»Das nennt man nun hier zu Lande Frühling! Das Schneetreiben wird mit jeder Minute ärger, und dazu bläst dieser liebenswürdige Nordost mit einer Energie, als wollte er uns mit der ganzen Extrapost fortwehen. Es ist zum Verzweifeln.«
Die Postchaise, deren einer Insasse in dieser Weise seinem Unmuthe Luft machte, arbeitete sich in der That mühsam durch den Schnee der Landstraße. Die Pferde kamen trotz aller Anstrengung nur im Schritt und so langsam vorwärts, daß die Geduld der beiden Reisenden, die sich im Innern des Wagens befanden, auf eine harte Probe gestellt wurde.
Der Jüngere der Beiden, der einen sehr eleganten, aber für diese Witterung viel zu leichten Reise-Anzug trug, konnte höchstens vierundzwanzig Jahr alt sein. Der volle Lebensmuth oder vielmehr Uebermuth der Jugend leuchtete aus den schönen offenen Zügen, aus den dunklen Augen, die so keck und klar in die Welt blickten, als wären sie noch nie von irgend einem Schatten getrübt worden. Die ganze Erscheinung hatte etwas ungemein Fesselndes und Liebenswürdiges, aber der junge Reisende schien die Verzögerung der Fahrt sehr ungeduldig zu ertragen und gab seinem Aerger darüber jeden nur möglichen Ausdruck.
Desto gleichgültiger zeigte sich sein Begleiter, der, in einen grauen Mantel gehüllt, in der anderen Ecke des Wagens lehnte. Er schien einige Jahre älter zu sein, aber sein Aeußeres hatte wenig Anziehendes. Seine Gestalt war mehr kräftig als elegant, seine Haltung beinahe nachlässig. Sein Gesicht war nicht gerade häßlich; mindestens konnte es für charaktervoll gelten, wenn seine Linien auch keinen Anspruch auf Schönheit oder Regelmäßigkeit erheben durften, aber es lag ein Ausdruck darin, der befremdend und erkältend wirkte. Die tiefe Herbheit und Bitterkeit der schwersten Lebenserfahrungen mußte diesem jugendlichen Alter noch fremd sein, und doch war unbedingt etwas davon in jenem Zuge, der, ohne sich im Einzelnen verfolgen oder feststellen zu lassen, doch dem ganzen Antlitz sein eigenthümliches Gepräge lieh und den jungen Mann weit älter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war. Das volle dunkle Haar harmonirte mit den dichten dunklen Augenbrauen, die Augen selbst aber waren von jener völlig unbestimmten Farbe, die gewöhnlich nicht für schön gilt. Es lag auch in der That wenig Sympathisches darin, kein froher Lebensmuth, keine einzige von jenen schwärmerischen oder leidenschaftlichen Regungen, an denen die Jugend sonst so reich ist. Der kalte, freudlose Blick hatte etwas ungemein Hartes, wie die ganze Persönlichkeit.
Der Letztgeschilderte hatte bisher ruhig in das Schneetreiben hinausgeblickt; jetzt wandte er sich um, und jenen ungeduldigen Ausruf seines Gefährten beantwortend, sagte er:
»Du vergißt, Edmund, daß wir uns nicht mehr in Italien befinden. In unserem Klima, und vollends hier in den Bergen, gehört der März noch ganz dem Winter an.«
»Mein schönes Italien! Dort verließen wir Alles im Sonnenschein und Blüthenduft, und hier in der Heimath empfängt uns ein Schneesturm, direct vom Nordpol importirt. Du scheinst Dich freilich bei dieser Temperatur ganz wohl zu befinden. Dir ist ja auch die ganze Reise nur eine lästige Aufgabe gewesen. Leugne es nicht, Oswald – Du wärst am liebsten zu Hause bei Deinen Büchern geblieben.«
Oswald zuckte die Achseln.
»Was ich wünschte oder nicht wünschte, kam wohl überhaupt nicht in Betracht. Du solltest nicht ohne Begleitung reisen – da hatte ich mich einfach zu fügen.«
»Ja, Du wurdest mir als Mentor beigegeben,« lachte Edmund, »mit dem allerhöchsten Auftrage, mich zu beaufsichtigen und mir nöthigenfalls Zügel anzulegen.«
»Was mir durchaus nicht gelungen ist. Du hast Tollheiten genug ausgeübt.«
»Bah, wozu ist man denn jung und reich, wenn man das Leben nicht genießen soll! Ich habe das freilich stets allein thun müssen. Geh, Oswald, Du bist kein guter Camerad gewesen! Warum zogst Du Dich stets so eigensinnig und finster zurück?«
»Weil ich wußte, daß das, was dem Majoratsherrn und Grafen Ettersberg erlaubt ist oder ihm höchstens mit einem zärtlichen Vorwurfe verziehen wird, bei mir als Verbrechen gilt,« lautete die schroffe Erwiderung.
»Warum nicht gar!« rief Edmund. »Du weißt doch, daß ich in jedem Falle die Verantwortung für uns Beide auf mich genommen hätte. So freilich muß ich alle Schuld auf mich allein nehmen. Nun, der Richterspruch über mein Vergehen wird nicht allzu streng ausfallen, wenn aber Du bei der Rückkehr Deine Zukunftspläne zur Sprache bringst, so kannst Du Dich auf einen Sturm gefaßt machen.«
»Das weiß ich,« versetzte Oswald lakonisch.
»Aber diesmal stehe ich Dir nicht zur Seite, wie damals, als Du so entschieden die Militärcarrière verweigertest,« fuhr der junge Graf fort. »Ich half Dir das durchsetzen; denn ich glaubte natürlich, Du werdest in den Staatsdienst treten. Wir Alle glaubten das, und jetzt kommst Du auf einmal mit dieser unsinnigen Idee zum Vorschein.«
»Die Idee ist weder so unsinnig noch so neu, wie Du glaubst. Bei mir stand sie bereits fest, als ich mit Dir die Universität bezog. Ich habe meine ganzen Studien darnach geregelt, wollte mir aber die jahrelangen, nutzlosen Kämpfe ersparen, deshalb schwieg ich bis jetzt, wo es zur Entscheidung kommen muß.«
»Und ich sage Dir, Du bringst die ganze Familie damit in Aufruhr; es ist auch unerhört. Ein Ettersberg als Advocat, den ersten besten Dieb oder Fälscher vertheidigend! Das giebt meine Mutter nun und nimmermehr zu, und sie hat vollkommen Recht. Wenn Du in den Staatsdienst trittst –«
»So dauert es noch Jahre, bis ich die ersten Stufen überwinde,« unterbrach ihn Oswald, »und so lange bleibe ich gänzlich von Dir und Deiner Mutter abhängig.«
Der Ton der letzten Worte war so herb, daß Edmund sich rasch emporrichtete.
»Oswald! Habe ich Dich das je fühlen lassen?«
»Du – nein! Aber ich fühle es eben deshalb um so tiefer.«
»Da sind wir wieder auf dem alten Punkte. Du wärst im Stande, das Widersinnigste zu thun, nur um diese sogenannte Abhängigkeit – aber was ist denn das? Weshalb hält der Wagen? Ich glaube wahrhaftig, wir bleiben hier mitten auf der Landstraße im Schnee stecken.«
Oswald hatte bereits das Wagenfenster niedergelassen und sich hinausgelehnt.
»Was giebt es?« fragte er.
»Wir sitzen fest,« klang die phlegmatische Antwort des Postillons, der die Sache sehr natürlich zu finden schien.
»Wir sitzen fest!« wiederholte Edmund mit einem ärgerlichen Auflachen. »Und das meldet uns der Mensch mit dieser philosophischen Ruhe. Wir sitzen also fest. Was nun?«
Oswald gab keine Antwort, sondern öffnete den Schlag und stieg aus. Die Situation ließ sich mit einem Blicke überschauen; angenehm war sie allerdings nicht. Der Weg senkte sich hier ziemlich steil abwärts, und der schmale Thaleinschnitt, den man passiren mußte, war durch Schneewehen vollständig versperrt. Der Schnee lag an dieser Stelle mehrere Fuß hoch und so dicht, daß ein Durchkommen unmöglich schien. Das mußten der Kutscher wie die Pferde wohl gleichzeitig eingesehen haben; denn die letzteren gaben jede fernere Anstrengung auf, und der Erstere hatte Peitsche und Zügel sinken lassen und sah seine beiden Passagiere an, als erwarte er von ihnen Rath oder Beistand.
»Diese verwünschte Extrapost!« brach Edmund aus, der seinem Begleiter gefolgt und gleichfalls ausgestiegen war. »Weshalb ließen wir uns auch nicht die eigenen Pferde entgegenschicken! Jetzt kommen wir vor Einbruch der Dunkelheit nicht nach Ettersberg. Kutscher, wir müssen vorwärts.«
»Vorwärts geht es nicht,« erklärte dieser in unzerstörbarer Gemüthsruhe. »Die Herren sehen es ja.«
Der junge Graf war im Begriff eine heftige Antwort zu geben, als Oswald die Hand auf seinen Arm legte.
»Der Mann hat Recht. Es geht wirklich nicht; mit den beiden Pferden allein kommen wir hier nicht vorwärts. Es wird uns nichts weiter übrig bleiben, als einstweilen hier im Wagen auszuhalten und den Postillon nach dem nächsten Stationshause zu schicken, um Vorspann zu holen.«
»Damit wir inzwischen hier vollständig einschneien? Da ziehe ich es denn doch vor, zu Fuß nach der Poststation zu gehen.«
Oswald’s Blick überflog mit sarkastischem Ausdruck das Reisecostüm seines Gefährten, das augenscheinlich nur für das Eisenbahncoupé oder den Wagen berechnet war.
»In diesem Anzuge willst Du den Fußweg durch den Wald zurücklegen, wo man bei jedem Schritt bis an die Kniee einsinkt? Das möchte denn doch seine Schwierigkeiten haben. Ueberhaupt wirst Du Dich erkälten hier in dem scharfen Winde. Nimm meinen Mantel!«
Damit nahm er ohne Weiteres den Mantel ab und legte ihn um die Schultern des Grafen, der lebhaft, aber vergeblich dagegen protestirte.
»Ich bitte Dich, dann bist Du ja ohne jeden Schutz gegen die Witterung.«
»Mir schadet das nichts. Ich bin nicht weichlich.«
»Aber ich bin es Deiner Meinung nach?« fragte Edmund empfindlich.
»Nein – nur verwöhnt! Jetzt aber müssen wir einen Entschluß fassen. Entweder wir bleiben im Wagen und schicken den Postillon fort, oder wir versuchen es, auf dem Fußwege vorwärts zu kommen. Entscheide Dich rasch. Was soll geschehen?«
»Wenn Du nur nicht immer so entsetzlich kategorisch wärst!« sagte Edmund mit einem Seufzer. »Fortwährend stellst Du ein Entweder – oder auf. Weiß ich es, ob der Fußweg zu passiren ist?«
Das Gespräch wurde hier unterbrochen. In einiger Entfernung ließ sich das Stampfen und Schnauben von Pferden hören, und jetzt sah man auch durch Nebel und Schneeflocken einen zweiten Wagen herankommen. Die kräftigen Thiere überwanden ziemlich leicht die Schwierigkeiten des Weges, an dieser bedenklichen Stelle machten sie aber doch Halt. Der Kutscher zog die Zügel an sich, betrachtete kopfschüttelnd das Hinderniß und wandte sich dann nach dem Innern des Wagens. Seine Meldung schien nicht viel tröstlicher zu lauten, als die des Postillons, und ebenso ungeduldig aufgenommen zu werden; denn die helle, jugendliche Stimme, welche ihm antwortete, klang in erregtem Tone.
»Das hilft Alles nichts, Anton; wir müssen hindurch.«
»Aber Fräulein, wenn es doch nun einmal nicht geht!« wandte der Kutscher ein.
»Thorheit! Es muß gehen. Ich werde selbst nachsehen.«
Den sehr bestimmt gesprochenen Worten folgte die Ausführung sofort. Der Wagenschlag wurde geöffnet, und eine offenbar noch sehr junge Dame sprang heraus. Sie schien mit der Märztemperatur hier in den Bergen hinreichend vertraut zu sein; denn ihre Kleidung war noch ganz winterlich. Ein pelzbesetztes Jäckchen umschloß die schlanke Gestalt in dem dunklen Reisekleide, und ein dichter Schleier, der über dem Hute befestigt war, hüllte fast den ganzen Kopf ein. Es schien sie sehr wenig zu kümmern, daß ihr Fuß beim Aussteigen bis an den Rand des Stiefelchens in den weichen Schnee versank; sie that tapfer einige Schritte vorwärts, blieb aber stehen, als sie den andern Wagen bemerkte, der dicht vor dem ihrigen hielt.
Auch die beiden Herren waren aufmerksam geworden. Oswald freilich hatte nur einen flüchtigen Blick auf die neuen Ankömmlinge geworfen und dann seine ganze Aufmerksamkeit wieder der kritischen Lage zugewendet, Edmund dagegen verlor auf einmal alles Interesse dafür. Er überließ seinem Begleiter alles Weitere und stand schon in der nächsten Minute an der Seite der Fremden, der er mitten im ärgsten Schneegestöber eine Verbeugung von so tadelloser Eleganz machte, als befände er sich im Salon.
»Sie entschuldigen, mein Fräulein, aber wie ich sehe, sind wir nicht die Einzigen, die dies unvergleichliche Frühlingswetter überrascht hat. Es ist immer ein Trost, im Unglück Leidensgefährten zu haben, und da wir in der gleichen Gefahr sind, hier rettungslos einzuschneien, so gestatten Sie wohl, daß wir Ihnen unseren Beistand anbieten.«
Graf Ettersberg vergaß bei diesem ritterlichen Anerbieten vollständig, daß er und Oswald selbst ganz rathlos vor dem Hinderniß standen. Unglücklicher Weise wurde er auf der Stelle beim Worte genommen; denn die junge Dame sagte, ohne durch die Anrede irgendwie in Verlegenheit zu gerathen, in dem früheren bestimmten Tone:
»Nun, dann haben Sie die Güte, uns einen Weg durch denn Schnee zu bahnen!«
»Ich?« fragte Edmund betroffen. »Ich soll –?«
»Sie sollen uns eine Bahn durch den Schnee schaffen – gewiß, mein Herr!«
»Mit dem größten Vergnügen, mein Fräulein, wenn Sie mir nur gefälligst sagen wollten, wie ich das anfangen soll.«
Die Spitze des kleinen Stiefels schlug ungeduldig gegen den Boden, und nicht minder ungeduldig klang die Erwiderung.
»Ich dachte, Sie hätten bereits ein Mittel gefunden, da Sie mir Ihre Hülfe anboten. Jedenfalls müssen wir hindurch, gleichviel auf welche Weise.«
Damit schlug die Sprechende den Schleier zurück und machte Anstalt, die Situation zu beaugenscheinigen. Das, was dies dichte dunkelblaue Gewebe aber jetzt entschleierte, war von so ungewöhnlichem Liebreiz, daß Edmund die Antwort darüber vergaß. Man konnte auch wirklich kaum etwas Anmuthigeres sehen als das von der scharfen Luft rosig angehauchte Gesicht dieses jungen Mädchens. Ihr dunkelblondes Haar drängte sich lockig und widerspänstig aus dem seidenen Netze hervor, das vergeblich versuchte, es zu fesseln. Die Augen, von tiefstem Dunkelblau, hatten durchaus nichts von jener Ruhe und Sanftmuth, die man sonst in dem blauen Auge sucht; vielmehr sprühte auch hier der ganze kecke Uebermuth, den die Jugend und das Glück nur zu geben vermögen. Das Grübchen, das beim Lächeln die Wangen vertiefte, war allerliebst, aber um den kleinen Mund lag ein Zug, der entschieden auf Trotz deutete, und das Köpfchen dort unter den widerspänstigen Locken sah ganz so aus, als beherberge es allerlei Launen und Eigensinn. Aber vielleicht war es gerade dies, was dem Gesicht den eigenthümlich pikanten Zauber lieh, der unwiderstehlich fesselte und den Blick fast zwang, darauf zurückzukehren.
Der jungen Dame entging keineswegs der Eindruck, den ihre Erscheinung machte, und daher mochte auch wohl das Lächeln stammen, das den ungeduldigen Ausdruck in ihren Zügen verdrängte. Uebrigens dauerte das Verstummen Edmund’s nicht lange. Verlegenheit und Schüchternheit gehörten durchaus nicht zu seinen Fehlern, und er war eben im Begriff, mit einem Compliment zu debütiren, als Oswald dazwischen trat.
»Die Schwierigkeit dürfte nunmehr gehoben sein,« sagte er mit einer leichten Verbeugung. »Wenn Sie uns gestatten, mein Fräulein, Ihre Pferde vor die unsrigen zu legen, so wird es wohl möglich sein, zunächst die Postchaise durch den Schnee zu bringen, und dann in der gleichen Weise Ihren Wagen hinüber zu schaffen.«
»Ungemein praktisch!« sagte Edmund, der sich unbeschreiblich ärgerte, daß er in seinem Complimente und in der sonstigen Entfaltung seiner Liebenswürdigkeit unterbrochen wurde, aber auch die junge Dame schien befremdet über den kurzen trockenen Ton, in welchem der Vorschlag gemacht wurde. Die höchst unpraktische Bewunderung des Grafen Ettersberg war ihr augenscheinlich weit angenehmer, als die praktische Gleichgültigkeit seines Begleiters.
Sie sagte nun auch ihrerseits sehr kurz:
»Ich bitte, verfügen Sie ganz nach Belieben!« befahl dem Kutscher, den Anordnungen des fremden Herrn zu folgen, und machte dann Anstalt, in ihrem Wagen vor dem unaufhörlichen Schneetreiben Schutz zu suchen.
Edmund folgte ihr schleunigst. Er fand es nöthig, ihr beim Einsteigen zu helfen, und ebenso nöthig, auf den Wagentritt zu steigen, um über den weiteren Verlauf der Sache, die Oswald sofort mit voller Energie in Angriff nahm, Bericht zu erstatten.
»Jetzt setzt sich der Zug in Bewegung,« rapportirte er durch das niedergelassene Wagenfenster. »Sie zwingen es kaum mit dem doppelten Gespann – da am Abhange wird die Sache bedenklich, die unglückliche Postkutsche kracht und wankt in allen Fugen – die beiden Rosselenker benehmen sich sehr ungeschickt; es ist nur ein Glück, daß mein Begleiter als Commandant das Ganze leitet. Das Commandiren versteht er ausgezeichnet. – Wahrhaftig, da legen sie Bresche in den Schneewall! Es geht wirklich. Oswald steht bereits drüben und giebt ihnen die Richtung an.«
»Und Sie stehen inzwischen hier auf dem Wagentritt,« spottete die junge Dame.
»Aber mein Fräulein,« vertheidigte sich Edmund. »Sie werden doch nicht verlangen, daß ich Sie allein auf der Landstraße lasse. Irgend Jemand muß doch zu Ihrem Schutze hierbleiben.«
»Ich glaube nicht, daß hier ein räuberischer Ueberfall zu fürchten ist; unsere Landstraßen sind sicher, so viel ich weiß. Sie scheinen aber diesen Standpunkt sehr zu lieben.«
»Da er mir eine so reizende Aussicht bietet – gewiß!«
Die kecke Galanterie mißfiel offenbar; denn augenblicklich flog der dunkelblaue Schleier wieder herab und verhüllte die eben noch so gerühmte Aussicht. Graf Edmund war etwas betreten. Er sah seine Uebereilung ein und wurde respectvoller.
Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis die Postkutsche über die bedenkliche Stelle geschafft war. Endlich stand sie drüben; Oswald kehrte zurück, und die Kutscher mit den Pferden folgten. Edmund stand noch immer auf dem Wagentritt und schien auch Absolution für seine Keckheit erhalten zu haben; denn es war ein äußerst lebhaftes Gespräch zwischen ihm und seiner Schutzbefohlenen im Gange. Nur fand diese ein boshaftes Vergnügen daran, ihm fortgesetzt ihren Anblick zu entziehen; der Schleier lag noch immer über ihrem Gesichte, als Oswald herantrat.
»Ich muß Sie ersuchen, auszusteigen, mein Fräulein,« sagte er. »Der Abhang ist ziemlich steil und der Schnee sehr tief. Unsere Postchaise war mehrere Male in Gefahr, umgeworfen zu werden, und Ihr Wagen ist bedeutend schwerer. Die Fahrt würde bedenklich sein.«
»Aber Oswald, welche Idee!« rief Edmund. »Die Dame kann doch nicht den Weg zu Fuß zurücklegen – das ist unmöglich.«
»Das nicht, nur etwas unbequem,« lautete die gleichmüthige Antwort. »Die Wagen haben einigermaßen Bahn geschafft, und wenn wir ihnen unmittelbar folgen, so ist die Sache nicht so schwierig. Wenn die Dame es indessen nicht wagt –«
»Nicht wagt?« unterbrach ihn diese in gereiztem Tone. »O, mein Herr, ich bitte mir doch nicht so viel Furchtsamkeit zuzutrauen. Ich werde es unter allen Umständen wagen.«
Damit verließ sie rasch den Wagen und stand in der nächsten Minute draußen auf der Chaussee. Hier aber erfaßte der Wind den bisher hartnäckig festgehaltenen Schleier, der hoch aufflatterte. Zwar griffen die kleinen Hände sofort danach, aber er hatte sich fest um den Hut geschlungen, und der Versuch, ihn wieder herabzuziehen, mißglückte, zum größten Vergnügen Edmund’s, der nun ungestört die »Aussicht« bewundern konnte.
Inzwischen waren die Pferde vor den zweiten Wagen gelegt worden. Da die Bahn bereits gebrochen war, so ging die Fahrt diesmal leichter von Statten; trotzdem hatte Oswald, der unmittelbar folgte, fortwährend zu lenken und einzugreifen. Das Schneetreiben wollte noch immer kein Ende nehmen, und der Wind trieb die Flocken wirbelnd durch einander. Die Dämme zu beiden Seiten des Weges waren nur undeutlich wie durch einen weißen Schleier sichtbar, während jeder weitere Ausblick im Nebel verschwand. Es gehörte sehr viel jugendlicher Uebermuth dazu, um dieses Wetter und diesen Weg erträglich oder gar amüsant zu finden. Zum Glücke besaßen die beiden jüngeren Passagiere diese Eigenschaft in hohem Maße. Sie betrachteten das Ganze offenbar als Vergnügungspartie. Das beschwerliche Vorwärtskommen, wo man bei jedem Schritt in den Schnee einsank, der fortwährende Kampf mit dem Winde, all die kleinen und großen Hindernisse, die überwunden werden mußten, waren ihnen eine unerschöpfliche Quelle der Heiterkeit. Die Unterhaltung stockte nicht einen Augenblick – das flog wie Raketenfeuer hinüber und herüber; jedes Wort wurde aufgefangen und zurückgegeben. Keiner blieb dem Andern einen Spott oder eine Neckerei schuldig, und das Alles ging so unbefangen, so selbstverständlich, als hätten sich die Beiden schon seit Jahren gekannt.
Endlich war man glücklich drüben angelangt. Der Weg, der sich hier nach zwei verschiedenen Richtungen hin theilte, ließ ein ferneres Hinderniß nicht mehr besorgen. Die Wagen standen bereits neben einander, und die Gespanne wurden soeben in Ordnung gebracht.
»Wir werden uns jetzt wohl trennen,« sagte die junge Dame, auf den Weg deutend. »Sie fahren jedenfalls die Poststraße; mein Reiseziel liegt nach jener Richtung hin.«
»Aber doch wohl nicht allzu weit?« fragte Edmund rasch. »Ich bitte um Verzeihung, aber dieses Reise-Abenteuer mit seinen elementaren Hindernissen hat alle Etikette aufgehoben. Wir haben uns Ihnen noch nicht einmal genannt. Sie erlauben, mein Fräulein, daß ich in dieser etwas ungewöhnlichen Situation« – er stemmte sich mit aller Gewalt gegen einen Windstoß, der ihm den Mantelkragen in die Höhe schlug und einen nassen Flockenschauer in das Gesicht trieb – »mich Ihnen vorstelle. Graf Edmund von Ettersberg, der das Vergnügen hat, Ihnen zugleich seinen Vetter, Oswald von Ettersberg, zu präsentiren. Die nöthigen Salonverbeugungen müssen Sie uns erlassen, sonst wirft uns dieser liebenswürdige Nordost sofort zu Ihren Füßen in den Schnee.«
Die junge Dame stutzte bei der Nennung des Namens.
»Graf Edmund? Der Majoratsherr zu Ettersberg?«
»Zu Befehl!«
Um die Lippen der Fremden zuckte es wie ein mühsam unterdrückter Lachreiz.
»Und Sie sind mein Beschützer gewesen? Wir haben uns mit unseren Pferden gegenseitig aus der Noth geholfen? O, das ist unvergleichlich.«
»Mein Name scheint Ihnen bekannt zu sein,« sagte Edmund. »Darf ich nun auch meinerseits erfahren –«
»Wer ich bin? Nein, Herr Graf, das erfahren Sie jetzt auf keinen Fall. Aber ich rathe Ihnen, dieses Zusammentreffen in Ettersberg zu verschweigen. Ich werde das zu Hause gleichfalls thun; denn so unschuldig wir daran sind, wir würden doch beiderseitig in Acht und Bann gethan bei dem Geständniß«. Hier war es zu Ende mit der Selbstbeherrschung der jungen Dame; sie brach in ein so lautes und muthwilliges Lachen aus, daß Oswald sie befremdet anschaute; Edmund dagegen ging sofort auf den Ton ein.
»Es bestehen also irgend welche geheime Beziehungen zwischen uns, von denen ich vorläufig keine Ahnung habe,« sagte er. »Jedenfalls scheinen sie sehr heiterer Natur zu sein, und da Sie Ihr Incognito durchaus nicht lüften wollen, mein Fräulein, so gestatten Sie einstweilen, daß ich mitlache,« damit stimmte er ebenso herzlich und übermüthig in das Gelächter ein.
»Die Wagen sind bereit,« unterbrach Oswald diese stürmische Heiterkeit. »Es ist wohl Zeit, einzusteigen.«
Die Beiden hörten plötzlich auf zu lachen, und ihre Mienen zeigten, daß sie diese Unterbrechung sehr rücksichtslos fanden. Sie warf das Köpfchen zurück, sah den Sprechenden von oben bis unten an, kehrte ihm dann ohne Weiteres den Rücken und ging zu ihrem Wagen. Edmund ging natürlich mit, er schob den Kutscher bei Seite, der an dem geöffneten Schlage stand, hob seine schöne Schutzbefohlene hinein und schloß die Wagenthür.
»Und ich soll wirklich nicht erfahren, wen der Zufall so gütig und leider so flüchtig in meinen Weg geführt hat?« fragte er sich niederbeugend.
»Nein, Herr Graf! Vielleicht erhalten Sie in Ettersberg die Aufklärung, falls nämlich mein Signalement dort bekannt ist. Ich gebe sie Ihnen auf keinen Fall. Aber noch eine Frage – ist Ihr Herr Vetter immer so artig und so – mittheilsam wie heute?«
»Sie meinen, weil er während des ganzes Weges kein Wort gesprochen hat? Ja, das ist leider seine Art Fremden gegenüber, und was seine Galanterie betrifft –« Edmund seufzte – »Sie glauben nicht, mein Fräulein, wie oft ich da eintreten muß, um seinen gänzlichen Mangel daran wieder gut zu machen.«
»Nun, Sie unterziehen sich dieser Aufgabe auch mit großer Aufopferung,« spottete die junge Dame, »und im Uebrigen hegen Sie eine unglaubliche Vorliebe für den Wagentritt. Sie stehen schon wieder oben.«
Edmund stand allerdings dort und hätte wahrscheinlich noch lange gestanden, wenn der Kutscher, der jetzt die Zügel ergriff, nicht sehr deutliche Zeichen von Ungeduld gegeben hätte. Die schöne Unbekannte neigte graziös das Haupt.
»Meinen Dank für die freundliche Hülfe! Leben Sie wohl!«
»Ich darf doch hoffen – auf Wiedersehen?« rief Edmund beinahe ungestüm.
»Um des Himmels willen nicht! Darauf müssen wir unter allen Umständen verzichten. Sie werden das auch noch einsehen. Adieu, Herr Graf von Ettersberg!«
Der Abschiedsgruß verhallte in dem alten, muthwilligen Lachen. Die Pferde zogen an, und Graf Ettersberg kam nur mit genauer Noth noch vom Tritte herunter.
»Willst Du denn nun endlich die Güte haben, einzusteigen?« klang Oswald’s Stimme. »Du hattest ja so große Eile, nach Hause zu kommen, und wir haben uns schon bedeutend verspätet.«
Edmund warf noch einen Blick auf den Wagen, der ihm die reizende Bekanntschaft entführte und der soeben zwischen den Bäumen verschwand; dann folgte er der Aufforderung.
»Oswald, wer war die Dame?« fragte er rasch, während auch die Postchaise sich in Bewegung setzte.
»Darnach fragst Du mich? Wie soll ich das wissen?«
»Nun, Du warst ja lange genug bei den Wagen. Du wirst doch den Kutscher gefragt haben.«
»Es ist nicht meine Art, die Kutscher auszufragen, und überdies interessirt mich die Sache sehr wenig.«
»Aber mich desto mehr!« rief Edmund ärgerlich. »Freilich, das sieht Dir ähnlich. Nicht einmal eine Frage hältst Du der Mühe werth, wo es sich um eine so interessante Begegnung handelt. Ich weiß nicht, was ich aus diesem Mädchen machen soll. Das sprüht ja Funken bei jeder Berührung – das zieht an und stößt ab in einem Athem. In der einen Minute glaubt man sich berechtigt, ihr ganz zwanglos zu nahen, und in der nächsten wird man wieder in die respectvollste Entfernung zurückgescheucht. Ein reizender kleiner Kobold!«
»Aber sehr verwöhnt und übermüthig!« schaltete Oswald ein.
»Du bist ein entsetzlicher Pedant!« fuhr der junge Graf auf. »Ueberall findest Du etwas zu tadeln. Gerade dieser launische Uebermuth ist es, der das Mädchen so unwiderstehlich macht. Aber wer in aller Welt kann sie sein? Der Wagenschlag trägt kein Wappen, der Kutscher nur einfach herrschaftliche Livrée, ohne jedes Abzeichen. Also irgend eine bürgerliche Familie aus der Nachbarschaft, und doch scheint sie uns sehr genau zu kennen. Woher denn aber dieses Verweigern des Namens, diese Hindeutung auf schon bestehende Beziehungen? Ich zerbreche mir vergebens den Kopf darüber.«
Oswald, der das Kopfzerbrechen seines Vetters überflüssig zu finden schien, lehnte sich schweigend in die Ecke zurück, und die Fahrt wurde nunmehr ohne weiteres Hinderniß, aber mit der früheren Langsamkeit fortgesetzt. Man hatte, zum großen Aerger des Grafen, auf allen Stationen statt der verlangten vier Postpferde nur zwei erhalten, da in Folge des Schneefalls die Thiere bei den gewöhnlichen Posten Aushülfe leisten mußten, und so hatten die Reisenden sich seit der Abfahrt von der Bahnstation heute Mittag um volle zwei Stunden verspätet. Die Dunkelheit brach schon herein, als der Wagen endlich in den Schloßhof von Ettersberg rollte, wo die Ankömmlinge augenscheinlich längst erwartet wurden. Die Thüren der großen, hell erleuchteten Eingangshalle standen weit offen, und mehrere Diener eilten geschäftig herbei. Einer derselben, ein alter Mann, der gleichfalls die reiche Ettersberg’sche Livrée trug, trat sofort an den Wagen.
»Guten Abend, Eberhard!« rief Edmund fröhlich. »Da sind wir, trotz Sturm und Schneegestöber. Es ist doch Alles wohl zu Hause?«
»Gott sei Dank, ja, Herr Graf! Aber die Frau Gräfin waren schon in großer Sorge wegen der Verspätung und fürchteten, daß die jungen Herrschaften einen Unfall gehabt hätten.«
Damit öffnete Eberhard den Schlag, und gleichzeitig erschien oben auf den Treppenstufen, die von der Eingangshalle in das Innere des Schlosses führten, eine Dame von imposanter Gestalt, in dunklem Seidenkleide. Aus dem Wagen springen, in die Halle stürzen und die Stufen hinauffliegen, war für Edmund das Werk eines Augenblicks, schon im nächsten lag er in den Armen seiner Mutter.
»Mama! geliebte Mama, endlich sehe ich Dich wieder.«
Der Ruf hatte nichts von jenem tändelnden Uebermuthe, den der junge Graf bisher ausschließlich gezeigt. Das war der volle, echte Herzenston, und derselbe Ausdruck leidenschaftlicher Zärtlichkeit lag in der Stimme und in den Zügen der Gräfin, als sie den Sohn in die Arme schloß und küßte.
»Mein Edmund!«
»Wir kommen spät, nicht wahr?« fragte dieser. »Die verschneiten Wege und die elenden Posteinrichtungen sind schuld daran, und dann hatten wir auch unterwegs ein kleines Abenteuer.«
»Wie konntest Du überhaupt in solchem Wetter reisen!« sagte die Gräfin mit liebevollem Vorwurf. »Ich erwartete stündlich die Nachricht, daß Du in B. bleiben und erst morgen eintreffen würdest.«
»Sollte ich noch vierundzwanzig Stunden von Dir getrennt sein?« unterbrach sie Edmund. »Nein, Mama, das hätte ich sicher nicht vermocht, und das hast Du auch nicht geglaubt.«
Die Mutter lächelte. »Nein, und eben deshalb habe ich mich während der letzten beiden Stunden so geängstigt. Aber jetzt komm! Du mußt Dich von der kalten und stürmischen Fahrt erholen.«
Sie wollte den Arm ihres Sohnes nehmen, aber dieser blieb stehen und sagte mit leisem Vorwurfe:
»Mama, siehst Du denn Oswald nicht?«
Oswald von Ettersberg war seinem Vetter schweigend gefolgt. Er stand seitwärts im Schatten des Treppenpfeilers und trat erst hervor, als die Gräfin sich zu ihm wandte.
»Willkommen, Oswald!«
Die Begrüßung klang sehr kühl, und ebenso kühl und förmlich war die Art, mit welcher der junge Mann seine Lippen auf die Hand der Tante drückte, deren Blick jetzt befremdet über seinen Anzug hinglitt.
»Du bist ja vollständig durchnäßt. Was ist denn vorgefallen?«
»Mein Gott, das habe ich ganz vergessen zu erzählen,« rief Edmund. »Er gab mir beim Aussteigen seinen Mantel und hat nun selbst die ganze Witterung aushalten müssen. Oswald,« wandte er sich an seinen Vetter, »ich hätte ihn Dir doch wenigstens im Wagen zurückgeben können; warum erinnertest Du mich auch nicht daran? Nun bist Du noch eine volle Stunde lang in dem nassen Ueberrock gefahren. Wenn Dir das nur nicht schadet!«
Er nahm hastig den Mantel ab und legte die Hand prüfend auf den allerdings völlig durchnäßten Ueberrock Oswald’s; dieser machte eine abwehrende Bewegung.
»Laß doch – es ist ja nicht der Rede werth.«
»Das glaube ich auch,« nahm die Gräfin das Wort, der diese Sorgfalt entschieden zu mißfallen schien. »Du weißt ja, daß Oswald Witterungseinflüssen ganz unzugänglich ist. Er braucht nur die Kleider zu wechseln. Geh, Oswald! Aber noch eins,« setzte sie flüchtig und wie beiläufig hinzu, »ich habe Dir ein anderes Zimmer anweisen lassen – eines drüben im Seitenflügel.«
»Weshalb denn das?« fragte Edmund betroffen. »Wir haben ja sonst stets neben einander gewohnt.«
»Ich habe einige Aenderungen in Deiner Wohnung getroffen, mein Sohn,« sagte die Gräfin in sehr bestimmtem Tone, »und mußte dabei nothgedrungen über Oswald’s Zimmer verfügen. Er wird wohl nichts dagegen einzuwenden haben; er ist drüben in der Erkerwohnung auch recht gut logirt.«
»Gewiß, liebe Tante!«
Die Erwiderung klang vollkommen ruhig und gleichgültig, aber es mußte doch irgend etwas darin liegen, was dem jungen Grafen auffiel. Er runzelte leicht die Stirn und war im Begriff, etwas zu sagen, unterdrückte es aber mit einem Blick auf die umstehenden Diener. Statt dessen trat er plötzlich auf seinen Vetter zu und ergriff dessen Hand.
»Nun, das wird sich ja finden. Aber jetzt geh, Oswald, und kleide Dich sofort um! Hörst Du, auf der Stelle! Du darfst keine Minute länger in den nassen Kleidern bleiben, wenn ich mir nicht ernstlich Vorwürfe machen soll. Thu’ es mir zu Liebe; wir warten jedenfalls bei Tisch auf Dich.«
»Edmund, ich warte auf Dich, klang die Stimme der Gräfin in unverkennbarer Schärfe.
»Im Augenblick, Mama! Eberhard, leuchten Sie Herrn von Ettersberg und sorgen Sie unverzüglich für trockene Kleider!«
Mit diesen Worten reichte er seiner Mutter den Arm, um sie hinaufzuführen. Oswald hatte die so herzlich kundgegebene Sorgfalt mit keiner einzigen Silbe beantwortet. Er blickte den Beiden einige Secunden lang nach und nahm dann dem alten Diener, der soeben herantrat, den Armleuchter aus der Hand.
»Es ist gut, Eberhard. Ich finde den Weg schon allein. Sehen Sie nach meinem Koffer!«
Damit trat er in den nur schwach erleuchteten Corridor, der nach dem Seitenflügel des Schlosses führte. Die Kerzen warfen ihren hellen Schein auf das Gesicht des jungen Mannes, das jetzt, wo er sich allein sah, seinen gleichgültige Ausdruck verloren hatte. Die Lippen waren fest auf einander gepreßt, die Brauen finster zusammengezogen, und ein Ausdruck fast des Hasses entstellte seine Züge, als er halblaut murmelte:
»Wann endlich werde ich frei werden?«
Das Geschlecht der Grafen von Ettersberg war ursprüglich ein großes und weitverzweigtes gewesen, aber im Laufe der Jahre hatten der Tod oder die Vermählung der weiblichen Mitglieder einen Zweig nach dem andern abgelöst, und gegenwärtig existirten außer der verwittweten Gräfin, die in Ettersberg lebte, nur noch zwei Vertreter des Namens, Graf Edmund, der jetzige Majoratsherr, und sein Vetter Oswald.
Der Letztere theilte das Schicksal aller jüngeren Söhne in den Familien, wo die Güter ausschließlich Majorat sind. Ohne jedes Vermögen, war er gänzlich auf die Abhängigkeit von dem Chef des Hauses angewiesen, wenigstens so lange, bis ihm eine eigene Lebensstellung zu Theil wurde. Freilich war das nicht immer so gewesen – im Gegentheil, seit seiner Geburt ward er von seinen Eltern als der voraussichtliche Majoratserbe begrüßt. Das damalige Haupt der Familie, Edmund’s Vater, war kinderlos und erst in vorgerücktem Alter Wittwer geworden; sein einziger Bruder, der bedeutend jünger war und in der Armee diente, konnte sich also mit Fug und Recht als dereinstigen Erben betrachten. Es galt ihm deshalb auch als besonderes Glück, als ihm nach längerer Ehe, die bisher nur mit früh verstorbenen Töchtern gesegnet war, ein Sohn geboren wurde. Auch der Oheim begrüßte dieses Ereigniß, das die Zukunft seines Hauses sicherte, mit großer Freude, und die Aussichten des kleinen Oswald während seiner ersten Lebensjahre waren die glänzendsten.
Da trat eine ganz unerwartete Schicksalswendung ein. Der mehr als sechszigjährige Graf Ettersberg führte ein zwanzigjähriges Mädchen als zweite Frau zum Altar. Die junge Gräfin war sehr schön, aber sie stammte aus gänzlich verarmter, wenn auch edler Familie. Es hieß damals, ihre Familie habe Alles aufgeboten, um die glänzende Partie zu ermöglichen, die allerdings die Herzensbedürfnisse eines jungen Mädchens nicht befriedigen konnte, um so weniger, als, wie allgemein behauptet wurde, das Band einer schon bestehenden Neigung durch jene Werbung jäh und plötzlich zerrissen worden war. Ob dabei von Seiten der Verwandten Zwang oder nur Ueberredung vorwaltete, das wußte Niemand; jedenfalls willigte die junge Dame in die Verbindung, die ihr eine vielbeneidete Lebensstellung gab. Der alte Graf Ettersberg erlag so vollständig dem Zauber dieser so spät auflodernden Leidenschaft, daß er alles Andere darüber vergaß, und als er nun vollends das kaum mehr erhoffte Glück hatte, einen Majoratserben in seinen Armen zu halten, da war die Herrschaft der schönen und klugen Frau vollständig gesichert.
Es war begreiflich, daß der jüngere Bruder diese vollständige Vernichtung seiner Aussichten sehr peinlich empfand, und ebenso begreiflich, daß er seiner Schwägerin keine besondere Freundschaft entgegenbrachte. Das ehemals herzliche Verhältniß zwischen den Brüdern machte der Kälte und Entfremdung Platz, die bis zum Tode des jüngeren andauerte. Er und seine Gattin starben rasch hinter einander, und der verwaiste Knabe kam in das Haus des Oheims, wo er gemeinschaftlich mit dem jungen Majoratserben erzogen wurde.
Aber auch der alte Graf Ettersberg überlebte den Bruder nicht lange. In seinem Testamente hatte er Sohn und Neffen der Vormundschaft seines Schwagers, des Bruders seiner Gemahlin übergeben, welcher der Schwester denn auch überall zur Seite stand, wo eine männliche Vertretung nothwendig war.
Im Uebrigen aber sicherte jenes Testament der Gräfin die vollste Freiheit und Selbstständigkeit aller Verfügungen, und sie leitete auch selbst die Verwaltung der Familiengüter und die Erziehung der beiden Knaben.
Jetzt war die letztere vollendet; Graf Edmund hatte während des Winters, in Begleitung seines Vetters, eine längere Reise nach Frankreich und Italien unternommen und war nunmehr zurückgekehrt, um sich mit der Verwaltung seiner Güter vertraut zu machen, die er bei seiner bevorstehenden Mündigkeit selbst übernehmen sollte, während Oswald sich darauf vorbereitete, in den Staatsdienst zu treten. – –
Es war am Morgen nach der Ankunft der beiden jungen Männer. Das Wetter hatte sich aufgehellt, aber die Landschaft bot noch einen völlig winterlichen Anblick. In ihrem Wohnzimmer befand sich die Gräfin allein mit ihrem Sohne. Die Dame hatte sich, obgleich sie bereits in der Mitte der Vierzig stand, doch ihre einst so blendende Schönheit noch größtentheils zu bewahren gewußt. Man hätte in dieser imposanten, aber noch beinahe jugendlichen Erscheinung schwerlich die Mutter eines vierundzwanzigjährigen Sohnes vermuthet, um so weniger, als kein einziger Zug auf eine Aehnlichkeit zwischen ihnen hindeutete. Edmund mit seinen dunklen Haaren und Augen, mit dem sprudelnden, feurigen Uebermuth, der sich in jedem Worte, in jeder Bewegung kundgab, war der directe Gegensatz zu seiner schönen ernsten Mutter, deren hellblondes Haar und blaue Augen mit der kühlen Ruhe harmonirten, die ihr gewöhnlich eigen war und die nur dem Lieblinge gegenüber einem wärmeren Ausdruck Platz machte.
Der junge Graf schien soeben eine Beichte abgelegt zu haben über das, was Oswald seine »Tollheiten« nannte, aber es mußte ihm wohl nicht allzu schwer geworden sein, Verzeihung zu erlangen; denn die Mutter schüttelte zwar den Kopf, aber der Ton klang weit mehr zärtlich, als vorwurfsvoll, in dem sie sagte:
»Du Wildfang! Es ist Zeit, daß ich Dich wieder in meine Obhut nehme. Du scheinst in der schrankenlosen Freiheit da draußen den mütterliche Zügel arg gelockert zu haben. Wirst Du ihn denn jetzt wieder ertragen?«
»Von Deiner Hand – immer!« versicherte Edmund, ihre Hand innig an die Lippen drückend, dann aber, sofort wieder in seinen alten übermüthigen Ton fallend, setzte er hinzu: »Ich habe es dem Oswald vorhergesagt, daß mein Urtheil auf Gnade lauten würde. Ich kenne meine Mama.«
Das Gesicht der Gräfin verfinsterte sich.
»Oswald scheint seiner Pflicht sehr wenig nachgekommen zu sein,« entgegnete sie, »das ersah ich schon aus Deinen Briefen. Als der Aeltere und Besonnenere sollte er Dir zur Seite stehen; statt dessen ließ er Dich überall allein, wo er nicht unbedingt folgen mußte. Wenn Deine eigene Natur Dich nicht davor bewahrt hätte, mehr als bloße Thorheiten zu begehen, er hätte es sicher nicht gethan.«
»Nun, gepredigt hat er genug,« sagte Edmund. »Es war schließlich meine Schuld, wenn ich nicht darauf hörte. Aber jetzt vor allen Dingen eine Frage, Mama! Weshalb ist Oswald in den Seitenflügel verbannt worden?«
»Verbannt? Welch ein Ausdruck! Du hast ja die Aenderungen gesehen, die ich in Deinen Zimmern vorgenommen habe. Gefällt Dir die neue Einrichtung nicht?«
»Ja, aber –«
»Es ist nothwendig, daß Du jetzt eine eigene Wohnung erhältst,« schnitt die Gräfin ihrem Sohne das Wort ab. »Wenn Du als Majoratsherr Deine Güter übernimmst, kannst Du nicht wie bisher die gleichen Zimmer mit Deinem Vetter theilen. Er wird das selbst einsehen.«
»Es war aber nicht nöthig, ihn deshalb in den alten Bau zu weisen, der nur in Ausnahmefällen benutzt wird,« warf Edmund ein. »Es sind im Hauptgebäude Zimmer genug zur Verfügung. Deine Anordnung hat Oswald verletzt; ich sah es ganz deutlich. Nimm sie zurück – ich bitte Dich.«
»Das kann ich nicht, ohne mich vor der ganzen Dienerschaft lächerlich zu machen,« sagte die Gräfin in sehr bestimmtem Tone. »Wenn Du es meinem ausdrücklich gegebenen Befehle gegenüber thun willst, so steht es Dir frei.«
»Mama!« rief der junge Graf unwillig. »Du weißt ja, daß ich nie in Deine Beschlüsse eingreife. Aber die Aenderung hätte für jetzt wohl unterbleiben können; Oswald verläßt uns ja ohnehin in einigen Monaten.«
»Ja, im Herbste! Bis dahin wird mein Bruder die nöthigen Schritte thun, um ihm den Eintritt in den Staatsdienst zu öffnen.«
Edmund sah zu Boden.
»Ich glaube, Oswald hat andere Zukunftspläne,« sagte er mit einem gewissen Zögern.
»Andere Zukunftspläne?« wiederholte die Gräfin. »Ich will doch nicht hoffen, daß er uns zum zweiten Male Ungehorsam entgegensetzt. Damals, als es sich um seine Bestimmung für die Armee handelte, hast Du allein mir die Nachgiebigkeit abgezwungen. Du warst ja wie immer auf seiner Seite. Ich habe ihm den damaligen Trotz noch heute nicht vergeben.«
»Es war kein Trotz,« vertheidigte Edmund. »Nur die Ueberzeugung Oswald’s, daß er als Officier und Vertreter eines altadeligen Namens nicht in der Armee existiren konnte, ohne dauernd meine Beihülfe in Anspruch zu nehmen.«
»Die Du ihm doch wohl überreichlich gewährt hättest.«
»Die er aber um keinen Preis annehmen will. Er besitzt nun einmal einen unbeugsamen Stolz.«