Für alle, die täglich kämpfen, leiden und sich verlieben.
Für diejenigen, die mitfiebern, lächeln und weinen.
Für all jene, die bereits etliche Leben gelebt haben.
Für jeden Leser.
Ich durfte keine Bücher besitzen.
Ganz gleich, wie oft man es mir eingebläut hatte, ganz gleich, wie genau ich wusste, dass es mir verboten war, außerhalb des Instituts zu lesen – ich konnte dem Drang nicht widerstehen. Nicht nach dem heutigen Tag.
Der kleine Laden, der wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht war, sprach all meine Sinne auf einmal an. Die zwei kleinen Schaufenster rechts und links der Tür waren von zarten Eisblumen bedeckt, die den Blick auf die uralten Bücher verzerrten. Das Holzschild über dem Eingang quietschte im Schneegestöber leise und versetzte mich in eine andere Zeit. Als ein Mann das Geschäft verließ, brachte er den Duft von alten Büchern, Staub und Leder mit nach draußen – den Geruch der Bibliotheca Elementara. Dann glitt die Tür langsam hinter ihm zu, und das Geräusch von kleinen Glöckchen ertönte, die mir zuzurufen schienen, wie einst die Sirenen ihre Opfer zu sich gerufen hatten.
›MacMillan's Bookshouse‹ übte eine Macht auf mich aus, der ich mich wider besseren Wissens nicht entziehen konnte. Mein Herz klopfte, als ich meine Hand auf den kalten Messingknauf legte und mit etwas Druck die Tür öffnete. Der Reiz des Verbotenen.
Ich holte tief Luft und betrat begleitet von der Melodie der Glöckchen die Buchhandlung. Sofort ummantelte mich der intensive Geruch von abertausenden geschriebenen und gedruckten Wörtern und ließ mich trotz der plötzlichen Wärme erschaudern. So viele Geschichten, so viele Emotionen auf kleinstem Raum. Wie von einem unsichtbaren Band gezogen trat ich an eins der seitlichen Regale, meine Hand erhob sich ohne mein Zutun und griff nach einem in rotes Leder gebundenen Buch.
Wenn es Liebe auf den ersten Blick wirklich gibt, wie es so oft erzählt wird, dann traf mich Amors Pfeil in diesem Moment der ersten Berührung. Ich wusste, ich würde alles dafür tun, würde mich über sämtliche Bestimmungen hinwegsetzen und alle mir auferlegten Verbote missachten – nur um es zu besitzen.
Und egal, wie laut sich in meinem Kopf eine kleine flüsternde Stimme regte, die mir sagte, ich solle es nur niemals aufschlagen, ich ignorierte sie.
Hier wollte ich es auch gar nicht aufschlagen, wollte nicht auf mich aufmerksam machen. Daher blickte ich mich verstohlen um, presste das Buch an meine Brust, genoss den Duft des Leders, der zu mir aufstieg, und ging zu dem kleinen hölzernen Tresen, hinter dem ein Mann mit grauen Haaren und Brille saß.
Erst als ich mich räusperte, blickte er von dem dicken Wälzer vor sich auf. Widerwillig legte ich das rote Buch auf den Tresen und schob es zu ihm hin. Ich zitterte, mein Herz klopfte. Was, wenn er mich erkannte? Wenn er wusste, was ich war? Er nahm das Buch in die von Altersflecken übersäten Hände, musterte es und betrachtete mich anschließend aus zusammengekniffenen Augen.
Er weiß es, flüsterte die Stimme in mir und drängte mich dazu, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Doch ich widersetzte mich ihrem Rat und holte langsam Luft. Der Moment verging wie in Zeitlupe, eine gefühlte Unendlichkeit, bis sich der alte Mann der antiken Registrierkasse zuwandte und den Betrag eintippte. Mit einem Klingeln öffnete sich die Schublade, während er mir den Preis nannte. Ich schluckte und zog mein Portemonnaie aus der Umhängetasche. Mein letztes Geld wanderte in die Hände des Alten und weiter in den Rachen der Registrierkasse. Wortlos packte er das rote Buch in ein Papier und reichte es mir.
Als es sich wieder in meiner Obhut befand und ich es sorgfältig in meine Tasche packte, beruhigte sich mein Herzschlag sofort. Ich bemerkte, dass ich den Atem angehalten hatte, und ließ ihn in einem Zug entweichen. Ohne zu grüßen, verließ ich den Laden.
Der helle Klang der Glöckchen über der Tür kam mir nun wie ein Alarm vor. Eilig hastete ich die Gasse entlang, eine unerklärliche Angst im Nacken, dass sie mich jeden Moment erwischen könnten. Das, was ich vorher als Kick des Verbotenen empfunden hatte, wich einem schlechten Gewissen. Es war verboten, eine unserer obersten Regeln.
Ich nahm mir fest vor, das Buch noch vor der Ankunft in der Akademie loszuwerden, aber ich konnte es nicht. Ich spürte all das Leid, das ich ihm damit zufügen würde.
Meine Tasche fest an mich gepresst, betrat ich den weitläufigen Eingangsbereich der Akademie, durchquerte sie hastig und eilte die geschwungenen Stufen zu den Wohnsälen hinauf. Jemand rief meinen Namen, aber ich ignorierte die Stimme.
In meinem Zimmer beruhigte sich mein Herzschlag wieder. Langsam, beinahe andächtig, holte ich das in Papier gewickelte Buch aus meiner Tasche, packte es vorsichtig aus und strich sorgsam über den roten Ledereinband.
Was hatte dieses Buch an sich, das mich so anzog? Warum rief es lauter nach mir als all die Milliarden von anderen Büchern dort draußen?
Das sollte ich ein paar Jahre später herausfinden.
Die Überreste der Vampire zerstreuen sich in der leichten Brise, bis auch der letzte Beweis für den Kampf in der dunklen Gasse vernichtet ist. Eine weitere Nacht, in der er auf der Jagd war. Auf der Jagd nach Hinweisen. Eine weitere erfolglose Nacht. Doch er wird die Hoffnung nicht aufgeben, da bin ich mir sicher.
»Hey Lin, wie viele hast du letzte Nacht gelyncht?«, fragte mich Ty, noch ehe ich meine Jacke ausgezogen und mich ihr gegenüber hingesetzt hatte. Hastig sah ich mich um und hoffte, dass niemand in dem vielbesuchten Café etwas gehört hatte. Doch die Leute im Milk & Sugar, deren Blicke ich beim Betreten meines Lieblingscafés auf mich gezogen hatte, waren in ihre Unterhaltungen vertieft oder hatten sich bereits wieder ihrem Frühstück zugewandt. Erleichtert atmete ich auf.
»Ty!«, zischte ich, während ich versuchte mahnend dreinzuschauen, doch sie grinste mich nur breit an. Kopfschüttelnd warf ich meine Jacke über die Lehne, ließ mich anschließend auf den Stuhl sinken und wartete auf den Vortrag, der auf solche Ermahnungen typischerweise folgte. »Du hättest es mir eben nicht erzählen dürfen.« oder »Es ist viel zu aufregend, um nicht darüber zu reden.«
Seit ich Ty vor Jahren entgegen aller Vorschriften in mein Geheimnis eingeweiht hatte, hatten wir schon sehr viele solcher Diskussionen geführt. Und von der ersten an hatte ich verstanden, warum all die Charaktere in den Büchern ihren besten Freundinnen niemals von ihren paranormalen Geheimnissen erzählten. Doch ich war mir sicher gewesen, dass eine wahre Freundschaft keinerlei Geheimnisse duldete. Wie oft hatte ich über die zahlreichen Romane, die ich tagtäglich las, den Kopf geschüttelt. Was hatten die ganzen Hauptcharaktere der Bücher denn für Freunde, wenn diese nicht spürten, dass da etwas zwischen ihnen und den Protagonisten stand?
Ty jedenfalls war keine solche Freundin. Sie wusste, dass ich ständig unterwegs war, dass mein Job ganz anderer Art war, als in der Stadtbibliothek Bücher zu katalogisieren. Dort hatte ich Ty am Ende des ersten Ausbildungsjahres kennengelernt und wenige Wochen später waren wir unzertrennlich gewesen. Zwischen uns passte es einfach, sie war die beste Freundin, die man sich vorstellen konnte und ich hatte ihr meine wahre Berufung nicht verheimlichen können. Zum Glück hatte ich sie eingeweiht, denn wenig später war die Sache in London passiert und ich war froh gewesen mit ihr darüber reden zu können.
Mit einem »Erde an Monsterjägerin!« holte mich Ty aus meinen Gedanken, was ihr wiederum einen erbosten Blick einbrachte. »Hast du letzte Nacht interessante Typen getroffen?« Ihre Augen leuchteten wie die eines Kleinkinds an Weihnachten und ich konnte ihr wieder einmal nicht böse sein.
Daher seufzte ich theatralisch auf und begann zu erzählen. Ich endete schließlich mit: »Für dich war nichts dabei.«
Ty stellte diese Frage nur aus einem Grund: Sie war fasziniert von Vampiren, insbesondere den geheimnisvoll wirkenden mit gelb leuchtenden Augen. Daher wusste ich, wie ich diese verbotene Unterhaltung in der Öffentlichkeit am schnellsten beenden konnte. »Nur ein Vampir aus einer recht unbekannten Geschichte. Den hat Ric schneller einkassiert, als wir ihn zuordnen konnten.«
»Eine Sauerei, dass gerade dieser Arsch für die Vampire zuständig ist«, seufzte Ty und ihr Blick glitt in die Ferne.
Ich sah mich nach Sophie, der Kellnerin, um und signalisierte ihr, dass ich das Übliche haben wollte: eine große Latte macchiato mit Karamellgeschmack und extra Milchschaum. Sophie machte mit Abstand den besten Kaffee der Stadt – ganz gleich, in welcher Form.
»Ich habe gestern wieder einmal ›Biss zum Morgengrauen‹ gelesen, weißt du.« Tys Blick war immer noch wie verschleiert. Seit sie wusste, was genau mein Job war, las sie das Buch mindestens einmal die Woche und hoffte, dass Edward auftauchen würde. Auch wenn das statistisch gesehen eher unwahrscheinlich war. Die Seelenlosen, wie wir sie nannten, tauchten niemals direkt vor einem auf. Es war nicht vorhersehbar, wo genau sie sich materialisieren würden, was Ty jedoch nicht zu glauben schien. In solchen Momenten wünschte ich mir wirklich, ich hätte sie niemals eingeweiht.
»Mensch, Ty. Vergiss diesen Typen. Es gibt doch genügend echte Jungs.« Meine Hand beschrieb einen Bogen, der das Café und die ganze Welt beinhaltete.
»Das sagst ausgerechnet du mir?«
Ich hatte es geahnt und verzog sofort das Gesicht.
»Wenn du diesen Zac aus ›Otherside‹ anschmachten und herwünschen darfst, steht mir das doch genauso zu.« Ihre Augenbraue war auf die für sie typische Weise erhoben: als würde sie gelassen auf Widerspruch warten – keiner konnte das so gut wie sie.
Und sie hatte ja Recht. Auch mich interessierten die normalen Typen nicht. Idioten, die mir als Kind Matsch in die Haare geschmiert, mir als Schülerin dumme Sprüche an den Kopf geworfen und als Teenager ihre dämlichen Flirtratgeber an mir ausprobiert hatten. Nein, danke. Auf sowas konnte ich verzichten. Zac hingegen … Nein, keine Tagträume heute. Ty schien meine Gedanken genau richtig interpretiert zu haben und hob siegessicher die Mundwinkel. Ich hingegen ließ mich geschlagen wieder nach hinten fallen. »Ja, ja, ich bin schon still.«
Die nächsten Minuten verbrachten wir in stiller Eintracht und löffelten den Milchschaum von unseren Lattes. Irgendwann musste Sophie mir eine ganze Badewanne damit füllen. Ein Luftzug holte mich aus meinen Milchschaumträumen und ich wandte mich zur Tür um.
Ty seufzte. »Wenn man vom Teufel spricht …«
Der Duft von Kaminfeuer gemischt mit Vanillegeruch umfing mich, bevor ich ihn sprechen hörte. Sofort schlug mein Herz schneller.
»Hi Mädels, etwas Feuer gefällig?« Mit diesen Worten trat Ric zu uns, schnappte sich ohne zu fragen einen Stuhl vom Nachbartisch, stellte ihn verkehrt herum zu uns und ließ sich mit bestem Gewissen darauf fallen. Die beiden Jungs, die den Stuhl vielleicht noch für Nachzügler gebraucht hätten, wagten nicht, sich zu beschweren. Ric machte einen zu einschüchternden Eindruck mit seinen 1,80, dem Latino-Mafioso-Look mit den dunklen adrett frisierten Haaren über den goldenen Augen, die wie Kontaktlinsen aussahen, und dem halb aufgeknöpften Hemd.
Mir hingegen blieb die Luft weg. Und das lag sicher nicht an seinem beeindruckenden Aussehen, sondern an seinen nicht vorhandenen Manieren. Riccardo Fiorenzo war der unausstehlichste, arroganteste, selbstverliebteste Mensch auf dem Planeten. Er sonnte sich in den Blicken anderer, als würde er sie zum Überleben brauchen. Ty und ich hatten schon vor langem die Theorie aufgestellt, dass seine zweite Gestalt kein Zufall sein konnte. Ric war ein Drache – im doppelten Sinn. Sein Element war Feuer und je mehr Energie er daraus benötigte, umso mehr nahm er die Gestalt seines Elementarwesens an. Doch die Größe des Drachen war ein Witz im Vergleich zu seinem Ego. Seit dem Tag, an dem wir gemeinsam an die Akademie gekommen waren, war er einfach in allem der Beste – was ja sein gutes Recht war. Dennoch musste er das nicht jedem tagtäglich auf die Nase binden. Welches Glück ich doch hatte, ausgerechnet mit ihm in einem Team zu sein. Yihaa.
»Wo ist nur Coral, wenn man sie mal braucht«, stöhnte ich und sehnte mir die Wasserelementarierin – seinen Gegenpol herbei, die Ric mit ihrer ruhigen Art zumindest ein wenig anzustecken schien.
»Als ob das etwas nützen würde. Mein Feuer erlischt nie, willst du es nicht mal ausprobieren.« Mit zuckenden Brauen brannten sich seine goldenen Augen in meine.
»Vielleicht kann ich dich löschen – ich muss mich nämlich gleich übergeben«, mischte sich Ty ein und machte Würgegeräusche, die sofort die Blicke des gesamten Cafés auf sich zogen.
Ric sah Ty so böse an, dass sie jeden Moment hätte in Flammen aufgehen können. Ich roch schon eine feine Rauchnote und hob schnell beschwichtigend meine Hand.
»Was verschafft uns die Ehre deiner Anwesenheit an meinem freien Tag?«, fragte ich und legte eine Extraportion Sarkasmus in die Stimme, die seinen Drachenpanzer jedoch nicht zu durchdringen vermochte.
»Es hat wieder einen Störfall gegeben. Wir sollen sofort ins Institut kommen. Und hättest du vielleicht mal einen Blick auf dein Handy geworfen, anstatt mit gewöhnlichen Menschen in Cafés abzuhängen, wüsstest du das längst.« Sein Ton war besserwisserisch wie eh und je und er sah Ty dabei mit zusammengekniffenen Augen an.
Ich verzog das Gesicht, während ich in meiner Tasche nach dem Handy wühlte. Tatsächlich. Drei verpasste Anrufe und mehrere Nachrichten.
»Und warum haben sie ausgerechnet dich geschickt, Lindwurm«, stichelte Ty und kassierte den nächsten tödlichen Blick. Mein Team wusste, dass ich Ty eingeweiht hatte. Sie akzeptierten es und verrieten mich nicht. Selbst Ric nicht, was ich ihm hoch anrechnete. Doch auch dieser Umstand machte ihn kaum erträglicher.
»Lin, Coral und Peter sind schon im Institut und ich …« Er unterbrach nur für einen winzigen Moment, seine Zunge glitt über seine vollen Lippen. »Ich war zufällig in der Nähe.«
Ja, klar, mit der Eroberung des Tages. Ich seufzte. Wieso waren alle Mädchen in unserem Alter so strohdoof und warfen sich diesem Typen an den Hals, nur weil er recht gut aussah? Hofften die tatsächlich alle, gerade sie wären diejenige, die ihn ändern und für immer an sich binden würde? Etwas Realismus hatte noch niemandem geschadet. Andererseits – so würde es neue Bücher über den geheimnisvollen, gutaussehenden Typen geben, dessen Herz es zu erobern galt. Geschichten über typische Bad-Boys wie Ric. Und Mädchen würden ihr Herz an diese Figur verlieren, dem Seelenlosen Leben einhauchen und ihn in unsere Welt holen – und wir würden für immer und ewig auf die Jagd nach ihm gehen. Ric war die lebende Version dieser Bad-Boy-Verschnitte aus den Romanen und würde ebenso für immer Groupies haben.
Binnen zwei Minuten hatte ich meine Latte ausgetrunken, mich tausend Mal bei Ty entschuldigt und missmutig Jacke und Tasche geschnappt. Anschließend folgte ich Ric nach draußen. Direkt vor dem Café, mitten in der Fußgängerzone im absoluten Halteverbot, stand sein leuchtend orangefarbener Lamborghini Diabolo GT und schimmerte in der Oktobersonne wie ein Flammenspiel. Ich seufzte, als ich die Beifahrertür hochklappte und mich nach unten auf den Sitz fallen ließ. Sofort umgab mich der Geruch von Leder und dem Vanille-Lufterfrischer, der in Form eines Drachen am Rückspiegel baumelte. Ich legte den Fünf-Punkt-Gurt an, als Ric den Motor startete und der Wagen erzitterte, als würde ihm der Teufel höchstpersönlich Energie verleihen.
Zwanzig Minuten später stieg ich etwas umständlich aus dem Diabolo. In meinem ganzen Körper spürte ich noch das Echo der Vibrationen des Autos und überall kribbelte es wie Tausende von Ameisen. Etwas wacklig auf den Beinen trottete ich hinter Ric her, durch die Tiefgarage unter der Stadtbibliothek. Im Fahrstuhl drückte er seinen Daumen auf das unscheinbare Feld unter den Knöpfen für »Antiquariat« im Obergeschoss und »Bibliothek« im Erdgeschoss. Die Tür des Fahrstuhls schloss sich und wir fuhren tief in die Erde hinab. Mit einem leisen »Bing« öffnete sich die Tür und ich befand mich in einer anderen Welt. Meiner Welt.
Ganz gleich, wie oft ich das Institut schon betreten hatte, ich bekam immer noch eine Gänsehaut bei dem Anblick, der sich mir bot. Es fühlte sich an, als hätte man den Eingangsbereich einer alten Villa aus einem anderen Jahrhundert betreten. Der Kronleuchter, der an der Decke hing, befand sich rund zehn Meter über mir. Rechts und links führten geschwungene Treppen nach oben, als hätte sich der Architekt an dem Schloss des Biestes aus Disneys Meisterwerk orientiert. Die Treppen und das Geländer sowie der gesamte Boden bestanden aus weißem Marmor, dessen metallene Adern unter dem Licht des Kronleuchters und der zahlreichen Wandstrahler funkelten. Unter diesen Treppen führte eine drei Meter hohe doppelflügelige Tür zur Bibliotheca Elementara, dem Herzen des Instituts. Seit etwas mehr als vier Jahren kam ich täglich hierher – während meiner Ausbildung hatte ich sogar hier gewohnt – und trotzdem überkam mich immer eine Ehrfurcht, wenn ich diese heiligen Hallen der Wächter betrat.
»Du kannst den Mund wieder schließen, Tinkerbell.« Ric stupste mich am Arm und sofort schlug meine Faszination in Ärger um. Er wusste, dass ich diesen Spitznamen hasste. Mein Elementarwesen war eine Fee und trotzdem hatte ich nichts, aber auch gar nichts, mit der bekannten Fee aus der Literatur zu tun. Ich schnaubte und flüchtete mit schnellen Schritten vor Ric, ehe ich etwas sagte, das mir später leidtun könnte. Obwohl, vielleicht auch nicht.
Zu spät.
Bevor ich die große weißlasierte Tür öffnete, hielt ich wie immer für einen kurzen Moment inne, um mich auf den Geruch vorzubereiten. Ein Kribbeln im Bauch signalisierte mir, dass ich nach all den Jahren immer noch aufgeregt war. Mein Puls stieg an. Mein Wächter-Amulett pulsierte und mich umgab eine leichte Brise. Mein Element spürte meine Aufregung. Trotz der imposanten Größe schwang die Tür leicht auf, das Quietschen, das man erwarten würde, blieb aus und selbst durch die schmale Lücke drang der Geruch von Büchern zu mir. Auf Anhieb überkam mich ein Gefühl von Geborgenheit, Zufriedenheit, Heimat. Ich sog den Duft ein. Sofort beruhigte sich mein Herzschlag und ich öffnete die Tür so weit, dass ich durchschlüpfen konnte, dicht gefolgt von Ric, der für diesen einen Moment genauso innegehalten hatte, wie ich. Wenn er bemerkt hatte, dass ich seine Reaktion zur Kenntnis genommen hatte, ließ er es sich nicht anmerken.
Als er an mir vorbei in Richtung einen der zahlreichen Studiertische ging, roch ich Kaminfeuer, vermischt mit dem Vanille-Aroma seines Lufterfrischers. Ein Geruch, den ich einmal sehr gemocht hatte. Rics typischer Geruch. Ich ging ihm eilig hinterher.
Mein Team hatte sich mit den anderen, alle ungefähr in unserem Alter, an einem der großen Tische versammelt. Fünf Teams für die Jugendbücher. Was war nur vorgefallen, das die Anwesenheit aller Genres verlangte? Ric, Coral, Peter und ich waren eines der vier auf Fantasy spezialisierten Teams. In unserem Genre, das auch die Science-Fiction beinhaltete, hatte man mehr zu tun, zumal die Seelenlosen aus diesen Büchern oft nicht ganz ungefährlich waren und definitiv mehr Aufmerksamkeit auf sich lenkten als all die Charaktere aus der zeitgenössischen Jugendliteratur. In der Regel hatten wir nichts mit dem Team dieses Genres zu tun – zu unterschiedlich waren unser Job und das Wissen, wie man die Seelenlosen bekämpfen musste.
»Schön, dass ihr euch auch endlich zu uns gesellt. Setzt euch.« Die Stimme von Perry, dem Leiter der Jugendbuchabteilung, klang bestimmt, aber glücklicherweise nicht verärgert. Trotzdem kamen Ric und ich seiner Aufforderung nach und besetzten die zwei freien Stühle neben Coral und Peter. Coral saß direkt neben mir und der Geruch von Meerwasser und Algen drang in meine Nase. Wieso war sie so nervös?
»Dann können wir endlich beginnen. Ich habe euch alle hier zusammengerufen, weil in der letzten Nacht die bisher größte Anomalie aufgetreten ist. Josh und sein Team wurden auf den vierten Cameron Hamilton diese Woche aufmerksam. Josh, willst du berichten, was passiert ist?« Perry sah zu Josh, dem Feuerelementar der zeitgenössischen Gruppe, und munterte ihn mit einem Kopfnicken dazu auf zu erzählen.
Josh verzog das Gesicht. Vermutlich hatte er denselben Bericht bereits mehrere Male erstattet. Dennoch stand er auf und schnell wurde mir klar, warum wir alle hier saßen. »Dieser Cameron war nicht der Typ, mit dem wir es sonst zu tun haben. Es hätte uns ein Leichtes sein sollen, ihn zu binden. Laurie hatte ihr Element bereits gerufen, als Cam seinen Arm hob und uns auf das Schlangentattoo aufmerksam machte, das nicht dort hätte sein dürfen. Sekunden später lag eine Riesenschlange vor Laurie auf dem Boden und griff sie an. Sie konnte ihre Gestalt nicht schnell genug wechseln, wurde gebissen und ist daraufhin zusammengebrochen. Cam ist uns entkommen. Laurie liegt noch immer auf der Krankenstation.« Josh wurde während des Erzählens von Sekunde zu Sekunde bleicher. Er schilderte bis ins kleinste Detail, was dieser Cameron getan und wie genau er sich verhalten hatte. Beobachtungsgabe ist eines der wichtigsten Fächer im Unterricht am Institut. Wir wurden darauf geschult, das Verhalten der Buchcharaktere genau zu analysieren, um ihr weiteres Vorgehen vorherzusagen. Joshs Team hatte es in der Regel mit flüchtigen oder heulenden Charakteren oder vielleicht noch schlagfertigen Typen – im wörtlichen sowie im übertragenen Sinn zu tun, jedoch niemals mit übernatürlichen Angriffen.
Peter tuschelte bereits mit Ric neben mir, als auch mir endlich einfiel, woher ich die Schlange kannte. Cam hatte sich mit einem Fantasy-Charakter derselben Autorin vermischt und war nun zum Teil ein Dämon. Um genauer zu sein, ein Hohedämon mit sehr viel Macht. Roth. Im selben Moment sprach auch Coral den Namen aus.
Nach Joshs Bericht richteten sich alle Augen auf Perry. Für solche Fälle gab es kein Protokoll, das es einzuhalten galt, keine Vorschriften, wie man zu verfahren hatte. Denn sowas war eigentlich unmöglich. Die Sache war an sich ganz einfach: Buchcharaktere besitzen keine Seele, ganz gleich, wie oft in Büchern etwas Anderes behauptet wurde. Ihnen fehlte nun einmal das, was uns zu Menschen machte. Daher nannten wir sie Seelenlose. Durch die Bindung des Lesers zu den Buchcharakteren veränderten sich diese. Der Leser hauchte ihnen eine Seele ein, schenkte ihnen Emotionen. Und je stärker diese Bindung wurde, umso größer war die Gefahr, dass man den Seelenlosen materialisierte, in unsere Welt holte. Bei zeitgenössischen Charakteren mochte das noch ganz nett sein, schließlich taten die im Normalfall niemandem etwas – zumindest im Jugendbuchbereich, in dem wir arbeiteten. Bei den Erwachsenenbüchern, den Thrillern mit all ihren gestörten Serienkillern, sah das schon anders aus.
Oder in meinem Genre, den Fantasy-Büchern. Denn Seelenlose waren genau so, wie sie in den Büchern beschrieben wurden. Das Aussehen, der Charakter, die Gaben – ganz gleich ob Dämon oder Engel, Vampir, Werwolf, Lichtgestalt oder seelenklauender Küsser. Sie alle waren Abbilder ihrer Buchcharaktere und sahen genauso aus, wie der Leser sie sich vorstellte, wenn er ihnen Leben einhauchte. Es gab Autoren, die das Aussehen ihrer Charaktere allein der Vorstellungskraft des Lesers überließen, die außer ein paar wenigen Details nichts darüber verloren. Hier war es oft schwer für uns, den Seelenlosen zu identifizieren. Cameron Hamilton war hingegen ganz genau beschrieben – und tauchte vermutlich genau aus diesem Grund so schrecklich oft in unserer Welt auf –, aber eins hatte er sicher nicht: ein Schlangentattoo, das sich in eine echte Schlange verwandeln konnte. Jemand brachte da etwas vollkommen durcheinander.
»Was sagen die Bibliothekare?«, fragte Ric laut ins Gemurmel der einzelnen Teams, die schon eifrig Überlegungen anstellten.
Perry verzog das Gesicht und schüttelte langsam den Kopf.
»Sie haben keine Meinung dazu?«, hakte ich nach. Die Bibliothekare waren unsere Oberbosse und hatten eigentlich immer etwas zu sagen – und wenn es nur Strafpredigten waren, weil jemand die Regeln missachtet oder sie zu sehr gedehnt hatte.
»Ich weiß genau, was sie denken«, warf Peter, der Erdelementar meines Teams, ein und sofort waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Er sah müde aus, wie eigentlich immer. Und traurig. Die typischen Eigenschaften seines Elements. Dazu gehörte auch, dass er nie im Mittelpunkt stehen wollte, sich nur seiner Aufgabe widmete und ansonsten eher eine Art Mitläufer war. Zuverlässig und korrekt. Ein solcher Einwurf passte so gar nicht zu ihm.
Dessen schien er sich in diesem Moment bewusst zu werden und seine Wangen liefen puterrot an. Sofort umfing mich der erdige Geruch, gemischt mit einer Prise altem Laub. »Ich …«, stammelte er, unfähig, auch nur ein weiteres Wort zu sagen.
Schnell fasste ich an meinen Anhänger, das silberne Dreieck mit dem waagrechten Strich mittendurch, und rief mein Element. Sofort strömte die Energie durch mich hindurch und ich leitete sie in Gedanken weiter zu Peter.
Nur ein leichter Luftzug glitt über Ric hinweg zu Peter und sofort wirkte er sicherer. »Ich habe gehört, wie sich meine Eltern über die Prophezeiung unterhalten haben«, sagte er mit fester Stimme und blickte in die Runde.
Sofort war es totenstill am Tisch. Entfernt hörte man das Rascheln von Papier beim Umblättern. Andere Wächter, die sich ihrem Tagesgeschäft, den Studien, widmeten. Irgendwo zog jemand ein Buch aus den endlosen Regalreihen und ließ es schwer auf einen Tisch fallen. Peters Eltern arbeiteten beide im Qualitätsmanagement des Instituts. Sie überprüften die Berichte, nahmen Abläufe wie den Zusammenhalt im Team oder die Zusammenarbeit mit den Vorgesetzten unter die Lupe und machten Verbesserungsvorschläge. Sie saßen direkt an der Quelle und bekamen nahezu alles mit.
Ich selbst wagte es nicht einmal zu atmen. Im Unterricht hatten wir damals alle von der Prophezeiung gehört, doch das war schon einige Jahre her und niemand glaubte wirklich daran. In den letzten Wochen hatte es allerdings vermehrt Störfälle gegeben, orientierungslose Charaktere, die blasser waren als in den schlechtesten Büchern und schon gar nicht mehr an die Person erinnerten, die sie eigentlich darstellten.
Peter sah nach unten auf seine Hände, die er nervös knetete. Meine Beruhigungsbrise war verklungen. Von der einen zur nächsten Sekunde hörte ich das Rascheln von Laub und Zweigen, die aneinander rieben. Die Luft roch nach feuchter Erde und Weizenfeldern zugleich. Die Magie seines Elements waberte um Peter herum, verwischte meine Sicht auf ihn. Seine Gestalt wechselte von dem schwerfälligen Jungen mit den Pausbacken zu seinem Elementarwesen. Erst verlängerten sich seine Hände, die Finger streckten sich, wurden zu dünnen Ästen. Er reckte seinen Hals, als müsse er sich den Nacken einrenken, während seine Haare zu zarten Trieben wurden, die leuchtend grüne Blätter trugen. Dann verwandelte sich sein Gesicht, sein Oberkörper wurde zu einem massiven Stamm, Augen, Nase und Mund noch ansatzweise in der Rinde angedeutet, seine Beine glichen einem dichten Wurzelwerk. Dann riss er die Lider auf, verzog den gekerbten Mund zu einem lautlosen Schrei, seine Augen leuchteten in grellem Grün. Der Gestaltwechsel war vollzogen, vor uns saß die Verkörperung des Elements Erde: ein Baum mit Peters halb zerfetzter Kleidung. Eine Dryade, die in die Stille sprach: »Wer die Grenze überschreitet, wird Verderben säen. Wer die Zeichen zu deuten vermag, wird die Zeit kommen sehen. Wer Opfer bringt, wird verändern.« Seine Stimme klang, als würde sie aus einer tiefen Höhle kommen, ein Echo verstärkte diesen Eindruck und ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper.
Der große Raum war von der Präsenz der Elemente erfüllt: Erde, Luft, Wasser und Feuer. Die Aufregung und das damit einhergehende Adrenalin verbanden uns mit unseren Elementen. Von den Jüngeren hatten sich tatsächlich auch zwei – vermutlich unbeabsichtigt – verwandelt. Ich erinnerte mich noch allzu gut daran, wie es in den ersten Wochen meiner Ausbildung gewesen war. Die Magie der Elemente war anfangs schwer zu kontrollieren und immer wieder hatte ich mich unbeabsichtigt in das knapp fünfzehn Zentimeter große Wesen verwandelt, das mein Element verkörperte, während Feuerelementare wie Ric in die Höhe wuchsen und zu einem Drachen wurden, einer Mischung aus Mensch und Thyrannosaurus Rex.
Am schwierigsten waren Verwandlungen für Wasserelementare wie Coral. Das Elementarwesen des Wassers war eine Wassernymphe. Es wäre passender gewesen, sie Nixe zu nennen – denn sie hatte nun mal einen Fischschwanz, mit dem sie nicht stehen konnte. Da Nixen aber in Geschichten nicht sonderlich gut wegkamen und unsere Wasserelementare schließlich zu den Guten gehörten, wurden sie Wasserfrauen genannt. Und eine solche saß jetzt an einem Tisch nicht weit entfernt, versuchte ihren zappelnden Fischschwanz ruhig zu halten und klammerte sich an ihren Stuhl. Schräg gegenüber saß ein roter Drache, ebenfalls aus dem ersten Ausbildungsjahr.
Doch abgesehen von der Verwandlung der beiden, herrschte eine Atmosphäre wie in der Ruhe vor dem Sturm. Alle hielten für einen Moment inne, wenige Wimpernschläge, in denen sich jeder seine eigenen Gedanken machte, ehe das Geplapper losging. Natürlich kannte jeder den geheimnisvollen Wortlaut der Prophezeiung, aber so beeindruckend präsentiert wie Peter hatte sie noch niemand.
Irgendwann räusperte sich Perry laut. Dreimal, bis alle verstummt waren. »Auch wenn einige von euch vielleicht schon Pläne für den freien Tag hatten – die solltet ihr bitte überdenken. Wir brauchen jedes Team, jeden Einzelnen von euch. Ihr müsst auf Patrouille gehen. Josh und der Rest seines Teams werden sich Team D anschließen.« Er klatschte in die Hände und alle erhoben sich. Stühle quietschten über den Marmor, einer fiel dabei um und der Knall hallte durch die Bibliothek.
Team D waren die Jüngsten von uns, die ihre Ausbildung erst vor kurzem abgeschlossen hatten und die Jugendbücher mit der Altersempfehlung zehn bis zwölf bearbeiteten. Sie waren am wenigsten belesen und wagten bislang sehr selten einen Blick über ihr Genre hinaus. Sie hatten zudem weniger Erfahrung im Kampf gegen die Seelenlosen. Es machte also durchaus Sinn, ihnen das Team von Josh zuzuteilen. Gemeinsam konnten sie materialisierte Seelenlose besser erkennen und binden, darauf zählte ich. Hoffentlich würde sich auch Laurie schnell erholen. Zeitgleich mit Coral erhob ich mich.
»Hast du vor, hier Wurzeln zu schlagen?« Ric rüttelte an Peters Seitentrieben und holte ihn aus irgendeinem Baumschlaf. Vor Schreck verlor er ein paar Blätter und verzog das Borkengesicht zu einer Grimasse. Ric gesellte sich schon zu Coral und mir, während Peter sich noch zurückverwandelte. Die Luft war stickig, angereichert mit dem intensiven modrigen Geruch eines Moores – oder vielleicht auch von Leichen. Jedenfalls stellte ich ihn mir so vor. Zum Glück bin ich bisher von menschlichen, echten Leichen verschont geblieben.
Einiges Knirschen und Knacken später stand Peter wieder in seiner menschlichen Gestalt vor uns – inklusive schmutziger Kleidung, die zerfetzt an ihm hing, aber glücklicherweise die wichtigsten Stellen verhüllte. Als Ric ihn mit einer erhobenen Augenbraue musterte, wurde er sofort wieder rot und begann zu stottern. Was genau konnte keiner von uns verstehen. Er deutete mit der Hand zum Ausgang und eilte schneller davon, als ich es ihm zugetraut hätte.
Nun war es Zeit, Mr Perfect einen bösen Blick zuzuwerfen. »Musste das sein?«, fragte ich.
»Was?« Ric hob die Hände, als verstehe er tatsächlich nicht, was falsch gelaufen war.
»Du … Du bist so ein Idiot!«, rief ich geistreich und stapfte mit Coral im Schlepptau in Richtung Drei-Meter-Tür.
»Wow, wie schlagfertig die kleine Fee heute wieder ist. Richtig reizend«, hörte ich Rics trockene Worte hinter mir.
Jeder Muskel in mir spannte sich an. Ein starker Luftzug wand sich um meinen Körper und ich hatte nicht wenig Lust, ihn auf Ric zu schleudern. Doch dafür würde ich die nächste Abmahnung durch die Bibliothekare riskieren und auf eine weitere Predigt hatte ich keine Lust. Sollte er doch sticheln, mich würde das von nun an kalt lassen. Pah!
Nur wie oft hatte ich mir das schon gesagt …
Die Gestaltwandlerin ihm gegenüber ist stark. Sie hat ihn auf das verlassene Gelände gelockt, hat behauptet, dass sie Informationen besitze. Wer weiß von seiner Suche? Davon, was für seine Welt auf dem Spiel steht, sollten seine Träume die Wahrheit zeigen?
Wir hatten uns für den Abend verabredet – obwohl heute mein freier Tag hätte sein sollen. Patrouillenfrei und Ric-frei. Vor allem auf letzteres legte ich sehr großen Wert. Doch scheinbar war mir Aither, die Göttin der Luftelementare, nicht wohlgesinnt. Warum hatte sie ausgerechnet in der letzten Nacht diese Anomalie auf die Menschheit losgelassen?
Ty, mit der ich mir die Wohnung teilte, war ausgeflogen und so stand ich allein in unserer kleinen Küche und trank genüsslich einen Milchkaffee. Die Frage war, was ich mit meinem Nachmittag anstellen sollte, der eigentlich für Ty und Shoppen reserviert gewesen war. Sonnenuntergang würde um 19.51 Uhr sein, davor zeigten sich in der Regel weder Anomalien noch normale Seelenlose, die frisch in unsere Welt geholt wurden. Früher – so hatte ich im Unterricht gelernt war man davon ausgegangen, dass die Erscheinungen an die Mondphasen gekoppelt waren, doch das war reiner Zufall gewesen. Lediglich die Häufigkeit der Materialisierungen mehrte sich mit zunehmendem Mond, an Vollmond wurden die meisten von ihnen in unsere Welt geholt. Die Erklärung dafür war einfach: Die Menschen lasen in dieser Zeit mehr, weil viele an Schlaflosigkeit litten.
Wir hatten jetzt Ende Oktober, auch wenn es für diese Zeit noch recht sommerlich warm war. Die düsteren Tage würden nun mehr und mehr werden – und mit ihnen die Leser. Auch die, die all ihre Emotionen einem der Seelenlosen schenkten. Wenn sich nun auch die Anzahl der Anomalien erhöhte, konnte ich meine freien Tage bald vergessen.
Ich stand noch ein paar Minuten unentschlossen in der Küche herum, ehe ich in mein Zimmer ging. Selbst nach zwei Jahren war es noch nicht mein Zimmer. Ganz gleich, was ich in Sachen Einrichtung unternahm, es wirkte kühl auf mich, was allein an dem Fehlen jeglicher Bücher lag. Schnell huschte ich zu meinem Nachtschrank, zog die Schublade auf und packte den Kleinkram darin auf die obere Ablage. Dann tastete ich nach dem schmalen Faden auf der Rückseite der Schublade, die man nur halb ausziehen konnte, und hob das dünne Holz an. Nun konnte ich vorne in die schmale Lücke hineingreifen und den doppelten Boden anheben.
Wie jedes Mal raste mein Puls und mein Magen rebellierte. War es nur der Reiz des Verbotenen, oder war da tatsächlich mehr, wie Ty mir immer sagte? Andächtig hob ich die Holzschatulle aus dem Geheimversteck und legte sie auf meinen Schoß. Nach einem tiefen Atemzug hob ich den mit Schnitzereien verzierten Deckel. Ein wohliger Schauer überkam mich, als ich den etwas zerfledderten Einband sah. Die »unbekannte Geschichte«, wie Ty das Buch anfangs genannt hatte. Weder auf dem Cover noch auf dem Rücken war ein Titel zu lesen, die Schmutzseiten trugen ihren Namen zurecht, denn sie waren so verblichen und verschmiert, als wäre das Buch jahrelang ohne das schützende Leder von Hand zu Hand weitergereicht worden.
Immer wenn ich das Buch ansah, spürte ich, wie viele Emotionen beim Lesen dieses Schatzes hervorgerufen worden waren. Auf manchen Seiten war die Tinte verlaufen, als hätten Tränen die Buchstaben benetzt. Handgeschriebene Wörter, akkurat und formvollendet gesetzt und doch individuell und der Leidenschaft des Schreibers angepasst, wie kein elektronisches Werkzeug es je hätte schaffen können.
Mittlerweile nannte ich das Buch ›Otherside‹ – denn in genau dieser fiktiven Welt spielte sich Zacs Leben ab. Mein ältestes Lesezeichen steckte ungefähr in der Mitte des Buches. Ich wagte nicht, das bereits fadenscheinige Lesebändchen zu verwenden. Die Angst, es abzureißen, war zu groß und daher ruhte es unangetastet zwischen Seite 112 und 113, das Ende steckte zwischen 142 und 143. Auf diesen Seiten hatte das rote Bändchen bereits einen zartroten Abdruck auf den dicken Blättern hinterlassen. Ich presste das Buch an mich und konzentrierte mich auf den Geruch. Jetzt fühlte sich mein Zimmer an wie ein Zuhause. Mein Herzschlag beruhigte sich, nur ein kurzes Flattern in meinem Bauch zeugte von der Aufregung, die sich vor jedem Lesen einstellte.
Ich lehnte mich gegen das Kopfende des Bettes und öffnete das Buch. Obwohl ich es schon so viele Male gelesen hatte, war jede Szene so, als würde ich sie zum ersten Mal lesen. Und doch war ich schon beim ersten Satz wieder in der Geschichte gefangen. Zac war nur knapp dem Tod entkommen, als er sich ohne die Dörfler auf den Weg gemacht hatte, um ein Vampirnest auszuräuchern. Angeschlagen und tief erschöpft kehrte er ins Dorf zurück. In der Gastwirtschaft jubelten ihm die Dorfbewohner zu und Elisabeth stiegen Freudentränen in die Augen. Sofort spürte ich einen Stich in meinem Herzen, als ich an die letzte ereignisreiche Nacht mit Zac und Liz dachte. Ich wusste, wie dämlich das war, aber mich verband so viel mit Zac, ich spürte, was er spürte, er war der perfekte Mann, ein Held, der Verantwortung übernahm, der auch einmal schwierige Entscheidungen traf, aber die Dinge anging. Im Gegensatz zu all den anderen, die sich profilierten und vor dem kleinsten Schatten davonrannten.
Zac war ein rastloser Wanderer. Als Findelkind unbekannter Herkunft wurde er von einer Bauernfamilie aufgezogen, bis die Pflegeeltern von Vampiren getötet wurden. Es folgte eine dunkle Zeit für ihn – aus der auch das Tattoo an seinem Hals stammte –, ehe er sich ganz dem Kampf gegen die dunklen Wesen verschrieb. Vampire, Werwölfe, Geister und alles, was die Ruhe der fiktiven Welt von Otherside störte. Sein Meister war vor langer Zeit verstorben, seither war er allein, genoss höchstens ab und an die Zweisamkeit mit einer der Damen. Er nutzte jedoch niemals jemanden aus. All diese Frauen wussten, worauf sie sich einließen. Und doch konnte ihm keine von ihnen widerstehen. Vor allem nicht Elizabeth, in deren Nähe ihn seine Einsätze auffällig häufig trieben. Sie war die einzige Frau, die mehr als einmal im Buch auftauchte. Schon wieder ein kleiner Stich in meinem Herzen.
In Zac selbst tobten die unterschiedlichsten Gefühle. Er war auf der Suche nach ihr. Von Beginn des Buches an. Und doch sollte er sie niemals finden und für immer einem Wunschtraum hinterherrennen.
Ich erinnerte mich noch genau daran, wie meine Augen zum ersten Mal über den letzten Satz geglitten waren: Ich weiß, sie ist irgendwo dort draußen. Und ich werde sie finden. Mein Herz war davongaloppiert, ich war kaum mehr in der Lage gewesen zu atmen. Nur mit größter Mühe hatte ich es geschafft, nicht laut loszurufen, dass ich hier war. So nah bei ihm – und doch so fern. Verzweifelt hatte ich Zac und seine Geschichte gegoogelt, in der Hoffnung, eine Fortsetzung zu finden, vielleicht jemanden zu finden, der ›Otherside‹ auch kannte. Ohne Erfolg. Die Geschichte war einfach zu alt.
Ganz gleich, wie viele Bücher ich in der Woche las – kein anderes hatte es je geschafft, in mir solche Emotionen hervorzurufen. Und ich wusste, dass es auch in Zukunft keines vollbringen würde.
Ich konnte nicht sagen, ob es an meinem Job als Wächterin lag, an den Unmengen an Geschichten, die wir kennen mussten, um die Seelenlosen richtig bekämpfen zu können, oder an dem Lesen in der Bibliotheca Elementara. Dort, wo unsere Emotionen eingefangen wurden, ehe sie ins Buch und zu den Seelenlosen gelangen konnten. Dort, wo verhindert wurde, dass wir eine Beziehung zu den Charakteren aufbauten. Der Ort, wo das Lesen niemals eine Figur materialisieren würde und wo wir des wundervollsten Teils beim Lesen beraubt wurden: der Empathie und der Bindung zu den Charakteren.
Schon beim Gedanken daran kehrte dieses bedrückende Gefühl zurück, das ich immer hatte, wenn ich an meine Kindheit dachte. Als das Lesen nicht Job, sondern Spaß bedeutet hatte. Als überall in meinem Zimmer Stapel von Büchern gelegen hatten, weil die Regale bereits überfüllt waren. Bis mir mein Vater von dem Erbe seiner Familie erzählt hatte und mit mir zur Bibliotheca Elementara gefahren war, damit ich dort mit vierzehn die Elementarprüfung ablegen und mit sechzehn meine Ausbildung zur Wächterin beginnen konnte. Mit dem Erhalt meines Amuletts hatte ich alle Bücher weggeben müssen, was mir beinahe das Herz zerrissen hatte. Ich hatte mich dagegen aufgelehnt, doch Vorschrift war Vorschrift. Die Wächter sollten nicht auch noch Seelenlose in unsere Welt holen. Das Lesen war von da an auf die Bibliotheca Elementara beschränkt gewesen, alles andere war verboten. Tagsüber hatten wir dort gelesen und uns mit der Bekämpfung der Charaktere auseinandergesetzt, nach Sonnenuntergang waren wir auf die Jagd gegangen. Das war mein Leben seit nunmehr sechs Jahren.
Mein Vater hatte mich stets darin bestärkt, war sogar traurig darüber gewesen, dass ihn diese besondere Fähigkeit seiner Familie übersprungen hatte und erst in mir wieder zum Tragen gekommen war. Doch im Gegensatz zu mir hatte er ein normales Leben, er konnte das riesige Lesezimmer im Haus meiner Eltern benutzen – was mir verboten war.
Doch egal, was all die Vorschriften besagten: ›Otherside‹ würde ich niemals aus der Hand geben. Auch wenn Ty es einzig und allein auf Zacharias Clay schob, weil sie nun mal ein Faible für gutaussehende Helden hatte, war ich mir ganz sicher, dass es mir um das Gefühl ging. Das, was mir als Wächterin verlorengegangen war: diese ganz besondere Bindung zum Protagonisten.
Ich versank tief in Zacs Geschichte, fühlte mit, wie er sich von Elizabeth verarzten ließ, ehe meine Haut prickelte und mein Magen hüpfte, weil ich durch die Zeilen zu spüren glaubte, wie Zac seine Angebetete verwöhnte. Als er ihren Nacken mit zarten Küssen bedeckte und sie leise aufstöhnte, entfuhr auch mir ein Seufzen, das in stockendes Atmen überging. So detailliert war beschrieben, wie Zac Elizabeth zu sich umdrehte, ihr tief in die Augen sah, während er sie gegen die Holzvertäfelung des ansonsten kahlen Gästezimmers presste, ehe er seine Lippen auf ihre senkte. Ich roch den Rauch des offenen Kamins, der prasselnde Wärme spendete. Meine Augen flogen über die Zeilen, liebkosten jedes einzelne Worte so, wie Zac Liz verwöhnte.
Erst mit dem Alarmton meines Handys erkannte ich, dass ich eingeschlafen sein musste. Das schwere Buch lag aufgeschlagen neben mir. Hatte ich die Szene, in der Zac sich von Liz verabschiedete, noch gelesen? Es fiel ihm immer schwer, sie zu verlassen, doch er sah es als seine Pflicht an, gegen die neue Bedrohung anzutreten, deren Kunde sich verbreitete. Bepackt mit Wegzehrung und Geschenken der Dorfbewohner, machte er sich auf den Weg zu einem weiteren Abenteuer.
Ich hingegen sprang auf und fiel direkt wieder in mein Bett zurück, weil mein Kreislauf nicht mitspielte. Mit etwas geringerem Tempo setzte ich mich vorsichtig auf und legte Zac zurück in die hölzerne Kiste und anschließend in das Geheimfach, schloss den doppelten Boden und legte den Kleinkram wieder darauf, ehe ich die Schublade zuschob. Dann zog ich mir schnell meine Arbeitskleidung über: Bequeme Jeans und ein lockeres Longshirt, in die ich schnell würde schlüpfen können, falls ich mich verwandeln musste. Mit einer Fee als Elementarwesen hatte ich Glück. Ich zerstörte meine Kleidung wenigstens nicht wie Peter oder auch Ric. Meine weißblonden Haare band ich wie immer zu einem Dutt zusammen, damit sie mir nicht im Weg waren, sollte es wirklich zu einem Kampf kommen.
Als ich die Wohnungstür hinter mir schloss und die zwei Etagen zur Haustür hinunterrannte, vermutete ich, dass Ric schon auf mich wartete. Er wohnte nur eine Straße weiter und so teilten wir uns den Weg zur Arbeit, weil die Parkplätze in der Tiefgarage unter der Stadtbibliothek begrenzt waren. Ich war einfach zu spät zu den Wächtern gekommen und hatte keinen eigenen erhalten.
Doch obwohl ich zu spät dran war, konnte ich den Diabolo nirgendwo sehen, noch nicht einmal hören. Ric war eigentlich immer pünktlich. Mich beschlich ein seltsames Gefühl – über das ich mich selbst wunderte, denn eigentlich sollte ich gegenüber Mr Perfect rein gar nichts empfinden. Ich schob es auf den Teamgeist und stapfte durch einen Vorgarten und stieg über zwei kniehohe Zäune hinweg, bis ich vor dem Haus von Rics Großmutter stand. Er bewohnte das komplette Obergeschoss, die freundliche alte Dame, die mit ihrem Enkel so gar nichts gemein hatte, war im Erdgeschoss zuhause. Die Haustür war wie immer nicht abgeschlossen, also trat ich ein, ohne mich anzukündigen, und nahm zwei Stufen auf einmal. Ich wollte auf keinen Fall zu spät im Institut ankommen und Perry verärgern.
Die Tür zu Rics Wohnung stand einen Spalt breit offen und in mir schrillten die Alarmglocken. Mein Element manifestierte sich in einer leichten Brise, die um mich wirbelte und den Duft einer Sommerwiese mit sich brachte. Während ich mit der linken Hand die Tür aufschob, ergriff meine Rechte mein Amulett. Die Tür knarrte so laut, dass ich zusammenfuhr. Einen tiefen Atemzug später war ich wieder gefasst und trat in den dunklen Flur, von dem mehrere Türen abgingen.
Überall lagen Klamotten verstreut, Ric schien nicht zu den ordentlichsten Menschen zu gehören. Von wegen perfekt, lächelte ich in mich hinein. Meine Aufregung verblasste langsam und ich nahm Rics Rauchgeruch wahr. Doch da war noch etwas anderes … Blut?
Vorsichtig schlich ich den Flur entlang. Zum ersten Mal fiel mir das Portrait einer jungen Frau auf, das am Rahmen des Garderobenspiegels festgesteckt war. Sie war hübsch, wenn auch etwas jung, was mich gleich skeptisch die Augen zusammenkneifen ließ. Warum hatte Ric ein Bild von ihr hier hängen? War sie eine seiner Groupies?
Ich vertrieb die Gedanken an die junge Frau mit einem Kopfschütteln und ging weiter. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen und ich wagte mich hinein. Die Straßenlaterne neben dem Haus warf skurrile Schatten an die Wände. Von Ric jedoch keine Spur. Ich stolperte über ein T-Shirt, das ich in der Dunkelheit nicht bemerkt hatte, und sog lautstark die Luft ein. Hinter mir hörte ich Schritte. Sofort war ich in Kampfbereitschaft, mein Element gegenwärtig, bereit, sich auf den Angreifer zu stürzen.
Mit der Wucht eines Sturms riss die Luft eine Person von den Beinen und ich hörte ein Stöhnen, als sie gegen die Wand neben der Tür prallte. Und nahezu zeitgleich ein lautes Fluchen.
»Was bei Hephaistos' Schmiede soll das?«
Ups. Wenn er den Patron der Feuerelementare erwähnte, war es ernst.
»Bist du verrückt geworden?«, schimpfte Ric weiter, während ich die Luft zu mir zurückrief und ein Glucksen in der Kehle nur mit großer Anstrengung zurückhalten konnte.
»Kann ich etwas dafür, dass du hier im Dunkeln umherschleichst?«, fragte ich bemüht ernst. Erst als sich Ric aufrappelte, sah ich, dass er nur Jeans trug, die tief auf seiner Hüfte saßen. Das schummrige Licht von draußen zeichnete jeden Muskel seines Oberkörpers nach, verstärkte den Sixpack auf seinem Bauch und die seitlichen Muskelstränge an seiner Hüfte, deren Ende in den Boxershorts verschwand. Ich schluckte. Wann hatte ich ihn zuletzt oben ohne gesehen? Zu Beginn der Ausbildung? Damals war er noch etwas schlaksig gewesen, viel zu dünn, um seine Kleidung richtig auszufüllen. Ich hatte verdrängt, dass dies in den letzten Jahren nicht mehr der Fall gewesen war.
»Gefällt dir, was du siehst?« Ich brauchte nicht erst nach oben in Rics Gesicht zu sehen, um das Grinsen zu erkennen. Er stemmte die Hände an die Hüften und drehte sich im Licht der Straßenlaterne.
»Das ist nur der Schreck«, erwiderte ich, so trocken ich konnte, und schluckte.
»Ist klar.« Ric kam mit großen Schritten auf mich zu und streckte mir den Arm entgegen.