupferkasten, der auf dem Deckel mit dem Datum des 10. Oktober 1889 beschriftet war. Darin ist unter anderem eine Wachswalze enthalten, auf der eine frühe Tonaufzeichnung der menschlichen Stimme eingraviert ist. Für knapp drei Minuten sprechen Zeitungsreporter über die Naturkatastrophen des Jahres von Kanada und den USA bis nach Japan. Sie parlieren über Baseball. Einer zitiert leicht fehlerhaft, aber dafür mit viel Pathos die erste Strophe von Edgar Allan Poes Gedicht »Der Rabe«. Ein anderer sagt voraus, dass der Austragungsort der nächsten Weltausstellung nicht Chicago, sondern New York sein wird. Kein Jahr später entscheidet sich der US Kongress allerdings für Chicago, worüber man einiges über die Trefferquote der nicht selten in Zeitkapseln enthaltenen Prognosen lernen kann. Da machen die zahlreichen Ende der 60er Jahre noch in der ehemaligen Sowjetunion verscharrten Kisten keinerlei Ausnahme. Darin enthaltene Dokumente gehen fest davon aus, nach einem halben Jahrhundert in einer durchweg kommunistischen Welt gelesen zu werden, die Kosmonauten längst auf Marsmissionen geschickt hat. Der Inhalt einer 1967 in Novosibirsk vergrabenen und 50 Jahre später zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution planmäßig geöffneten Zeitkapsel hegte gar die Hoffnung, dass man 2017 bereits mit außerirdischen Zivilisationen über Kultur und Wissenschaft im Austausch stehen würde.
Um nicht noch mehr Behältnisse mit Münzen, Briefen, alten Zeitungen, allerlei Murks und Falschaussagen für die Nachwelt zu befüllen, bemüht sich die International Time Capsule Society schon seit 1990 um weltweit gültige Richtlinien. Und 1999 nahm sich das Magazin der New York Times mit »How to Make a Time Capsule« des Themas umfassend an. Ausdrücklich gewarnt wird hier bereits vor dem Abspeichern von Informationen auf Datenträgern — wer könnte noch eine CD-Rom dechiffrieren? Schwer vorstellbar, dass wir zukünftigen Generationen womöglich weniger Wissen zurücklassen werden als es die vorherigen taten, zumal heute alle Information dieser Welt nur einen Mausklick weit entfernt scheint. Genau darum warnen selbst Pioniere des Internet vor dem »Digital Dark Age«, da es dereinst durchaus unmöglich sein könnte, jedwede elektronisch abgespeicherten Daten zu entschlüsseln. Wen das alles herzlich wenig scherte und wer seit 1974 bis zu seinem Tod im Jahre 1987 in über 600 als TC 1 bis TC 610 beschrifteten Pappkartons hunderttausende Dokumente und Objekte bewahrte — die Buchstaben TC sind ein Kürzel für nichts anderes als Time Capsule —, das war Andy Warhol. Geclippte Zehennägel, Essensreste, Fanbriefe, die Schuhe von Clark Gable, gebrauchte Kondome, Kinderbücher, Gürtelschnallen, Fotos aus Fotoautomaten, Fanbriefe, Pornos, Junk Mail, Bonbonpapierchen, Flyer, Briefpapier, Armbanduhren und ja, auch Campbell’s Suppendosen. Warhol hätte sich im Wissen darum sicher gefreut, dass ein anonymer Bieter rund 30.000 Dollar für das Privileg zahlte, 2014 die letzte noch geschlossene Zeitkapsel des Popkünstlers öffnen zu dürfen. Schließlich stammt von ihm das Zitat wonach ein »gutes Geschäft die beste Kunst« sei.
Weniger gut erhalten als der Inhalt von Warhols Kartons war jener der verschlossenen Tonkrüge, die zunächst von Beduinenschäfern 1946 in den Qumranhöhlen der Judäischen Wüste nordwestlich des Toten Meers entdeckt wurden. Diese bewahrten zahlreiche Fragmente hunderter verschiedener Manuskripte auf, darunter frühzeitliche biblische und außerbiblische Schriftzeugnisse, vor allem aus der Zeit um Jesu Geburt. Auch die ältesten erhaltenen bibelnahen Texte aus dem siebten Jahrhundert vor Christus sind uns heute nur deshalb bekannt, weil sie in winzigen Silberrollen aufbewahrt und dergestalt erst 1979 südwestlich der Altstadt von Jerusalem als Totenbeigabe gefunden wurden. Manch historisch bedeutendes Grab kann — einer russischen Matrjoschkapuppe darin nicht unähnlich — als Zeitkapseln umschließende Zeitkapsel gelten. Die Grabkammer des Tutanchamun oder der Ahnenkult der Toraja aus Indonesien enthalten wichtige Schlüssel zum Verständnis spezifischer Epochen unserer Zivilisation. Der Erhalt der biblischen Schriften wiederum ist letztlich auch einer Vorschrift aus dem jüdischen Talmud zu verdanken, die als Genizah-Brauchtum seit weit über 2000 Jahren deren Bewahrung vorschreibt. Ob der wunderbare, von den Architekten Friedrich Kiesler und Armand Barton meisterhaft erbaute Schrein des Buches des Jerusalemer Israelmuseums, der seit 1960 die Schriftrollen von Qumran verwahrt, den Manuskripten jene tausende Jahre Schutz bieten wird, so wie es die Tongefäße in den Wüstenhöhlen vermochten, ist wie jedwedes, das Spekulationen über Zukünftiges beinhaltet, allerdings kaum vorhersehbar — zumal in einer volatilen Welt wie der unsrigen.
Wer früh morgens von Berlin mit dem Zug nach Halberstadt fahren will, nimmt vom Hauptbahnhof den Intercity nach Norddeich Mole über Potsdam und Brandenburg und steigt in Magdeburg um. Von dort aus geht es weiter mit dem HEX