Für Anton und Emil – werdet, wer ihr sein wollt, schließt eure Augen und seht mit dem Herzen.
»Jeder Bürger in AurA Eupa ist dazu verpflichtet, bis zu seinem 18. Geburtstag mit einem selbst gewählten Partner in den Bund der Ehe zu treten. Wer bei seiner Partnersuche scheitert, wird in der Siedlung der Unverheirateten untergebracht. Eine zügige Hochzeit ist weiterhin erwünscht.«
Auszug aus: »Das perfekte System«, Seite 23, Kapitel 2
Nur ein Koffer, mehr durfte sie nicht behalten. Nicht gerade viel, wenn man ein neues Leben begann. Beginnen musste.
Die Siedlung der Unverheirateten war nun ihr neues Zuhause. Wie die Waben in einem Bienenstock bauten sich die zweistöckigen Apartmenthäuser um sie herum auf und lösten in ihr ein befremdliches Gefühl von Enge aus. Novalee Levi stellte ihren Koffer auf dem verwitterten Boden ab und zog den Zettel aus ihrer Jackentasche. Er flatterte im Wind und Novalee hielt ihn mit beiden Händen fest, um die Worte darauf zu entziffern. Dabei hatte sie den Brief schon hunderte Male gelesen und wusste genau, was dort stand.
HAUS L, Wohnung 23B.
Sie steckte den Zettel eilig wieder in die Tasche, bevor der Nieselregen ihn vollständig durchweichte, und blickte sich hilflos um. Wie sollte sie in diesem Labyrinth aus Gebäuden, Matsch und Regen Haus L finden? Die Gehwege waren wie ausgestorben, bei dem Wetter verließ keine Seele das Haus, wenn es nicht unbedingt nötig war. Auch Novalee konnte sich Schöneres vorstellen, als an einem Samstagmorgen durch ihre unliebsame Zukunft zu irren. Zum Beispiel mit ihren Eltern und ihrer schwangeren Schwester Valea in der Küche zu stehen, eingehüllt vom Duft frischer Brötchen, die sie für ein gemeinsames Frühstück zusammen backten – wie jeden Samstag. Bis heute.
Besonders der Gedanke an ihre Schwester stach wie ein Dorn in ihr Herz. Hier würde sie nun die verbleibenden Wochen bis zur Geburt ihrer Nichte oder ihres Neffen verpassen.
Novalee nahm wieder ihren Koffer und steuerte das nächste Gebäude an. An der Hauswand zwischen zwei Türen hing ein frisch poliertes Messingschild. HAUS S war darauf eingraviert. Hilfe suchend blickte sie sich abermals in der Trostlosigkeit des Morgens um. Und tatsächlich, ein armer Teufel hatte die trockene Sicherheit seines Apartments verlassen und lief in ein paar Metern Entfernung an Novalee vorbei. Er hielt sich eine Plastiktüte über den Kopf, um sich vor dem Nieselregen zu schützen – vielleicht bemerkte er sie deshalb nicht.
Novalee fiel es nicht leicht, fremde Menschen anzusprechen, doch sie sah ihre einzige Chance, jemals wieder trockenen Boden unter den Füßen zu haben, bereits verschwinden. Also gab sie sich einen Ruck.
»Entschuldigung? Hallo?«, rief sie der Gestalt hinterher und hoffte, dass der Wind ihre Stimme nicht verschluckte. Die Person sah sich kurz um und kam dann direkt auf sie zu. Novalee ging ihr mit einem mulmigen Gefühl im Bauch entgegen.
Der Mann war groß und hatte eine schlanke Statur. Seine braunen Haare kringelten sich auf seinem Kopf, den er nun nicht mehr mit der Plastiktüte bedeckte. Er wirkte älter als Novalee, sie schätzte ihn auf fünfundzwanzig. Sie konnte sich kaum erklären, warum er noch hier war.
»Entschuldigung? Kannst du mir sagen, wie ich zu Haus L komme?«, fragte Novalee zögerlich.
Der Mann zog eine Augenbraue hoch, musterte sie von oben bis unten und lächelte. »Du bist neu hier, oder? Das kommt nur noch selten vor.«
Novalee errötete. »Ja, ich weiß. Gibt nicht mehr viele, die mit 18 noch nicht verheiratet sind.«
»Aus gutem Grund«, erwiderte der Mann leichthin.
»Ich schätze, das wird sich schnell ändern, sobald man erst einmal hier ist.« Verlegen senkte sie den Blick. Sie musste auf ihn wie ein verzweifelter Single wirken, der es kaum abwarten konnte, endlich geheiratet zu werden. Auch wenn er damit gar nicht so falschläge.
Doch der Mann schüttelte nur vielsagend den Kopf. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«
Novalee sah ihn noch verwundert über seine Worte an, als der Mann auf einen Weg zu ihrer Linken deutete. »Zu Haus L geht es da lang. Dem Weg folgen und dann rechts abbiegen. Wenn du willst, kann ich dich begleiten.«
Novalee zögerte. Ihr war es unangenehm, einem fremden Mann solche Umstände zu machen, und das auch noch bei diesem Wetter. Doch er lächelte so gewinnend, dass sie es nicht wagte, sein Angebot auszuschlagen. Sie nickte dankbar, dann gab er die Richtung an und gemeinsam gingen sie los.
Eine Weile schwiegen sie. Nieselregen sprühte ihnen ins Gesicht, während sie einem matschigen Pfad folgten.
»Ich dachte, Siedlungen der Unverheirateten wären der beste Partnermarkt, den Eupa zu bieten hat«, sagte Novalee schließlich, da ihr seine Worte nicht aus dem Kopf gingen.
Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie er mit den Schultern zuckte. »Sollte man meinen, aber so funktioniert das leider nicht. All die Unverheirateten hier, sie haben ihre Gründe, weshalb sie nicht verheiratet sind. Hab ich Recht?«
Sie dachte kurz darüber nach, dann nickte sie. Natürlich hatte auch sie ihre Gründe: ein angeknackstes Herz und eine Vorliebe für Jungs aus Liga 1 – außerhalb ihrer Liga. »Ich schätze schon. Was ist mit dir? Was ist dein Grund?«
Der Mann sah zu ihr herab, Novalee spürte seinen Blick. Doch aus irgendeinem Grund widerstrebte es ihr, ihn zu erwidern, und so betrachtete sie nur den schlammigen Boden zu ihren Füßen, während sie ihn sagen hörte: »Mein Grund ist ganz banal. Ich hab einfach noch nicht die Richtige gefunden.«
Er blieb stehen und streckte ihr seine rechte Hand entgegen. »Ich bin Manel Hoben.«
Auch Novalee blieb stehen. Ihre Augen hefteten sich für einen Augenblick auf seine ausgestreckte Hand. Da war sie, die eingekreiste Zwei auf seiner Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. Genau wie bei ihr. Wollte sie das wirklich? Auf Lebzeiten mit diesem fremden Mann in Verbindung gebracht werden? Er hatte es nicht verdient, dass sie seine Geste ausschlug, immerhin hatte er ihr geholfen. Sie wechselte den kleinen beigen Handkoffer auf die andere Seite, dann schüttelte sie etwas verlegen seine Hand.
»Novalee Levi.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. Wie bei jedem seltenen Händeschütteln zogen die eingekreisten Zweien nebeneinander ihren Blick magisch an. Seine Zwei und die ihre, zwei Füße, die aufeinander zugingen, ein scheuer Tanz, möglicherweise ein Anfang von mehr. Novalee zog ihre Hand zuerst zurück. Bloß nicht die drei Sekunden überschreiten, die Zeit, die ein Händedruck für gewöhnlich dauern durfte. Schließlich hatte sie Manel gerade erst kennengelernt.
Er schmunzelte. Dann deutete er auf das Gebäude vor ihnen. Es sah aus wie alle anderen Häuser in der Siedlung. »Da wären wir.«
Novalee erblickte das Messingschild, das eingravierte L. »Vielen Dank fürs Bringen«, sagte sie und versuchte, ihre Unsicherheit mit einem Lächeln zu kaschieren. Sie wandte sich bereits von ihm ab, als eine Bewegung sie innehalten ließ. Manel hatte die Hand gehoben, als wolle er nach ihrem Arm greifen. Doch er berührte sie nicht.
Novalee kannte diese Geste, ein alter Reflex, den selbst die strengsten Regeln nicht hatten ausmerzen können. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an.
»Hättest du etwas dagegen, wenn ich dich bei Gelegenheit in unserer Siedlung herumführe?« Manel klang zuvorkommend und charmant.
Sie wusste, dass sie sich darum bemühen sollte, möglichst bald einen Ehemann zu finden. Manel schien nett zu sein. Er war zwar etwas älter, trotzdem eine gute Zwei. Vielleicht sollte sie es einfach versuchen.
»Nein … ich meine, klar, warum nicht.« An ihrer Begeisterungsfähigkeit musste sie eindeutig noch arbeiten.
Manel nickte. Wieder schmunzelte er. »Schön. Dann komme ich die nächsten Tage mal vorbei. Ich weiß ja jetzt, wo du wohnst.« Er zwinkerte ihr zu, dann verschwand er im grauen Nebel des Sprühregens. Für einen Moment blickte Novalee ihm nach. Sie wusste nicht, was sie von seiner Ankündigung halten sollte. War es ihr überhaupt recht, dass er irgendwann unangemeldet vor ihrer Tür stand? Immerhin war er ein Fremder.
Novalee wandte sich Haus L zu. Gemischte Gefühle prasselten auf sie herein. Das war also ihr neues Zuhause.
Zuhause. Auf den ersten Blick war dieses Wort nicht mit dem kastenähnlichen Gebäude in Einklang zu bringen. Trist und grau. Kein Hauch von Wärme. Zwei Etagen grüner Türen mit je einem kleinen Fenster daneben, die nichts von den Apartments dahinter preisgaben. Eine nackte Metalltreppe führte in die erste Etage. Und auch dort Tür an Fenster an Tür, mit einer schmalen Balustrade davor. Nichts davon war einladend, nichts war heimisch.
Mit unterschwelligem Widerwillen setzte sie sich in Bewegung. Ihre Wohnung lag in der ersten Etage, Apartment 23B.
Sie legte gerade die Hand auf das Geländer der Treppe, als vor dem Haus ein offener roter Jeep der Hummels mit krachendem Motor und quietschenden Reifen zum Stehen kam. Erschrocken hielt Novalee inne. Wollten sie zu ihr? Ihr Einzug sollte doch erst am Nachmittag überprüft werden.
Drei Hummels sprangen aus dem Wagen. In ihren dunklen Stiefeln stapften sie durch den Matsch, zielstrebig auf eine Tür rechts neben der Treppe zu. Die Männer im Dienste der Regierung trugen schwarze Hosen, rote hüftlange Fracks, doch es waren die roten Zylinder, die sie bedrohlich und respekteinflößend erscheinen ließen. Novalee hatte die Erfahrung gemacht, dass man sich ihnen besser nicht widersetzte. Sie waren überlegen – in jeder Beziehung. Deshalb war sie umso erleichterter, als sie vor der Tür zu Apartment 1A stehen blieben und dort nachdrücklich klopften. Was auch immer sie von dem Bewohner dieses Apartments wollten, Novalee würde sich von ihm fernhalten. Wenn die Hummels jemandem einen Besuch abstatteten, dann bedeutete das in der Regel nur Ärger. Daran hatte Novalee nicht das geringste Interesse.
Als sie endlich die Treppe hinaufstieg, schwappten Gesprächsfetzen zu ihr herüber. Die Stimme einer Frau, der Wind verschluckte ihre Worte.
Novalees Wohnung war die vorletzte auf dem Gang. Unsicher legte sie ihre Hand auf den Knauf, als sie vor der Tür zu 23B stand. In dem Brief hieß es, das elektrische Türschloss sei bei ihrer Ankunft bereits auf ihren Chip eingestellt und nur sie könne es öffnen. Tatsächlich: Ein Klicken war zu hören und die Tür sprang einen Spalt auf. Novalee gab ihr einen kleinen Schubs und blickte direkt in das zerstörerische Auge ihres neuen Zuhauses.
Der Gestank, der ihr entgegentrat, benebelte sofort ihre Sinne. Es roch faul, unterschwellig süß, zudem nach Kloake und Putzmittel, was man anscheinend mit umgekippter Milch und altem Fisch zu neutralisieren versucht hatte. Novalee wich entsetzt einen Schritt zurück. Irrationale Ängste stürzten auf sie herein. Sie würde hier sterben, erstickt am Gestank verdorbener Lebensmittel und übergelaufener Sanitäranlagen. An Kolibakterien oder einer Infektionskrankheit. Hier musste ein Fehler vorliegen! Noch einmal vergewisserte sie sich, ob dies auch das richtige Apartment war.
23B, kein Zweifel. Unter der Klingel stand bereits ihr Name. Außerdem hatte ihr Elektrochip die Tür geöffnet. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Novalee schluckte die aufkommende Übelkeit hinunter. Warum hatte die StorRg, die Staatlich organisierte Reinigungsgesellschaft, noch nicht ihre Arbeit getan und das Apartment gereinigt?
Eine tiefe Trostlosigkeit überkam sie. Sie vermisste ihre Familie, ihre vertraute Umgebung. Sie wollte nicht hier sein und doch hatte sie keine Wahl. Sie war erwachsen, das hier war nun ihr Leben, also musste sie das Beste daraus machen.
Mit angehaltenem Atem betrat sie das Apartment. Vor ihr lag ein großer Raum, der einst als Wohnzimmer gedient hatte. Doch diese Zeiten schienen lange vorbei. Nun war er ein Lagerplatz für sämtlichen Unrat, den sie sich vorstellen konnte. Abfalltüten, um die bereits die Fliegen kreisten, stapelweise Zeitschriften, vertrocknete Zimmerpflanzen, zerschlissene Möbelstücke und mehr, zum Teil bis an die Decke gestapelt.
Novalee stellte ihren Koffer ab und wagte sich vorsichtig weiter in den Raum.
Auf der rechten Seite waren drei Türen. Die erste gab den Blick auf etwas frei, was die Küche gewesen sein musste. Doch Novalee war noch nicht bereit, sich ein genaues Bild davon zu machen. Je weiter sie in die Wohnung vordrang, desto stärker wurde der Gestank nach Fäkalien – die mittlere Tür musste das Badezimmer sein. Novalee zwang ihren Würgereflex zurück und tat einen weiteren Schritt …
… und trat ins Nichts. Sie stürzte nach vorne, schrie und schlug schmerzhaft auf Knien und Händen auf. Ein Knacken war zu hören. Auf allen Vieren hockend schloss sie resignierend die Augen.
Ein Lachen wuchs in ihrer Kehle und brach in Form eines verzweifelten Schluchzens heraus. Eine Stufe! Warum war in ihrer Wohnung eine Stufe? Sie brauchte einige Momente, um sich wieder zu fangen, dann rappelte sie sich auf. Als sie ihre Hände abklopfen wollte, entdeckte sie an ihrer rechten Hand die Überreste eines Ungeziefers – war es eine Kakerlake? Sie hatte es mit bloßer Hand zerquetscht!
Novalee sprang auf. Ekel walzte durch ihren Körper und legte sich schwer in ihren Magen. Jetzt bloß nicht kotzen! Ohne darüber nachzudenken, stürzte sie in die Küche, drehte den Wasserhahn auf und hielt ihre Hand darunter.
Doch statt Wasser kam nichts. Novalee rüttelte am Hahn und plötzlich kam Leben in die Rohre. Ein mühseliges Gluckern war zu hören, ein Schnaufen und ein Rülpsen, und schon spritzte eine braune, zähe Flüssigkeit in alle Richtungen. Novalee sprang zurück, doch es war zu spät. Das übel riechende Zeug klebte an ihrer Kleidung, in ihrem Haar, in ihrem Gesicht. Ekel legte ihr Gehirn lahm. Magensäure stieg in ihrer Speiseröhre hoch.
Fassungslos ließ sich Novalee an der Küchenwand herunterrutschen. Die braunen Essensreste, die sie dabei von der Wand wischte, kümmerten sie nur noch wenig, doch als ihr Hintern auf einer alten Pizza seinen Platz fand, schloss sie fassungslos die Augen. Das war zu viel! Dennoch blieb sie sitzen. Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte.
Minuten später klopfte es plötzlich an der Tür. Sie hatte vergessen, die Wohnungstür zu schließen.
»Hallo? Ist jemand hier?«, fragte die fröhliche, aber etwas zögerliche Stimme einer jungen Frau.
Novalee stand auf und blickte an sich hinab. Sie sah aus wie ein Schwein, das sich im Dreck gewälzt hatte.
Die junge Frau, die mit großen Augen das Wohnzimmer begutachtete, war das komplette Gegenteil von Novalee. Klein und zierlich, mit einer Ausstrahlung, die pure Fröhlichkeit in den Raum brachte. Ihr Haar, das sie sich zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, war lang und dunkel. Sie war hübsch. Sicher war das Ergebnis ihrer Sichtung knapp ausgefallen.
»Wow, was ist denn hier explodiert?«, fragte sie ungläubig, doch dann bemerkte sie Novalee, die in diesem Moment das Wohnzimmer betrat. »Hi, ich bin Leilani Ziffi, und du musst …«, sie verstummte, als sie in Novalees schmutziges Gesicht sah, »… ziemlich im Arsch sein.«
»Wer bist du?«, fragte Novalee misstrauisch.
»Oh, ähm … ich bin deine Nachbarin aus 1A. Ich wollte dich herzlich willkommen heißen und habe Pfannkuchen mitgebracht«, sie deutete auf den Teller in ihrer Hand. Der Pfannkuchen darauf wirkte schon etwas vertrocknet. »Aber wie ich sehe, fällt die Begrüßungsfeier heute aus.«
1A? Das war die Wohnung, denen die Hummels einen Besuch abgestattet hatten. So viel dazu, sich von der Bewohnerin dieses Apartments fernzuhalten.
Novalee wusste nicht, was sie sagen sollte. Leilani blickte sich ohne Scheu um und konnte ihre Verblüffung kaum verbergen. Novalee war das unangenehm. Sie konnte zwar nichts dafür, dass es hier so aussah, doch sie war es nicht gewohnt, mit Dreck besudelt auf andere Menschen zu treffen.
»Was ist denn passiert?«
Novalee zuckte erschöpft mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Das war schon so, als ich ankam. Ach, und der Wasserhahn ist mir um die Ohren geflogen. Ich klinge vielleicht wie ein kleines Mädchen, aber ich habe jetzt schon echt die Schnauze voll!« Die Wahrheit jedoch war, dass sie sich nach ihrem richtigen Zuhause sehnte. Dem Gefühl der Geborgenheit, der gespannten Vorfreude, wenn ein Besuch ihrer Schwester anstand, weil sie dann wieder ihre Hand auf Valeas zuckenden Bauch legen konnte. Hierher würde sie sicher nicht kommen.
Ein Ausdruck von Mitgefühl legte sich auf Leilanis ebenmäßiges Gesicht. Sie trat einen Schritt auf Novalee zu, als wolle sie ihr tröstend eine Hand auf die Schulter legen, überlegte es sich angesichts der braunen Brühe auf der einst weißen Bluse aber anders.
»Du Arme … ich kann das verstehen. So geht es hier am Anfang allen.«
Novalee wusste das Mitgefühl ihrer Nachbarin zu schätzen, mit ihr befreundet sein wollte sie aber nicht. Eigentlich wollte sie gar nicht mit ihr in Verbindung gebracht werden.
»Wann wird dein Einzug überprüft?«, fragte Leilani.
Novalee zuckte wieder mit den Schultern. »Am frühen Nachmittag, glaube ich.«
Leilani machte ein grunzendes Geräusch, das nicht zu ihrer Erscheinung passen wollte. »Idioten. Waren doch eben erst bei mir, dann hätten die ja auch gleich einen Blick bei dir reinwerfen können.«
Es schockierte Novalee, wie sie über die Exekutive sprach. Kein Wunder, dass sie von den Hummels überprüft wurde, anscheinend war sie wirklich eine Unruhestifterin.
»Weißt du was?«, fragte Leilani mit überschwappender guter Laune. »Du kommst jetzt erst einmal mit zu mir, nimmst eine Dusche und dann essen wir etwas von meinen wirklich großartigen Pfannkuchen, bis die Bigheads kommen, um dich zu überprüfen. Was sagst du?«
Novalee zog beunruhigt die Augenbrauen zusammen. »Bigheads?«
Leilani grinste. »Wegen der großen Hüte, du weißt schon.«
Novalee zog scharf Luft ein. Leilani hatte einen Spottnamen für die Hummels? Wenn das herauskam … Sie zögerte. Sollte sie auf den Vorschlag der jungen Frau eingehen? Obwohl sie den Ärger bereits riechen konnte – was angesichts der braunen Pampe in ihrem Gesicht keine leichte Sache war. Andererseits war es ein verlockendes Angebot.
Sie presste die Lippen aufeinander, blickte sich noch einmal in dem Chaos um und nickte resigniert. Das würde sie sicher noch bereuen.
***
Leilanis Apartment war identisch mit dem von Novalee – mit der einen Abweichung, dass hier keine Abfalltonne, sondern ein Kleiderschrank explodiert war.
Es wunderte sie nicht, dass sich die Wohnungen glichen. Auch die Einfamilienhäuser, die einem Ehepaar nach der Hochzeit zugeteilt wurden, waren einheitlich, so wie das Haus ihrer Schwester Valea und ihres Mannes.
»Ignorier das Chaos und fühl dich … na ja, wie zu Hause«, sagte Leilani augenzwinkernd, während sie einige ihrer Klamotten zusammenkramte und achtlos auf einen Haufen warf.
Novalee stand noch immer im Türrahmen, nass vom Regen und verdreckt von den Ausscheidungen eines widerspenstigen Wasserhahns, ihren Koffer in der Hand, und spürte den ersten Anflug von Reue, auf den sie bereits gewartet hatte.
»Was ist mit den Kleidern von der Regierung?«, hakte sie vorsichtig nach, weil der Großteil der Klamotten offensichtlich nicht aus dem Sortiment stammte, das jedem Bürger in Liga 2 zugeteilt wurde.
Leilani grinste verschwörerisch. »Ach, die sind doch langweilig. Ich kenne da einen super Laden, in dem du Mode aus Liga 1 bekommst. Sogar Sachen von Camp van Pinz sind dabei. Du weißt schon, der Modedesigner, der verschwunden ist.«
Novalee wurde flau im Magen. »Sind die Sachen für uns nicht …«
»… illegal?«, vervollständigte Leilani ihren Satz und blickte sie herausfordernd an. »Ach komm, das sind doch nur Klamotten, die tun niemandem weh.«
Unsicher stellte Novalee ihren Koffer ab und schloss die Tür. Beim besten Willen wollte sie nicht gleich am ersten Tag in der Siedlung der Unverheirateten dabei erwischt werden, wie sie sich über illegale Dinge unterhielt.
»Haben die Hummels deine Klamotten nicht bemerkt?«
Leilani lachte und ließ sich auf ihr beiges Sofa vor dem Fenster fallen. Auch in Novalees Wohnung musste es dieses Sofa geben, sie hatte es unter dem ganzen Unrat nur noch nicht gefunden. »Pah! Als ob die Bigheads Ahnung von Mode hätten!«
Novalee stand immer noch an der Tür, unentschlossen, ob sie bleiben wollte oder das Desaster ihrer eigenen Wohnung vorzog. Immerhin drohte ihr dort kein öffentlicher Prozess.
»Wieso waren sie eigentlich bei dir? Die Hummels, meine ich.«
Leilani machte eine abwertende Handbewegung, dann streifte sie sich die schwarzen Halbschuhe von ihren Füßen. Immerhin die waren von der Regierung. »Ach, nichts Besonderes. Nur ein Missverständnis.«
Damit schien das Thema für sie beendet. Vermutlich wollte sie Novalee nicht verschrecken. Immerhin musste auch Leilani bemerkt haben, dass sie ihre lockere Einstellung nicht teilte. Schlagartig kam sich Novalee schrecklich spießig vor, auch wenn es klüger war, sich an die Regeln zu halten. Die Regierung hatte diese Regeln für die Bevölkerung zu ihrem Schutz und für ihr Wohlergehen aufgestellt. Novalee hatte miterlebt, was geschah, wenn man dieser Großzügigkeit nicht mit Dankbarkeit und Respekt begegnete. Wenn sich alle an die Regeln hielten, verlief das Leben friedlich und reibungslos. Novalee jedenfalls hatte sich vor langer Zeit entschieden, die Regeln zu befolgen.
»So, was ist? Willst du weglaufen oder eine schöne warme Dusche nehmen und dich anschließend mit Pfannkuchen vollstopfen?«
Solange Novalee sich selbst von den verbotenen Dingen fernhielt, denen Leilani frönte, wäre sie doch auf der sicheren Seite, oder? Mit einem zögerlichen Lächeln beantwortete sie Leilanis Frage.
Es war ein gutes Gefühl, den Dreck und die Anspannung wegzuspülen. Natürlich löste das nicht Novalees Probleme, doch die Hummels würden bald kommen, das Chaos in ihrem Apartment sehen und die StorRg vorbeischicken, die es bislang versäumt hatte, den Unrat des Vormieters zu beseitigen.
Als Novalee mit frisch gewaschenen Haaren und sauberen Klamotten an Leilanis Wohnzimmertisch saß und den trockenen Pfannkuchen aß, der viel besser schmeckte, als er aussah, ging es ihr bereits bedeutend besser.
»Wer hat eigentlich vorher in meinem Apartment gewohnt?«
Die Frage geisterte schon eine ganze Weile durch Novalees Kopf. Sicher, Ordnung war nicht jedermanns Sache, Leilani war das beste Beispiel. Aber um so ein Chaos zu erschaffen, bedurfte es schon ganz besonderen Talents.
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Leilani mit vollem Mund. »Ich hab ihn nicht oft gesehen. War ein komischer Kerl, hat kaum die Wohnung verlassen, ich weiß nicht einmal, ob er arbeiten gegangen ist. Ich weiß nur, dass sie ihn vor ein paar Tagen umquartiert haben, wie sie es nennen.«
Novalee blickte auf. »Was meinst du mit wie sie es nennen?«
Das andere Mädchen wiegte abschätzend den Kopf hin und her. »Vergiss es«, sagte sie schließlich und stopfte sich ein weiteres Stück Pfannkuchen in den Mund. »Ich glaube, du bist noch nicht bereit für meine Theorien.«
Novalee nickte. Nein, das war sie sicher nicht.
***
Am frühen Nachmittag kehrte Novalee in ihr Apartment zurück. Unter keinen Umständen wollte sie den Besuch der Hummels verpassen. Leilani begleitete sie und erzählte ihr im Vorbeigehen einige interessante Details über die Bewohner der jeweiligen Apartments. Doch Novalee hörte ihr nur mit einem halben Ohr zu. Je näher sie ihrer neuen Bleibe kamen, desto stärker wurde ihr Unwohlsein.
Wie aus dem Nichts erinnerte sich Novalee plötzlich, dass sie das gemeinsame Familienessen verpasste – zum ersten Mal in ihrem Leben. Es war zwar in den letzten Jahren eher zu einer unangenehmen Pflicht als zu einem gemütlichen Beisammensein geworden, was an der gedrückten Stimmung seit dem Verschwinden ihres Onkels Leland lag, doch was hätte Novalee dafür gegeben, jetzt dort zu sein!
»Und da«, Leilani deutete auf die Tür zu Apartment 21B, »wohnt Bebi Fauwler. Nettes Mädchen, achtzehn Jahre alt wie alle hier im Haus. Sie ist ein bisschen plump, aber was soll's. Allerdings wundert es mich nicht, dass sie noch keinen Mann gefunden hat. Gibt Hübschere als sie, selbst hier in Liga 2«, plapperte Leilani munter.
Novalee mochte es nicht, wenn über jemanden schlecht gesprochen wurde, der nicht anwesend war. Sie war noch nicht verheiratet, na und? Novalee spürte wieder den Druck auf ihren Schultern. Wie sie es hasste, hier zu sein, in der Siedlung der Unverheirateten! Ihr Scheitern kratzte ungemein an ihrem Selbstwertgefühl.
Als hätte Leilani ihre Gedanken gehört, fügte sie hinzu: »Weißt du, einige versuchen es einfach zu sehr. Das kann nicht klappen. Ganz ehrlich? Mir ist es egal. Mir ist es nicht wichtig zu heiraten, auch wenn das bedeutet, dass ich früher sterben muss. Ich hasse es, mich unterzuordnen.«
Alles an Leilanis Worten machte Novalee nervös. Neugier regte sich, doch sie wagte nicht nachzufragen, was sie damit meinte.
Leilani schien Novalees Verwirrung zu bemerken und machte ihre abwertende Handbewegung, die sie überaus gut beherrschte. »Vergiss es. Willst du nicht wissen.«
Ein Geräusch ließ Novalee aufhorchen. Nur zwei Eingänge weiter wurde eine Tür geöffnet und eine große Gestalt trat aus der Wohnung, zog die Tür hinter sich zu und ging gedankenverloren auf die jungen Frauen zu. Novalee stockte der Atem. Heiß und kalt prallten aufeinander, etwas erschütterte ihren Körper, die Etage, das ganze Haus. War das etwa …? Nein, natürlich nicht, das war unmöglich! Und doch stieg Hitze ihren Hals hoch, beschleunigte sich ihr Herzschlag, setzte ihr Verstand aus.
»Hey, Hübscher!«, begrüßte Leilani ihren Nachbarn, der ihnen entgegenkam und überrascht aufsah. Novalee blickte sie überrumpelt an, sie hatte für ein paar verwirrte Herzschläge lang vergessen, dass Leilani auch da war. Kokett zwinkerte diese ihrem Nachbarn zu.
»Hey, Leilani«, hörte Novalee ihn sagen, seine Stimme war fremd, natürlich, denn er konnte es nicht sein, und wieder huschten ihre Augen zu ihm.
Ihre Blicke trafen sich.
Plötzlich war es Novalee ein Rätsel, wie sie diesen jungen Mann jemals für Brijon hatte halten können. Abgesehen von der Größe und der Statur hatten sie nichts gemeinsam. Dennoch starrte sie ihn mit offenem Mund an. Seltsam, was für einen verstörenden Streich ihr der Verstand gespielt hatte. Blut schoss in ihren Kopf. Der junge Mann runzelte die Stirn, dann war er auch schon hinter ihnen verschwunden.
Auch Brijon hatte gut ausgesehen, doch auf eine andere, rauere Art. Ihr Nachbar war nicht einfach nur gut aussehend. Er war schön.
Viel zu schön für Liga 2!
»Wer war das?«, fragte Novalee atemlos, als sie und Leilani ihre Tür erreichten. Jetzt wagte sie einen Blick zurück, doch der junge Mann war bereits die Treppe runter in den Regen verschwunden.
Leilani musterte sie von der Seite und grinste. »Das, meine Liebe, war Graey Maaston. Lustiger Typ, echt nett und so, aber völlig unnahbar. Ich hab's probiert, glaub mir. Nicht einmal die Hand wollte er mir geben.«
Noch immer sah Novalee in die Richtung, in die er verschwunden war. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie für einen schmerzlichen Herzschlag lang Brijon in ihm erkannt hatte.
»Wieso fragst du? Gefällt er dir?«, neckte Leilani sie.
Novalee wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr sie diese kurze Begegnung erschüttert hatte, auch wenn es ihr schwerfiel, den Blick wieder auf ihre Nachbarin zu richten.
»Ach, nur so«, antwortete sie möglichst gelassen und versuchte, Leilanis abwertende Handbewegung nachzuahmen. Doch sie wusste, dass ihre roten Bäckchen sie Lügen straften.
»Na ja, wie auch immer«, flötete Leilani gut gelaunt. »Du wirst ihm in Zukunft jedenfalls häufiger über den Weg laufen, denn er ist dein direkter Nachbar. Also solltest du dir besser abgewöhnen, in seiner Gegenwart dein ganzes Blut in dein Gesicht zu pumpen, sonst kommt er noch auf die wahnwitzige Idee, du würdest dich für ihn interessieren.«
Novalee senkte verlegen den Kopf. Wie dumm, dass sie ihre Gesichtsfarbe nicht kontrollieren konnte!
Glücklicherweise beließ Leilani es dabei und verabschiedete sich von Novalee. »Wenn was sein sollte – meine Tür steht für dich jederzeit offen.« Sie schmunzelte gewinnend, dann ging sie davon.
Auch diesmal öffnete sich die Apartmenttür sofort, als Novalee den Türgriff berührte. Doch die Verwüstung in ihrem neuen Zuhause erschien ihr plötzlich nicht mehr so katastrophal wie noch vor ein paar Stunden. Und das lag nicht an der Dusche und auch nicht am Pfannkuchen.
Es lag an Graey Maaston.
Der Brief auf dem Küchentisch verhieß nichts Gutes. Seine Mutter musste ihn dort hingelegt haben, damit er ihn fand, sobald er aus der Schule kam. Unschlüssig trat er einen Schritt auf den Tisch zu und überprüfte die Anschrift. Adressiert an ihn. Trotzdem fiel es ihm schwer, es zu glauben. Obwohl er gewusst hatte, dass dieser Brief kommen würde. Er hatte ihn erwartet, gefürchtet, obwohl er sich an die Sichtung nicht erinnerte. Er ahnte nur in den Tiefen seines Unterbewusstseins, dass sie stattgefunden hatte. Erinnerungen an einschneidende Ereignisse waren ohnehin überbewertet.
Mit feuchten Händen nahm Crish den Umschlag. Das Wappen der Regierung, das über seinem Namen prangte, flößte ihm eine Heidenangst ein. Dabei hatte er bislang keinerlei Erfahrungen mit der Regierung gemacht – abgesehen von dem fürchterlichen Prozess, dem er hatte beiwohnen müssen.
Sein Ergebnis der Sichtung.
Er hielt es in Händen, seine Zukunft zwischen seinen klebrig-feuchten Fingern. Sollte er auf seine Mutter und Talisa warten? Sie betraf der Inhalt des Briefes ebenso wie ihn.
Nein. Es war sein Brief, seine Zukunft, und er wollte nicht vor den Augen seiner kleinen Schwester die Fassung verlieren. Er musste es wissen. Jetzt. Crish unterdrückte das bleierne Gefühl in seinem Magen und riss mit einer schnellen Bewegung den Umschlag auf. Das Papier lag schwer in seinen Händen. Es war fest und dick – solch ein Papier gab es in Liga 2 normalerweise nicht. Vorsichtig entfaltete Crish das Blatt. Bevor er zu lesen begann, wanderte sein Blick zu der Unterschrift im unteren Drittel des Briefes.
Bradian Muerfie.
Natürlich hatte der Besitzer nicht selbst unterschrieben, seine Signatur war lediglich auf das Papier gedruckt. Dennoch, allein diesen Namen zu sehen war, als würde sich eine Hand um seinen Hals schließen und langsam zudrücken.
Dann fing Crish an zu lesen. Doch die Worte vor seinen Augen blieben unscharf. Je mehr er versuchte, die Buchstaben, die eigentlich zu sinnvollen Worten zusammengesetzt sein sollten, zu entziffern, desto schwammiger wurden sie auf dem Papier. Sie tanzten hin und her, als würden sie ihn verspotten.
Nur ein einziger Satz hob sich klar aus dem verschwommenen Buchstabensalat hervor, als führe er ein Eigenleben. Als wolle er unbedingt gelesen werden.
Crish Hevans, Ihre Sichtung hat ergeben, dass Sie eine Schande für Liga 2 sind und deshalb unverzüglich in Liga 3 verrotten sollen.
Crish schluckte, um seine Übelkeit im Zaum zu halten. Das war sein Ergebnis? Auf diese Weise teilte man es ihm mit? Er schluckte abermals, sein Hals war plötzlich schrecklich trocken. Es fühlte sich an, als würde er einen Stein den Rachen hinunterwürgen. Mit diesen Worten wurde ihm seine Zukunft mitgeteilt? So beleidigte ihn die Regierung an dem Tag, der zum schlimmsten seines Lebens werden sollte? Obwohl er sich niemals etwas hatte zu Schulden kommen lassen, außer … ja, außer nicht hübsch genug für Liga 2 zu sein? Zu abnorm? Obwohl er genau dieses Ergebnis befürchtet hatte, wurde er den Eindruck nicht los, dass hier etwas nicht stimmte.
Er hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich langsam um. Seine kleine Schwester Talisa stand in der Küche und starrte ihn aus großen Kulleraugen an. Sie hatte nur wenig mit ihrem großen Bruder Crish gemeinsam, sie kam mehr nach ihrer Mutter. Was nicht hieß, dass sein Vater hässlich gewesen wäre. Nein, hässlich war nur Crish.
Aber nicht seine Schwester. Obwohl sie noch jung war, gerade elf Jahre, war schon zu erahnen, was für eine Schönheit sie werden würde. Ihre Zukunft war sicher.
Crish hingegen hatte keine Ähnlichkeit mit seinen Eltern, und dies wurde ihm nun zum Verhängnis. Er sah seine Reflektion in den feuchten Augen seiner Schwester, sah ihre Enttäuschung, ihre Verzweiflung, und konnte dem Bild von sich selbst nichts als Verachtung entgegenbringen. Er hatte versagt.
Dann hörte er ihre Worte. Ihre Stimme war von einer Kraft, die wie ein Sturm auf ihn zuwalzte und drohte, ihn zu ersticken.
»Warum hast du dich nicht mehr um uns bemüht? Wir brauchen dich! Warum lässt du uns im Stich?«, fragte sie vorwurfsvoll.
Atemlos schlug Crish die Augen auf. Sein Herz klopfte wild und er spürte den Schweißfilm auf seiner Haut. Wieder nur ein Albtraum. Langsam setzte er sich in seinem Bett auf und blickte sich benommen um. Er befand sich in seinem Zimmer, in seinem Bett, obwohl es mitten am Tag war. Warum hatte er geschlafen?
Langsam erinnerte er sich. Er hatte den ganzen Vormittag auf dem Markt verbracht, um zusätzliche Lebensmittel für das Familienessen zu besorgen. Obwohl nicht viele Leute in Liga 2 das Privileg hatten, ihre wöchentlichen Lebensmittel aufzustocken, war es überraschend voll auf dem Markt gewesen, und als er sich nach seiner Rückkehr nur kurz ausruhen wollte, musste er eingeschlafen sein.
Sein Blick huschte zu dem kleinen Wecker auf dem Nachttisch. Es war bereits nach 14 Uhr. Bald würde das Essen fertig sein.
Crish eilte ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht und den Ansatz seines dunklen Haares, als es an der Tür klingelte.
Augenblicke später wurde Crish zum Essen gerufen.
Sie saßen zusammen, wie jeden Samstag. Seine Mutter, seine Schwester, sein Onkel und seine Tante, sowie seine schwangere Cousine Valea und deren Ehemann Gero. Alles war normal, zumindest fast. Niemand sprach über Novalee, doch Crish spürte ihre Abwesenheit wie einen kleinen Stein in seinem Schuh.
An diesem Tag durfte Valea das Gelöbnis sprechen – ein festes Ritual dieses wöchentlichen Treffens, obwohl es nicht die letzte Mahlzeit des Tages war.
»Bradian Muerfie, in unseren Herzen und überall,
wir sprechen deinen Namen in Ehrfurcht und Zufriedenheit,
dein perfektes System erfahren wir mit Dankbarkeit,
nährest, kleidest, schützest uns,
AurA Eupa ist dein Geschenk,
in Ewigkeit sind wir dir treu«, sprach Valea demütig, während alle anderen in sich gekehrt auf ihre Teller blickten.
Crishs Appetit hielt sich in Grenzen und stellte sich auch nicht mit dem gefüllten Teller vor seiner Nase ein. Lustlos stocherte er in seinem Eintopf aus Fleisch, Kichererbsen und Karotten und hielt sich aus der Unterhaltung heraus. Das Leben, wie er es kannte, war im Begriff, sich zu ändern. Radikal. Für immer. Doch alle anderen taten, als wäre es nichts Besonderes.
Als müsse er nicht fürchten, seine Liga, seine Familie und seine Verantwortung zu verlassen. Manchmal wünschte er sich ihre Gelassenheit.
»Wie war der Prozess gestern, Crish?«
Erschrocken sah er von seinem Teller auf. Wer hatte das gefragt? Gero, der Ehemann seiner Cousine Valea, blickte ihn neugierig an.
»Schuldig, beide«, antwortete Crish kurz angebunden und wandte sich wieder seinem Essen zu. Vielleicht sollte er einen Bissen probieren. Womöglich half das gegen das flaue Gefühl im Magen.
Crish und Novalee waren am Tag zuvor als Zuschauer für einen öffentlichen Prozess geladen gewesen. Obwohl Crish am liebsten nicht hingegangen wäre, war es seine Pflicht. Wer dieser nicht nachkam, wurde schwer bestraft. Das Mädchen, dem dort der Prozess gemacht worden war, wurde schuldig gesprochen – schuldig, eine Beziehung zu einem Jungen aus Liga 3 gehabt zu haben. Crish hatte das Urteil vorhergesehen – solche Prozesse endeten nie zu Gunsten der Angeklagten. Er hatte es gehasst, zusehen zu müssen, wie dieses Mädchen bloßgestellt wurde, weil sie Kontakte zu einem Jungen aus der falschen Liga hatte. Aber das war nicht einmal das Schlimmste! Am gestrigen Tag war ihm zum ersten Mal richtig bewusst geworden, dass es womöglich auch ihm bald verboten sein würde, Kontakt zu den Menschen aus Liga 2 zu haben. Die einzigen Menschen, die er kannte. In Liga 2 war er geboren, hier war seine Familie. Über Liga 3 hingegen wusste er so gut wie nichts. Diese Erkenntnis hatte seine Angst vor der Sichtung noch einmal angefeuert.
»Welche Strafe?«, hakte Gero nach und Crish blickte abermals auf. Er war noch nie besonders begeistert von dem Mann seiner Cousine gewesen. Seine Sensationslust machte das nicht besser.
»Das Mädchen aus Liga 2 bekam Tod durch Verdursten – mit Aussicht auf Heirat. Der Junge aus 3 sollte direkt hingerichtet werden. Und nein, es gab keine Liveübertragung.« Gereizt spießte Crish ein Stück Karotte auf.
Gero schürzte missbilligend über seinen Kommentar die Lippen, dann wandte er sich wieder seinem Essen zu. Eine Weile erfüllte nur das Klappern von Besteck das Esszimmer.
»Morgen ist deine Sichtung, hab ich Recht?«, übernahm Onkel Domut das Gespräch.
Crish blickte starr auf seinen Teller und nickte. Dazu gab es nichts zu sagen.
»Wir gehen fest davon aus, dass er bei uns bleibt. Das muss er einfach«, antwortete Talisa für ihn. Nun hob er doch den Kopf. Die Überzeugung seiner Schwester ehrte ihn – und setzte ihn gleichzeitig unter Druck.
Ja, er musste bleiben. Bei seiner Mutter und seiner kleinen Schwester, weil sie sonst niemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Leider interessierte das die Allianz und die AnGoS©h-Engine reichlich wenig.
Gero klopfte Crish aufmunternd auf die Schulter, anscheinend hatte er ihm die bissige Antwort von zuvor bereits verziehen. Damit war das Thema beendet. Offenbar hatte niemand Zweifel an Crishs Verbleib in Liga 2. Die hatte nur er selbst.
Doch ein Blick in die Runde verriet ihm, dass nicht allen seine Angst vor der Sichtung entgangen war. Seine Mutter, die ihm gegenübersaß und den ganzen Vormittag in der Küche geschuftet hatte, um dieses Menü zuzubereiten, betrachtete ihn liebevoll. Dann lächelte sie und nickte. Sie sah müde aus, abgekämpft und traurig, doch so sah sie schon lange aus.
Seit zehn Jahren. Ihre Vitalität würde erst zurückkehren, wenn sie Gewissheit hatte. Doch daran glaubte niemand mehr.
Nicht auszudenken, was aus ihr werden würde, wenn sie auch noch ihren Sohn verlor.
Crish versuchte, ihr Lächeln zu erwidern, doch es gelang ihm nicht. Abermals blickte er auf seinen Teller. Er würde heute sicher keinen Bissen mehr herunterbekommen.
»Die Städte von AurA Eupa sind unterteilt in drei Ligen: Liga 1, Liga 2 und Liga 3. Grundlage für die Unterteilung ist das äußere Erscheinungsbild. Berührungen außerhalb der eigenen Liga sind strengstens untersagt. Auf diese Weise werden Gewaltverbrechen unmöglich gemacht, Krankheiten und Neid so gut wie ausgemerzt. Wir sind dankbar für die Ligentrennung!«
Auszug aus: »Das perfekte System«, Seite 14, Kapitel 1
Es war erstaunlich, wie schnell die Zeit verging, wenn es etwas gab, worüber man nachdenken konnte. Novalee verbrachte die Zeit bis zum Erscheinen der Hummels damit, über Graey Maaston nachzudenken. Und über die Erinnerungen, die er seltsamerweise neu geweckt hatte. Es war nur der Bruchteil eines Moments gewesen. An Brijon hatte sie seit Jahren nicht mehr gedacht, obwohl die schmerzende Erinnerung an ihn ihre Brust niemals verlassen hatte.
Sie hatte ihn geliebt. Sie war damals 14, er beinahe 17 gewesen. Sie waren Nachbarn gewesen, vielleicht sogar Freunde, trotz des großen Altersunterschieds. Bei ihm fühlte sie sich verstanden, gleichberechtigt, ernstgenommen – anders als bei ihrer älteren Schwester Valea, in deren Schatten sie immer irgendwie gestanden hatte. Brijon behandelte sie mit Respekt und teilte Geheimnisse mit ihr. Er war ein kleiner Rebell, der ihr, sobald er etwas angestellt hatte, seine Abenteuer ins Ohr flüsterte, und es erschien ihr, als wäre sie ein Teil davon gewesen. Ja, sie hatte ihn geliebt. Und sie war davon überzeugt gewesen, dass auch er sie liebte. Die verspielten Neckereien, die heimlichen Blicke, wenn er glaubte, sie würde es nicht bemerken, er war so einfach zu durchschauen gewesen. Er hielt sich bloß zurück, weil sie noch so jung war – so hatte sich Novalee stets gesagt. Nie hatten sie ein Wort darüber verloren, doch sie wusste, dass er auf sie wartete.
Der Schmerz in ihrer Brust, als sie ihren Irrtum entdeckte, glühte auch jetzt noch auf, sobald sie daran zurückdachte. Denn während seiner Zeit auf dem InsE hatte er sich in ein Mädchen verliebt. Novalee hatte ihren Namen nie erfahren, doch viel wichtiger als ihr Name war, dass dieses Mädchen aus Liga 1 kam. Brijon und das Mädchen aus Liga 1. Obwohl Brijon sich immer über Novalees Schwärmerei für Schauspieler und Models aus Liga 1 lustig gemacht hatte. Brijon und das Mädchen, das so viel schöner war als sie. Ihre verschmähte Liebe durchzog wie ein Riss ihr kleines Herz.
Die beiden kümmerte es nicht, dass ihre Liebe verboten war. Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, hielten sich vermutlich für unsterblich, für unverwundbar, gestärkt durch ihre Liebe. Es dauerte nicht lang, bis es vorbei war. Brijons öffentlichem Prozess hatte Novalee nicht beiwohnen dürfen, aber sie wusste schon vorher, dass es eine Farce werden würde. Echte Chancen gab es nicht. Seine Hinrichtung hatte sie, vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln, verschlafen. Es war ihr nicht einmal möglich gewesen, sich von ihm zu verabschieden. Für immer.
Seit jeher blutete ihr Herz, wenn sie daran dachte, jemanden heiraten zu müssen, der nicht er war. Gleichzeitig hatte sie sich geschworen, sich an die Regeln der Regierung zu halten, um nicht zu enden wie Brijon. Es war sein Fehler gewesen, nicht der der Regierung.
Nun war sie in der Siedlung der Unverheirateten gelandet. Sie hatte die Erwartung an sie, mit 18 verheiratet zu sein, nicht erfüllen können, und es machte ihr wahnsinnige Angst.
Und heute, nach all den Jahren, hatte sie plötzlich geglaubt, Brijon zu sehen. In einem ungewöhnlich hübschen Jungen aus ihrer Liga. Vermutlich hatte ihr Verstand sie nach ihrer Bekanntschaft mit Leilani warnen wollen, ihren Grundsatz nicht zu brechen. Ihre Nachbarin war eine Gefahr für sie, und doch hatte sich Novalee auf ihre Bekanntschaft eingelassen.
Und Graey Maaston? Sein gutes Aussehen hatte ein warmes Gefühl in ihren Bauch gezaubert, das sie nicht vergessen konnte. Ein weniger vorsichtiges Mädchen würde so einen Mann früher oder später um eine Verabredung bitten. Doch wie sie sich kannte, wartete sie lieber darauf, dass er sie einlud – was er vermutlich nicht tun würde.
Als es endlich an der Tür klopfte, sprang Novalee dankbar auf. Jetzt würde alles gut werden.
»Novalee Levi?«, fragte einer der Hummels und blickte sich in ihrem Apartment um. Novalee nickte, wagte es jedoch nicht, den Hummels anzusehen. Hummels waren es gewesen, die Brijon damals vor ihren Augen abgeführt hatten. Hummels waren es, die die Hinrichtung durchgeführt hatten. Ihr Onkel Leland war bis zu seinem Verschwinden selbst ein Hummels gewesen. Sie waren auch bloß Menschen, und doch lösten sie eine unbezwingbare Panik in Novalee aus, die sie angestrengt niederkämpfte.
»Geben Sie mir Ihre rechte Hand«, forderte der andere Hummels sie auf. Ohne zu zögern, folgte sie seiner Anweisung. Er trug weiße Handschuhe, mit denen er nach ihrem Arm griff und die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger an einen schwarzen Scanner, den C-Reader, hielt. An dieser Stelle in der Hand saß ihr ID-Chip, genau unter der tätowierten Zwei. Sämtliche Informationen zu ihrer Person waren dort gespeichert. Anscheinend wurde eine Änderung vorgenommen, vermutlich ihre Adresse, denn das Gerät piepte mehrfach. Als der C-Reader schließlich wieder an seinem Gürtel verschwand, atmete Novalee ein wenig entspannter durch.
Dann übergab ihr der erste Hummels ihr eigenes Armpad – eines der wenigen Vorzüge, die sie als alleinstehende Erwachsene hatte. Novalee wusste, dass sie damit ins AurA-Eupa-Intranetz gehen, Kontakte knüpfen, sowie Termine und Listen verwalten konnte. Vermutlich noch mehr, aber das musste sie erst noch herausfinden. Das interaktive Online-Dating würde sie vermutlich nicht ausprobieren.
Die Hummels waren bereits im Begriff zu gehen, als Novalee endlich den Mut aufbrachte, das Offensichtliche anzusprechen und dabei in Schweiß ausbrach. Auch von der nicht funktionierenden Wasserleitung berichtete sie. Die Hummels beäugten Novalee kritisch und ließen dann den Blick durch die Wohnung wandern. Sie konnten doch nicht ernsthaft annehmen, dass sie für dieses Chaos verantwortlich war! Der C-Reader wurde abermals gezückt, ein paar Knöpfe gedrückt, bis ihr erklärt wurde, dass laut der Aufzeichnungen die StorRg bereits dagewesen sei. Sie versicherten ihr aber, diese für den späten Nachmittag erneut vorbeizuschicken. Ein Klempner aus Liga 3 würde sich um die Rohre kümmern. Novalee beschwerte sich nicht. Ein paar Stunden mehr in dieser bakterienverseuchten Höhle würde sie auch noch überleben.
***
Als es früher Abend war und sich die StorRg immer noch nicht hatte blicken lassen, beschloss Novalee, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Sie entschied sich, mit dem Badezimmer anzufangen. Zwar würde sie dort nicht schlafen können, doch das Bedürfnis, sich nach Belieben frisch machen zu können, war stärker als das nach Erholung.
Der Zustand des Badezimmers trieb Novalee vor Ekel die Tränen in die Augen. In der Dusche stand etwa fünf Zentimeter hoch eine braune Brühe, die verdächtig danach roch, als gehöre sie in die Toilette. Die Toilette neben der Dusche war mit einer gelb-grünen Schicht überzogen, die Novalee entfernt an Moos erinnerte. Auch im Waschbecken stand die Suppe, wenn diese auch etwas weniger nach Fäkalien und Ammoniak stank. Der Wasserhahn war mit einem weißen Kalkbelag überzogen und in den Fugen der hellen Kacheln wucherte ein schwarzer Schimmelpilz.
Unwillkürlich hielt sich Novalee die Hand vor Mund und Nase, doch es nützte nichts, der Gestank bahnte sich trotzdem seinen Weg an ihre Geruchsnerven. Im Schrank neben dem Waschbecken suchte sie zuerst nach einem Hilfsmittel gegen den Dreck. Doch darin fand sie lediglich ein paar Rollen Toilettenpapier und einige Q-Tipps. Hilflos griff sie sich eine Rolle Toilettenpapier und wandte sich der Toilette zu. Sie musste würgen, als sie begann, mit dem trockenen Papier die gelblich-grüne Klobrille zu schrubben, doch mit genügend Kraft löste sich etwas von dem Schmutz.
Dabei fiel ihr Blick auf den Boden neben der Toilette … mit einem entsetzten Schrei sprang Novalee zurück. Das zu einem Putzlappen zweckentfremdete Papier fiel aus ihrer Hand und sie stieß rückwärts gegen das Waschbecken.
In dem kleinen Zwischenraum zwischen Toilette und Kachelwand hockte eine handtellergroße schwarze Spinne!
Sie musste hier raus! Sofort!
Novalee stürmte zur Wohnungstür. Ihr Herz raste, das Atmen fiel ihr schwer, die Panik tobte wie ein wildes Tier in ihrer Brust. Sie riss die Tür auf, sie brauchte frische Luft. Viel zu spät sah sie die Gestalt, die von rechts auftauchte. Hart prallte sie mit der großen Person zusammen und sprang überrascht zurück. Auch der junge Mann, wie sie verschleiert bemerkte, geriet kurz aus dem Gleichgewicht, ehe er sich wieder fing.
»Alles in Ordnung? Hast du dir wehgetan?«, fragte er besorgt. Seine Stimme war ihr sofort sympathisch.
»Nichts passiert, glaub ich. Haben wir uns …«, Novalee sah auf, »… berührt?«
Da stand er. Graey Maaston.
»Ich glaube nicht.« Er wirkte besorgt, dennoch lächelte er, als er sie ansah. Ihre Blicke trafen sich zum ersten Mal. Er und Brijon hatten wirklich nichts gemeinsam. Sie betrachtete ihn eingehend. Er war groß, bestimmt einen Meter fünfundachtzig, und schlank, beinahe dünn. Er trug eine braune, abgewetzte Cordhose und ein weißes Langarm-Shirt, unter dem sich sein Brustkorb hob und senkte. Sein ungekämmtes, leicht gewelltes Haar hatte die Farbe von dunkler Asche und reichte ihm fast bis in den Nacken. Es wirkte, als käme er frisch aus dem Bett. Graey Maaston sah eindeutig besser aus als Brijon, viel sanfter, irgendwie filigraner. Schöner. Besonders sein Gesicht. Seine bernsteinfarbenen Augen glänzten vor Leben, Neugier und verborgener Sorge. Die sanfte Linie seiner dominanten Kieferknochen faszinierten Novalee sofort, die vollen Lippen, das ebenmäßige Gesicht – Graey war makellos. Er war perfekt.
Novalee konnte nicht aufhören ihn anzustarren.
Sein Blick war erst freundlich, dann neugierig. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte er beinahe amüsiert.
»Ich hab von dir geträumt«, rutschte es Novalee heraus. Hätte sie eigentlich noch etwas Dümmeres sagen können?
Verlegen ließ sie den Blickkontakt abreißen.
»Was?«