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Helmut Ortner

Fremde Feinde

Sacco und Vanzetti – Ein Justizmord

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© Helmut Ortner und
Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2015
Alle Rechte vorbehalten

www.nomen-verlag.de

Umschlaggestaltung:
Marko Röthlingshofer, Neustadt an der Weinstraße

ISBN 978-3-939816-25-6
eISBN-978-3-939816-32-4

Inhalt

Erstes Kapitel

Die Schüsse von Bridgewater und South Braintree

Zweites Kapitel

Aufbruch ins Gelobte Land

Drittes Kapitel

Jagd auf Rote und Radikale

Viertes Kapitel

Die Falle schnappt zu

Fünftes Kapitel

»Mindestens zwölf Jahre …«

Sechstes Kapitel

Als Staatsfeinde abgestempelt

Siebtes Kapitel

Im Käfig von Dedham

Achtes Kapitel

Die »heilige« Entscheidung

Neuntes Kapitel

Die juristische Verschwörung

Zehntes Kapitel

Zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Elftes Kapitel

Das Geständnis

Zwölftes Kapitel

»Sie töten zwei Unschuldige!«

Dreizehntes Kapitel

Freiheit oder Tod

Vierzehntes Kapitel

Letzte Rettungsversuche

Fünfzehntes Kapitel

Das Ende einer Tragödie

Epilog

Quellen- und Literaturhinweise

Ich war wild darauf zu kommen in dieses Land,
weil ich gemocht freies Land…

NICOLA SACCO

Ich muß leiden, weil ich ein Radikaler bin,
und ich bin in der Tat ein Radikaler;
ich muß leiden, weil ich ein Italiener bin,
und ich bin in der Tat ein Italiener…

BARTOLOMEO VANZETTI

Erstes Kapitel

Die Schüsse von Bridgewater und South Braintree

Dieser Winter war besonders hart in New England, der schneereichste seit Jahren. Am kalt-feuchten Morgen des 24. Dezember 1919 war der Zahlmeister Alfred Cox mit Lohngeldern von mehr als dreißigtausend Dollar von der Bridgewater Trust Company zu seiner Firma, der L. Q. White Shoe Company in Bridgewater, Bundesstaat Massachusetts, unterwegs. Cox saß mit dem Rücken zu seinem Fahrer Earl Graves auf einer großen, verzinkten Eisenkiste, in der sich das Geld befand. Neben Graves, der das schwerfällige Gefährt, einen Ford mit Segeltuchdach und dicken Gummireifen, wegen vereinzeltem Glatteis sehr vorsichtig steuerte, saß der Wachtmeister Benjamin Bowles.

Die Uhr zeigte zwanzig Minuten vor acht, als Graves in die Summer Street einbog, um kurz danach die Broad Street hinunterzufahren. In der Mitte der Straße verliefen dort Straßenbahnschienen, und Graves verlangsamte deshalb das Tempo auf kaum zehn Meilen in der Stunde, denn er wußte, wie tückisch solche Schienen bei Glätte sein konnten. Als sich der Lastwagen etwa hundert Meter hinter einer Straßenbahn befand, die in gleicher Fahrtrichtung unterwegs war, bemerkte Graves, wie an der Ecke Haie Street ein Personenwagen abrupt bremste. Drei Männer sprangen heraus und kamen dem Lastwagen entgegen. Im Bruchteil einer Sekunde ahnte Graves, daß etwas nicht stimmte. Der vorderste der drei Männer trug keine Kopfbedeckung, hatte einen dunklen Schnurrbart und war mit einem langen schwarzen Mantel bekleidet. Graves sah, daß er eine Flinte in der Hand hielt. Die beiden anderen Männer hatten Handfeuerwaffen. Plötzlieh kniete sich der Mann mit dem Schnurrbart nieder und zielte auf die Front des Lastwagens.

»Ein Überfall!« schrie Graves. Er wußte nicht, ob er bremsen oder Gas geben sollte. In diesem Augenblick eröffneten die beiden anderen Männer das Feuer. Kugeln prasselten gegen die Bleche des Lastwagens. Bowles und Cox erwiderten das Feuer mit zwei Schüssen, während Graves nun doch kräftig auf das Gaspedal drückte und über die Schienen hinweg auf die andere Straßenseite fuhr. Doch auf der vereisten Straße verlor er die Kontrolle über den Wagen; da half es auch nicht, daß Bowles ihm ins Steuer griff. Schleudernd prallte der Lastwagen gegen einen Telegrafenmast. Blech krachte, Scheiben klirrten, Rauch stieg aus dem Motor auf.

Kurz nach dem Aufprall rannten die drei Banditen zu ihrem Wagen zurück. Ein vierter Mann, von großer Gestalt, hatte während des Überfalls am Steuer sitzend auf sie gewartet. Hastig rissen sie die Türen auf und sprangen in den Wagen, der mit quietschenden Reifen durch die Haie Street davonfuhr.

Der demolierte Lastwagen war mittlerweile von vielen Schaulustigen umringt. Gestenreich schilderten sie, was sie gesehen hatten oder gesehen zu haben glaubten. Bowles, Graves und Cox steckte der Schreck noch tief in den Gliedern. Bleich im Gesicht dankten sie Gott, daß keiner von ihnen getroffen und keiner verletzt worden war. Auch die Kiste mit den Lohngeldern war unversehrt geblieben.

Noch am selben Tag beauftragte die White Shoe Company die Detektivagentur Pinkerton mit den Ermittlungen. Ein Pinkerton-Agent befragte zunächst die drei Beteiligten sowie mehrere Zeugen, die den Überfall miterlebt hatten. Seine ersten Recherchen blieben jedoch dürftig und widersprüchlich. Doch das war der Pinkerton-Mann von anderen Fällen schon gewohnt. Augenzeugen von Verbrechen waren häufig unzuverlässig. So etwas geht zu schnell, jede Person nimmt nur einen Teil des Verbrechens wahr, und viele sehen häufig nur, was sie sehen wollen, und nicht, was tatsächlich geschah.

So gab Frank Harding, ein Verkäufer von Auto-Ersatzteilen, zu Protokoll, er habe beim Anblick der Schießerei zunächst gedacht, es würde ein Film gedreht. Als er zur Haie Street kam, seien die Gangster gerade zu ihrem Wagen gerannt. Vielleicht sei es ein Hudson gewesen, in jedem Fall ein schwarzer Wagen, daran könne er sich erinnern. Und an das Zulassungszeichen: 01173 C.

Ein anderer Zeuge, ein junger Arzt mit dem Namen Dr. John Murphy, sagte aus, er habe sich gerade angezogen, als er die Schüsse hörte. Sofort habe er das Fenster geöffnet, doch nur noch einen Personenwagen gesehen, der davonraste. Ja, der Wagen sei schwarz gewesen. Immerhin, dachte der Pinkerton-Agent, diese Farbe wurde auch von Harding genannt. Und noch etwas gab der Arzt zu Protokoll: Er sei, so diktierte er dem Detektiv in den Block, später von seiner Wohnung in der Broad Street dorthin gegangen, wo der Lastwagen gegen den Mast geprallt war. Dort habe er eine Patronenhülse gefunden, aufgehoben und eingesteckt. »Haben Sie die Hülse dabei?« fragte der Detektiv ungeduldig. Der junge Arzt griff in seine Jackentasche und gab sie ihm.

Andere Zeugen waren nicht so ergiebig, ihre Beobachtungen diffus, oberflächlich und voller Widersprüche. Drei Zeugen gaben an, der Mann mit dem Gewehr habe einen Mantel getragen; ein Zeuge sagte, dies sei nicht der Fall gewesen. Wieder andere behaupteten, er sei barhäuptig gewesen; dem widersprach eine Frau: Er habe einen schwarzen Filzhut getragen. Trotz der zahlreichen Widersprüche ergab sich für die Pinkerton-Agentur ein erstes Bild: Vier Männer, schwarzer Wagen, der Bandit mit dem Gewehr ein Mann mit dunklem Teint, kurzem, gestutztem Schnurrbart, mittelgroß, etwa vierzig Jahre alt.

Da es damals durchaus üblich war, Personen nach ihrer ethnischen Abstammung zu identifizieren, dachte man sofort an Ausländer: an Griechen, Polen, Russen oder Italiener… Ein Pinkerton-Detektiv sprach auch mit dem Polizeichef von Bridgewater, Michael E. Stewart. Für diesen war der Überfall ein außerordentliches Ereignis.

Stewart war seit 1915 Polizeichef in der Stadt, aber so etwas hatte er noch nicht erlebt. Zwar wußte er, daß es in den Industrievierteln von Boston häufig zu Überfällen und Einbrüchen in Läden und Banken gekommen war, und ihm war auch nicht entgangen, daß die Presse von einer »Welle von Verbrechen« geschrieben hatte. In den Berichten war immer wieder die mangelnde Durchschlagskraft der Polizei kritisiert worden. In Randolp, ganz in der Nähe von Bridgewater, war erst am 17. November eine Sparkasse ausgeraubt worden. Vier Täter erbeuteten dabei 3 5 ooo Dollar und verschwanden unerkannt. Doch das war in Randolp, nicht in Bridgewater. Stewart buchte es als seinen persönlichen Erfolg, daß in Bridgewater die Welt bislang noch in Ordnung war. Darauf war er stolz. Mit seinen zwei Polizeibeamten, einem Mann, der am Tage Streife ging, und einem, der Nachtdienst versah, war ihm der Überfall auf den Lohngeldtransport eine Nummer zu groß. Und das beunruhigte ihn. Ja, es kratzte an seiner Polizistenehre, den Fall gemeinsam mit den Pinkerton-Detektiven bearbeiten zu müssen. Stewart, ein großer, kräftiger Mann von Anfang Vierzig, sah darin aber auch eine Herausforderung. Jetzt konnte er beweisen, daß er zu Höherem berufen war als nur zu einem Provinzpolizisten. Dem Detektiv gab er zu verstehen, daß von den »Roten und Bolschewisten« eine ganze Menge nach Bridgewater hereinkämen und daß der Überfall das Werk einer von außerhalb der Stadt gekommenen Russenbande gewesen sein könnte.

Stewart wußte zwar nicht so genau, woher eigentlich das Wort »Bolschewisten« kam, doch er benutzte es als generelles Schimpfwort für alle, die ihm als Gesindel galten. Ünd so taten es alle in Bridgewater. »Bolschewisten« waren Auslander, Anarchisten, Kommunisten, manchmal auch Gewerkschafter. In jedem Falle war ein Bolschewist das genaue Gegenbild von einem Amerikaner. Stewart, dessen Familie aus Irland stammte und schon seit zwei Generationen in Amerika ansässig war, fühlte sich diesen Einwanderern überlegen. Mit solchen Leuten hatten er und seine Familie nichts gemein. »Ich bin ein Amerikaner«, sagte er oft. Und als Ire fühlte er sich nicht nur als Pionier dieses großen Landes, das seine Heimat geworden war, sondern auch als eine Art besonderer Amerikaner.

Inspektor Albert Brouillard von der State Police, der als Verstärkung nach Bridgewater geschickt worden war, um Stewart bei der Aufklärung des Verbrechens zu helfen, war bei der Beurteilung der Tat anderer Meinung. Er sah den Überfall in Zusammenhang damit, daß viele Verbrecher Boston verlassen hatten, nachdem dort der Streik der Polizisten beendet worden war, und sich nun in den Vorstädten aufhielten. Jetzt, so Brouillard, würden sie wieder neues Terrain für ihre Verbrechen suchen.

Die Pinkerton-Detektive hatten für derartige Spekulationen nicht viel übrig. In ihrem Job zählten Beweise, nicht Phantasien. Um handfestere Spuren zu bekommen, versuchten sie, mit einer von der L. Q. White Shoe Company ausgesetzten Belohnung von tausend Dollar Unterweltspitzel zu gewinnen. Am 30. Dezember notierte sich ein Detektiv:

Heute Telefonanruf von einem Informanten, treffe ihn später zum Abendessen. Im Verlauf der Unterhaltung teilt er mir mit, ein ihm nicht näher bekannter Italiener habe erzählt, die am Bridgewater-Überfall beteiligten Männer hätten sich vorübergehend in einem Schuppen in unmittelbarer Nähe von Bridgewater aufgehalten. Dort hätten sie auch den Wagen zurückgelassen, dazu einige Overalls und andere Kleidungsstücke. Er erzählt weiter, die Männer seien Italiener gewesen. Sie hätten den Wagen untergestellt und seien mit dem Bus nach Quincy zurückgefahren. Sie wohnten in der Gegend der Fore Rivers Docks und seien Anarchisten.

Sofort streckten die Pinkerton-Agemen in den Italienervierteln ihre Fühler aus. Es vergingen einige Tage, bis sie das Haus des redefreudigen Informanten aufgespürt hatten. Der dreistöckige Ziegelbau lag draußen in Brighton. Am 3. Januar 1920 suchten Polizeichef Stewart, State-Police-Mann Brouillard und Pinkerton-Detektiv Henry Hellyer den Mann auf. Das ging nicht ohne Probleme vonstatten. Zunächst mußten sie an zahllosen Wohnungstüren läuten, ehe jemand öffnete. Dann erfuhren sie, daß der Mann, den sie suchten, schon am Morgen nach Alston gefahren sei. Also beschlossen sie, auf seine Rückkehr zu warten. Auf dem obersten Treppenabsatz im Hausflur schlugen sich die drei Männer die Zeit tot.

Es war eine ärmliche Gegend, in der vor allem Ausländer wohnten, Menschen, die vor Jahren mit großen Hoffnungen in das LaRd gekommen waren und nun feststellen mußten, daß diese Gesellschaft ihnen nur ein bescheidenes Leben zubilligte. Es waren Polen, Russen, Griechen, Armenier und Italiener.

Ein modriger Geruch lag in der Luft. Die Häuser waren feucht, der Putz bröckelte von den Wänden. Der Geruch von Armut, dachte Stewart und sah aus dem Treppenhausfenster in den Hof hinunter. Für ihn war schon jetzt klar, daß der Überfall auf das Konto dieser Leute ging. »Vielleicht«, sagte er zu Brouillard, »waren es Russen, die ein Spitzel in der Schuhfabrik auf den Geldtransport aufmerksam gemacht hat.« Brouillard schüttelte gelangweilt den Kopf. »Vielleicht aber auch Italiener«, meinte Stewart. »Die tragen doch fast alle dunkle Oberlippenbärte, und der Mann mit der Flinte, der hatte einen solchen Bart, das steht fest.«

Stewart verstummte schlagartig, als ein Mann mit langsamen, aber festen Schritten die Treppe heraufkam. Mehr als vier Stunden hatten sie im Treppenhaus gewartet; jetzt endlich kam der Mann, den sie suchten. Er war auffällig gekleidet: schwarzer Mantel, breiter Filzhut. Sein Name: Carmine Barasso. Daraus hatte er C. A. Barr gemacht, weil es amerikanischer klang. Er wollte nicht, daß jeder Beamte schon am Namen merkte, daß er es mit einem Einwanderer zu tun hatte. Carmine Barasso hatte längst gelernt, daß falscher Stolz in diesem Land oft nur Nachteile brachte. Also nannte er sich C. A. Barr.

Die drei Männer sprachen ihn auf Bridgewater an, und er war durchaus bereit zu erzählen, was er wußte. Später berichtete der Pinkerton-Detektiv Henry Hellyer, Barr habe, als sie in seiner Wohnung waren, eine verworrene Geschichte über eine von ihm erfundene Maschine erzählt, mit der er feststellen könne, wer ein Verbrechen .begangen habe, ganz gleich, wo es begangen worden sei. Er, Stewart und Brouillard waren sich einig: ein Verrückter, ein Wichtigtuer, der sich gern interessant machte, einer, der nicht ernst zu nehmen war.

Als Stewart an diesem Abend nach Hause fuhr, vorbei an den Schneehaufen, die sich links und rechts der Straße auftürmten, war er verärgert und enttäuscht. Die Ermittlungen waren bislang im Sand verlaufen. Wer waren die Täter? Fest stand nur, daß es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Ausländer handelte. In der Frage der Nationalität gab es zwar unterschiedliche Meinungen – aber daß es Ausländer waren, darin waren sich alle einig. Und die Vermutung, der Überfall könnte das Werk von Anarchisten gewesen sein, teilte er. Diese politischen Wirrköpfe haben doch ihre Anhängerschaft fast ausschließlich unter den Ausländern, unter Russen und Italienern vor allem… dachte Stewart. Doch wenn der Überfall tatsächlich von Anarchisten verübt worden war, dann war dies ein betrübliches Zeichen für Bridgewater. Das ist der Anfang vom Ende, sagte er sich.

Wochen nach dem Überfall muße Stewart schließlich mit gekränktem Stolz feststellen, daß sich im Fall White Shoe Company noch immer nichts getan hatte. Die Detektei Pinkerton zog ihre Agenten ab, State-Police-Mann Brouillard trat die Heimreise an. In seinem Büro, einem Hinterzimmer des mit Holzsäulen geschmückten Stadthauses von Bridgewater, legte Stewart den Fall bis auf weiteres zu den Akten.

Wenig später ereignete sich in South Braintree, Massachusetts, ein neuerlicher Raubüberfall, der Polizeichef Stewart wieder an die ungeklärte Schießerei vom Dezember denken ließ. An einem Donnerstag, es war der 15. April 1920, trafen die Lohngelder der Slater & Morrill Shoe Company wie immer mit dem Morgenzug ein. Die Gleise der New Haven Railroad und des Bahnhofs von South Braintree verliefen zwischen den beiden etwa dreihundert Meter voneinander entfernten Fabrikgebäuden der Firma. Es war neun Uhr dreißig, als Shelley Neal, ein Agent der American Express Company, eine Stahlkassette in Empfang nahm, um sie zur sogenannten »oberen Fabrik« zu bringen, wo sich, im Gebäude Nummer I, das Lohnbüro von Slater & Morrill befand. Die Lohnbuchhalterin Margret Mahoney machte sich gleich daran, das Geld in die Lohntüten einzufüllen, die für die »untere Fabrik« bestimmt waren.

Es war fast drei Uhr nachmittags geworden, bis sie die knapp fünfhundert Lohntüten mit insgesamt 15 773 Dollar und 59 Cents versiegelt hatte. Sie legte die Tüten in zwei Holzkästen, um diese wiederum in zwei Stahlkassetten zu verschließen. Gerade als sie dabei war, die Schlösser an den Kassetten zu befestigen, betraten Mr. Parmenter, der Zahlmeister der Firma, und der Wachmann Berardelli das Büro.

Frederick Parmenter, ein Mann von Mitte Vierzig, mit rundem Kopf und kurzgeschnittenem Schnurrbart, war bei allen Angestellten und Arbeitern der Firma beliebt. Nicht nur, weil er es war, der ihnen das schwerverdiente Geld an den jeweiligen Zahltagen brachte – nein, er war eine Frohnatur, einer, der immer gute Stimmung verbreitete. Margret Mahoney und die anderen Frauen freuten sich deshalb immer auf den wöchentlichen Besuch. Parmenter war für jeden Spaß zu haben und hatte immer einen Witz auf den Lippen.

An diesem Donnerstag trug er wie gewohnt seine braune Filzmütze, und die Buchhalterinnen machten über diese Kopfbedeckung ihren Jux. Doch das kannte Mr. Parmenter schon, und deshalb tat er die Mütze nie vom Kopf, wenn er das Lohnbüro betrat. Gegen 15 Uhr nahm Frederick Parmenter wie immer eine der Geldkassetten in die Hand; die andere ergriff Alessandro Berardelli, ein zurückhaltender, fast schüchtern wirkender italienischer Wachmann, der nur selten ein Wort sprach. Dann verließen die beiden Männer das Lohnbüro.

Gewöhnlich legten sie die kurze Strecke zur »Unteren Fabrik« mit dem Auto zurück, doch an diesem Donnerstag gingen sie zu Fuß. Berardelli schritt voran, Parmenter, ohne Mantel, folgte ihm einige Schritte dahinter. Beide waren unbewaffnet. Von seinem Arbeitsplatz im dritten Stock der Firma Slater & Morrill sah der Zuschneider Mark Carrigan, wie sich der Zahlmeister und der Wachmann den Warnschildern vor dem Bahnübergang näherten. Als er ans Fenster trat, um es wegen der großen Hitze weiter zu öffnen, bemerkte Carrigan, wie die beiden hinter dem Übergang stehenblieben, um mit einem Mann zu sprechen. Dann setzten sie ihren Weg fort.

Auch die Fenster im ersten Stock des Gebäudes standen offen. Die beiden Ledernäherinnen Minnie Kennedy und Louise Hayes konnten von ihren Arbeitsplätzen auf die Straße hinunterblicken. Dort fiel ihnen ein Wagen auf, der am Straßenrand, nur etwa zehn Meter von dem Fabrikgebäude entfernt, parkte. Ein Mann machte sich am Motor zu schaffen und klappte, mit einem Schraubenschlüssel in der Hand, mal die eine, mal die andere Seite der Kühlerhaube auf. Danach stellte er sich vor das Auto, setzte einen Fuß auf die Stoßstange und zündete sich eine Zigarette an. Nach einer Weile beobachteten die beiden Mädchen, wie der Mann einstieg, die Pearl Street langsam hinunterfuhr, dann aber wendete und wieder zurückfuhr. Jetzt stand der Wagen etwa 75 Meter von dem Fabrikgebäude entfernt.

Jimmy Bostock, ein Mann, der für Reparaturen an den Maschinen in der Fabrik zuständig war, kam ebenfalls die Pearl Street herunter. Er hatte es eilig, denn er wollte seinen Bus um 15 Uhr 14 nach Brockton noch erwischen. Ihm kamen Parmenter und Berardelli mit den Stahlkassetten in der Hand entgegen, und er grüßte die beiden.

»Bostock«, rief Parmenter ihm zu, »ich soll dir ausrichten, daß an einem der Motoren in Gebäude I etwas nicht in Ordnung ist.« Bostock konnte nicht lange stehen bleiben und erwiderte nur kurz: »Heute wird das nichts mehr, ich will meinen Bus noch erwischen. Morgen ist auch noch ein Tag.« Dann hetzte er weiter.

»Schon gut!« rief Parmenter und winkte kollegial zu ihm hinüber auf die andere Straßenseite. Er und Berardelli gingen jetzt an einer Garage vorbei, die »Untere Fabrik« war schon in Sichtweite. Als sie einen Telefonmast mit einem Feueralarmkasten passierten, sah Parmenter zwei Fremde an einem Zaun stehen. Es waren zwei finster aussehende, untersetzte Gestalten, die Hände in den Taschen. Der eine trug eine Kappe, der andere eine Filzmütze.

Parmenter war gerade an den beiden Männern vorübergegangen, da nahmen sie die Hände aus den Taschen. Plötzlich sprang der Mann mit der Mütze vor Berardelli und schoß auf ihn. Parmenter drehte sich ruckartig um und sah nun ebenfalls diesem Mann ins Gesicht. Sofort richtete sich die Waffe auf ihn. Von Kugeln in die Brust getroffen, taumelte Parmenter über die Straße; stolpernd und schwankend machte er ein paar Schritte. Der Mann feuerte abermals und traf Parmenter nun in den Rücken. Dann gab er noch einen Schuß in die Luft ab. Auf dieses Signal hin kam der bis dahin nahe dem Fabrikgebäude geparkte Wagen. Augenzeugen berichteten später, es sei ein hellgrauer Buick gewesen, der mit jaulendem Motor herangefahren war.

Berardelli war es inzwischen trotz seiner schweren Schußwunden gelungen, sich auf Händen und Knien hochzurappeln. Bevor der Wagen abfuhr, sprang ein dritter Mann aus dem Auto und lief, eine automatische Waffe in der Hand, zu dem halb aufrecht schwankenden Berardelli. Aus nächster Nähe feuerte er noch einmal auf ihn. Die Banditen warfen die beiden Geldbehälter in den Fond des Wagens und stiegen eilig ein. Ehe sie mit quietschenden Reifen losfuhren, feuerte einer der Männer noch eine Geschoßgarbe auf die obere Reihe der Fabrikfenster.

Jimmy Bostock, der völlig versteinert als Augenzeuge den Überfall miterlebt hatte, mußte zur Seite springe, so nahe schoß der Wagen der Banditen an ihm vorbei. Das Auto erreichte den Bahnübergang an der Pearl Street genau in dem Augenblick, als der Schrankenwärter Michael Levangie die Schranken herabließ, weil sich ein Zug näherte. Levangie blickte in die Mündung einer Pistole. »Schranken hoch!« rief aufgeregt einer der Banditen. »Schranken hoch, oder wir knallen dich übern Haufen!« Levangie öffnete die Schranken so schnell wie möglich und rannte, Deckung suchend, in sein Wärterhäuschen. Die Banditen gaben einen Schuß auf das Häuschen ab, dann fuhren sie mit aufheulendem Motor knapp vor dem sich nähernden Zug über die Gleise.

Während sie davonrasten, streckte einer der Gangster seine Pistole durch das glaslose Rückfenster, um mögliche Verfolger in Schach zu halten. Es hagelte Salven von Schüssen nach beiden Seiten der Pearl Street, um Augenzeugen abzuschrekken. Reißnägel wurden auf die Straße geworfen, die mit Gummiköpfen versehen waren, damit sie aufrecht stehen blieben, um die Autoreifen etwaiger Verfolger zu durchlöchern.

Ray Gould, ein Hausierer, der auf dem Weg zur Fabrik war, wo er den Arbeitern eine von ihm erfundene Paste verkaufen wollte, mit der man stumpf gewordene Rasierklingen wieder schärfen konnte, stand auf der anderen Seite der Schranke, als eine Kugel der Banditen den Saum seines Mantels durchschlug. Gould war wie gelähmt, und Angstschweiß stand auf seiner Stirn. Dennoch versuchte er, als der Gangsterwagen ganz dicht an ihm vorbeiraste, sich den Gesichtsausdruck eines der Schützen einzuprägen. Später erinnerte er sich noch an weitere Einzelheiten: Einer der Männer hatte schütteres Haar, war blond und trug einen blauen Anzug…

Jim McGlone, ein Bauarbeiter, der gerade dabei war, in der Nähe des Tatortes eine Grube auszuheben, lief nach der Schießerei zu der Stelle, wo Parmenter lag. »Ich faßte ihn bei den Schultern«, erzählte er beim Verhör zwei Tage später, »und fragte ihn, ob er verletzt sei. Doch er gab keine Antwort. Ich bettete ihn vorsichtig wieder auf den Boden. Dann holte ich eine Pferdedecke und schob sie ihm unter den Kopf.«

Auch Jimmy Bostock war, sobald der Gangsterwagen außer Sicht war, zum Tatort gelaufen. Er kümmerte sich um Berardelli. »Seine Lippen waren geöffnet, bei jedem Atemzug schoß ihm tiefrotes Blut aus dem Mund«, gab Bostock später zu Protokoll. Er hatte alles getan, was zu tun war, doch schon nach kurzer Zeit setzte Berardellis Atem aus. Bostock entdeckte auf der Straße vier Geschoßhülsen, die er einsammelte und in die Hosentasche steckte.

Mittlerweile waren zahlreiche Menschen herbeigerannt, die sich aufgeregt gestikulierend um die Niedergeschossenen drängten. Die Fenster der nahe gelegenen Schuhfabrik waren von Arbeitern und Angestellten dicht besetzt. Zwar wußte niemand so genau, was passiert war, doch daß es sich um eine Schießerei gehandelt hatte, war unüberhörbar gewesen. Nach und nach erfuhren sie, daß Parmenter und Berardelli überfallen, die Löhne von den Banditen geraubt worden waren.

Fred Loring, der mit vielen Arbeitern von der »oberen Fabrik« gekommen war, sah etwas, das die anderen überhaupt nicht registriert hatten: eine Mütze, nicht weit von der blutüberströmten Leiche Berardellis. Er hob sie auf und steckte sie ein. Parmenter, der noch Lebenszeichen von sich gab, wurde von McGlone und anderen Männern ins nahe liegende Colbert-Haus getragen. Alle sahen, daß Parmenters Zustand sehr bedenklich war, er verlor viel Blut.

Inzwischen war Polizeichef Jeremiah Gallivan eingetroffen und bahnte sich mühsam einen Weg durch die Schaulustigen. Die Menschen um ihn herum stießen sich und drängelten, alle riefen durcheinander, wo die Schüsse gefallen waren und welchen Fluchtweg die Gangster genommen hatten. Gallivan traf auf den Feuerwehrhauptmann Fred Tenney, der ihm sagte, es handle sich um einen grünen Personenwagen. »Vielleicht können wir sie noch schnappen, sie können noch nicht sehr weit sein«, meinte Tenney. Hektisch stiegen sie in das kleine rote Auto des Feuerwehrmannes, um unter dem Gebimmel der Messingglocke die Verfolgung aufzunehmen.

Sie rasten zunächst – auf reine Vermutungen – angewiesen in Richtung Süden bis hinaus zum zwei Meilen entfernten Ort Holbrook. Dort befragten sie einen Soldaten, dem sie auf einer Straßenkreuzung begegneten.

»Ja, vor zehn Minuten ist hier ein grüner Wagen vorbeigefahren«, sagte der junge Mann. »Sie bogen auf die Straße nach Abington ab«, dabei deutete er nach links. »Nichts wie dorthin!« befahl Gallivan, und Tenney steuerte sein Auto nach Osten in Richtung Abington. Mittlerweile hatte der Polizist seine Pistole gezogen und das Beifahrerfenster heruntergekurbelt. Mit hohem Tempo fuhren sie auf die Kleinstadt zu. Doch schon im Gewirr der ersten Straßen verloren sie rasch die Übersicht. Sie fuhren auf die andere Seite des Ortes, hin und her, aber beide wußten längst: Die Jagd war zu Ende, die Täter waren entkommen. Nach einer Stunde begaben sie sich enttäuscht zurück nach South Braintree.

Nicht einmal zwei Stunden lag der Raubüberfall zurück, doch schon löste sich die Realität des Geschehens auf, und an ihre Stelle traten Phantasien, Spekulationen. Ähnlich wie Monate zuvor in Bridgewater waren auch diesmal die Wahrnehmungen der Augenzeugen, welche die verschiedenen Phasen des Überfalls erlebt hatten, unterschiedlich und widersprüchlich. Typischerweise waren sich die Zeugen nicht einig, was oder wen sie gesehen hatten. Der Wagen war hellgrau, sagten die Mädchen von Slater & Morrill; er war grün, meinte Feuerwehrmann Tenney. Andere wiederum hatten einen schwarzen Wagen gesehen – oder war er nicht vielleicht zweifarbig lackiert gewesen? Nein, sagten andere Zeugen, nicht ein Auto, zwei Autos seien von den Banditen benutzt worden. Die Männer, die geschossen hatten, wurden mal als dunkle Typen, dann wieder als blaß und blond beschrieben; einmal sollten sie blaue, ein anderes Mal braune oder graue Anzüge getragen haben. Sie trugen Hüte, Mützen oder überhaupt keine Kopfbedeckung. Jeder hatte eine Waffe, nein, nur einer – oder waren es zwei? Es waren drei, vier oder gar fünf Männer. Die Lage war so unübersichtlich, sagte ein weiterer Zeuge, es könnten auch mehr gewesen sein.

In einigen Punkten wenigstens gab es Übereinstimmung. Der Überfall war am hellichten Tag geschehen, konsequent geplant und durchgeführt bis hin zum letzten Reißnagel. Die Experten waren sich einig: Da waren Profis am Werk gewesen. Die Entschlossenheit der Banditen, Berardelli um jeden Preis zu töten, legte Spekulationen nahe, daß er sie entweder gekannt hatte oder sogar ihr Komplize war. Als der Wagen losfuhr, den immer mehr Zeugen als einen Buick beschrieben, saßen in ihm wahrscheinlich fünf Männer, zwei vorn und drei hinten. Viele Augenzeugen stimmten darin überein, daß der Fahrer ein bleicher, blondhaariger junger Mann gewesen sei. Die drei direkt am Überfall beteiligten Banditen wurden überwiegend als mittelgroße Italiener beschrieben.

Während auf der Straße die Zeugenaussagen protokolliert wurden, lag Parmenter, den Oberkörper halb aufgerichtet, stöhnend auf einem Sofa in einem Zimmer des Colbert-Hauses. Er war kaum noch bei Bewußtsein, doch seine Lippen bewegten sich leicht. »Einer war dunkel, klein und untersetzt«, flüsterte er angestrengt, »der andere klein und dünn.« Dann fiel er wieder aufs Kissen zurück.

Als der Polizeiarzt Dr. Frazer eintraf, ordnete er sofort an, Parmenter ins Quincy-Stadtkrankenhaus zu bringen. Dort wurde er unmittelbar nach der Einlieferung von Dr. Nathaniel Huntig operiert. Zwar konnte dieser die Kugeln entfernen, aber das Leben von Frederick Parmenter war nicht mehr zu retten. Eine todbringende Kugel hatte seine Bauchhöhle durchschlagen und eine der Hauptvenen verletzt. Gegen fünf Uhr morgens, vierzehn Stunden nachdem er niedergeschossen worden war, starb Parmenter.

An Berardellis Leiche, die man nach dem Überfall ebenfalls in das Colbert-Haus gebracht hatte, wurde noch in derselben Nacht eine Autopsie durchgeführt. Man stellte vier Schußwunden fest: die erste am linken Oberarm, die zweite nahe der linken Achselhöhle, die dritte an der linken Körperseite und die vierte an der rechten Schulter. Nach Meinung der Ärzte wären die ersten drei Verletzungen nicht unbedingt tödlich gewesen, doch die vierte Kugel hatte den rechten Lungenflügel zerfetzt und eine große Arterie beschädigt. Alle vier Geschosse fanden die Mediziner noch in Berardellis Körper. Sie wurden vorsichtig herausgelöst und jeweils an der Basis mit römischen Ziffern markiert.

Auch am Abend noch pilgerten viele Schaulustige dorthin, wo am Nachmittag die Raubmorde geschehen waren. Familien schlenderten nach dem Abendessen die Pearl Street hinunter, um den Ort des Grauens in Augenschein zu nehmen. Nicht nur aus allen Teilen von South Braintree strömten die Leute herbei, auch aus den Nachbarorten Randolp, Quincy, Holbrook und Wymonth waren, angelockt von den Nachrichten über das Verbrechen, die Menschen gekommen. Unter Gemurmel starrten sie auf die eingetrockneten, aber noch sichtbaren Blutflecken, die im Schein der Laternen dem Straßenbelag ein makabres Aussehen gaben.

Die Geschoßhülsen, die Jimmy Bostock fand, hatte er wenige Stunden später einem Fabrikleiter von Slater & Morrill gegeben, der sie Captain William Proctor aushändigte. Der Chef der Landespolizei von Massachusetts hatte sich, unterstützt wiederum durch Pinkerton-Detektive, persönlich des Falles angenommen und war nach South Braintree gekommen. Als Spurenmaterial waren die gefundenen Geschoßhülsen – zwei Peters-Geschosse, ein Remington- und ein Winchester-Geschoß – von großem Wert. Auch die Mütze, die Fred Loring nach dem Überfall an sich genommen hatte, wurde den ermittelnden Beamten übergeben. Captain William Proctor stand unter Druck. Die Öffentlichkeit und die Presse forderten von der Polizei eine rasche Aufklärung. Aber wie? Wo sollte die Spur nach den Tätern aufgenommen werden?

Am Tag nach den Raubmorden rief Proctor alle Detektive, Polizeichef Gallivan und dessen Beamte in sein provisorisches Büro. »Wir müssen alles tun«, sagte er scharf und blickte dabei den Männern in die Augen, »um die Täter rasch zu fassen, denn hier geht es um die Sicherheit unserer Bürger und unseres Landes. Die Menschen erwarten jetzt von uns zu Recht, daß wir Erfolge vorweisen.« Dabei dachte er an Bridgewater. Es gab viele Parallelen. Und noch immer war der Überfall von Bridgewater nicht aufgeklärt. Daß es sich damals ebenfalls um den Lohntransport einer Schuhfirma gehandelt hatte, war eine der auffälligsten Übereinstimmungen. Auch damals waren die Täter mit äußerster Kaltblütigkeit aufgetreten, hatten sofort das Feuer eröffnet. Captain Proctor schlug also Großalarm. Das Wochenende hindurch durchkämmten Polizeichef Gallivan und die Männer der State-Police auf der Suche nach dem Wagen der Banditen Straßen, Parkanlagen und Wälder in und um South Braintree. Die Suche blieb jedoch erfolglos.

Das Verbrechen machte im ganzen Bundesstaat Schlagzeilen. Überall wurde darüber gesprochen, Gerüchte und Vermutungen über die Täter kursierten allerorts. Das brachte der Polizei viele Hinweise, jedoch mit nur geringem Nutzen. So hieß es immer wieder, Berardelli habe den Mann, der ihn niederschoß, gekannt, er habe schon vorher von dem geplanten Überfall gewußt, und deshalb sei er erschossen worden. Andere Augenzeugen, denen die Pinkerton-Detektive eine Auswahl von Bildern aus der Bostoner Verbrecherkartei vorlegten, erkannten den Bankräuber Anthony Palmisono »mit absoluter Sicherheit« als einen der Täter. Nur befand sich Palmisono zur Zeit des Überfalls hinter Schloß und Riegel im Zuchthaus von Buffalo.

In New Bedford erinnerte sich Polizeiinspektor Jacobs, kurz zuvor einen ortsbekannten Ganoven am Steuer eines neuen Buicks gesehen zu haben. Es handelte sich um Mike Morelli, der gemeinsam mit seinen Brüdern den Kern einer Banditengruppe, der sogenannten Morelli-Bande, bildete. Jacobs hatte den Buick seit dem Tag des Verbrechens in South Braintree nicht mehr gesehen, wohl aber einen anderen Wagen mit derselben Autonummer. Frank, ein anderer Morelli-Bruder, erklärte Jacobs auf dessen Frage, er sei Autohändler und habe einfach die Nummernschilder ausgetauscht. Der Verdacht, die Morellis hätten etwas mit dem Raubüberfall zu tun, wurde jedoch in New Bedford begraben, denn ein Mann meldete sich bei Captain Proctor und erzählte ihm eine Geschichte, welche die Ermittlungen in eine ganz neue Richtung lenkte. Es war Polizeichef Michael E. Stewart aus Bridgewater.

Am 16. April, dem Tag nach dem Raubüberfall, war Stewart von einem Beamten der Einwanderungsbehörde gebeten worden, ihm bei der Überprüfung eines italienischen Anarchisten namens Ferruccio Coacci zu helfen, der wegen Verteilung anarchistischer Schriften ausgewiesen werden sollte. Coacci hatte darin mit weiteren fünf Männern zum Sturz der amerikanischen Regierung aufgerufen. Die sechs wurden aufgrund des sogenannten Deportationsgesetzes, das 1918 in Kraft getreten war, zur Ausweisung vorgemerkt und gegen Kaution vorläufig wieder auf freien Fuß gesetzt. Coacci, der sich manchmal auch Ercole Parrecca nannte, hatte eine Zeitlang in der Schuhfabrik L. Q. White gearbeitet. Als er verhaftet worden war, hatte einer seiner Freunde, Joseph Ventola, eine Kaution von hundert Dollar für ihn gestellt. Von Ventola wußten die Behörden, daß er Kontakte zu Anarchistengruppen unterhielt.

Coacci war nur unter der Bedingung freigelassen worden, daß er Unterhalt für seine beiden Kinder zahlte, die ihm seine Frau Ersilia geboren hatte, mit der er aber nur zeitweise zusammenlebte. Während er darauf wartete, wie die Ausländerbehörde über seine Ausweisung entscheiden würde, arbeitete er in der Schuhfabrik Slater & Morrill. Die Aufforderung, sich am 15. April bei der Behörde zu melden, hatte er mit dem Hinweis abgelehnt, seine Frau sei erkrankt.

Stewart war persönlich nicht in der Lage, Coacci aufzusuchen, weil er an diesem Abend in seiner Laientheatergruppe proben mußte. Darum schickte er einen Mitarbeiter hin, der Coacci reisefertig mit Gepäck antraf, als sei er gerade im Aufbruch. Noch am späten Abend berichtete der Mitarbeiter Stewart telefonisch, daß Coaccis Frau nichts fehle, der Italiener habe offensichtlich bloß Zeit gewinnen wollen. Danach konnte Stewart nicht einschlafen, er grübelte…

Coacci wohnte mit seiner Frau und einem jungen Landsmann namens Mike Boda in einem verwahrlosten Haus an der Ecke Lincoln und South Elm Street, einem Stück Ödland in West Bridgewater. Bislang waren die Ausländer hier noch nicht unangenehm aufgefallen, davon hätte Stewart gewußt.

Doch keiner konnte sagen, wovon dieser Boda, ein gutaussehender Bursche mit gestutztem Schnurrbart, einer Adlernase und tiefliegenden braunen Augen, eigentlich lebte. Manche, die ihn kannten, vermuteten, er habe mit illegalem Schnapshandel zu tun. Wenn jemand ihn fragte, erklärte er, er sei Vertreter einer Obstfirma in New York.

Tatsächlich hatte Boda mit seinem Bruder im nahen Needham eine Zeitlang als bootlegger, als Schwarzbrenner, gearbeitet. Aber das machten zu dieser Zeit, in der ein Prohibitionsgesetz in den USA Herstellung und Ausschank von Alkohol unter Strafe stellte, viele Männer. Und noch etwas war über Boda bekannt: Er war Anarchist. Wenn er Zeit hatte, verteilte er anarchistische Broschüren und Zeitungen in den italienischen Kolonien. Davon hatte auch Stewart erfahren, der zwar jegliche politische Aktivitäten mißtrauisch verfolgte, jedoch nicht einschritt, solange es keine Übergriffe gab.

Stewart saß an seinem Schreibtisch und dachte angestrengt nach. Wenn dieser Coacci sich nicht am 15. April gemeldet hatte, dann mußte er einen Grund gehabt haben. Vielleicht hatte er sich deshalb nicht gemeldet, weil er bei dem Raubmord in South Braintree mit dabei war…? Außerdem fiel ihm ein, daß dieser Barr, dieser Spinner, gesagt hatte, eine in der Nähe von Bridgewater wohnende Anarchistengruppe hätte den Bridgewater-Überfall verübt. Barr hatte damals von einem verwahrlosten Schuppen erzählt. Stewart kam zu dem Schluß, das Coacci das Bindeglied sein könnte…

Zwei Tage nach dem Raubmord, am Nachmittag des 17. April, schloß nicht weit von Stewarts Dienstzimmer Charles Fuller, Geschäftsführer der Zeitschrift Enterprise, sein Büro ab. Wie jeden Samstag ging er zu Fuß zum Messeplatz, um sich mit seinem Freund Max Winter zu treffen, denn die beiden hatten dort in einem Reitstall ihre Pferde stehen. Auch an diesem Nachmittag ritten sie aus, wie immer durch das hintere Tor in Richtung West Bridgewater. Ihr Weg führte durch ein Waldstück, vorbei an Feldern mit hohen Büschen. Fuller, der vorausritt, sah plötzlich wenige Meter vor sich im Gebüsch ein Auto stehen. Er und sein Freund stiegen von den Pferden und drückten die Zweige vorsichtig zur Seite.

»Ein Buick mit eingeschlagener Heckscheibe«, sagte Fuller, »den sollten wir uns einmal näher ansehen.« Als sie einen Blick ins Innere des Wagens warfen, fiel ihnen auf, daß auf den Vordersitzen ein paar Münzen lagen; auf der Rückbank entdeckten sie einen braunen Mantel, von Glassplittern übersät. Bevor sie wieder in den Sattel stiegen, fiel ihnen noch auf, daß von dem Fahrzeug die Nummernschilder entfernt worden waren. »Charles«, sagte Max Winter, »dieser Wagen hat eine Ähnlichkeit mit dem Auto, über das in den Zeitungen in Zusammenhang mit dem Überfall geschrieben wurde.« Fuller nickte. »Wir werden die Polizei informieren.«

Zwanzig Minuten später waren City-Marshal Ryan und Polizist William Hill von der Polizeistation West Bridgewater vor Ort. Gemeinsam untersuchten die vier Männer den Wagen sorgfältig innen und außen. Außer den Münzen und dem braunen Mantel entdeckten sie an der hinteren Tür einen Einschuß. Fuller, der mit Buicks vertraut war, fuhr das Auto anschließend zur Polizeistation in Brockton. Dort wurde am Sonntag nochmals eine eingehende Untersuchung vorgenommen. Inzwischen waren die Kollegen vom Bridgewater-Revier verständigt worden. Stewart und State-Police-Mann Brouillard kamen zur Inspektion herüber. Gemeinsam entdeckten sie: Das Ersatzrad fehlte, die Herstellernummer war unkenntlich gemacht worden, doch die Motornummer war lesbar – 560490.

Es war, so stellte sich bald heraus, die Motornummer eines Wagens, der einem Mann namens Daniel H. Murphy aus Dedham bereits am 23. November gestohlen worden war. Zunächst hatte er auf eigene Faust nach seinem Wagen gesucht, erst später war er zur Polizei gegangen. Damals, am 23. November, hatte der Polizist Warry Totty abends unter dem Lichtbogen der Memorial Hall in Dedham gestanden und beobachtet, wie ein Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit über den Platz gerast war. Die Autonummer des Rasers stimmte mit jener überein, die der Zeuge Harding nach dem Überfall in Bridgewater notiert hatte.

Für Stewart war sofort klar: Das war der Wagen, der bei beiden Verbrechen benutzt worden war. Und noch etwas ging ihm nicht aus dem Sinn: Der Buick war an einer Stelle gefunden worden, die keine zwei Meilen von der South Elm Street entfernt lag. Und dort wohnten diese beiden Italiener, Coacci und Boda. »Die Leute, die das getan haben, glauben nicht an Gott«, sagte Stewart bedeutungsvoll. Die anderen nickten ihm stumm zu. Alle wußten, woran Stewart dachte. Und sie dachten das gleiche.

Am Dienstagnachmittag fuhren Stewart und Brouillard erneut zu dem heruntergekommenen Haus von Coacci und Boda hinaus. Sie hofften, dort irgendwelche Spuren finden zu können. Nachdem Stewart mehrmals geklopft hatte, öffnete Boda. Sie stellten sich als Beamte der Fremdenpolizei vor und fragten nach Coacci. »Aber Coacci ist doch schon längst außer Landes«, antwortete Boda verwundert. »Er ist auf dem Schiff in Richtung Italien. Ihre Behörde hat ihn doch ausgewiesen.«

Stewart und Brouillard waren für einen Moment sprachlos. Angeblich um ein Foto von Coacci zu suchen, das dieser der Polizei nicht geschickt habe, durchsuchten sie daraufhin das ganze Haus. Boda folgte ihnen mißtrauisch von Raum zu Raum. »Hat Coacci eine Waffe besessen?« fragte Stewart schließlich. Boda anwortete: »Ja, er hat sie immer in der Schublade in der Küche aufbewahrt.« Stewart ging in die Küche und zog die betreffende Schublade auf. Die Waffe war weg, aber er fand die Gebrauchsanweisung zu einer Savage Automatic.

Brouillard fragte auch Boda, ob er eine Waffe habe, und der holte, ohne zu zögern, eine spanische Automatie aus seinem Schreibtisch. »Waffenschein?« fragte Stewart, und Boda schüttelte den Kopf. Dann begann er sich zu rechtfertigen: »Gut, ich besitze keinen Waffenschein, aber wer hat schon einen? Ich trage die Waffe nie außerhalb meiner vier Wände, aber hier fühle ich mich damit sicherer…« Stewart gab Boda die Waffe zurück und fragte, ob Coacci häufig Besuch von Männern bekommen habe und wo jetzt dessen Familie lebe. Die habe ein Freund, Joseph Ventola, mit einem Lastwagen nach South Braintree gebracht, wohin genau, wisse er nicht, sagte Boda. Stewart schaute ihn skeptisch an. Er dachte: Alles Anarchisten, denen kann man ohnehin nichts glauben…

Als die drei Männer das Haus verließen und für einen Augenblick unter dem Vordach standen, entdeckte Stewart nur wenige Meter vom Haus entfernt einen Schuppen. »Können wir da noch einmal einen Blick reinwerfen?« fragte er Boda. Boda ging mit hinüber und öffnete das Holztor. »Normalerweise steht hier mein Overland, doch der ist gerade zur Reparatur in Johnsons Garage«, sagte Boda, während er das Holztor weit öffnete, damit mehr Licht in den Schuppen fiel. »Erst gestern haben wir das Auto dorthin geschleppt, es hat wieder mal verschiedene Mucken…«

Stewart und Brouillard sahen sich den Schuppen genau an. Stewart glaubte Reifenabdrücke erkannt zu haben, viel zu groß für einen Overland, aber passend für einen Buick. Dann verließen die beiden Polizisten den Schuppen, und Stewart bedankte sich bei Boda, nicht ohne zu erwähnen, daß sie vielleicht noch einmal vorbeikommen müßten.

Auf der Rückfahrt nach Bridgewater war Stewart schlechter Laune. »Ich traue diesem Burschen nicht. Vielleicht hätten wir ihn festnehmen sollen.« Brouillard schüttelte den Kopf. »Was haben wir denn gegen diesen Boda in der Hand? Gut, er hat keinen Waffenschein, aber deswegen können wir ihn nicht belangen. Da machen wir uns lächerlich.« Stewart verzog keine Miene, während er den Wagen steuerte; auch er wußte, daß jeder Richter bei solchen Delikten mit Rücksicht auf das Volksempfinden großzügig verfuhr. Schließlich trugen in Amerika Männer seit eh und je Waffen. Aber es sind Ausländer und sogar Anarchisten, dachte er, da müßte sich doch etwas finden lassen…

Am nächsten Morgen fuhr Stewart noch einmal hinaus zu Bodas Haus, um mit dem Mann zu sprechen. Vielleicht, so hoffte er, würden sich Widersprüche ergeben, denn der Junge war gesprächsbereit, und wer viel sprach, machte womöglich auch einen Fehler…

Trotz mehrmaligen Klopfens öffnete niemand die Tür. Verärgert fuhr Stewart bei Johnsons Garage vorbei, um nachzuschauen, ob Bodas Overland noch dort zur Reparatur war. Als er Simon Johnson, den Garagenbesitzer, sah, fragte er danach. »Ja, der Wagen ist hier«, antwortete Johnson, »das dauert auch noch eine Weile, denn wir haben derzeit viel zu tun.«

Stewart war wütend. Keine Spur von Boda, aber seine Angaben über den Overland stimmten. Dieser Bursche verstand sein Handwerk… Doch dann kam Stewart eine Idee.

»Du, Johnson«, sprach er in ruhigem Ton, »mit dem Wagen gibt es einige Probleme. Kann sein, daß der Overland in eine faule Geschichte verwickelt ist.«

Johnson war über diese Andeutung verunsichert. »Was für eine faule Geschichte? Hat der kleine Boda sich danebenbenommen?«

Stewart wurde deutlicher: »Hör zu, Johnson, ich kann auf Grund der laufenden Ermittlungen nichts darüber erzählen. Aber für uns wäre es eine große Hilfe, wenn du uns anrufst, sobald jemand den Overland abholt. Egal, wer es ist.«

Johnson erklärte sich einverstanden, und Stewart fuhr, zufrieden über seinen Einfall, zurück ins Revier nach Bridgewater. Vielleicht, dachte er, schnappt die Falle ja doch noch zu…

Es dauerte eine Woche, bis Boda sich telefonisch bei Simon Johnson meldete und sich erkundigte, ob sein Overland fertig sei. »Ja, du kannst ihn abholen, er ist wieder okay«, erwiderte Johnson kurz.

Aber Boda ließ sich Zeit. Nach seinem Anruf dauerte es bis zum 5. Mai, dann meldete er sich wieder. Es war abends, kurz nach neun Uhr. Simon Johnson und seine Frau wollten gerade schlafen gehen, als es kräftig an der Haustür klopfte. Als Mrs. Johnson ins Treppenhaus ging, hörte sie eine Stimme rufen: »Hier ist Mike Boda, ich möchte meinen Wagen abholen!« Simon Johnson, der auf der Bettkante saß, hatte den Ruf ebenfalls vernommen. Flüsternd gab er seiner Frau zu verstehen, sie solle unter einem Vorwand zum Nachbarhaus gehen, um von dort aus Polizeichef Stewart zu benachrichtigen.

Als Mrs. Johnson die Haustür öffnete, wurde sie vom grellen Licht eines Motorradscheinwerfers geblendet. Aber sie erkannte dennoch einen Mann, der seinen Hut tief in die Stirn gezogen hatte und, auf dem Sattel sitzend, auf Boda wartete. Hinten am Zaun konnte sie schwach zwei weitere Männer erkennen. »Mein Mann kommt gleich runter, um die Garage aufzuschließen«, sagte sie zu Boda, der wenige Meter entfernt von ihr stand. Dann ging sie über den Hof zum Nachbarhaus.

Als Simon Johnson aus dem Haus kam, erblickte auch er Boda und die drei anderen Männer. Er sah deren Gesichter nicht, dafür standen sie zu weit weg. Zu Boda sagte er: »Hast du die Zulassungsschilder dabei?« Der verneinte. »Ich riskiere es ausnahmsweise ohne Schilder.« Johnson schüttelte bedächtig den Kopf, tat aber so, als sei er bereit, ihm den Wagen auch ohne Schilder zu übergeben. Langsam ging er hinüber zur Garage.

Währenddessen telefonierte Mrs. Johnson aufgeregt Stewart hinterher. Schließlich erreichte sie Warren Laughton, den für den Ortsbereich zuständigen Polizisten, und bat ihn, Stewart sofort davon zu unterrichten, daß der Overland gerade abgeholt werde. »Stewart weiß schon Bescheid!« schrie sie in den Hörer, denn der verwirrte Polizist begriff nicht sofort, um was es ging.

Doch Boda hatte es sich inzwischen anders überlegt. Ihm war die Abwesenheit von Johnsons Frau verdächtig vorgekommen. Als Mrs. Johnson zurückkehrte, warf der Mann auf dem Motorrad gerade den Motor an. Boda rief: »Jch schicke morgen jemand vorbei!« Dann stieg er in den Seitenwagen, und sie fuhren mit hohem Tempo davon. Die beiden Männer am Zaun gingen in Richtung Brockton davon. Das Ehepaar schaute ihnen nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden waren. »Ob die gemerkt haben, daß ich telefoniert habe?« fragte Mrs. Johnson ihren Mann. Der zuckte nur mit den Schultern.

Die North Elm Street war um diese Zeit menschenleer. Eher zufällig trafen die beiden Männer eine Frau, die später angab, sie hätten nach der Straßenbahnhaltestelle der Linie Bridgewater-Brockton gefragt, worauf sie ihnen Auskunft gegeben habe und die beiden Männer gedankt hätten. Es war kurz nach halb zehn, als die beiden Männer an der Haltestelle ankamen. Ein paar Minuten später kam die Bahn. Sie stiegen ein. Der Schaffner fragte, ob sie nach Brockton wollten, und einer der beiden, mit bartlosem Gesicht, bejahte. Sie setzten sich in den hinteren Teil des Wagens. Die Bahn fuhr ratternd in Richtung Copeland Street.

Inzwischen war Stewart von seinem Kollegen Warren Laughton informiert worden und sofort hinaus zu Johnsons Garage gefahren. Doch zu spät. Wieder war Boda entkommen.