Paris, wenige Jahre vor Ausbruch der Revolution: Im Salon des Barons d'Holbach treffen sich regelmäßig die besten Köpfe Europas. Denis Diderot, David Hume, Laurence Sterne, Jean-Jacques Rousseau und viele andere Denker des 18. Jahrhunderts streiten um eine zeitgemäße Philosophie, die die Religion hinter sich lässt und allein auf die Kraft des Verstandes setzt, aber auch den Leidenschaften angemessenen Platz einräumt. Philipp Blom erzählt ein Kapitel europäischer Geschichte und bringt die radikale Variante der Aufklärung wieder in Erinnerung, die eine Idee von einer wirklich menschlichen Gesellschaft hatte. Ein historisches Meisterstück und philosophisches Plädoyer zugleich.
Böse Philosophen
Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung
Carl Hanser Verlag
Prolog
Väter und Söhne
Die Stadt des Lichts
Reisen
Encyclopédie
Chez M. Holbach
Das Wagnis des Denkens
Das entschleierte Christentum
Der Lauf der Dinge
Nur der böse Mensch lebt allein
Le Bon David
Die Philosophie der Natur
Die Scheichs der Rue Royale
Grandval
Der Bär
Die Insel der Liebe
Verbrechen und Strafe
Der undankbarste Hund der Welt
Ruhm und Schicksal
Die Kaiserin und der Bohnenkönig
Sex im Paradies
Fünfzig gemietete Priester
Epilog
Danksagung
Glossar der wichtigsten Personen
Anstelle einer Bibliographie
Anmerkungen
Personenregister
Im Frühjahr 2007 hielt ich in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá einen Vortrag über die Philosophie der Aufklärung. Nachdem ich geendet hatte und schon auf dem Weg aus dem Vortragssaal war, stellte ein Junge von vierzehn oder fünfzehn Jahren mir immer neue Fragen über Diderot, Holbach, Rousseau und ihre Ideen. Ich konnte ihm damals keine befriedigende Antwort geben. Dieses Buch ist auch der Versuch, das nachzuholen.
Ich widme es meinem anonymen Frager und allen, die nicht umhin können, sich zu fragen, wer sie sind, und die den Mut haben, wirklich wissen zu wollen, wer sie sein könnten.
Oh ihr, die ihr von euren Schreibgelüsten gepeinigt werdet wie von Dämonen; die ihr für ein Quentchen Erfolg gern die Minen von Peru hergäbet: Löst euch von der erbärmlichen Meute der gemeinen Schriftsteller, die im Dienste des Publikumsgeschmacks oder der öden Gelehrsamkeit stehen! Löst euch von den langweiligen Gelehrten, deren Werke tristem, eintönigem und grenzenlosem Ödeland gleichen, in dem keine einzige Blume wächst! Schreibt entweder gar nicht, oder schwingt euch aus diesen Niederungen empor! Seid frei und groß in Wort und Tat! Demonstriert einen überlegenen und unabhängigen Geist!
Julien Offray de la Mettrie, Über das Glück1
Du kannst aus allen möglichen Gründen verlieren – weil du nicht entschlossen genug warst oder zu fanatisch, nicht flexibel genug oder zu gleichgültig, nicht stark genug oder einfach vom Pech verfolgt, zu sehr befangen in Details oder ihrer zu wenig bewusst, der eigenen Zeit zu lange hinterher oder zu weit voraus. Noch im Sieg kannst du ein Feigling sein oder in der schlimmsten Niederlage ein echter Held.
Das gilt auch für die Toten. Der Aktienmarkt der historischen Reputation wird von Großinvestoren ängstlich beobachtet, von Zockern manipuliert und immer wieder aufgemischt von Spielernaturen, die auf einen vergessenen Philosophen oder einen obskuren Dichter setzen. Der Mechanismus dieses Marktes der guten Namen ist wichtig für unsere Gegenwart, denn diejenigen, deren Aktien am höchsten stehen, hinter denen sich die mächtigsten und meisten Investoren verbergen, bestimmen mit ihren Ideen und Werken auch, was wir über uns selbst denken, welche Geschichten wir uns erzählen. Wenn Platons Aktien höher gehandelt werden als die von Aristoteles und den Wert von Epikur völlig vernichten, dann werden die meisten von uns bewusst oder unbewusst die Welt durch Platons Augen sehen, werden mit den Gedanken den Wegen folgen, die er für uns vorgezeichnet hat.
An einem warmen Sommertag in Paris suchte ich nach zwei Männern, die in einer historischen Schlacht gesiegt hatten, auf dem Markt der Ideen aber als Verlierer dastanden. Sie hatten für eine Gesellschaft gekämpft, die freier sein sollte, gerechter und nicht auf Lügen und Unterdrückung gebaut. Sie hatten mutig für ihre Vision gekämpft und alles riskiert, aber ihre Ideen waren in Ungnade gefallen, von der brüllenden Flut der Revolution verschlungen und fast ganz aus der Geschichte hinausgeschrieben worden. Zweihundert Jahre nach ihrem Tod hatten sie scheinbar die Schlacht um die Erinnerung verloren.
Baron Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723–1789), einer dieser beiden, ist heute fast völlig vergessen, sein Name nur Spezialisten ein Begriff. Der andere, Denis Diderot (1713–1784), ist bekannt als Autor einiger Romane und gemeinsam mit dem Mathematiker d’Alembert als Herausgeber der großen Encyclopédie, einem oft erwähnten und fast nie gelesenen Werk, zu dem Flaubert in seinem Wörterbuch der Gemeinplätze dem halbgebildeten Spießer den Rat gibt: »mitleidsvoll darüber lachen und es als Rokoko-Werk abtun«, während er über Diderot lakonisch bemerkt: »immer gefolgt von d’Alembert«.
Diderots Nachruhm ist auf den Aspekt seines Werkes reduziert worden, den er selbst am meisten verachtete: auf den Sammler und Katalogisierer von Ideen und Wissen. Seine eigene Philosophie – so frisch, so human, so befreiend – wird bis heute nur ganz am Rande wahrgenommen. Der fast vergessene Holbach seinerseits war nicht nur einer der wichtigsten Motoren der französischen Aufklärung, sondern auch selbst ein philosophischer Autor, der im Schutz der Anonymität die ersten kompromisslos atheistischen Bücher seit der Antike veröffentlichte. Beide Männer vertraten wahrhaft revolutionäre Ideen, deren Sprengkraft so groß war, dass schon Robespierre & Co. sie mit tiefstem Misstrauen beäugten und schließlich bekämpften.
Auf meinem Gang durch die Straßen von Paris wollte ich die Orte besuchen, die den beiden Denkern wichtig gewesen waren, die Häuser, in denen sie gelebt hatten, v.a. das Stadthaus, in dem Holbach seinen legendären Salon abgehalten hatte und in dem sich über zwanzig Jahre hin die brillantesten Geister Europas versammelt hatten.
Im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte ist die Geschichte von Holbachs Salon zu einer Art Geisterschiff der Philosophiegeschichte geworden. Legenden haben sich daran festgesetzt wie Muscheln an einem kupfernen Schiffsboden, und die wildesten Gerüchte kursieren über die Gruppe. Einige Autoren vertreten noch immer die These, Holbachs Gäste seien in Wirklichkeit Teil einer riesigen Verschwörung gewesen, die unter dem Deckmantel philosophischer Diskussionen die Französische Revolution vorbereitet habe; andere sehen Holbachs Haus als eine heimliche Manufaktur für illegale Bücher, die dort geschrieben und von dort aus zu Tausenden im ganzen Königreich verbreitet wurden, um die öffentliche Ordnung zu gefährden, während viele Zeitgenossen sich einig waren, Holbach und seine Freunde seien verabscheuungswürdige Atheisten und gehörten auf den Scheiterhaufen.
Manchmal ist die historische Realität noch spannender, noch erstaunlicher als die Legende. Es steht außer Zweifel, dass die Freunde in Holbachs Salon revolutionäre Ideen diskutierten und verbreiteten, aber ihr Ziel war weit mehr als eine bloße politische Revolution; in seinem Haus wurden tatsächlich subversive Bücher verfasst, aber sie richteten sich gegen etwas unendlich viel Größeres und Gewichtigeres als die französische Monarchie. Der Umsturz, der hier vorbereitet wurde, zielte auf die Fundamente des abendländischen Denkens.
Holbachs von Mythen umranktes Haus zu finden erwies sich als schwieriger, als ich angenommen hatte. Seine damalige Adresse war in der Rue Royale Saint-Roch, aber der moderne Stadtplan stimmt nicht mit dem historischen überein. Im 19. Jahrhundert, als Baron Haussmann die Stadt einem gigantischen Erneuerungsprogramm unterwarf, wurden ganze Häuserzeilen abgerissen, kleine, gewundene Straßen machten Platz für gerade und breite Boulevards, die ideal waren, um die rebellische Stadtbevölkerung im Falle einer weiteren Revolution mit Artillerie in Schach zu halten. Auch die Namen von Straßen wurden damals geändert, und die neue Rue Saint-Roch ist mit der aus dem 18. Jahrhundert nicht identisch.
»Wenn Sie wissen wollen, wo sich die ursprüngliche Rue Royale Saint-Roch befindet, müssen Sie den Priester der hiesigen Gemeinde fragen«, hatte mir jemand geraten, »er ist ein ausgezeichneter Lokalhistoriker und kennt jedes Haus und jeden Winkel in diesem Viertel.« Der Priester, ein distinguiert aussehender älterer Herr mit zurückgekämmtem weißem Haar, war problemlos zu finden. Er saß auf der Terrasse eines kleinen Cafés im Schatten seiner Kirche, der Église Saint-Roch. Zuvorkommend und höflich erklärte er mir, dass er natürlich von dem Baron Thiry d’Holbach wisse und davon, dass er in der Nachbarschaft gelebt habe. Er habe allerdings nicht die geringste Ahnung, in welcher Straße das gewesen sei, und er könne mir auch sonst nichts über den Baron sagen. Au revoir, monsieur, sagte er zu mir und ließ dabei keinen Zweifel daran, dass er nicht den Wunsch hatte, mich wiederzusehen.
So einfach ließ ich mich nicht entmutigen, und nach einigen vergeblichen Versuchen fand ich tatsächlich die Straße, in der Holbach gelebt und Gäste empfangen hatte. Sie heißt heute Rue des Moulins und liegt keine fünfhundert Meter entfernt von der Terrasse, auf der ich den Priester getroffen hatte. Es war offenkundig, dass der Atheismus des Barons noch nicht vergessen war. Bald fand ich noch etwas heraus: Sowohl Holbach als auch Diderot wurden in der Église Saint-Roch begraben, der Kirche, deren Priester nichts von ihnen wusste.
Die Reaktion des Priesters ist bezeichnend dafür, warum Diderot und Holbach den Kampf um die Nachwelt verloren hatten. Die Philosophie, die sie mit so viel Mut vertraten und für die sie große Risiken eingingen, hatte schon zu ihren Lebzeiten starke Reaktionen hervorgerufen. Beide lehrten, dass die Welt aus nichts weiter bestehe als aus zahllosen Atomen, die auf unendlich komplexe Weise zueinander in Beziehung stünden. Darüber hinaus gebe es nichts: keinen inhärenten Sinn, keinen höheren Zweck des Lebens als das Überleben selbst. Während rationalistische und gemäßigte Aufklärer wie Voltaire glaubten, dass es einen Gott geben müsse, einen großen Uhrmacher, der den Mechanismus der Welt geschaffen habe, waren Holbachs Freunde (oder doch die meisten von ihnen) längst überzeugt, dass die Welt nicht geschaffen worden war, sondern sich durch Zufall und natürliche Auswahl entwickelt hatte, ohne die lenkende Hand einer höheren Intelligenz, eines höheren Wesens.
Während des ancien régime, der Zeit vor der Französischen Revolution, war es Selbstmord, offen solche Meinungen zu vertreten. Gegnern der kirchlichen Lehrmeinung drohten Gefängnis, Galeerendienst und sogar öffentliche Hinrichtung. Für kritische Geister war es wichtig zu wissen, wem man vertrauen konnte, vor wem man sich nicht verstellen musste. Holbachs Salon erlaubte solche Momente der Freiheit. Jeden Donnerstag und Sonntag stand er den Freunden offen und bot nicht nur stimulierende Unterhaltung, sondern auch die Dienste eines ausgezeichneten Kochs und einen Weinkeller, der fast so berühmt war wie Holbachs Privatbibliothek.
In dieser kongenialen Umgebung, in der jeder jeden kannte, konnten Holbachs Freunde ihre Ideen ausprobieren, offen philosophische und wissenschaftliche Fragen erörtern sowie neue Werke lesen und gegenseitig kritisieren. Diderot, der zu Lebzeiten als Gesprächspartner und Diskutant noch berühmter war denn als Autor, stand im Zentrum aller Diskussionen, sehr zur Bewunderung und gelegentlich auch zur Frustration der anderen Gäste. Die gelöste Atmosphäre allerdings konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das eigentliche Ziel dieser Abende nicht persönliche Belustigung war, sondern philosophische und sogar politische Wirkung. Die radikalen Aufklärer wollten die Denkart ihrer Zeit verändern, und dazu mussten sie mit ihren Ideen eine Öffentlichkeit erreichen und beeinflussen. Ihr wichtigstes Werkzeug dabei war Diderots große Encyclopédie, ein riesiges, achtundzwanzig Bände umfassendes Trojanisches Pferd aus Druckerschwärze und Papier, das seine heimliche Ladung an subversiven Ideen und Denkanstößen in die Häuser seiner Leser brachte. Darüber hinaus (hier hat die historische Gerüchtemühle völlig recht) verfassten und übersetzten Autoren in Holbachs Umkreis und ganz besonders der Baron persönlich eine ganze Flut von Pamphleten und Büchern, die heimlich und anonym im Ausland gedruckt und dann in Heringsfässern, unter Strohballen oder im Gepäck sympathisierender Diplomaten wieder ins Land geschmuggelt wurden.
Die evolutionistischen Ideen, die in Holbachs Haus bis tief in die Nächte hinein diskutiert wurden, hatten enorme philosophische Konsequenzen. Ohne einen Schöpfer, der seinen Kreaturen in der Bibel seinen Willen kundgetan hatte, mussten Kategorien wie gut und böse neu überdacht werden. Es gab plötzlich keine Sünde mehr, keine unsterbliche Seele, keine Belohnung und keine Strafe in einem Leben nach dem Tode – was blieb, waren nur die Suche nach Genuss und die Furcht vor Schmerz. Diderot und seine Freunde gingen jedoch noch weiter: Während die Philosophie den Menschen lange als Vernunftwesen betrachtet hatte und die Vernunft selbst, als dem Göttlichen verwandt, als höchste Qualität des Menschen, argumentierten die radikalen Aufklärer, dass das menschliche Wesen ganz anderen Prinzipien gehorche. Die Natur drücke sich durch starke und blinde Leidenschaften aus, die eigentlichen Antriebskräfte des Daseins. Sie könnten mittels Vernunft vielleicht gelenkt werden, so wie Segel ein Schiff durch die unwiderstehlichen Winde und Strömungen eines Ozeans steuern, aber die Vernunft stehe immer an zweiter Stelle, sei schwächer als die Passion.
Religiöse Kritiker rangen entsetzt die Hände. All dies sei nur eine Rechtfertigung für Laster und Ausschweifung, schrieben sie, denn ohne Gottes Gesetz gebe es kein Gutes in der Welt, ohne göttliche Vernunft habe das Leben keinerlei Sinn. Auch in Holbachs Salon wurden diese Einwände immer wieder erhoben und beantwortet: Es gibt zwar keinen transzendentalen Maßstab für das Gute und das Wahre, argumentierten Holbach und Diderot, aber es ist meistens deutlich, was Menschen guttut und was ihnen schadet, das allein reicht als moralisches Prinzip. Diese Idee hatte revolutionäre Folgen, denn wenn jeder Mensch das Recht hat, sein Glück zu schaffen, dann ist niemand dazu berechtigt, Macht über andere auszuüben, und einzig das Prinzip der Solidarität macht ein konstruktives Zusammenleben möglich.
Anders, als die Kritiker immer wieder warnten, führten die Lehren der radikalen Aufklärer nicht zu wilden Orgien, ungezügelter Gier und haltlosem Hedonismus, sondern zu einer Gesellschaft, die von gegenseitigem Respekt getragen war, ohne Meister und Sklaven, Unterdrücker und Unterdrückte – eine gefährliche Vision für die Mächtigen des ancien régime. Zwar akzeptierten auch Diderot und Holbach, dass starke Leidenschaften durch Regeln und Selbstbeherrschung in Schach gehalten werden müssten, dass ein Teil des eigenen Genusses den anderen geopfert werden müsse und dass es notwendig sei, ein gewisses Maß an Leiden und Schmerzen zu ertragen, aber im Gegensatz zur Kirchenlehre war dieses Leiden für sie kein Wert an sich. Ein Christ konnte sein Leiden begrüßen, weil das schon jetzt Erlittene das ewige Leben glücklicher machen würde, aber die radikalen Aufklärer lehnten diese religiöse Liebe zum Leiden ab. Die Entfaltung der natürlichen Lebenskraft in einem sinnlosen Universum bedeutete, dass ein gutes Leben nur in einer humanen Gesellschaft möglich war. Ihre Vision hat bis heute nichts von ihrer Relevanz verloren.
Zu ihren Lebzeiten wurden Holbach und Diderot in gleichem Maße gefeiert und verteufelt, waren Fixsterne am intellektuellen Himmel, sogar in den Augen derjenigen, die sie am liebsten auf den Scheiterhaufen gebracht hätten. Wenn man aber heute in einem Reiseführer nachsieht oder historisch beschlagene Kenner fragt, wo in Paris man die Gräber großer Aufklärungsphilosophen finden kann, dann schickt einen niemand zur Église Saint-Roch, der letzten Ruhestätte der beiden radikalen Freunde. Stattdessen führt der angegebene Weg direkt zur majestätischen Kuppel des Panthéon, unweit des Jardin du Luxembourg im Universitätsviertel. Hier, in der Krypta der ehemaligen Kirche, die heute den »großen Männern« Frankreichs gewidmet ist, stehen die Sarkophage von Voltaire (überführt 1791) und Jean-Jacques Rousseau (1794), zwei der allerersten Helden der Nation, die mit großem Pomp hierherverlegt wurden, den künftigen Generationen als Beispiel und Belehrung. Touristen aus aller Herren Länder lassen sich vor den beiden Sarkophagen fotografieren. Oben, im Kirchenschiff, findet sich ein Monument, das Diderot gewidmet ist. Es zeigt ihn als Herausgeber der Encyclopédie und ist erst 1925 hier aufgestellt worden.
Das Panthéon ist Stein gewordene offizielle Geschichte, eine verführerisch plausible Geschichte von Genie und Heldentum. Gerade deswegen ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Struktur unserer Gegenwart nicht so gewachsen ist, wie sie wachsen musste, einfach und organisch, sondern dass sie das Resultat zahlloser Entscheidungen und Gewalttaten ist, die immer wieder darauf abzielten, jeden einzelnen Moment der Gegenwart den Träumen und Albträumen der Mächtigen zu unterwerfen. Wer sich dieser Kolonisierung des Gedächtnisses nicht unterordnen will, tut gut daran, danach zu fragen, warum gerade Voltaire und Rousseau für die Revolutionäre so unwiderstehlich waren, dass sie als Gründerväter der grands hommes von Frankreich fungieren (Marie Curie, die erste grande femme, wurde übrigens erst 1995 hier aufgenommen), während Diderot und Holbach in unbekannten Gräbern liegen und verleugnet werden.
Eine mögliche Antwort ist, das Voltaire und Rousseau einfach die besseren Philosophen waren und diese Ehre mehr verdienen. Schließlich war Voltaire der große Verfechter der Menschenrechte und anderer aufgeklärter Ideale, die Verkörperung des Kampfes zwischen Vernunft und Aberglauben, und schließlich wird Rousseau noch heute als die Stimme der menschlichen Freiheit und der radikalen persönlichen Ehrlichkeit verehrt, als ein weiser Freund, der die ganze Gesellschaft in die Freiheit führen kann, als Pionier des Unbewussten und unermüdlicher Erforscher der emotionalen Untiefen unserer Psyche.
Die inoffizielle Version der Geschichte stellt sich anders dar. Voltaire war zweifellos die einflussreichste und bekannteste Persönlichkeit der Aufklärung, aber seine philosophischen Gedanken bestehen aus nicht viel mehr als gesundem Menschenverstand, mit viel Witz auf Hochglanz poliert, während seine politischen Kampagnen und seine Positionierung ihn als einen gerissenen, mit allen Wassern gewaschenen Politprofi zeigen, dem letztendlich nichts wichtiger war als die eigene Reputation und das eigene beträchtliche Vermögen. Rousseau war der weitaus wichtigere und originellere Denker, gleichzeitig aber auch eine noch wesentlich ambivalentere Figur, ein selbstbesessener und sich selbst zerfleischender Geist und ein zwanghafter Lügner, was zwar für einen Biographen faszinierend ist, aber alles andere als eine gute Ausgangsposition fürs Philosophieren.
Rousseau und Diderot waren einmal enge persönliche Freunde gewesen, aber sie zerstritten sich öffentlich und irreparabel, nicht nur wegen Rousseaus Verfolgungswahn, sondern weil er vor allem begann, die radikale Aufklärung zu hassen, für die Diderot stand: ein Leben frei von der Angst vor dem Unbekannten und vom Ekel vor sich selbst, ein klarsichtiges und gelassenes Erkennen unseres Platzes in der Natur als hochintelligente, empathisch veranlagte Primaten.
Aus persönlichen und biographischen Gründen war es Rousseau unmöglich, seinen Selbstekel und seine Angst vor der eigenen Lust zu überwinden, und so wurde er zum philosophischen Erzfeind all derer, die er einmal geliebt hatte. Ein Mann, der ihm charakterlich wohl ähnlich war, der britische Historiker und Kunsttheoretiker John Ruskin, hat den Ausdruck pathetic fallacy geprägt, den Fehler des Anthropomorphismus, der uns instinktiv dazu verleitet, toten Objekten Gefühle und Motive anzudichten: tanzende Blätter, Bücher, die darauf warten, gelesen zu werden, die Natur, die abwechselnd freundlich oder grausam ist. Rousseaus pathetic fallacy hatte kosmisches Format, denn er ging instinktiv davon aus, dass die ganze Welt gegen ihn sei und ihn vernichten wolle, und aus dieser Furcht heraus formulierte er eine Philosophie, die auf den ersten Blick aussieht wie eine Verteidigung der menschlichen Freiheit und Würde, auf den zweiten Blick aber ein zutiefst pessimistisches Menschenbild und die Fundamente einer repressiven und äußerst brutalen Gesellschaftsordnung erkennen lässt. Auf Schuldgefühlen und Paranoia basierend, ebnete diese Philosophie der Unterdrückung im Namen hehrer Ideale den Weg für die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. Kein Wunder also, dass Rousseau zum Idol von Maximilien Robespierre wurde, dem schrecklichsten aller Revolutionsführer, dessen politisches Lieblingsinstrument die Guillotine war.
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Trotz ihrer Marginalisierung haben die Denker der radikalen Aufklärung die wichtigsten Ideen der Moderne nachhaltig mitgeformt. Ihre intellektuelle Klarheit und ihr moralischer Mut sind noch heute genauso wichtig wie damals, und ihre scharfe Analyse verborgener religiöser Strukturen in unserem Denken und unserem Alltag ist heute vielleicht noch wichtiger als vor zweihundert Jahren.
Es war Rousseau und nicht Diderot, der den Kampf um die Nachwelt gewonnen hat, eine Tatsache, die ihm nicht nur einen Ehrenplatz im Panthéon sicherte, sondern die es auch mit sich brachte, dass seine Gedanken die wesentlich einflussreicheren geworden sind, dass seine persönlichen und intellektuellen Widersprüchlichkeiten bis heute nachwirken, weil sie sich dazu eignen, die Widersprüche unserer eigenen Kultur philosophisch zu verbrämen.
Rousseau hatte die Religion für sich wiederentdeckt, wenn auch eine Religion, die durch keine Institution repräsentiert wurde. Er glaube an ein Leben nach dem Tode, schrieb er, weil dieses Leben einfach zu schrecklich sei und er auf etwas anderes hoffen können müsse – ein klarer Fall davon, dass auch und vielleicht gerade bei großen Philosophen der Wunsch oft Vater des Gedankens ist. Der Paranoiker Rousseau war ein zutiefst religiöser Mensch, der die Zivilisation ablehnte, und seine Philosophie reflektierte diese Tatsache, indem sie christliche Konzepte aus ihrem religiösen Kontext herauslöste und als philosophische Gedanken neu verwendete. Im 19. Jahrhundert, als ganze Gesellschaften versuchten, mit der Industrialisierung, dem Kapitalismus und dem Niedergang des religiösen Glaubens zurechtzukommen, wurde Rousseaus philosophisches Angebot dankbar angenommen, denn er machte es möglich, den christlichen Instinkten unserer Kultur zu folgen, ohne sich eines religiösen Vokabulars zu bedienen.
Diese Tendenz setzt sich bis heute fort. Unsere öffentlichen Debatten über moralische oder politische Fragen finden längst nicht mehr in einem religiösen Kontext statt, aber die neue Terminologie dient auch dazu, den tiefen Einfluss der vielen Konzepten zugrunde liegenden theologischen Ideen zu verschleiern. Unsere Wortwahl hat sich geändert. Wir sprechen nicht mehr von der Seele, sondern von der Psyche, wir haben die Erbsünde eingetauscht gegen Schuldgefühle unseren Kindern oder Eltern gegenüber, aber der Nährboden dieser Ideen ist unverändert, wir sehen die Welt noch immer mit den Augen von Gläubigen, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.
Wenn wir in die Zukunft blicken, dann fürchten wir nach wie vor die Apokalypse, erwarten wir instinktiv immer noch das Ende der Geschichte im Paradies oder in ewiger Verdammnis. Neben der Erlösungsvision eines perfekten Marktes, einer vollkommenen sozialistischen Gesellschaft, einer Sciencefiction-Zukunft ohne Kriege oder Energieprobleme droht das Angstszenario eines überhitzten Planeten, das Schreckensbild eines nuklearen dritten Weltkriegs, von zusammenbrechenden Ökosystemen, zerstörerischen Asteroiden auf Kollisionskurs mit der Erde oder einem letzten, apokalyptischen Krieg der Zivilisationen. Die Möglichkeit, die Menschheit könnte sich auch noch einige weitere Jahrtausende irgendwie durchmogeln (die bei weitem wahrscheinlichste), sie könnte einige Katastrophen vermeiden und andere erleiden, am Ende aber weder dem Himmel noch der Hölle wesentlich näher sein als heute, entspricht unseren kulturellen Instinkten deutlich weniger. Unsere theologisch konditionierten Hirne denken lieber in Bildern wie Erlösung und Verdammnis, und damit auch Belohnung und Strafe, als mit der Erwartung einer Zukunft voller Zufälle und Zwänge, unvorhersehbar, sinnlos, ohne Ziel.
Diese kulturellen Instinkte sind so tief verwurzelt, dass Rousseaus totalitäre, aus seinem kochenden Zivilisationshass geborene Utopie natürlicher erscheinen kann als Holbachs utilitaristische Bescheidenheit. Menschen, die an Utopien glauben, sind letztendlich immer religiös, und so überrascht es wenig, dass Rousseaus Zukunftsvisionen nicht nur Robespierre beeinflussten, sondern auch Lenin und den kambodschanischen Diktator Pol Pot, der Rousseaus Werke während der 1950er Jahre in Paris aufmerksam und mit Begeisterung gelesen hatte und der später den wohl grausamsten Versuch unternahm, Rousseaus Gesellschaft unverdorbener und tugendhafter Landbewohner fern von allen Einflüssen einer dekadenten Zivilisation zu verwirklichen, indem er versuchte, sein eigenes Land in die Eisenzeit zurückzumorden.
Nicht nur unsere politischen Utopien und unsere Zukunftserwartungen folgen in ihrer Struktur einer noch immer religiösen Weltsicht, auch unsere Beziehung zu erotischem Verlangen und zu Leidenschaft trägt noch immer den Stempel eines Tabus, wie jeder Stadtplan zeigt. Die Rotlichtviertel unserer Städte bezeugen noch immer unseren sehr christlichen Ekel vor dem eigenen Körper. Sie sind an der historischen Peripherie angesiedelt (heute haben die Städte sie meist überholt und sie weiter ins Zentrum gerückt), sie wirken schmierig und deprimierend, vulgär und ohne alle Schönheit. Sie bestehen, um eine beschämende Lust zu befriedigen, ein schmutziges Geheimnis, das mit schlechtem Gewissen versteckt werden muss, verbannt aus dem anständigen Leben in eine Welt aus Dreck und Neonlicht.
Sex an sich ist schmutzig. Frauen, die gewillt sind, mit Männern zu schlafen, werden noch immer häufig und gerne als »Schlampen«, »Huren« oder Schlimmeres bezeichnet. Das Zelebrieren der physischen Schönheit, wie es in der Antike stattgefunden hat, die erotischen Ornamente und Amulette aus dem täglichen Leben der Römer oder von indischen Tempelfassaden sind unserer nachchristlichen Mentalität zutiefst suspekt. Wir schämen uns noch immer für uns selbst und haben diese Scham in unsere Popkultur integriert: In Hollywoods Blockbustern, der am stärksten präsenten Form des Geschichtenerzählens in unserer Kultur, gilt der Anblick eines nackten Körpers auch außerhalb eines sexuellen Kontexts als obszön und anstößig, während eine pornographische, detailverliebte Darstellung von extremer Folter und grausamen Morden augenscheinlich weniger obszön ist.
Von der scheinbar ultrasäkularen Welt der schmierigen Verführung zu den flammenden Predigten, die von der Kanzel herab alle Sinnlichkeit mit Höllenfeuer bedrohen, ist es nur ein kurzer Weg, und auch unsere Selbstwahrnehmung hat sich noch nicht von dieser Logik befreit. Man könnte meinen, dass die Werbebilder, mit denen wir pausenlos bombardiert werden und die fast ausnahmslos junge, schlanke, reiche und ungeheuer glückliche Menschen zeigen, mehr mit der sinnlichen Philosophie eines Epikur gemeinsam haben als mit der lustfeindlichen Lehre der Ecclesia, aber tatsächlich macht ihre Unerreichbarkeit diese Bilder zu religiösen Ikonen.
Die Gläubigen des westlichen Evangeliums der kapitalistischen Freuden hassen ihre Körper fast genauso wie die Nonnen und Mönche von einst. Fromme Christen fasteten, um ihren Körper zu kasteien, versagten sich alltägliche Genüsse und taten alles, um ihr Verlangen zu ersticken und ihren Selbstrespekt zu zerstören – sie hungerten ihren sterblichen Körper aus, um im eigentlichen, ewigen Leben umso glücklicher zu sein. Ihre modernen, säkularen Nachfolger fasten nicht mehr, um ihre unsterbliche Seele zu retten – sie halten Diät, versagen sich alltägliche Genüsse, jagen dem Idealbild eines jugendlichen Körpers nach, den sie nie mehr haben werden, fühlen sich dauernd schuldig dafür, dass sie so alt sind, zu schlaff, nicht gut in Form, nicht so, wie sie sein sollten. Die Ikonen unserer Tage zeigen durchtrainierte und per Computer optimierte Modelle anstelle von Heiligen, aber ihre Funktion ist dieselbe geblieben: Sie unterminieren den Wert unseres eigenen Lebens, wecken Schuldgefühle, demütigen uns und fordern uns gleichzeitig auf, unser Leben einem unmöglichen Ideal zu widmen, einer lebensfernen Vision von ewigem Glück und perfekter Gesundheit, von sonnengebräunter Jugend und inszenierter Eleganz, von Coolness und Reichtum statt kirchlichem Segen.
Das Christentum ist die Religion des leidenden Gottes. Christus wurde Fleisch und musste sterben, zu Tode gefoltert werden, damit Gott, der Schöpfer der Welt, seinen eigenen Kreaturen die Vergebung schenken konnte. Holbach und Diderot haben die Perversion dieses Arguments eindrucksvoll analysiert, aber sogar nichtreligiöse Zeitgenossen glauben noch immer an den positiven, transformativen Wert des Leidens. Helden aus der Literatur und aus Hollywood verkörpern den romantischen Typ des lone wolf oder des einsamen, leidenden Genies (eine literarische Kunstfigur, die auf Rousseaus Bekenntnisse zurückgeht), wir alle lieben Geschichten, in denen die Protagonisten von der Schwere ihres Schicksals fast erdrückt werden, bevor sie gestärkt und geläutert und triumphierend wiederauferstehen. Erich Auerbach hat darauf hingewiesen, dass es solche Geschichten in vielen, nicht aber in allen Kulturen gibt. Im alten Griechenland wurde dem Leiden keinerlei moralischer Wert beigemessen, ein hartes Schicksal machte niemanden zum besseren Menschen. Nach zwanzig Jahren Irrfahrt durch das Mittelmeer hat Odysseus vielerlei Gefahren überlebt, ist dadurch aber kein tieferer Mensch oder größerer König geworden. Er ist älter, nicht aber weiser. Durch die Böswilligkeit der Götter hat er ganz einfach Zeit verloren, die er glücklich zuhause hätte verbringen können.
Diejenigen, die aufgegeben haben, die es sich nicht mehr zutrauen, die im Grunde religiösen Ideale unserer Gesellschaft jemals zu erreichen, lassen mit der Selbstkasteiung oft genug auch die Selbstbeherrschung fallen. Die einzige Alternative zum unmöglichen Ideal ist dann gar kein Ideal, eine existenzielle Leere; Zeit, die vertrieben werden muss. Die radikalen Aufklärer versuchten, eine Gesellschaft auf Erziehung und Solidarität zu gründen, auf Maßnahmen, die nicht ideologisch, sondern nach ihren beobachtbaren Effekten beurteilt werden. In unserer Gesellschaft aber ist die theologische Unterfütterung unseres Denkens noch immer dominant. Der Markt hat längst die Vorsehung ersetzt, und die einzige Alternative zum Evangelium der Designerlabel und der alltäglichen Schuld ist der maximale Konsum, die Befriedigung aller trivialen Wünsche hier und jetzt, die Lehre von Popcorn XXXL und elastischem Hosenbund.
Ohne es zu merken, werden wir noch immer von religiösen Instinkten kontrolliert, von theologischen Konzepten zutiefst beeinflusst und verwirrt. In Debatten über Mikrobiologie, Reproduktion und Gentechnologie ist das besonders deutlich. Argumente, die mahnen, man dürfe die Integrität des Menschen nicht durch wissenschaftliche Manipulationen zerstören, sind nur dann verständlich, wenn man diesem Menschenbild die Idee eines Geschöpfes zugrunde legt, einer göttlichen Kreatur mit unsterblicher Seele, die nicht angetastet werden darf. Die Stammzellenforschung führt noch immer zu hitzigen Debatten, und der einzig wirklich stichhaltige Grund, um aus Prinzip gegen Abtreibungen zu sein, ist die Vorstellung, dass sogar ein Klumpen von Zellen ohne Spezialisierung in den ersten Wochen der Schwangerschaft bereits Sitz einer menschlichen Seele ist, eine Person im Auge Gottes.
Auch unser Nachdenken über das Lebensende steht noch immer im Schatten von religiösen Denkmustern. Eine hochtechnologisch ausgerüstete Medizin kann inzwischen Komapatienten über Jahrzehnte am Leben halten (wenn das denn Leben sein soll) und Lebensprozesse weit über die Grenzen der Lebensqualität hinaus verlängern. Es ist ein Erfolg der Medizin, dass wir heute lang genug leben, um von Alterskrankheiten befallen zu werden, aber unsere Gesellschaft hat es noch immer nicht geschafft, die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, gesetzlich befriedigend zu regeln und zu achten. Auch Ärzte werden noch immer dazu angehalten, Leben in jedem Falle zu erhalten und zu verlängern.
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Das intellektuelle Erbe von Romantik und Idealismus lebt weiter, und sein Grundprinzip ist nicht der säkulare, wissenschaftliche Geist, über den so viel geschrieben worden ist, sondern ein im Wesentlichen christliches Konzept, das lediglich seiner äußerlichen Zeichen und Rituale entledigt worden ist. Dies ist auch der Grund, warum die Schriften der radikalen Autoren, die sich in Holbachs Salon trafen, kaum etwas von ihrer Frische und ihrer schockierenden Klarheit eingebüßt haben und warum es noch immer wichtig ist, ihre Ideen zu diskutieren. Unsere Gesellschaften stellen sich noch immer dieselben Fragen, wir haben noch immer nicht akzeptiert, was sie forderten: dass jede philosophische und ethische Debatte von empirischer Beobachtung ausgehen muss.
Das moralische Denken der radikalen Aufklärer gründet sich weder auf göttliches Recht noch auf das, was Philosophen schon damals als Naturrecht bezeichneten. Stattdessen ging es von der Annahme aus, dass unser Festhalten an einem Sinn des Lebens nichts anderes ist als Narzissmus, eine Selbstverliebtheit, die sich weigert anzuerkennen, dass wir auch metaphysisch nicht der Mittelpunkt des Universums sind. Die Vorstellung, hinter unserem Leben müsse eine höhere Intelligenz stehen, denn sonst seien unsere Existenz und unser Leiden einfach sinnlos, wurde von den Freunden um Holbach auf den Kopf gestellt: Gerade aus der Sinnlosigkeit der Existenz von homo sapiens lässt sich eine Ethik gewinnen. Nur so können unsere Flucht vor Schmerzen und unsere Suche nach Genuss zum Anfang einer gemeinsamen Geschichte werden, denn sie führen zu der Einsicht, dass kein Mensch eine Insel ist, dass unsere Empathie ebenso stark ist wie unser Überlebenstrieb, dass wir nur durch Solidarität bestehen und sozial zielführende Lebensweisen finden können.
Zunächst erschien es paradox, dass der Ausgangspunkt für eine Ethik der Empathie und Solidarität ausgerechnet das erotische Verlangen sein sollte und nicht Kants poetischer Satz »der gestirnte Himmel über mir, das moralische Gesetz in mir«, weil es nämlich ursprünglich kein solches moralisches Gesetz in uns gibt. Eros aber kann zwar ein egoistischer kleiner Gott sein, aber die Opfer, die er mit seinen Pfeilen trifft, brauchen das Objekt ihrer Begierde und werden selbst begehrt.
Begehren führt oft nicht zum ewigen Glück (»und wenn sie nicht gestorben sind«), sondern zu Verlust, Versagen und Enttäuschung. Wir erfahren unsere Grenzen und unsere Sterblichkeit erst durch das enttäuschte Verlangen, unser Verständnis wird dunkler und tiefer, von Tragödie gezeichnet, wir erkennen unser eigenes Leiden in anderen, die Empathie erwacht. Dadurch können wir uns für die Solidarität öffnen, wir brauchen Freunde und Helfer, bauen Gemeinschaften, erzählen Geschichten, um den Sinn für die Welt zu retten, ihn hineinzuerzählen in unser chaotisches Erleben. Wir erkennen, dass wir alle vor unserer persönlichen Auslöschung stehen, und finden Trost in Freundschaft und Sex, in Kunst und, wie Richard Rorty gesagt hätte, in Ironie.
Diese Prämisse ist es, die unsere postchristliche Welt transformiert und humaner macht. Sie beruht nicht auf Rousseaus Ekel und Schuld und der daraus erwachsenden Hoffnung auf ein besseres Jenseits, sondern auf erotischem Begehren, Empathie und Solidarität. Aus dieser Einsicht entsteht das, was schon Epikur im antiken Griechenland lehrte: der ständige Versuch, die eigenen Leidenschaften zu verfeinern und zu lenken, anstatt sie zu verleugnen, das eigene Glück in dieser Welt zu finden, der eigenen Umwelt so wenig wie möglich zu schaden und so viel Gutes wie möglich zu schaffen.
Diderot und Holbach scheinen die Schlacht um die Nachwelt verloren zu haben, aber der Krieg, in dem sie kämpften, tobt noch immer, ein Krieg um die Träume unserer Zivilisation, die so viel großzügiger, luzider und humaner sein könnte, als sie es heute ist. Die Werke der radikalen Aufklärung sind dabei Inspiration und Warnung zugleich. Sie zeigen, wie viel wir für die Menschlichkeit gewonnen und verwirklicht haben, aber auch, wie weit der Weg noch ist und wie groß die Gefahr, diese Errungenschaften wieder zu verlieren – nicht nur an die Träume anderer, weniger humaner Gesellschaften, sondern auch an unsere eigene Faulheit, an Gleichgültigkeit und intellektuelle Wirrheit.
Seit Jahrhunderten zieht Paris junge Menschen mit Talent und Ehrgeiz an. Auch diese Geschichte spielt hauptsächlich in den Straßen dieser Stadt, in den Parks, den Cafés, den Salons und den Schlafzimmern und manchmal auch auf Landgütern, die weniger als eine Tagesreise entfernt lagen, selten auch auf Reisen nach England, Italien oder sogar Russland. Trotz ihrer großen, buchstäblichen wie auch metaphorischen Reichweite haben die Ereignisse und Ideen, die diesen großen Moment in der Geschichte des westlichen Denkens bestimmten, ein klares Zentrum und sogar eine Adresse mit Hausnummer: Mitten im Zentrum der Stadt des Lichts, in der heutigen Rue des Moulins Nummer 10 (damals Rue Royale Saint-Roch), nur einen Steinwurf entfernt vom Louvre und von den eleganten Säulengängen des Jardin Royal, steht ein Haus aus dem 17. Jahrhundert, das Haus, in dem Holbach seinen Salon hatte. Die gesamte intellektuelle und wissenschaftliche Elite seiner Zeit kam durch dieses Tor, die größten und provokantesten Geister des Jahrhunderts, allen voran Denis Diderot, aber auch Jean-Jacques Rousseau, David Hume und viele mehr. Einer der Gäste, der britische Historiker Edward Gibbon, verglich die prächtigen Mahlzeiten und besonders das immer angeregte Tischgespräch mit denen der Philosophen der Antike, und tatsächlich gäbe es seit den Symposien der griechischen Philosophen wohl kaum einen Ort, an den man sich lieber von einer Zeitmaschine transportieren lassen würde, als eben in dieses Haus in den 1760er Jahren.
Das Gebäude strahlt ruhiges Selbstbewusstsein und Bequemlichkeit aus, ohne den Reichtum seiner Bewohner durch Protz zur Schau stellen zu müssen. In dem straßenseitigen Raum im ersten Stock wurden die Abendessen abgehalten; er ist nicht übermäßig dimensioniert, aber trotzdem groß genug, um ein gutes Dutzend Gäste um einen zentralen Tisch zu versammeln und noch genug Platz zu haben, um der Dienerschaft das Auf- und Abräumen und das Nachschenken der sich immer wieder leerenden Gläser zu ermöglichen. Die großen Fenster lassen viel Licht herein und müssen dem Raume damals eine Atmosphäre von entspannter Eleganz gegeben haben.
Schon im 18. Jahrhundert stand dieser Stadtteil ganz im Zeichen von Luxus und Design. Die berühmte Rue Saint-Honoré, nur wenige Schritte von der Schwelle des Barons entfernt, versammelte die besten Schneider und Couturiers, Perückenmacher, Friseure, Schuster, Handschuhmacher und so weiter und machte diese Gegend zu einem Zentrum der gehobenen Gesellschaft von Paris und damit für die gesamte westliche Welt.
Es war der riesige, immer noch nicht fertiggestellte und zur Hälfte leerstehende Louvre, der alle diese Luxusgeschäfte anzog wie ein Magnet. Wer bei Hofe erscheinen wollte, brauchte neue, prächtige Kleidung und war gezwungen, den dauernd wechselnden Moden zu folgen. Schon seit fast zwei Generationen führte der Palast ein monumentales Schattendasein im Zentrum der Hauptstadt. Als Kind vom Chaos der Frondes-Aufstände traumatisiert, misstraute der Sonnenkönig dem anarchisch brodelnden Leben in der Stadt und hatte sich mit seinem Hofstaat auf eine andere Baustelle zurückgezogen, nach Versailles, ein monströses Projekt mitten im Sumpf, dessen Trockenlegung und Umwandlung in den spektakulärsten Park der Welt Hunderte von Arbeitern das Leben kostete, endlose Millionen aus den Schatullen des Reiches verschlang und das Land selbst an den Rand des Ruins brachte.
Der Hofstaat kam nur selten zum eigentlichen Königspalast, der den größten Teil des Jahres leerstand. In den Zeremoniensälen hallten ab und zu die Schritte eines Dieners wider, der gekommen war, um die Fenster für einige Stunden zu öffnen oder das endlose Parkett mit Bienenwachs zu polieren. Die prächtig geschnitzten und vergoldeten Möbel waren durch schlichte, weiße Überwürfe geschützt, die leuchtenden Farben und Formen der Stoffbezüge (oft aus den Hofkleidern der letzten Saison gefertigt) waren unsichtbar. Im Erdgeschoss aber und in den großen Höfen füllten zahllose Werkstätten und Handwerker den Palast mit lärmendem Leben. Doch auch ohne Hofstaat war die Rue Saint-Honoré das Zentrum der internationalen Modewelt – eine Tatsache, an der sich bis heute nichts geändert hat, nur dass inzwischen italienische Designerlabels die Namen altehrwürdiger französischer Häuser verdrängt haben. Holbach hatte diesen Stadtteil weder wegen seiner Modegeschäfte noch wegen der Nähe zum Hof gewählt: Er interessierte sich nicht für Kleidung und fühlte sich mit zunehmendem Alter immer mehr zum Republikanismus hingezogen. Trotzdem oder gerade deswegen war diese Wahl charakteristisch für ihn. Das Haus lag bequem, mitten im Zentrum des Geschehens, aber trotzdem ruhig in einer Seitenstraße und nur wenige Schritte entfernt von Buchhändlern, Kunsthändlern und literarischen Salons. Mehrere seiner wohlhabenderen Freunde lebten in direkter Nachbarschaft, und das kleine Universum des schattigen Jardin Royal, das Diderot in seinem Roman Rameaus Neffe so liebevoll beschrieben hat, lag nur fünf Gehminuten von seiner Haustür entfernt und bot Cafés, Schachtische, Glücksspiele und das älteste Spiel der Welt, angeboten von Huren, die grell geschminkt und mit tiefausgeschnittenen Dekolletés an den Herren mit ihren gepuderten Perücken vorbeigingen, ein Theater der Eitelkeiten, das der Baron, augenscheinlich ein mustergültiger Ehemann, aus sicherer Entfernung beobachtete.
Kaum einen Kilometer Richtung Osten, vorbei an der graziösen Place des Victoires, einem kreisrunden Platz, der von einer Statue von Ludwig XIV. in seiner Mitte dominiert wird, lag ein weiterer Stadtteil, der ganz den fleischlichen Genüssen gewidmet war, der überdachte Markt von Les Halles, der Bauch der Stadt mit seinen zahllosen Gemüsehändlern und Schlachterjungen, Blumenverkäufern, Fischhändlern, Gewürzständen und Wurstfabrikanten, ein ständiges Kommen und Gehen von Karren, Leiterwagen und Trägern, deren menschliche Form fast unter ihrer Last verschwand, ein Lärm aus Marktschreien und Warnrufen, ein wimmelnder Haufen von Menschen und Waren, der im Sommer zum Himmel stank, die unerschöpfliche Quelle für die Zutaten der Gerichte, die zweimal pro Woche bei dem berühmten Abendessen des Barons serviert wurden.
Von hier bis zur großartigen Place Vendôme war es nur ein kurzer Fußweg, und trotzdem trennten Welten diese beiden Orte voneinander. Von Immobilienspekulanten schnell hochgezogen, hatten die großartigen Gebäude ihre Bauherren ruiniert und jahrelang wie die Fassaden eines gigantischen Theaterstücks leergestanden, bevor sie fertiggebaut werden konnten. Dieser Ort roch genauso nach Geld, wie Les Halles an einem warmen Augusttag nach Hering stank, und hinter seinen protzigen Fassaden lebten die neuen Reichen der Stadt, Menschen, die das diskrete Haus in der Rue Royale Saint-Roch keines Blickes gewürdigt hätten. Baron Holbach war das nur recht. Denn die Stars seines Salons waren keine Finanziers, sondern Schriftsteller, Wissenschaftler und Philosophen.
Obwohl auch Holbachs Freund, der Philosoph Claude-Adrien Helvétius, gleich um die Ecke in der Rue Saint-Anne einen philosophischen Salon unterhielt, waren Salons doch eigentlich Frauensache, die einzige Möglichkeit für eine gutsituierte und intelligente Frau, aktiv am kulturellen und intellektuellen Leben teilzunehmen. Madame Geoffrin war bei weitem die Berühmteste von ihnen. Sie hielt Hof in der Rue Saint-Honoré, wo auch die berühmte Schriftstellerin und Gesellschaftsdame Madame de Tencin über viele Jahrzehnte einen berühmten Salon gehabt hatte, einen Fixpunkt der literarischen Welt der Hauptstadt. »Dass Gott ein Mann ist, kann man daran sehen, wie er uns Frauen behandelt«, seufzte sie einmal, aber auch diese göttliche Vernachlässigung hinderte sie nicht daran, das Leben voll auszukosten. 1717 hatte sie einen illegitimen Sohn zur Welt gebracht und den Neugeborenen umgehend auf den Stufen der Kirche Jean-le-Rond deponiert. Das Kind wurde adoptiert, nannte sich später Jean d’Alembert und wurde nicht nur zu einem der brillantesten Mathematiker seiner Generation, sondern auch, neben Diderot, zum Herausgeber der großen Encyclopédie. Natürlich gab es noch weitere literarische Salons mit klugen und charmanten Gastgeberinnen wie Madame Necker, Madame Deffand oder Julie Lespinasse, der Lebensgefährtin von d’Alembert, der dafür sorgte, dass ein steter Strom von Literaten und Wissenschaftlern das Haus besuchte, auch wenn diese bald wesentlich mehr Interesse für die liebenswürdige Gastgeberin zeigten als für intellektuelle Diskussionen.
Salons erfüllten eine wichtige Funktion im Paris des 18. Jahrhunderts. Natürlich fand hier dasselbe Networking statt, das sich unter Literaten, Künstlern und solchen, die es werden wollen, ungebrochen bis heute fortsetzt, eine endlose Prozession von neuen Gesichtern, die erst gerade angekommen sind und hoffen, sich rasch einen Namen zu machen und nützliche Verbindungen zu knüpfen, und alten, etablierten Namen, die ihre endlich gewonnene Macht und Reputation auskosten wollen.
Aber die Salons dienten zu weit mehr, als nur die Eitelkeit ihrer Gäste zu befriedigen. Das intellektuelle Leben wurde von einer strikten Zensur überwacht, und es war nicht einfach, Orte zu finden, die einen freien Ideenaustausch ermöglichten. Kein Buch und kein Pamphlet konnten ohne Lizenz oder zumindest inoffizielle Duldung der staatlichen Zensoren gedruckt werden, und schwere Strafen bedrohten jede abweichende Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit. Wenn ein Autor Glück hatte, wurde sein Buch nur vom Henker der Stadt auf dem Rathausplatz öffentlich zerrissen und verbrannt; wenn er weniger glimpflich davonkam, musste er für einige Wochen oder Monate in die Bastille und danach vielleicht ins Exil, und wenn er die Richter wirklich gegen sich aufgebracht hatte, drohte ihm eine Verurteilung zur Zwangsarbeit auf den königlichen Galeerenschiffen im Mittelmeer, von denen nur die wenigsten lebend entlassen wurden, und wenn das Glück ihn völlig verlassen hatte, drohten öffentliche Folter und Hinrichtung. Diese Strafen stellten keine lediglich theoretische Bedrohung dar: Sie wurden zu der Zeit, da Holbach seinen Salon hielt, immer wieder vollstreckt.
Ideen brauchen Austausch, brauchen Diskussionen und Gesellschaft, um sich weiterzuentwickeln, aber öffentliche Orte, die Parks, die vielen Cafés und Tavernen, waren zu unsicher. Der Mann am Nebentisch konnte ein Polizeispitzel sein, und schon eine Anschuldigung konnte genügen, um eine Karriere zu beenden oder den Beschuldigten zur Flucht zu zwingen. Sogar der große Voltaire hatte feststellen müssen, dass sein Vermögen ihn nicht vor Verfolgung schützte, und nachdem er eine respektlose Bemerkung zu viel gemacht hatte, sah er sich gezwungen, sich zuerst nach England und dann auf ein hübsches Landgut in der Nähe von Ferney auf dem Territorium der freien Stadt Genf zurückzuziehen.
je ne sais quoi1