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Dieses Buch wurde aus den Mitteln der Karl Bruckner

Kinder- und Jugendbuchstiftung gefördert.

ISBN 978-3-7026-5937-0

Einbandgestaltung: Agnes Ofner

Agnes Ofner

Nicht so das
Bilderbuchmädchen

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Agnes Ofner

wurde 1989 in der Steiermark geboren. Sie maturierte in Graz und studierte anschließend Fennistik und Nederlandistik in Wien. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Grafik-Designerin an der Graphischen. Seit sie sich erinnern kann, denkt sie sich Geschichten aus, die sie in Bildern und Worten zu Papier bringt. Heute arbeitet sie als freischaffende Illustratorin und Autorin in Wien und unterrichtet Luftakrobatik.

Inhalt

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Sam

Zara

Zara sitzt im Dunkeln und beobachtet den Jungen von gegenüber dabei wie er weint.

„Was hat dich bloß so ruiniert?“, flüstert sie und hat ein schlechtes Gewissen dabei. So, als würde sie etwas Verbotenes tun. Sie sieht etwas, das sie nicht sehen soll und weiß es, und trotzdem steht sie hier am Fenster. Wie bei einem Unfall, bei dem alle stehen bleiben und versuchen, einen Blick auf die verletzte Person zu erhaschen, um selbst wieder mehr Freude am Leben zu haben. Gott sei Dank bin das nicht ich!

„Vielleicht geht es mir gerade genauso“, denkt Zara und fühlt sich ertappt. Danke, dass es dir schlechter geht als mir. Sie ist sich nicht sicher. Der Junge weint immer noch, die dunklen Haare ganz durcheinander, und irgendwie tut er ihr leid. Er ist vielleicht ein oder zwei Jahre älter als sie. Seine Eltern sitzen am Esstisch ein Zimmer weiter, essen Popcorn und wirken eigentlich ganz sympathisch. Zara weiß nicht, wieso der Junge weint. Als sie ihn entdeckte, lag er bereits als Häufchen Elend auf seinem Bett. Inzwischen hat er sich auf die Seite gerollt, den Blick in ihre Richtung gedreht. Zara zeigt ihm die Zunge, aber er reagiert nicht. Ob er spürt, dass sie ihn beobachtet? Sie beißt sich auf die Lippen, wie immer, wenn sie nicht sicher ist, was sie tun soll, da klopft es an ihre Tür.

„Gute Nacht, Zara!“

„Gute Nacht, Mama“, ruft Zara zurück.

„Morgen um sieben?“

„Ganz sicher nicht!“

„Passt, bis dann.“

Sie hört das Schmunzeln in der Stimme ihrer Mutter.

„Ich dich auch!“, ruft sie ihr nach, während sich die Schritte auf dem Gang entfernen.

Als sie wieder nach drüben schaut, ist das Zimmer gegenüber finster.

Sam

Den Blick starr nach unten gerichtet, beobachtet Sam, wie seine Sneakers sich durch den Regen von hell- zu dunkelblau verfärben. Er hat eine Scheißnacht gehabt und einen Scheißmorgen, und am liebsten würde er sofort umdrehen und zurück ins Bett kriechen. Vielleicht sollte er eine Runde mit dem Bus fahren, bis seine Eltern außer Haus sind und dann retour nach oben gehen. Pizza bestellen und die Spatzen pfeifen lassen. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass das Mädchen an der Haltestelle gegenüber ihn immer noch anstarrt. Das geht jetzt schon seit fünf Minuten so.

„Was willst du?”, würde Sam gerne gerufen. „Schau nicht so blöd! Hast du ein Problem? Kann ich dir helfen?” und: „Dein gelber Regenmantel ist mindestens genauso bescheuert wie meine Nase!” In unseren Köpfen sind wir alle König. In der Realität sieht Sam die Pfütze um seine Füße immer größer werden. Das Ding ist, dass es schon schwer genug ist, einem Mädchen in die Augen zu schauen, das er kennt. Oder, um ehrlich zu sein, überhaupt einem anderen Menschen.

„Augen sind das Tor zur Seele”, sagte die Suppenoma immer, was Bullshit ist. Es schwebt ganz sicher keine Seele in seinem Kopf herum. Aber irgendetwas ist vielleicht trotzdem hängen geblieben von der großmütterlichen Weisheit. Sam hat das Gefühl, als könne ihm das Mädchen gegenüber etwas wegschauen, wenn er den Blick heben würde. Als könne sie mehr sehen, als nur ein paar braune Augen. Als würde er jemanden in sein Zimmer lassen, ohne zuvor aufgeräumt zu haben, und die Person würde sagen: „Aha, so schaut das also bei dir drinnen aus!”

Sam muss über sich selbst schmunzeln. So ein Blödsinn. Er kann das. Er ist stark genug, um einem fremden Menschen in die Augen zu schauen, ohne dabei zu sterben. Langsam zählt er in seinem Kopf bis drei und versucht, seine ganze Unsicherheit hinter einem entschlossenen Gesichtsausdruck zu verstecken, bevor er den Kopf heben und so eindringlich zurückstarren wird, bis das Mädchen wegschauen muss. Eins. Zwei. DREI!

Sam sieht gerade noch, wie sich die Türen schließen, dann fährt der Bus stadtauswärts davon. Die Haltestelle auf der anderen Straßenseite ist leer.

Zara

Der Junge weint schon wieder und Zara kaut wie wild an ihrer Unterlippe. Mitten in der Referatsvorbereitung über Seeigel hat sie ihn entdeckt und obwohl das durchaus ein interessantes Thema ist und der Mensch mehr mit einem Seeigel gemeinsam hat, als zum Beispiel mit einem Wurm oder einer Fruchtfliege, ist der Junge gegenüber eindeutig spannender.

Den gelben Vorhang etwas zugezogen, steht sie jetzt schon sicher seit fünf Minuten da und fühlt sich schlecht. Und neugierig. Eher neugierig.

Im Sommer, als plötzlich wieder Bewegung in die Wohnung auf der anderen Straßenseite kam, war Zara nur mäßig interessiert. Sie beobachtete aus den Augenwinkeln, wie die Wände einen frischen Anstrich bekamen. Sie schmunzelte, als die Familie auf Umzugskartons zu Abend aß. Sie sah, wie sich die Kartons in Tische, Kästen und Regale verwandelten. Wie sich die Regale Stück für Stück mit Büchern füllten. Wie Fotos auf den weißen Wänden auftauchten und aus einer leeren Wohnung wieder ein Zuhause wurde. Direkt gegenüber war das Zimmer des Jungen und rechts daneben die Wohnküche mit großem Esstisch. Und dann passierte, was nach jeder Veränderung irgendwann passiert. Sie gewöhnte sich an die „Neuen“ von gegenüber und nahm sie gar nicht mehr richtig wahr. Bis jetzt.

Die genetischen Gemeinsamkeiten von Seeigel und Mensch liegen bei circa siebzig Prozent. Von Mensch zu Mensch sind es neunundneunzig Prozent.

„Uns trennt nur ein lausiger Prozentpunkt“, flüstert Zara. „Warum weinst du?“

Die letzten Tage hat sie Sherlock Holmes gespielt und eine Liste zusammengestellt. Viele Möglichkeiten gibt es nicht. Eigentlich nur zwei, die sie noch nicht wieder durchgestrichen hat, und auch die sind beide irgendwie blöd.

Seine Eltern hat sie sofort freigesprochen. Die sind zu nett. Der Vater geht zuerst außer Haus, und sie küssen sich zum Abschied immer auf den Mund. Außerdem kochen sie nicht nur abwechselnd, sie kochen auch gemeinsam. Gemeinsam! Das muss man sich erst einmal vorstellen. Wenn man gemeinsam kocht, kann man sich nicht bald scheiden lassen, davon ist Zara überzeugt. Als nächster Verdächtiger stand der Hund auf der Liste. Ein Terrier. Ziemlich rattig und vielleicht irgendwann einmal weiß, aber schon lange nicht mehr. Das war ein Indiz, auf das Zara im ersten Moment richtig stolz war. Vielleicht war er ja schon so alt, dass er bald ins Gras beißen würde. Und wenn man mit einem Hund aufwächst, hat man ihn wahrscheinlich ganz gern und will ihn nicht verlieren, auch wenn er verlottert ausschaut. Leider ist der Hund zu agil, um bald eines natürlichen Todes zu sterben, und Zara musste auch diesen Punkt von ihrer Liste streichen.

Wie zum Trotz springt der Terrier plötzlich auf das Bett und reißt Zara aus ihren Gedanken. Eine raue Hundezunge trifft feuchte Wangen. Schleckt die Tränen weg. Zara stellt sich vor, wie der Junge jetzt lächelt, und auch ihre Mundwinkel bewegen sich nach oben.

Ihr dritter Verdacht war die Schule. Langweilig und trotzdem immer noch Grund vieler schlafloser Teenager-Nächte. Aber es passt irgendwie nicht. Das Winter-Halbjahr hat erst vor Kurzem begonnen, und in Zaras Klasse stehen die ersten Schularbeiten erst in ein paar Wochen an. Es ist zu früh, um sich deshalb fertigzumachen. Selbst wenn man Angst hat und Mitglied im „Team sitzen bleiben“ ist, würde man höchstens zwei Tage vor einer Arbeit die Krise kriegen. Eher überhaupt erst danach. Auch davon ist Zara überzeugt.

Wenn jemand aus der Familie gestorben wäre, wären die Eltern auch trauriger, aber die sind quietschfidel. Eventuell ist einem Freund oder einer Freundin von ihm etwas passiert, was die Eltern weniger berührt. Diese Variante hält Zara auch immer noch für ein klein wenig plausibel, aber sie hat den Jungen genau beobachtet, und gestern wirkte er ganz normal. Wenn man um jemanden trauert, ist man immer traurig. Zara erinnert sich noch genau daran, als ihr Opa gestorben ist. Da war es nicht einen Tag so und einen Tag so, sondern da war ein riesiger Berg aus Traurigkeit, aus dem sie sich nach und nach freischaufeln musste. Also eher unwahrscheinlich.

Bleiben nur zwei Möglichkeiten.

Entweder: Er wollte nicht umziehen und vermisst sein altes Leben. Seine Freunde, den Weg zur Schule, die Bäckerei ums Eck und so weiter.

Oder: Er hat Liebeskummer.

Dass man nicht umziehen will, ergibt durchaus Sinn, aber wenn das der Grund wäre, hätte er schon viel früher schlechte Laune haben müssen. Die zeitversetzte Reaktion kommt ihr komisch vor. Außerdem, und darauf ist Zara fast noch stolzer als auf das mit dem Hund, hängt in seinem Zimmer ein Poster vom Sommerfest von vor zwei Jahren. Das mit dem Eisbären und der Sonnenbrille drauf, von dem sie selbst eines in einer Schublade liegen hat. Sprich, er ist nicht von irgendwo hergezogen, sondern wohnt schon länger in der Stadt. So traurig kann einen das dann ja wohl wirklich nicht machen.

Der heißeste Tipp ist also Liebeskummer. Ebenfalls langweilig und ebenfalls Grund von Schlaflosigkeit. Darüber weiß Zara ein bisschen Bescheid und so liegt sie immer noch wach, nachdem das Licht im Zimmer gegenüber schon lange ausgeschaltet ist.

Sam

Die Luft im Auto ist warm und stickig und genau das, was Sam gerade braucht. Er macht die Tür zu, zieht die Knie zur Brust und schließt die Augen. Er kann den fragenden Blick seines Vaters spüren, aber dann hört er zum Glück den Motor anspringen und sie fahren los. Sam fröstelt immer noch, das T-Shirt klebt auf seiner Haut. Er weiß, dass sie gleich um die Ecke fahren werden. Dass er das Schwimmbad noch für einen kurzen Moment sehen könnte und dann ab der nächsten Kurve schon nicht mehr. Er hat immer noch Chlorgeruch in seiner Nase und er fragt sich, wieso Gerüche nicht ortsgebunden sein können. Wieso es das Chlor nicht zurück ins Schwimmbad zieht und es nach und nach seinen Körper verlässt, bis man nichts mehr davon riechen kann. So wie WLAN. Ein paar Meter hat man noch so lala Empfang und dann nada – niente – nichts. Sein Vater muss lachen, als er von der Idee hört, und sagt: „Was für ein Blödsinn!“

Aber Sam findet das gar nicht so abwegig. Zumindest ist beides unsichtbar. Sam merkt, wie sich seine Muskeln langsam zu entspannen beginnen, und er lässt die Knie ein wenig sinken, was für seinen Vater eine klare Einladung zum Reden ist. Er erzählt von der Arbeit. Von dem neuen Auto, das er sich nicht kaufen kann und davon, dass er endlich einen Friseurtermin für Tante Ulli vereinbaren muss. Sam ist froh, dass er selbst nichts sagen muss außer Ja und Aha.

Seine Mutter hat weniger Anstand und fragt ihn sofort, wieso sein T-Shirt nass ist. Und seine Hose.

„Ich hab mein Badezeug daheim vergessen.“

„Und dann bist du mit voller Montur ins Wasser gesprungen?“

Sam zuckt mit den Schultern.

„Wieso?“, versucht sie es noch einmal, aber Sam weiß nicht, was er sagen soll, deswegen zuckt er wieder mit den Schultern.

„Ich geh duschen.“

„Sam …“, sagt seine Mutter.

Und als er sich umdreht und geht: „… gib das nasse Zeug gleich in die Waschmaschine, ja?“ Mit so einem verständnisvoll besorgten Unterton, dass ein Teil von Sam am liebsten zurückgehen und sie umarmen möchte. Nur kurz gehalten werden. So wie früher.

Später liegt er auf seinem Bett und hält sich die Nase zu. Unter der Dusche war alles besser, aber jetzt, nach dem Abendessen, kommt ihm der Chlorgeruch wieder stärker vor. Er muss an Christopher denken und an sein Lachen, das viel zu laut war und alle anderen ansteckte. Sogar Sophia.

„Schwimmen in Jeans verboten!“, schrie die Bademeisterin und Sophia versuchte zuerst, ernst zu bleiben, aber dann schaffte es ein kleines Glucksen aus ihrem Mund und dann noch eines und noch eines, bis sie mindestens so laut lachte wie der Scheiß-Christopher. Mit dem einzigen Unterschied, dass Sam es Sophia nicht übel nimmt.

„Da, nimm mein Handtuch“, sagte sie später und setzte sich neben ihn auf die Bank.

„Danke.“

„Wieso hast du das gemacht?“

„Keine Ahnung.“

„Du hast so lächerlich ausgesehen. Mit dem riesigen T-Shirt, das war wie ein Ballon um dich herum im Wasser.“

Er zuckte mit den Schultern und lächelte sie verlegen an.

„Sorry, dass ich gelacht hab“, sagte Sophia.

„Es passt schon, es ist okay“, antwortete Sam, aber in Wirklichkeit war nichts okay.

„Was soll ich machen?“, fragt er Tante Ulli, die ihn verstehen würde, weil sie auch kein Wasser mag, aber sie muss auch nächste Woche nicht schon wieder zum Schwimmunterricht.

„Magst du Platz tauschen?“

Tante Ulli sagt nichts, und Sam muss weinen.

Zara

Zara zieht die Vorhänge zu und schaltet das Licht ein. Der Junge von gegenüber weint, aber sie hat genug. Inzwischen ist auch die Neugierde verflogen, es macht sie einfach nur traurig. Das war jetzt schon das vierte Mal innerhalb von zehn Tagen. Nach dem dritten Mal hat sie ihre beste Freundin um Rat gefragt.

„Miriam, was würdest du tun, wenn es jemandem schlecht geht, den du nicht kennst?“

„Und du würdest gerne helfen?“

Zara nickte.

„Könntest du der Person denn helfen?“

„Ich weiß nicht“, überlegte Zara. „Es ist ein bisschen so, als ob man etwas in den Nachrichten sieht und nicht direkt eingreifen kann.“

„Ich würde versuchen, eine Möglichkeit zu finden, wie ich auch von weiter weg helfen könnte. Zum Beispiel Spenden sammeln oder eine Aktion zu dem Thema planen, sodass mehr Leute davon erfahren würden. Oder zum Beispiel ein Youtube-Video machen mit aufmunternden Botschaften oder so. Und wenn das alles nicht klappt, würde ich versuchen, nicht mehr dran zu denken, sonst macht einen das kaputt. Da ist es besser, die Hilfsbereitschaft woanders zu investieren. Zum Beispiel in meine Mathe-Aufgabe!“

Miriam grinste und Zara war erleichtert, dass sie nicht näher nachfragte.

Sie hätte Miriam gerne von dem weinenden Jungen erzählt, aber ihr kommt vor, als würde sie damit ein Geheimnis verraten. Außerdem ist es ihr peinlich, so eine Stalkerin zu sein. Sie weiß mittlerweile, dass der Junge gerne dunkle Kapuzenpullis trägt, meistens Kopfhörer in den Ohren hat und am Abend Müsli isst, seine Eltern essen Brot. Er geht ganz sicher auf das Kepler-Gymnasium, weil er sonst mit demselben Bus fahren würde wie sie, und für gar keine Schule ist er zu jung. Er hat oft nasse Haare, das heißt, er duscht am Abend. Der Hund duscht nie.

Warum der Junge so oft weint, weiß sie immer noch nicht. Vorhin, beim Abendessen, wirkte es so, als hätte er mit seinen Eltern über etwas diskutiert, was Zara ihre Verdachtsliste kurz überdenken ließ, aber es sah nicht so schlimm aus, dass man davon weinen müsste. Und so viel Liebeskummer kann man beim besten Willen nicht haben. Kurz fliegen ihre Gedanken zu Josef, aber da haben sie in diesem Kontext nichts verloren.

„Vielleicht ist er auch einfach welt-traurig“, denkt Zara und beschließt, auf keinen Fall Detektivin zu werden. Oder Psychologin. Aber irgendetwas muss sie tun. Es ist ja nicht so, dass sie „den Fernseher“ einfach ausschalten kann. Spenden sammeln ist Blödsinn. Eine Aktion planen? Sie könnte die ganze Fischergasse mit Plakaten zukleistern. „Achtung, Achtung! In Nummer dreiundvierzig weint regelmäßig dieser Junge. Seid doch etwas nett zu ihm, falls ihr ihn seht!“ Nein. Zara muss über sich selbst lachen. Das ist noch größerer Blödsinn. Ein Youtube-Video machen! Und dann? Das ist alles so verzwackt! Sie lässt sich auf ihren Schreibtischsessel fallen und schlägt widerwillig ihr Mathe-Heft auf, da hat sie eine Idee.

Sam

„Schau mal!“, ruft sein Vater aufgeregt, als Sam ins Esszimmer kommt. Viel zu früh für so viel Enthusiasmus. Sam braucht noch ein paar Sekunden, er muss erst Schlaf aus den Augen blinzeln, sich von der Nacht verabschieden. Er will Tee. Seine Eltern stehen mit ihren Tassen am Fenster, und nachdem seine Mutter Platz gemacht hat, sieht er auch, warum. Auf einem Fenster der Wohnung gegenüber hängen drei Zettel, auf denen in großen Buchstaben „HALLO, ICH BIN ZARA“ steht.

Sam ist nicht sicher, was er davon halten soll. Es kommt ihm exhibitionistisch vor. So wie der eine Typ, der die ganze Stadt mit „Bitte vergib mir!“, zukleisterte, nachdem er seine Freundin betrogen hatte. Es muss ja nicht gleich jeder wissen.

„Weißt du, wer da wohnt?“

Sam schüttelt den Kopf und setzt sich an den Esstisch.

„Vielleicht irgendeine Nachbarschaftsaktion?“, schlägt sein Vater vor, und seine Mutter kramt die lokale Zeitung aus dem Altpapierstapel.

„Hier steht nichts drin.“

Sams Eltern stellen sich wieder ans Fenster und biegen sich hierhin und dorthin, um – dem reflektierenden Licht zum Trotz – einen Blick in die andere Wohnung erhaschen zu können. Je weniger sie sehen, desto größer wird ihr Bedürfnis, das Rätsel zu lösen.

„Vielleicht ist es eine Kontaktanzeige?“

„So praktisch, dann hat man es nicht weit!“

„Oder es ist ein Hilferuf!“

Die beiden überlegen, wie sie die Polizei davon überzeugen können, dass gegenüber ein Verbrechen im Gange ist, jemand gefangen gehalten wird, womöglich sogar eine Entführung stattfindet, da sind sie noch nicht ganz sicher.

Sam würde das lockere Gespräch gerne gegen Musik aus seinen Kopfhörern tauschen, aber beim Essen geht das nicht, sagt seine Mutter immer, weil man sich dann nicht mehr unterhalten kann. Klares Missverständnis. Genau das ist ja der Sinn von Kopfhörern, aber das traute er sich dann doch nicht zu sagen. Taktgefühl und so. Er schüttet Milch in seine Müsli-Schüssel und lässt für Tante Ulli ein paar Cornflakes fallen.

„Wieso schreibt sie dann nicht ‚Hilfe‘?“, fragt er, und kurz sind seine Eltern still, dann überschlagen sich ihre Stimmen wieder. „Oder sie fühlt sich einfach alleine.“

„Vielleicht ist es ein Kunstprojekt.“

„Gegen die Vereinsamung und Anonymität im urbanen Raum!“ Sams Vater ist kurz davor, auch einen Zettel ins Fenster zu hängen, auf dem „HALLO, WIR SIND GUSTAV UND NADINE“ steht, aber dann muss er los zur Arbeit und die beiden beschließen, das Ganze auf heute Abend zu verschieben.

„Und Sam“, sagt Sam, nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist. Seine Mutter blickt ihn fragend an.

„Hallo, wir sind Gustav und Nadine und Sam.“

Seine Mutter schaut, als hätte er gesagt, dass Tante Ulli etwas passiert ist.

„Aber sicher. Das ist doch selbstverständlich. Das muss man doch nicht extra sagen“, versichert sie ihm.

„Passt schon“, sagt Sam und greift nach seinem Rucksack. Meistens ist er froh darüber, wie gern sich seine Eltern immer noch haben, aber manchmal ist es ihm auch zu viel.

Zara

Heute ist ein Spargeltag. Davon gibt es immer einige pro Jahr, ob man will oder nicht. Selbst im Herbst, wenn die eigentliche Saison längst vorbei ist. Universelles Gesetz Nummer siebenunddreißig.

„C’est la vie“, flüstert Zara und schiebt sich eine Gabel voll Sauce Hollandaise in den Mund. Das Problem ist, dass es manchmal Tage gibt, an denen mehr schiefgeht als nur das Mittagessen, was den Spargel um einiges ekelhafter macht. Deswegen platzt Zara auch der Kragen, als sie keine Hollandaise mehr, aber immer noch Hunger hat.

„Du weißt doch ganz genau, dass ich keinen Spargel mag! Immer, immer, immer vergisst du alles!“, fährt sie ihre Mutter an. Im selben Atemzug tut es ihr leid, weil – ja – ihre Mutter vergisst viele sehr relevante Dinge, aber – ebenfalls ja – sie kann überhaupt nichts dafür, dass Josef heute kein einziges Wort zu Zara gesagt hat und dass an dem Fenster gegenüber noch immer kein verdammter Zettel klebt.

Zara kämpft mit den Tränen, und obwohl sie ihr bestes Pokerface aufsetzt, entgeht den mütterlichen Zauberaugen natürlich nichts. Für einen kleinen Moment blitzen sie noch böse auf, dann wird das Gesicht wieder weich und sie schiebt die ganze restliche Sauce Hollandaise von ihrem auf Zaras Teller. Außerdem holt sie ihr noch zwei Scheiben Brot.

„Danke“, murmelt Zara. Eigentlich will sie das überhaupt nicht, aber sie hat ein schlechtes Gewissen und bemüht sich, auch den Spargel zu essen. Nur ja nicht zu viel kauen und in großen Bissen runterschlucken. Gleichzeitig mit Sauce und Brot ist es gar nicht so schlimm.

„Magst du darüber reden?“, fragt ihre Mutter vorsichtig und Zara überlegt, schüttelt aber den Kopf. Nur noch zwei Bissen Spargel. Vielleicht einer, wenn sie einen großen nimmt. Dann kann sie in ihr Zimmer gehen.

Ihre Mutter will wissen, ob ihr der Spargel doch schmeckt und schaut dabei hilflos aus. Zara will schon aus Reflex „Ja, eh okay“, sagen, da verschluckt sie sich und muss husten und würgen und hat das Gefühl, als hätte sie eine ganze grüne Stange quer im Hals stecken.

„Nein. Nein, mir schmeckt Spargel überhaupt nicht“, sagt sie dann, als sie wieder ruhig atmen kann, und versucht zu lächeln. „Aber es ist okay, wenn du ihn trotzdem manchmal machst.“

In der Hoffnung, dass das als Entschuldigung gilt, steht sie auf und geht in ihr Zimmer.

Der Kopfpolster riecht zuerst nach nichts und dann ganz leicht nach Haarshampoo. Zara hält die Luft an und atmet dann, so langsam wie möglich, alles aus ihrer Lunge, ihrem Herzen, ihrem Kopf in den Polster. Wenn der Junge von gegenüber sie jetzt sehen könnte, würde er sicher glauben, dass sie weint. Aber er sieht sie nicht, weil er sonst auch die Zettel gesehen hätte, die er sicher nicht gesehen hat, weil er sonst geantwortet hätte. Daran, dass er so blöd ist und nicht antwortet, obwohl er sie gesehen hat, will Zara gar nicht denken. Sie war sicher, dass heute Abend eine Antwort auf sie warten würde. Schon von der Straße aus suchte sie die Fensterreihen ab. Aber da war nichts. Und dann auch noch Spargel.

Immer noch wütend, geht Zara zum Fenster und versucht bewusst, nicht nach drüben zu schauen, während immer mehr karierte Papierschnipsel im Mistkübel landen. Mit einem Ruck zieht sie den Vorhang zu, macht ihre Hausaufgaben, sammelt die Schmutzwäsche ein, schaut auf Facebook, antwortet Miriam, geht ihre Zähne putzen, sagt ihrer Mutter Gute Nacht, gießt die Pflanzen, schaut noch einmal auf Facebook, und dann gibt es nichts mehr, was sie machen könnte, bevor sie sich dem grünen Kalender widmen muss. Widerwillig zieht sie ihn unter dem Bett hervor und sucht nach der aktuellen Woche. Am Montag waren es siebenundvierzig. Siebenundvierzig!! Das war bis jetzt der absolute Rekord. Es ging nicht einmal nur um die Mathe-Aufgabe oder solche banalen Dinge. Sie hatten über das Wochenende geredet. Darüber, dass er mit seinen Brüdern wandern war. Und dass es schön war. Also fast schon ein richtig intimes Gespräch. An den meisten Tagen steht zumindest „zwei“. Für „guten Morgen“. Manchmal auch nur „eins“. Für „Morgen“. Weil sie immer die ersten beiden in der Klasse sind. Nur heute nicht. Heute kam Zara zu spät und alles lief schief. Einen Moment zögert sie noch, überlegt, ob sie der Statistik zuliebe nicht doch „eins“ schreiben soll, weil er mit Sicherheit „Morgen“ gesagt hätte, wenn sie pünktlich gewesen wäre, aber das würde wahrscheinlich auch nichts besser machen. Außerdem, sagt Miriam, muss man auch die Fehler feiern, wie sie fallen. Also schreibt Zara in das Feld unter dem 21. September schweren Herzens eine dicke, fette Null.

Sam

Er hört das Klopfen erst, als sich seine Zimmertür bereits langsam öffnet. Hastig greift Sam nach dem Kleiderhaufen zu seinen Füßen. Pullover an. Kopfhörer runter. Aufs Bett setzen, Buch aufschlagen und bemüht gelassen tun.

„Was gibts?“, ruft er und sieht im nächsten Moment, wie sich zwei Köpfe durch den Türspalt schieben. Einer mit langen Haaren und einer mit strubbeligen braunen Haaren darüber. Darunter taucht auch noch Tante Ulli auf und Sam rollt mit den Augen, kann aber auch nicht anders, als ein bisschen mit ihnen zu grinsen.

„Wir haben was für dich!“, sagt seine Mutter und „Dürfen wir reinkommen?“, sein Vater.

Sam nickt und die beiden präsentieren ihm stolz das Plakat, das sie gemacht haben.

„HALLO, WIR SIND NADINE, GUSTAV, SAM & TANTE ULLI“, steht darauf und rundherum sind lauter bunte Herzen gemalt, vor allem um den Namen Sam, den man fast gar nicht mehr lesen kann. Ganz unten sind noch kleine Pfotenabdrücke. „Ihr seid bescheuert!“

„Wir dachten, wir könnten das vielleicht bei dir aufhängen? Weil du ja genau das Zimmer gegenüber hast?“

Das Glas ist angenehm kühl unter Sams Fingern, als er seiner Mutter hilft, das Klebeband glatt zu streichen, und er fragt sich, ob hier gerade alle etwas jemand anderem zuliebe tun. Er bleibt noch eine Weile am Fenster stehen, nachdem seine Eltern wieder gegangen sind und lässt seinen Blick über die gegenüberliegende Hauswand gleiten. In manchen Wohnungen brennt noch Licht und er kann vereinzelte Splitter von ganzen Leben erkennen. Eine kaputte Topfpflanze, einen Spitzenvorhang, einen kleinen Streifen knallrote Küche. Bis vor Kurzem haben sie in einem Haus gelebt, mit Garten und Apfelbäumen und viel Platz für Wettrennen mit Tante Ulli. Sam kommt es immer noch komisch vor, dass jetzt so nah um ihn herum so viele andere Menschen sind. Die beste Taktik, um mit so einem Leben mitten in der Stadt klarzukommen, ist Ignoranz. Sam glaubt immer noch ganz fest daran, dass es wie früher beim Versteckenspielen funktioniert: Solange man die Hände vor den Augen hat und niemanden sieht, kann man auch nicht gesehen werden. In „Zaras Zimmer“ ist es schon finster, aber er ist ziemlich sicher, dass die Zettel gegenüber nicht mehr hängen, und insgeheim ist er froh.

„Schnapsidee“, sagt er zu Tante Ulli, die immer noch blaue Pfoten hat. Dann zieht er seinen Pullover aus und stellt sich wieder vor den Spiegel.

Zara