Nicht umdrehen. Daran kralle ich mich, während ich durch die Dunkelheit presche. Die mit Blut beschmierten Wände nehmen mich gefangen, halten mich fest, verschlucken mich. Immer wieder fixiere ich das Licht am Ende des Gangs. Doch es nähert sich nicht – bleibt in weiter Ferne vor mir liegen. Es schenkt mir keine Erlösung, keine Hoffnung, nichts.
»Renn ruhig, so schnell du kannst. Es wird niemals schnell genug sein, Süße.« Seine Stimme trieft vor Ironie, lässt alles in mir erschaudern. Jede seiner Silben geht mir durch Mark und Bein, lässt mich noch schneller rennen. Meine Beine werden mit jedem Schritt schwächer und ich weiß nicht, wie lange ich noch in der Lage bin, vor ihm zu fliehen. Wie lange ich noch in der Lage bin, um mein eigenes Leben zu kämpfen, obwohl es alles ist, was mir noch geblieben ist. Beim Gedanken daran, dass ich es in den letzten Wochen mit Füßen getreten habe, schießen mir Tränen in die Augenwinkel. Doch ich lasse es nicht zu sie zu befreien, schließlich habe ich keine Zeit mehr dafür, Schwäche zu zeigen. Ich muss einfach nur dieses Licht am Ende des Weges erreichen, um wieder in Sicherheit zu sein.
»Komm schon, Mädchen. Dieses Spiel wird doch langweilig, meinst du nicht? Dreh dich um«, presst er nun deutlich ernster hervor, was mich zusammenzucken lässt. Ich will mich nicht umdrehen. Nie mehr – und doch lasse ich es zu, meine Geschwindigkeit zu reduzieren. Der Staub dieses verdreckten Gebäudes kriecht in meine Lungen, lässt mich kaum noch Luft spüren. Mit jedem Schritt werde ich langsamer, lasse mich zurückfallen – sterbe.
Sobald ich zum Stillstand komme, atme ich einige Male tief ein, bis der wohlbekannte Stich meine Lungenflügel erfüllt. Er zeigt mir, dass ich noch am Leben bin, auch wenn gleich jegliches Leben aus mir weichen wird. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wo meine Reise endet, drehe ich mich um. Wie in Zeitlupe. Seine Schritte kommen näher, das Geräusch seiner Sohlen dringt in meine Ohren, während mein Verstand nach mir schreit, ich solle endlich weitergehen. Nach allem, was passiert ist, müsste ich stark sein, müsste kämpfen. Doch mein Körper scheint eine andere Sprache zu sprechen – er ist am Ende.
»Na endlich. Dieses Versteckspiel hat ein Ende. Auf diesen Moment habe ich so lange gewartet«, säuselt er und seine Konturen werden schärfer. Noch immer kann ich seine Züge in der Dunkelheit nur erahnen. Staubkörner wirbeln die Luft auf, lassen es aussehen, als wäre der Winter in diesen vier Wänden bereits eingekehrt. Sein dunkles, raues Lachen dringt bis in mein Innerstes vor, bis alles in mir gefriert. Als würden Eiskristalle meine Venen benetzen. Sofort beginne ich unkontrolliert zu zittern.
»Du brauchst doch keine Angst haben, Süße. Alles wird gut – eines Tages wird alles wieder gut.« Wie aus einem Traum gerissen, entferne ich mich von ihm. Ich baue eine Distanz auf, auch wenn es zwecklos ist. Ein Schritt von ihm gleicht drei Schritten meinerseits. Ich bin verloren und der Mensch, der mir helfen könnte, ist nicht da. Ohne seinen Konturen weitere Beachtung zu schenken, reiße ich mich aus seinem Bann, renne erneut um mein Leben.
Sobald ich die ersten schmerzhaften Schritte hinter mich gebracht habe, werde ich zurückgerissen. So stark, dass ich meine eigenen Knochen brechen höre. Ein wimmernder Schrei flieht über meine rissigen Lippen, hallt im ganzen Gebäude nach. Meine eigene Angst klingt in dem Echo wider, lässt den Mann vor mir noch lauter lachen. Seine weißen Zähne sind das Einzige, was ich klar und deutlich erkennen kann, während seine Hände sich um meine angeschlagenen Handgelenke krallen. Bevor ich mich wehren kann, wird mir schwindelig. So schwindelig, dass ich schon Sekunden später zusammensacke – in seinen Armen. Und ich weiß, dass ich gleich sterben werde – dieses Mal endgültig.
***
Ein dumpfer Schrei zieht über meinen gesamten Körper, lässt mich wieder zu Bewusstsein kommen. Der Schrei, der mich an meinen erinnert und doch so grundverschieden ist. Er ist dunkler, beängstigender. Langsam schlage ich meine schweren Lider auf, muss jedoch einige Male blinzeln, bis ich klar und deutlich etwas erkenne. Sobald ich mich aufsetzen will, werde ich mit voller Wucht zurückgezogen. Schwere Ketten sind um meine Handgelenke geschlungen, ermöglichen es mir kaum mich zu bewegen. Alles, was ich vernehme, ist dieser erdrückende Geruch, der die Luft einnimmt. Es riecht, als wäre ich direkt in der Hölle gelandet.
»Heaven, halte durch.« Eine Stimme, die mir vertraut scheint, lässt mich Hoffnung schöpfen. Doch egal, in welchem Winkel dieser Zelle ich nach der sprechenden Person suche – ich sehe nichts. Niemand ist hier. Ich bin allein. So wie ich es mein halbes Leben lang war. Es sollte nichts Neues für mich sein, dennoch schlingt sich diese Erkenntnis um meine Kehle, schnürt sie zu, bis sich der Staub mit dem Schmerz vermischt. Mein gequältes Husten erfüllt den Raum und dann erstarre ich.
Sanft fahre ich mit meiner Zungenspitze über meine aufgerissenen Lippen, bis ich den stechenden Geschmack in mir aufsauge. Ein metallischer Film breitet sich in meinem Mund aus, der mich daran erinnert, wie verloren ich bin. Blut benetzt meine Lippen, tropft langsam auf meine angeschlagenen Knie.
Meine Jeans ist zerrissen, die Haut darunter tief abgeschürft. Jede Rührung sorgt dafür, dass ich aufschreie, doch niemand hört mich. Niemand wird da sein, um mich zu retten, und das, obwohl ich fest davon überzeugt war, dass er mich retten könnte. Eines Tages. Ein weiterer Schrei erfüllt den Kerker und kriecht die Wände entlang. Sofort setze ich alles daran, die Gitterstäbe zu erreichen, die mich von dem alles vernichtenden Geräusch trennen. Der Dreck bohrt sich in meine Wunden, als ich über den Boden krieche, um die kleine Tür zu erreichen. Egal, wie viel Kraft ich einsetze, sie bewegt sich keinen Millimeter, als ich mich mit voller Wucht dagegen stemme.
»Hilfe«, wimmere ich. Sekunden später bricht meine Stimme erneut ab. Ich versuche den Schrei des Mannes zu lokalisieren, doch all meine Sinne sind gestorben. Endgültig. Sachte lasse ich mich an den kalten Gitterstäben nach unten gleiten, lehne meine pochende Stirn an sie heran, um mir Abkühlung zu verschaffen. Langsam weicht auch die letzte Kraft aus mir. So stark, dass ich es nicht schaffe, meine Augen weiterhin offenzuhalten. Ich sehe nur ein Bild vor mir, ein Gesicht, das mich noch am Leben hält, auch wenn mein Ende bereits gekommen ist. Eines, das in den letzten Wochen zu meinem Anker wurde – mein Lichtblick, meine Rettung. Die Sicherheit, die mir nun verwehrt bleibt. Jadens Umrisse werden schärfer, er sieht mich mitleidend an, während ich mich immer tiefer in die Dunkelheit fallenlasse. Ein Zustand, der mir nur allzu vertraut scheint. Sobald sich die Schwärze erneut um seine Konturen legt, ihn umschlingt und schließlich verschluckt, verliere ich mein Bewusstsein. »Jaden«, wispere ich. Mein letzter Gedanke ist ihm gewidmet, bevor ich endgültig falle.
Abenteuer. Dieses Wort hatte für mich immer zahlreiche Bedeutungen im Leben – bis jetzt wusste ich nie, welche der Bedeutungen die Richtige ist. Früher dachte ich, es wäre das Gefühl, welches mich heimsucht, wenn ich in einer Achterbahn sitze – am höchsten Punkt, bevor mich die Geschwindigkeit nach unten zieht.
Das Kribbeln in meinem Inneren, wenn ich Regeln breche, die eingehalten werden müssen. Den höchsten Berg zu erklimmen, die tiefsten Gewässer zu durchschwimmen, die breitesten Klippen zu überspringen. Sachte wende ich mich ihm entgegen, mustere seine Konturen, die sich so stark in mein Gedächtnis eingeprägt haben, dass ich sie im Schlaf nachzeichnen könnte. Eines ist mir in den letzten Tagen mehr als deutlich bewusst geworden: Ich kannte kein einziges Abenteuer – bis jetzt. Ein Tag mit Jaden birgt mehr Nervenkitzel als ein ganzes Leben, das mir bleibt.
Sobald Jaden bemerkt, dass ich ihn beobachte, zieht er einen seiner Mundwinkel nach oben, hebt verführerisch seine Augenbrauen und sieht mir dann eindringlich in die Augen. Sofort wende ich mich von ihm ab.
»Was ist?«, fragt er mich und legt mir seine Hand behutsam ans Gesicht.
»Ich mochte ihn, irgendwie hat er uns zusammengeführt. Es ist seltsam, von ihm Abschied zu nehmen«, flüstere ich. Ich lege meine Hand an seine und ziehe sanfte Kreise über sie. Unverzüglich spüre ich, dass eine Gänsehaut seinen Körper überzieht.
»Was denkst du, wieso Kyle mir ausgerechnet dieses Modell gegeben hat?« Als er seinen Namen laut ausspricht, halte ich in meiner Bewegung inne – starre auf den hellblauen Lack hinab. Im Sonnenschein wirkt die Farbe so anders als nachts. Ein weiterer Beweis dafür, wie viele Dinge auf der Welt anders erscheinen, wenn man sie aus einem anderen Winkel betrachtet.
»Das ist krank.« Diesen Satz spucke ich aus, wohl darauf bedacht, Jaden dabei nicht anzusehen. Er soll nicht wissen, wie stark der Zorn ist, der in meinem Inneren keimt. Mit jedem Tag, der verstreicht, wird er stärker. Ich habe tierische Angst davor, er könnte mich eines Tages übermannen.
»Lass uns nicht darüber reden, okay? Schließlich stehen wir gerade vor der ersten gemeinsamen Entscheidung«, antwortet er mir, schließt den Wagen ab und zieht mich dann hinter sich her in das imposante Gebäude vor uns. Die verglasten Türen geben einem direkten Zugang zu den zahlreichen Modellen, die in der Halle ausgestellt sind. Viele von ihnen kosten sicherlich ein halbes Vermögen. Etwas, das wir beide nicht besitzen und vermutlich nie besitzen werden.
»Also, auf was hast du Lust?« Sein amüsierter Blick lässt mich einen Moment entspannen. Entspannung – das spüre ich viel zu selten. Jedenfalls seitdem wir den Sprung gewagt haben. Langsam nähere ich mich den Ausstellungsmodellen, die hochglanzpoliert unter den imposanten Kronleuchtern stehen und mich mit ihren Lichtern geradezu anstarren. Ich lasse meinen Blick über sie schweifen, entdecke jedoch nichts, das mein Interesse weckt.
»Die sehen doch alle gleich aus«, murmle ich, während ich immer wieder flüchtig über meine Schulter schaue. Draußen sieht alles so friedlich aus. Die Sonne taucht die Welt in ein gleißendes Kleid, die Baumwipfel wehen im Wind leicht hin und her. Niemand könnte vermuten, dass all das nur Schein ist. Die Maske unserer abscheulichen Gesellschaft. Dank Jaden weiß ich, wie wichtig es ist, hinter die Fassade zu blicken – nichts ist, wie es im ersten Moment scheint. Alles Schöne auf der Welt wartet nur darauf, sich in etwas Hässliches zu verwandeln.
»Typisch Frauen«, scherzt Jaden und zieht meine Aufmerksamkeit wieder auf die polierten Wagen vor uns.
»Wie wäre es mit dem da?«, frage ich ihn und zerre ihn zu einem dunkelblauen Wagen, dessen Farbe mich an das Himmelszelt erinnert. Sie zieht mich in ihren Bann und beim Gedanken daran, welches Gefühl sie in mir auslöst, lächle ich.
»Ehrlich? Diese Karre?« Seine skeptische Stimme sorgt dafür, dass mein verkrampftes Herz pulsiert.
»Wir dürfen nicht auffallen, Jaden. Das hast du selbst gesagt«, verteidige ich mich und dieses Auto, das ich schon jetzt in mein Herz geschlossen habe. Jadens Wagen hat uns beide miteinander verbunden, jetzt stellt er nichts als eine Gefahr für uns dar. Er ist zu auffällig – wir müssen unscheinbar bleiben, wenn wir überleben wollen.
»Das heißt aber nicht, dass wir uns Tag für Tag in dieses Ding hier quetschen müssen. Oder willst du mich einfach nur so nah wie möglich bei dir haben? So ein Auto kann ziemlich romantisch sein.« Sachte lehne ich meine Wange an seine Brust, spüre seinen Herzschlag an meiner Schläfe.
»Ich stehe auf Romantik. Aber ich fände es besser, wenn wir nicht ständig Angst haben müssten«, wispere ich, während ich erneut einen Blick aus dem Autohaus schweifen lasse. Jaden sieht ebenfalls kurz hinaus, hebt dann meinen Kopf an und haucht mir einen Kuss auf die Stirn.
»Wir schaffen das, okay? Du musst mir vertrauen. Und jetzt lass uns diese Knutschkugel mitnehmen, bevor die Sonne untergeht.« Wir gehen zum Schalter, hinter dem ein schlaksiger junger Mann steht. Anfangs schenkt er uns keinerlei Beachtung, aber als Jaden sich auffällig räuspert, sieht er auf.
»Ist der nicht viel zu teuer? Lass uns doch lieber bei den Gebrauchten schauen«, schlage ich Jaden flüsternd vor, weil mich mittlerweile das schlechte Gewissen plagt.
»Hast du immer noch nichts von mir gelernt?« Sein Zwinkern sorgt dafür, dass meine Glückshormone verrückt spielen.
»Haben Sie einen Wagen gefunden?« Die gelangweilte Stimme des Verkäufers lässt mich schmunzeln. Ich bin in meinem Job immer vollends aufgegangen. Beim Gedanken an Alessia wird mir schwer ums Herz – ich vermisse sie, so wie die anderen auch. Doch ich weiß, dass wir eines Tages wieder vereint sein werden. Auch wenn ich dafür diese Schmerzen in Kauf nehmen muss.
»Mein Mädchen will den Audi A1 S line. Hätte ich Mitspracherecht, wäre es definitiv eine andere Karre geworden, aber was soll ich sagen? Sie hat die Hosen an.« Ich boxe Jaden gegen den Oberarm. Sein verschmitztes Lächeln lässt wieder einmal Eisberge schmelzen, während ich die dunklen Augen des Verkäufers eingehend mustere.
»Bar oder Ratenkauf?« Sobald der Typ seinen Mund öffnet, könnte man meinen, er schläft augenblicklich ein.
»Ich denke, das geht aufs Haus, oder?« Jaden brennt seinen Blick in die Augen dieses Jungen hinein, fesselt ihn förmlich. Wie in Trance greift der Verkäufer in den Schrank, der hinter ihm steht, zieht einen Schlüssel hervor und schiebt ihn sachte über den Tresen zu uns herüber. Ungläubig starre ich auf Jadens Finger, die nach dem Schlüssel greifen und ihn mir Sekunden später in die Hand drücken.
»Daran werde ich mich nie gewöhnen«, flüstere ich so leise, dass der Typ vor uns keines meiner Worte verstehen kann.
»Aber selbstverständlich, Sir«, gibt er roboterhaft zurück, zerreißt den noch nicht ausgefüllten Vertrag und lässt ihn in einem kleinen Mülleimer in der Ecke verschwinden. Gerade als ich Jaden den Schlüssel zurückgeben will, werden wir von einem dumpfen Geräusch zurück in die Realität gerissen. Die Realität, die als Albtraum begann und uns nun tagtäglich begleitet. Jaden reißt erschrocken seinen Kopf herum, starrt aus dem Eingang direkt auf unseren Wagen.
Sekunden später kommen die Reifen des schwarzen Vans quietschend vor dem Gebäude zum Stillstand. Die ersten Schüsse preschen gegen die verglasten Türen, bis sie knackende Geräusche von sich geben und schließlich krachend ineinanderfallen. Der Mann, der das Auto fährt, verfolgt uns schon seit einigen Tagen auf Schritt und Tritt. Der Kauf eines neuen Wagens sollte ihn auf eine falsche Spur locken, doch es ist zu spät. Alles wird zu spät sein, wenn er die Türschwelle erst einmal übertreten hat. Jaden reißt mich an sich, zieht den Verkäufer am Kragen zu sich heran und blickt ihm angsteinflößend ins Gesicht.
»Wenn jemand fragt, wir waren nie hier. Du hast uns noch nie in deinem Leben gesehen und hast keinen blassen Schimmer, wie diese Karre da draußen hier hergekommen ist«, sagt er eindringlich. Wäre Jaden nicht in der Lage, uns immer wieder auf diese Weise den Arsch zu retten, wären wir vermutlich längst tot. Der Verkäufer sagt kein Wort, starrt uns nur verängstigt an.
»Hast du das verstanden?«, hakt Jaden nach und zerrt noch stärker an seinem Hemdkragen, bis ein gequälter Ton über seine Lippen kommt.
»Ver- verstanden«, stammelt er. Umgehend lässt Jaden von ihm ab, schiebt mich vom Tresen weg. Immer wieder werfe ich panische Blicke hinter mich. Die Tür des schwarzen Vans wird ruppig aufgerissen, doch bevor ich weiter über die Art und Weise, wie wir sterben, nachdenken kann, hat Jaden mich an sich gezogen. Dicht an die Wand gepresst hören wir, wie das zerschellte Glas knackende Geräusche von sich gibt, als der Mann das Innere des Gebäudes betritt. Bei jedem Ton zittere ich noch stärker. Seine Schritte kommen näher, das Wimmern des Verkäufers wird mit jeder Sekunde lauter und unerträglicher.
»Wo sind sie?«, zischt er in dieser beängstigenden Stimme, die mich seither Nacht für Nacht verfolgt. Sein Anblick geht mir noch immer durch Mark und Bein und ein leises Wimmern entflieht meinen Lippen. Sofort presst Jaden mir seine Hand auf den Mund, erstickt jegliches Geräusch im Keim. Er sieht mich an und mein Herzschlag reguliert sich wieder etwas.
»Wo sie sind, hab ich dich gefragt!«, donnert der Mann nun deutlich lauter. Augenblicklich zucke ich zusammen.
»Ich … Ich habe keine Ahnung, von wem Sie sprechen«, sagt der Typ hinter dem Tresen, wirft uns jedoch einen verstohlenen Blick zu. Jaden verkrampft sich neben mir, ich kann spüren, wie stark sein Herz nun rast. Kyles Gehilfe zückt einen Umschlag, zieht ein Bild hervor und schiebt es über den Tresen. Nachdem der Verkäufer das Bild sekundenlang stumm gemustert hat, schüttelt er den Kopf.
»Tut mir leid, aber ich habe diese beiden noch nie gesehen.«
»Ach ja? Und wo kommt dann dieser Wagen her, der vor der Tür steht?«
»Der stand schon da, als ich heute Morgen herkam. Wir wissen nicht, warum.« Eines muss ich ihm lassen, in seiner Rolle als ahnungsloser Verkäufer geht er vollends auf. Wieder ein Zeichen dafür, dass wir Menschen ganz anders sein können, als man es von uns erwartet. Wir brauchen Abenteuer – wir brauchen Nervenkitzel. Als ich meinen Blick zurück zu meinem persönlichen Albtraum schweifen lasse und sehe, dass er kehrtmacht, atme ich erleichtert auf. Sobald ich Jaden lächeln sehe, weiß ich es: Er ist mein Abenteuer, mein Nervenkitzel. Das, was mich am Leben hält.
***
»Das war knapp«, stelle ich nüchtern fest, als ich in unseren neuen Wagen einsteige und die Tür hinter mir ins Schloss fallen lasse. Jaden nimmt Sekunden später neben mir Platz, startet den Motor und lässt ihn gequält aufheulen.
»Es tut mir so leid, dass ich dich da mit reingezogen habe, Heaven.« Ich lege ihm meine Hand auf den Unterarm, versuche ihn zu beruhigen. Auch wenn niemand Jaden beruhigen kann. Das habe ich in den letzten Tagen feststellen dürfen.
»Du weißt, dass du nichts dafür kannst. Sie wollen mich, weil … Ach vergiss es. Ich darf nicht mehr darüber nachdenken«, presse ich angespannt hervor, als ich meinen Blick nach draußen schweifen lasse. Die Sonne steht glühend heiß am Horizont, wird sich bald von uns verabschieden. Wir müssen von hier verschwinden, nachts ist es für uns gefährlicher als tagsüber. Nachts sind wir angreifbar, tagsüber schaffen wir es, zu fliehen.
»Wo schlafen wir heute?«, frage ich Jaden, weil diese Stille unerträglich für mich ist. Sie erinnert mich zu stark daran, wie oft Jaden sich noch immer vor mir zurückzieht. Auch wenn wir bereits so stark miteinander verbunden sind.
»Ich weiß es noch nicht, aber ich finde schon einen Ort. Mach dir keine Gedanken darüber.« Bevor ich antworten kann, werden wir von meinem vibrierenden Handy unterbrochen. Sobald ich den Namen meiner besten Freundin auf dem Display lese, wird mir übel. Seit Tagen weiche ich ihr aus, weil ich nicht weiß, wie ich es ihr erklären soll. Wir haben Ferien, dennoch muss sie sich tierische Sorgen um mich machen, schließlich habe ich mich noch nicht bei ihr gemeldet.
»Geh ran«, unterbricht Jaden meine Gedanken. Ungläubig sehe ich ihn an, aber er nickt mir nur bestärkend zu. Nachdem ich tief eingeatmet habe, nehme ich das Gespräch an.
»Ley?« Als ich den Schmerz in ihrer Stimme höre, fühle ich mich noch schlechter.
»Hey, Vic«, antworte ich ihr mit zittriger Stimme, versuche jedoch stark zu bleiben. Sie fehlt mir, aber ich weiß, dass ich in dieser Misere gefangen bin.
»Wo zur Hölle bist du?« Unter den Schmerz mischt sich nun Wut in ihre Stimme und ich kann sie verstehen. Keine Ahnung, wie verrückt ich an ihrer Stelle vor Sorge geworden wäre.
»Es tut mir leid, Vic. Die letzten Tage waren wirklich nicht leicht. Es … Es geht um meine Tante. Sue ist krank, Vic. Ich musste sofort zu ihr.« Als ich realisiere, welche Lüge ich ihr gerade auftische, werfe ich einen Blick auf Jaden. Doch er sieht mich nicht an, richtet seine komplette Aufmerksamkeit auf die Straße vor uns. Er weiß, dass es keine andere Möglichkeit gibt.
»Oh Gott, Ley. Wieso hast du mich nicht angerufen? Ich habe mir höllische Sorgen um dich gemacht! Wie lange bleibst du?«
»Ich weiß es noch nicht. Sobald es ihr besser geht, komme ich zurück. Aber sie braucht mich einfach, Vic. Sie ist alles, was mir neben Lucas noch geblieben ist.« Meine Worte sollen sie beruhigen, sollen mein Fehlverhalten erklären, dabei bedarf es viel mehr Worte. Doch in diesem Moment finde ich die passenden nicht. Also beende ich kurze Zeit später das Gespräch, lasse meinen Kopf gegen die kühle Scheibe des kleinen Audis sinken und schließe die Augen. Mich überkommt eine unerträgliche Müdigkeit, die ich nicht stoppen kann. Jeder Tag zehrt an mir, zehrt an uns. Die dunkeln Schatten unter Jadens Augen sind der beste Beweis dafür.
»Du hast das Richtige getan«, sagt Jaden nach einer gefühlten Ewigkeit. Ich öffne meine Augen und sehe ihn an. Ein scheues Lächeln tritt auf seine ebenfalls rissigen Lippen. Lippen, die ich viel zu lange nicht mehr auf meinen spüren durfte. Seitdem wir unterwegs sind, hat er sich mir nicht mehr auf diese Weise genähert.
»Ich hoffe, du hast Recht«, flüstere ich, greife nach seiner Hand, die auf der Schaltung liegt. Ohne zu zögern, verschränkt er seine Finger mit meinen. Er beruhigt mich und schafft es, dass ich mich sicher fühle. So sicher, wie man sich in unserer Situation fühlen kann.
»Ich liebe dich, Jaden.«
Dieser Satz kommt über meine Lippen, ohne dass ich über die Konsequenzen nachdenken kann. Es ist das erste Mal, dass ich es laut ausspreche. Meine Gefühle offenlege. Jaden erstarrt neben mir zu Eis, presst seine Lippen aufeinander. Auch wenn ich wusste, was passieren wird, trifft mich seine Reaktion unheimlich stark. Ein Glanz tritt in seine Augen, als würden sich Tränen in ihnen sammeln. So oft verschließt er sich vor mir, doch jetzt ist es, als würde ich direkt in seine Seele blicken. Die Seele, die nicht von dieser Kälte überzogen ist. Als sein Blick meinen trifft, wird mir übel. Der traurige Ausdruck in seinem Gesicht lässt mich zurückweichen.
»Ich habe es dir schon einmal gesagt, Heaven. Das … Das solltest du nicht.« Es scheint, als würde es ihn größte Überwindung kosten mich erneut abzuweisen. Ich sollte es nicht. Menschen sollten sich lieben, nicht hassen. Die Welt sollte in Frieden leben, anstatt ständig in Kriege auszubrechen. Kinder sollten gesund geboren werden, um im Alter friedlich von uns zu gehen. Neben all dem stehe ich. Ich sollte Jaden nicht lieben, das weiß ich. Und doch tue ich es – ich widersetze mich dem, was richtig ist. Wenn ich ihn ansehe, setzt mein Herz aus. Wenn er mich berührt, werde ich von einer Gänsehaut überzogen. Wenn ich seine Stimme höre, beruhige ich mich. Wie also kann diese Liebe falsch sein?
»Was ist, wenn uns jemand sieht, Jaden? Oder schlimmer noch – wenn jemand die Polizei ruft?« Panisch starre ich abwechselnd von der Tür zum Wald hinter mir. Mein Herz rast in meiner Brust, so dass ich jeden Schlag spüre, als wäre er ein Erdbeben. Jaden sieht mich nicht an, als er mir antwortet.
»Hier ist niemand, Heaven.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Bist du vielleicht ein klein wenig paranoid, Süße?« Sein Lächeln ist klar und deutlich herauszuhören, aber es ändert nichts an den pulsierenden Schlägen in meiner Brust und dem unguten Gefühl in meiner Magengegend.
»Ich will ja eigentlich nicht darauf herumreiten, aber … Seitdem ich dich kenne, sind mir die seltsamsten Dinge passiert, Jaden. Ein Irrer, der im Wald in der Nähe einer Hütte auf mich wartet, ist gar nicht so abwegig«, antworte ich ihm ebenfalls schmunzelnd. Ein leises Knacken erfüllt die Luft, dringt in meine Ohren und lässt mich hochschrecken. Sobald ich das Geräusch lokalisiert habe, entspanne ich mich. Jaden öffnet die kleine Tür der Holzhütte und lässt mir den Vortritt. Ich sage ja, ein Tag mit Jaden und Abenteuer werden großgeschrieben.
»Tja, immer für eine Überraschung gut«, murmelt er, während ich mich an ihm vorbeidränge. Bevor ich die Türschwelle jedoch übertreten kann, hat Jaden mich an sich gezogen und sieht mich an. Sachte streicht er mir eine meiner zerzausten Strähnen hinters Ohr, legt seine warme Handfläche auf meine Wange und lächelt verlegen.
»Ich will dir ja glauben, aber was ist, wenn uns wirklich jemand gesehen hat?«
Sein Lächeln wird breiter und mit jeder Sekunde wächst mein Verlangen, ihn endlich wieder zu küssen.
»Dann sagen wir ihm, dass er nichts gesehen hat. Du müsstest doch mittlerweile wissen, dass es blendend funktioniert.« Leicht stupse ich ihm in die Rippen, genieße die wenigen Sekunden, in denen wir uns körperlich so nah sein können.
»Du bist ein Bilderbuchbadboy, kann das sein?«
»Ihr Frauen steht doch drauf«, ist alles, was er erwidert, als er seine pulsierende Handfläche von meiner bereits glühenden Wange nimmt. Sofort zieht ein eisiger Schauer über meine Haut – lässt mich frieren. Jaden schiebt mich von sich weg und rein in das Innere der Hütte – unser Schlafplatz in dieser Nacht. In den letzten Tagen haben wir meistens in Jadens Wagen geschlafen. Auch wenn von Schlaf kaum die Rede war – ich war einfach zu eingeschüchtert. Mit jedem Tag, der vergeht, legt sich diese Unsicherheit. Beim Gedanken daran, dass Jadens Wagen einfach so ausgetauscht wurde, wird mir schwer ums Herz.
»Herzlich willkommen in der schönsten, gemütlichsten und … ja …«, beginnt Jaden, doch als er sich um seine eigene Achse dreht und unsere Umgebung mustert, runzelt er die Stirn.
»Herzlich willkommen in der kleinsten Hütte der Welt. Meine Güte, von außen sah sie bedeutend größer aus«, vollendet er seinen angebrochenen Satz und schließt die Tür hinter uns. Ich ziehe mir die Schuhe aus, befreie mich aus meiner Jacke und lasse sie auf die kleine, dunkelblaue Couch fallen, die den größten Teil des Raumes ausmacht. Ich lasse meinen Blick über den Rest des Zimmers schweifen. In der Ecke steht ein winziges Bett aus Holz, das eindeutig nur für eine Person ist. Die gemütlichen Fensterläden verschaffen der Hütte das gewisse Etwas und der Kamin, der neben der Couch steht, macht es perfekt.
»Das Bett ist ziemlich klein«, werfe ich in den Raum, ohne genau über meine Worte nachgedacht zu haben. Jaden hält in seiner Bewegung inne, wirft seine Jacke ebenfalls auf die Couch und bedeutet mir dann, das Bett zu nehmen.
»Ich werde auf der Couch schlafen.« Die Vorfreude, die in meinem Inneren keimte, wird sofort erstickt. Weil ich mir meine Enttäuschung nicht anmerken lassen will, nehme ich es hin, ohne ein Wort darauf zu erwidern. Wenn Jaden nicht neben mir liegen will, kann ich auch nichts daran ändern.
»Ich werde es noch einmal bei Pete versuchen«, sage ich, um die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. Außerdem wollte ich ihn schon längst anrufen. Ich habe es schon öfter auf seinem Handy probiert, aber er hat nie abgenommen. Die Tatsache, dass er sich noch nicht bei mir gemeldet hat, versetzt mich in Sorge. Pete ist nicht nur mein bester Freund. Er war schon immer mehr – er ist wie ein großer Bruder für mich, der stets nach dem Rechten sieht. Der nachfragt, wenn etwas nicht stimmt. Dieses Verhalten passt nicht zu ihm. Vor allem nicht, nachdem er meine Wunden gesehen hat. Jaden weicht meinem Blick aus, als ich Petes Namen laut ausspreche. Noch immer kann er seinen Stolz nicht vergessen. Bevor ich mich auf die kommende Unterhaltung vorbereiten kann, springt Petes Mailbox an. Enttäuscht lasse ich meine Schultern hängen.
»Er wird sich sicher bald melden. Gib ihm Zeit. Es ist das zweite Mal, dass du ihn einfach vor den Kopf gestoßen hast. Männer verkraften das nicht.« Seine Worte wirken einstudiert und selbst wenn er sie ernst meinen würde, glaube ich ihm keines davon. Dabei vertraue ich ihm sonst blind – was zur Hölle läuft hier schief?
»Vielleicht hast du Recht. Seltsam ist es trotzdem.« Ohne einen weiteren Gedanken an seine seltsame Reaktion greife ich in meine Tasche, die Jaden auf dem Boden abgestellt hat. Wir haben uns unterwegs einige Utensilien besorgt, die wir nicht mitnehmen konnten. Schließlich hatten wir keine Zeit, über irgendetwas außer unser Überleben nachzudenken.
»Ich hoffe, hier gibt es eine Dusche. Sonst werde ich wahrscheinlich kein Auge zubekommen«, jammere ich und ziehe das Shampoo und meine Zahnbürste heraus.
»Da hinten ist ein Bad. Ich meine, eine Dusche gesehen zu haben.« Ich mache mich auf den Weg in die Richtung, die Jaden gezeigt hat, und finde wirklich etwas, das wie ein Bad aussieht. Ich schließe die Tür hinter mir ab. Auf keinen Fall will ich beobachtet werden, schließlich … Ach vergessen wir das. Ich ziehe mir meinen Pulli über den Kopf, steige aus der Jeans und betrachte mich im Spiegel. Noch immer gefriert mein Blut in den Venen zu Eis, wenn ich die tiefroten Striche auf meinen Oberschenkeln sehe, die mich entstellen. Mittlerweile habe ich keine Ahnung, wie ich es so weit kommen lassen konnte. Es ist eine Schande – eine, die mich für immer zieren wird. Seitdem wir unterwegs sind, habe ich keinen Gedanken mehr daran verschwendet, mich auf diese Weise zu entstellen.
Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht daran liegt, dass ich keine Zeit habe darüber nachzudenken. Im Allgemeinen bin ich viel entspannter, viel ruhiger geworden, seitdem ich mit ihm auf der Flucht bin. Es mag sich verstörend und vollkommen unplausibel anhören, aber ich schaffe es wieder, frei zu atmen. Auch wenn ich dachte, innerlich schon tot zu sein.
Kopfschüttelnd öffne ich meinen BH, lasse ihn achtlos zu Boden fallen und streife mir meine Hotpants herunter. Ich steige unter die beengende Dusche und drehe das Wasser auf. Sobald es eine angenehme Temperatur erreicht hat, atme ich einige Male tief ein und aus. Ich schäume mich mit dem Shampoo ein, genieße den Duft und schließe meine Augen. Immer wieder erinnere ich mich an das Gefühl, das Jaden mir gegeben hat, wenn er mir nah war. Wenn er mich umarmt, mich geküsst, mich gehalten hat. Seit Tagen weicht er mir aus, doch hier – allein – habe ich endlich wieder Zeit, mich wenigstens daran zu erinnern. An das Knistern, das in der Luft lag, seinen Atem auf meiner Haut, seine Lippen auf meinen …
Nach der ausgiebigen, heißen Dusche trockne ich mich in Höchstgeschwindigkeit ab und mache mich wieder auf den Weg in den kleinen Wohnbereich. Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe, reißt Jaden seinen Kopf in meine Richtung.
Sein Blick gleitet über meinen Körper, untersucht jeden Zentimeter an mir. Ich erröte. Ohne ihm Beachtung zu schenken, stopfe ich meine Klamotten und das Shampoo zurück in meine Tasche und bleibe am Fenster stehen. Ein Blick nach draußen und sofort überkommt mich wieder dieses Unbehagen, das mich vorhin überwältigt hat. Der Wald liegt dunkel und beängstigend vor mir. Ein Schauer jagt über meinen Nacken und findet seinen Weg zu meiner Wirbelsäule. Gänsehaut überzieht meinen Körper. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Jaden direkt hinter mir steht. Sein warmer Atem umschlingt meinen Nacken, verursacht ein heftiges Beben in meinem Brustkorb. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, wie nah wir uns sind, hat er seine Hände um meine Taille geschlungen. Jegliches Unbehagen, alle Ängste, die ich vor einigen Sekunden noch hatte – sie sind endgültig verpufft.
»Es tut mir leid«, murmelt er, dicht in mein Haar gepresst. Seine Nasenspitze kitzelt mich, ein kleines Kichern kommt über meine Lippen. Dabei sollten seine Worte eine ganz andere Reaktion hervorrufen.
»Was tut dir leid?«, frage ich ihn irritiert und lehne meinen Kopf an seine Schulter. Im Augenwinkel kann ich sehen, wie nachdenklich er ist – und es macht mir Angst.
»Dass ich dich in den letzten Tagen nicht an mich herangelassen habe. Glaub mir, wenn ich es mir aussuchen könnte … Ich würde alles anders machen.« Scheu sehe ich zu ihm hoch und drehe mich in seiner Umarmung um. Nun stehe ich mit meiner Brust an seiner und kann wieder einmal sein Herz schlagen hören. Wie der Bass eines schönen Liedes pocht es unter mir.
»Wie meinst du das? Wenn du dir was aussuchen könntest?«, hake ich nach und zwinge ihn mir endlich in die Augen zu sehen.
»Jede Gabe … Jede Gabe birgt einen Fluch«, haucht er, wendet seinen Blick schon einen Wimpernschlag später von mir ab. Seine Worte ergeben keinen Sinn, lassen mich unwissend zurück.
»Was für einen Fluch?« Meine Stimme ist ruhig, doch man hört ihr an, wie durcheinander ich bin.
»Ich kann zwar die Gefühle von anderen beeinflussen, aber dafür habe ich keine Kontrolle über meine eigenen. So wie jetzt.« Als er die letzten drei Worte ausspricht, sieht er mir wieder direkt in die Augen. So wie ich es von ihm gewohnt bin. Damals hat mich diese Eigenschaft an ihm verrückt gemacht – mittlerweile vermisse ich es, ihm oft nicht in die Augen blicken zu können.
»Was ist jetzt?« Mein Atem geht stockend. Seine Hände liegen noch immer an meiner Taille, ziehen sanfte Kreise darüber. Dass er mich damit um den Verstand bringt, scheint er nicht zu bemerken.
»Jetzt … würde ich dich gern küssen, Heaven.« Seine Worte klingen wie eines der Lieder, die man in Dauerschleife hören möchte. Seit Tagen warte ich sehnsüchtig darauf, diesen Satz aus seinem Mund zu hören, und jetzt ersticken mich seine Worte.
»Dann küss mich«, hauche ich ihm entgegen, flehe ihn an, seine Worte in Taten zu verwandeln.
»In der nächsten Sekunde könnte ich dich wieder von mir stoßen wollen.«
»Dann solltest du diese Sekunde ausnutzen, meinst du nicht?«, frage ich ihn.
Bevor ich darüber nachdenken kann, was jetzt folgen wird, hat Jaden seine Lippen auf meine gelegt. Seine Hände umfassen meinen Hinterkopf, während er mich küsst. Kein Zentimeter Luft würde mehr zwischen uns passen. Die Moleküle um uns herum tanzen, vibrieren und verpuffen unter dem Strom, der das Innere dieser Hütte umgibt. Sanft verstärke ich den Druck auf seine Lippen, kralle mich in seinem Haar fest und lasse mich fallen.
Doch bevor ich meinen freien Fall in vollen Zügen genießen kann, werde ich in die Realität gerissen.
Die Tür der Hütte wird mit einem Schwung aufgestoßen – kalter Wind strömt hinein und lässt mich erzittern. Jaden stellt sich schützend vor mich, sein Blick ist angespannt. Im selben Moment erscheint ein Mann in der Tür. Sein dunkler Mantel erinnert mich an meinen Albtraum, doch als ich ihn mustere, erkenne ich die Unterschiede.
Seine dunklen Haare sind elegant gestylt, seine Augen wirken viel zu jung, viel zu freundlich. Die pure Angst steht in seinen Augen, als er uns entdeckt und einen Schritt zurückweicht. Ohne einen Ton über die Lippen zu bringen, lässt er die Tür ins Schloss fallen und geht zur kleinen Nachttischlampe. Einen Augenaufschlag später liegt alles im Dunkeln.
»Wer zur Hölle bist du?«, knurrt Jaden beinahe unmenschlich, schiebt mich dicht ans Fenster heran. Sobald der Fremde die Fensterläden erblickt, zwängt er sich zwischen uns und verschließt auch diese. Es ist mittlerweile so dunkel in der Hütte, dass wir uns kaum noch selbst erkennen können. Ich greife nach Jadens Hand, sehe hilfesuchend zu ihm. Ohne mich zu beachten, packt Jaden den Kerl am Kragen und drückt ihn mit voller Wucht gegen die Wand.
»Wer zu Hölle du bist, hab ich dich gefragt«, zischt er erneut, dieses Mal noch beängstigender. Der Fremde reißt seine Augen auf und wirft mir einen hilfesuchenden Blick zu.
»Mein Name ist Travis«, presst er keuchend hervor, weil Jaden ihm noch immer die Luft zum Atmen nimmt.
»Okay, Travis …« Jaden betont seinen Namen, als wäre er Gift.
»Was willst du hier?«
»Er ist hinter mir her«, keucht er, noch immer in Jadens Fängen. Sanft lege ich ihm eine Hand auf den Rücken und ziehe ihn ein Stück von Travis weg.
»Kannst du vielleicht aufhören in Rätseln zu sprechen? Wer ist hinter dir her?« Jaden funkelt ihn noch immer wutentbrannt an, obwohl ich mir sicher bin, dass von ihm keine Gefahr ausgeht.
»Kyle – dieser Freak.« Sein Atem geht stoßweise und die Art und Weise, wie er diesen Namen ausspuckt, lässt mich zusammenfahren.
»Moment welcher Kyle?« Auch Jadens Verhalten hat sich seit dem Ausspruch dieses Namens drastisch verändert. Er wirkt deutlich ruhiger, aber noch immer hält er Travis am Kragen fest, als würde sein Leben davon abhängen.
»Kyle Rox. Dieses masochistische Arschloch«, donnert Travis nun deutlich markanter und umgehend lässt Jaden von ihm ab.
»Woher kennst du Kyle?«, schießt es plötzlich aus mir heraus. Travis blickt mich entgeistert an, räuspert sich und schlägt sich einige Male selbst gegen den Brustkorb, als hätte er sich verschluckt. Seine dunklen Augen fokussieren mich.
»Woher kennt ihr ihn?«
»Rate mal, wer sich vor ihm versteckt«, antworte ich, öffne eines der Fensterläden ein Stück und spähe hinaus in die Dunkelheit. Noch immer ist nichts zu erkennen – bis auf die Schwärze, die alles verschluckt.
»Tja – und ich bin gerade durch die halbe Stadt gehetzt worden.«
Jaden geht im Zimmer auf und ab. Er ist nervös, das sehe ich ihm an.
»Du willst mir also sagen, dass Kyle dich ebenfalls verfolgt? Durch die ganze Stadt? Und du ihn vermutlich gerade direkt in unsere Arme geführt hast?« Jadens Stimme lässt alles einfrieren. Selbst Travis weicht ein Stück zurück, lässt sich auf die Couch fallen und bettet seinen Kopf in die Hände.
»Ich hab ihn abgehängt.«