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© 2010 Munger Christian, Domain: www.mungerchris.com

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-8391-9457-7

Von der alten Kaiserstadt Xi’an 6000 Kilometer nach Westen durch den Hexikorridor und um die Wüste „Takla Makan‟ nach Urumqi in der autonomen uigurischen Provinz Xinjiang. Besuch von 14 historischen Stationen an der Seidenstrasse. Tagebuch einer Einzelreise, Berichte über Erlebnisse vor Ort. Geschichtliche Zusammenhänge und Eindrücke der Verhltnisse zwischen den Volksgruppen der Han, der Xixia oder der turkstämmigen, islamischen Uiguren im westlichen Teil Chinas.

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Tafel am Wanderweg: „Bleibe auf dem rechten Weg und sei bescheiden“

Widmung

Dieses Buch widme ich

meiner lieben Frau Regula Franziska, sie liess mich in die Ferne ziehen und hat mich bei der Vorbereitung für dieses Projekt immer unterstützt. Sie hat mir über Mail oder Skype Mut gemacht auf meiner langen Reise.

Mein Dank gilt auch dem Buchgewerbe, das mich immer freundlich beraten hat. Ebenso danke ich der Korrektorin in Wien und BOD für die Zusammenarbeit.

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Eine Karawane entlang der Takla-Makan mit Seide, Porzellan, Perlen und anderen Kostbarkeiten

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über Xi’an, Lanzhou, Dunhuang, Kashgar nach Urumqi

Der Autor

(1945), nach einem Leben mit einer Fülle von Organisations- und Analysenbescheibungen für grosse Dienstleister, hat er eine neue Aufgabe gefunden. Immer schon hat ihn China und die grossen Eroberer aus dem Süden Sibiriens interessiert. Er übt auch Tai-ji (üben für gute Kraft), eine der Shaolin-Künste.

Eine Ausstellung in Treviso bei Venedig (früher ein Seidenraupen-Gebiet) über „The Silkroad and Chinese Civilisation“ hat ihm den Rest gegeben. Einige umfangreiche Bildbände, die von italienischen Herausgebern in Zusammenarbeit mit chinesischen Universitäten hergestellt wurden, liessen ihn weiter in diesen Kulturkreis eintauchen. Nichts hat ihn mehr gehalten. Nach einer früheren Reise im reichen Osten Chinas, jetzt in den Westen Chinas auf die Seidenstrasse zu ziehen.

Allerdings ist es weit hergeholt, dass die Namen Müng oder Ming aus dieser Gegend stammen, doch die Historien von Dschnigis Khan, Kublai Khan oder Timur haben ihn tief beeindruckt.

Er reiste monatelang durch entlegene Gegenden, vorerst ohne je daran zu denken, ein Buch zu schreiben. Wieder zu Hause angekommen liess ihn aber die Erinnerung nicht mehr in Ruhe und er hat in die Tasten gegriffen. In Tagebuchform berichtet er über Erlebnisse mit Einheimischen, wie er mit ihnen reist, isst und diskutiert wenn es geht. Das Buch enthält Beobachtungen, Wissen aus Fachbüchern und Museen vor Ort.

 

 

 

 

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 Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Anreise

I.

 18. – 23.

März – Xi’an /Chang’an

II.

 24. – 28.

März – Lanzhou

III.

 28. – 31.

März – Wuwei

IV.

 01. – 02.

April – Zhangye

V.

 02. – 04.

April – Jiayuguan

VI.

 04. – 09.

April – Dunhuang

VII.

 09. – 14.

April – Hami

VIII.

 14. – 19.

April – Turpan

IX.

 19. – 22.

April – Korla

X.

 22. – 25.

April – Kuqa

XI.

 25. – 28.

April – Minfeng

XII.

 28. 4. – 2.

Mai – Hotan und Wüste

XIII.

 03. – 07.

Mai – Kashi (Kashgar)

XIV.

 08. – 13.

Mai – Urumqi

Anhang

Geschichte um die Seidenstrasse

Zeittafel der Dynastien

Die Seide

Kamel, Yak und Pferd

Literaturliste

Nachwort

Vorwort

Im Frühjahr 2008 fand ich ein altes Exemplar des Buches „Die Seidenstrasse“ von Sven Hedin, das er 1936 über seine Reisen im Westen Chinas geschrieben hatte. Seine Schwarz-Weiss-Fotos sind Zeugen dieser Zeit. Er schreibt über die Wüste Gobi, über Lop Nor und die Erlebnisse mit den Transportfahrzeugen in der Steppe. Damals war China zersplittert: Mehrere Warlords beanspruchten Gebiete für sich, Japan hatte östliche Teile besetzt, im Nordwesten befand sich Sowjetisch-Turkestan und im Süden Britisch-Indien.

Im Herbst 2008 besuchte ich in Treviso bei Venedig eine Ausstellung über die Seidenstrasse und über Dschingis Khan. Italienische Historiker stellten zusammen mit chinesischen Universitäten umfangreiches Material aus. Ich erwarb grossformatige, farbige Bildbände über die Geschichte der Seidenstrasse. Noch heute wird im Hinterland von Venedig Seide produziert. Die dazu benötigten Maulbeerbäume werden gut gepflegt.

Dies reichte aus, um mein Interesse und die Lust auf ein Abenteuer an der Seidenstrasse zu wecken, und ich begann eine Reise zu planen. Bei meinen Vorbereitungen half mir das Internet. Über die Eingabe „Silkroad“ in Google fand ich die Internetadressen diverser Reisebüros in China. Einige unterbreiteten mir auf meine Mailanfrage, in der ich meine geplanten Ziele grob umriss, verschiedene Angebote. Ich wählte das Reisebüro „Silk Road Adventures“ von Mr. Toursun in Urumqi aus. Er reservierte mir an 14 Orten entlang der Seidenstrasse Zwei- oder Drei-Sterne-Hotels.

Mein Umfeld verstand mich nicht: Warum eine so lange Reise? Warum so weit weg? Aber meine Abenteuerlust war grösser. Mitte März 2009 brach ich alleine auf – in 60 Tagen 6‘000 Kilometer durch das westliche China. In diesem Buch berichte ich über meine schönen, oft auch anstrengenden Erlebnisse entlang der alten Seidenstrasse zwischen Xi’an und Urumqi und über meine Beobachtungen im heutigen China. Die geschichtlichen Hintergründe schöpfte ich aus Besuchen in Museen und aus Notizen bei Führungen.

In meinen Erzählungen gebe ich an einigen Stellen Distanzen, Abmessungen und Preise an, mit dem Zweck, dem Leser eine Vorstellung von den riesigen Entfernungen und den Preisverhältnissen zu vermitteln. Im Frühjahr 2009 war der Wechselkurst für 1 Yuan (Y) = 0,10 Euro (€).

Hanchinesen lieben die westlichen „Langnasen“ eigentlich nicht. In den zwanziger Jahren war das ein Schimpfwort, als die Chinesen die westlichen Besatzer (Engländer, Amerikaner, Deutsche) los werden wollten und sie deswegen verfolgten.

Einstimmung auf China:

Ortsnamen wie „Platz des himmlischen Friedens“ oder „Tempel der höchsten Harmonie“ sind bezeichnend für die Kultur Chinas. Bereits Konfuzius („Kongzi“, 551 – 479 v.Chr.) lehrte die Philosophie der Harmonie: Die Achtung von Obrigkeit, Eltern, Geschwistern und Freunden soll kriegerische Energien und Streit verhindern. In allen darauf folgenden Dynastien, ausser in der des ersten Kaisers „Qin Shi Huangdi“, mussten die Staatsbeamten eine Aufnahmeprüfung über die Lehre von Konfuzius ablegen.

Laotse (Lao Zi) begründete ebenfalls im 6. Jahrhundert v.Chr. den Daoismus. Dessen mit Yin und Yang definiertes friedliches Weltbild ist heute in China Volksglaube. Darin ebnet das kosmische Chi den gegensätzlichen Kräften Ying und Yang den Weg. In der Schrift „Daode Jing“ ist „Chi“ gleichbedeutend mit „Dao“ (der Weg). Die Lebensenergie Chi durchzieht das gesamte chinesische Denken. Chi Gong, Tai Chi, Feng Shui (Wind Wasser) und die Künste der Shaolin beruhen auf Chi und auf Konzentration. Mit Atemübungen und Gymnastik wird das Wohlbefinden verstärkt.

Kung Fu als Kampftechnik bedient sich gegen oft überlegene Gegner mehr als einhundert verschiedene Waffen. (Säbel, Schwert, Pfeil und Bogen, Armbrust (1000 Jahre vor Europäer), Speer, Reiterklinge (Winkel 100°), Hellebarde (guandao), Ketten, Peitschen, Fächer, Sichel, Rechen, Eisenreifen, Doppelkeule, Seilpfeil, Seilhammer etc). Die Grundidee dabei ist körperliches und moralisches Training für die Erreichung von Harmonie, Gesundheit und Stärke.

Einige Erfindungen im alten China:

5. Jh.v.Chr.:Rad, Achse, Winde, Ziebrunnen, Waage, Hebel (Archimedes 287-212 v.Chr.)

4. Jh.v.Chr.: der Kalender mit 365,25 Tagen (Abweichung zu heute: 0,000027 Tage). Die Jahreszeiten:

21.03. Chunfen: Tag-und Nachgleiche

20.04. Juyu: Regen auf der Saat

06.05. Lixia: Sommerbeginn

22.06. Xiazhi: Sommersonnenwende

08.08. Liqiu: Herbstbeginn

23.09. Qiufen: Tag- und Nachtgleiche

24.10. Shuangjiang: Frostbeginn

08.11. Lidong: Winterbeginn

22.12. Dongzhi: Wintersonnenwende

21.01. Dahan: Starke Kälte

3. Jahrhundert v.Chr.: die Schubkarre; der Spiegel; die innere und äussere Medizin; Akupunktur mit Moxibustion (Brennkugel aus Moxa); Anatomie; Physiologie; die therapeutische Wirkung von Kräutern; Iphedrin gegen Asthma; jodhaltige Seepflanzen gegen Kropf; Eisen, Kupfer, Salz, Arsen und Quecksilber als Medizin; Lack (Rhus vernicifera + Öl vom Tungbaum)

2. Jh.v.Chr.: Poerzellan (Kaolinerde + Feldspat + Quarz bei 1200° + Lasur), die Herstellung wurde weiterentwickelt und verfeinert, z.B. weiss, durchsichtig bei 1310°. Die Technik gelangte im 11. Jh. nach Arabien um 1470 nach Venedig und Europa.

138 v.Chr.: Pfropfen von Pflanzen: Wenn Rinde grün ist, wo es einen Knoten gibt, Schössling und Stamm sollen gut zusammenpassen.

206 v.Chr. – 200 n.Chr. (Han-Dynastie): der Kompass; der Seismograph; das Schiesspulver (Kaliumnitrat (Salpeter) + Holzkohle + Schwefel); der Schwerpunkt (Gefäss in Wasser)

121 n.Chr.: Papier aus Hanf und Lumpen; Buchblockdruck fördert Ausbreitung der chinesischen Kultur, vorher schreiben auf Steine, Bambussreifen, Holztäfelchen und Seide.

180 n.Chr.: Pulsfühlen (Diagnose, Anamnese), Zusammenhänge Herz, Blut, Blutgefässe (Normal 18 Atemzüge pro Minute und 72 Pulsschläge (1:4), sympatische und parasympatische Nerven, Blutgefässwände.

3. Jh. n.Chr..: Erdbohrungen; Salzminen, Wandtapete 721 n.Chr.: die Uhr mit Hemmung

729: die Null (durch den Inder Siddharta in China); Porzellan (Ton und das Mineral Feldspat)

860: gewalztes Papier und der Block-Druck

Die Anreise

Der Flug Air China CA 0932 trifft um 11:50 Uhr in Beijing ein. Damit beginnt mein Abenteuer. Wird das über Internet bezahlte elektronische Flugticket nach Xi’an anerkannt? Die Hainan Air, Abflug 15:30, Ankunft um 17:30 in Xi‘an hat 30 Minuten Verspätung. In den Allgemeinen Bedingungen des Hotels in Xi’an steht, dass ab 18 Uhr die Zimmer weitervergeben werden. Wie telefoniere ich jetzt dem Hotel in Xi’an, dass ich später komme? Die Telefone haben nur Slots für Prepaid-Karten. Endlich finde ich auf dem Flugplatz ein Internetkaffee und kann diese Information per Email durchgeben.

Aber wie finde ich die Hainan Air? Mein zu Hause ausgedrucktes Ticket für die Fluglinie wirkt Wunder: Es sind ja chinesische Zeichen darauf. Mit Vorzeigen gelange ich durch endlose Hallen und werde schliesslich am Ausgang des Flugplatzes in einen Bus eingewiesen. Der fährt 50 Kilometer zum Inland-Flugplatz von Beijing. Dort reicht man mich wieder durch verschiedene Abflug-Hallen durch, denn es gibt verschiedene Inland-Fluggesellschaften. China ist schliesslich ein grosses Land. Endlich, etwa 30 Minuten vor dem Abflug (gut, dass er verspätet ist), finde ich den Abfertigungsschalter und erhalte zu meiner Beruhigung ohne Probleme eine Boarding-Karte.

Neben vielen Schriftzeichen in Mandarin sehe ich auf den Anzeigetafeln die Abflugzeiten und Flug-Nummern in arabischen Zahlen. Ich bin erleichtert! Zu Hause lernte ich die chinesischen Zeichen für Zahlen, um wenigstens die Nummern der Hotelzimmer lesen zu können. Eine neue Erkenntnis: Chinesen bedienen sich weitgehend der arabischen Zahlen, ihre eigenen Zeichen sind ihnen zu kompliziert.

Ich lerne hier erstmals die Hektik der Chinesen beim Reisen kennen. Alle sind nervös und haben Angst zu spät zu kommen, eine Art Massenpsychose. Bis zum Ende meiner China-Reise werden sich meine Nerven nicht an diesen Lärm und die Unruhe gewöhnen. Die Leute brüllen laut ins Handy, als ob gerade Feuer ausgebrochen wäre. In den hohen Hallen von Flugplätzen, Bahnhöfen und Busterminals mobilisiert der laute Widerhall mein Adrenalin oft unnötig. Wenn Ansagen auf Chinesisch gemacht werden und an Leuchtanzeigen nur chinesische Zeichen erscheinen, steigt auch mein Puls: Bin ich am richtigen Ort? Geht die Reise an das vorgesehene Ziel?

Die Maschine der Hainan Air ist voll besetzt. Sie schwingt sich in die mit gelbem Gobi-Staub geschwängerte Luft. Die Sonne kann den gelben Schleier kaum durchdringen. Weiter nach Westen wird die Luft klarer. Wir fliegen über eine von Bächen und Flüssen durchfurchte Lösslandschaft. Die Täler sind dunkel, die hellen Flächen deutlich kleiner. Nur dort besteht noch die ursprüngliche, fruchtbare Löss-Schicht. Kann es sein, dass eines Tages aller Löss weggewaschen ist? Löss ist ein Staubsediment, dessen Einzelkörner kleiner sind als Sand. Der Wind kann den feinen Staub auch weit in die Atmosphäre tragen und in großer Entfernung wieder ablagern. Durch Ablagerungen aus den nahen Wüsten kann die Löss-Schicht im Laufe von Millionen Jahren, mehrere hundert Meter dick werden.

Die Landung auf dem 30 Kilometer ausserhalb von Xi’an liegenden Flugplatz verläuft angenehm. Ich bin jetzt also bereits 900 Kilometer westlich von Beijing. Inzwischen ist es dunkel geworden, und das Flughafengebäude ist hell erleuchtet. Reihen von Fluggästen steuern durch die Personen-Kontrollen. Mein Rucksack und mein kleiner Kofferrolli werden durchleuchtet. Ich schaue dem Kontrolleur über die Schultern und sehe ein grosses Kabel-Gewirr in meinem Rucksack. Ausser dem Reisepass, der Kreditkarte und Bargeld befinden sich im Rucksack das Handy, die elektronische Kamera, das Notebook und etwa acht verschiedene Kabel für Ladegeräte und Verbindungen. Mir wird schlecht: Denkt er jetzt, ich bin ein Bombenbauer? Nein, doch nicht, ich werde als „Businessman“ eingestuft. Im Verlauf meiner Reise sollten meine Sachen noch oft durchleuchtet werden, es gab jedoch nie Probleme, denn meine Ausrüstung gleicht der eines Geschäftsreisenden.

Der Bus beim Ausgang des Flugplatzes Xi‘an fährt vermutlich ins Zentrum. Alle Leute steigen ein, und ich hinten nach. Alle bezahlen 10 Yuan (€ 1,–), also ich auch. Mein Kofferrolli wandert mit vielen Gepäckstücken in den Stauraum unten im Bus. Der Rucksack bleibt bei mir als Handgepäck, ich will ihn im Auge behalten: Kreditkarten, Bargeld und Notebook scheinen mir gefährdet. Diese Angst wird sich in den ersten Tagen in China verflüchtigen – die Menschen lassen sogar Geld offen herumliegen, und niemand klaut es. Neben mir sitzt ein langer, junger Chinese; Mandschus werden über zwei Meter gross. Er trägt die obligate Business-Ausrüstung: dunkler Anzug, weisses Hemd, Krawatte, schwarze Schuhe und ein kleiner Geschäfts-Koffer. Auch die anderen Reisenden geben sich geschäftig und machen den Eindruck wichtige Personen zu sein. Wer, ausser Neureiche und Geschäftsleute auf Spesen, kann sich denn Flugreisen leisten? In diesem Bus bin ich der Einzige mit europäischen Gesichtszügen und langer Nase.

Meine Unsicherheit steigert sich: Wohin fahren wir, wo ist mein „Hotel City“? Ich frage den neben mir sitzenden Chinesen auf Englisch: „Sind wir auf dem Weg nach Xi’an?“ Ich habe Glück, er spricht ein wenig Englisch. Ich werde also nicht in der Dunkelheit der 3-Millionen-Stadt verloren gehen. Dann hole ich das Papier mit der Reservation für das „Hotel City“ aus meinem Rucksack und zeige die Adresse. Er weiss zwar nicht, wo das Hotel liegt, verspricht aber, sich für mich danach zu erkundigen.

Der Bus hält in der Stadt mehrmals, und ich habe keine Ahnung, wann ich aussteigen soll. Während der weiteren Fahrt versuche ich, aus den vielen Leuchtreklamen irgendwo „City“ herauszulesen. Aber nirgends entdecke ich dieses Wort in lateinischen Buchstaben, sondern sehe nur lauter chinesische Schriftzeichen. Natürlich sind diese schön, aber für mich unverständlich. Zu Hause lernte ich in einem Chinesisch-Kurs einige Mandarin-Zeichen: Hier nützt mir das aber wenig, denn die Zeichen weichen je nach Schreibart vom Mandarin-Standard ab. Da gibt es die weiche Pinselschrift, die vereinfachten Zeichen aus der Zeit Maos, die alten komplizierteren Zeichen und andere Spielarten.

Bei einem weiteren Stopp steigen alle aus, also ich auch. Kaum bin ich wieder im Besitz meines Kofferrollis, werde ich von einer Schar Leute mit lauten Rufen bedrängt, vermutlich wollen sie Taxi- oder Tragdienste anbieten. Ich weiss natürlich nicht, was „Hotel City“ auf Mandarin heisst. Gut, dass sich mein ehemaliger Sitznachbar um mich kümmert. Er fragt offenbar nach dem Hotel, und wir laufen in der beleuchteten Stadt um verschiedene Ecken in eine schmale Strasse. Weit hinten entdecke ich tatsächlich die Leuchtschrift „City“ in lateinischen Buchstaben. Alleine hätte ich das Hotel nie gefunden!

An der Rezeption werde ich zuerst chinesisch angesprochen: Ich verstehe nichts. Auf meiner Reservation aus dem Internet stehen neben Englisch auch chinesische Zeichen. Sie verstehen jedoch immer noch nicht, weil mein Name mit lateinischen Buchstaben geschrieben ist. Das ist für sie etwa das Gleiche, wie wenn wir in Europa chinesische Zeichen lesen sollten. Nach einigen Wortbrocken in Pinyin aus meinem kleinen Langenscheidt darf ich meinen Namen selber im handgeschriebenen Reservations-Heft suchen. Ich finde einen Eintrag, der mein Name sein könnte, und zeige mit dem Finger darauf. Jetzt erhalte ich doch einen Zimmerschlüssel, sogar mit arabischen Zahlen darauf. Alles läuft jetzt zu meiner Zufriedenheit: Das Zimmer ist komfortabel, und das Hotel liegt nicht weit vom Zentrum. Mich erstaunen verschiedene Details, mit denen Hotelgäste hier verwöhnt werden: Auf dem Schreibtisch liegt sogar alles notwendige Büromaterial wie Schere, Locher, Büroklammern, Schreibzeug, Couverts und Papier. Mein Notebook kann ich mit dem mitgebrachten Internetkabel einstecken. Es funktioniert! Diesen Luxus wird es, wie sich später herausstellt, erst wieder auf meiner letzten Station, in Urumqi, 6‘000 Kilometer weiter, geben. Auf dem Tisch im Zimmer steht auch eine Thermoskanne mit heissem Wasser, und daneben Tassen und grüner Tee in Beuteln.

Meine Gefühle sind zwiespältig: der allgemeine Brauch, grünen Tee zu trinken kommt mir sehr entgegen, und eine Tasse Tee führt mich wieder zur mir selber zurück. Auf der anderen Seite habe ich heute die harte Wirklichkeit kennen gelernt: niemand hilft mir auf der Reise wie bei einer Gruppe, ich muss alles selber erfragen und Englisch wird hier, im “mittleren Westen“, nur noch selten verstanden. Im Osten Chinas ist Englisch viel geläufiger wegen der Exportindustrie und den jetzt dort überall anzutreffenden Hongkong-Chinesen.

I. 18. – 23. März 2009 in Xi’an (Kaiserstadt Chang’an)

Xi’an liegt im fruchtbaren Löss-Schwemmland des Flusses Wei, der später in den Gelben Fluss mündet. Den Chinesen gilt dieser Ort als Wiege ihrer Kultur. Bereits im 5. Jahrtausend v.Chr. bildete sich hier eine neolithische (jungsteinzeitliche) Gesellschaft, die Bampo. Sie lebte von Fischfang, Gemüse und Hirse. In dieser frühen Zeit wurde schon kunstvoll verzierte Keramik produziert. Im Jahre 221 v.Chr. vereinte der erste Kaiser Chinas, „Qin Shi Huangdi“, mehrere Königreiche zum Reich der Mitte und machte Chang’an zur Hauptstadt dieses Reiches. Aus seinem Volk „Qin“ wird später der Name China abgeleitet. Er besiegte die Königreiche Han, Wei, Chu, Yan, Zhao und Qi. Zu Lebzeiten noch liess er sich eine weitläufige Grabanlage ausserhalb der Stadt bauen. Die Anlage ist etwa fünf Quadratkilometer gross, und in einer Ecke fand man die Terrakotta-Armee, über die ich später berichten werde.

Das Reich des Volkes Qin bestand nur fünfzehn Jahre, danach war der Ort bis 220 n.Chr. Hauptstadt des riesigen Han-Imperiums. Die Han drangen bis an das Kaspische Meer vor und waren Beschützer der damaligen Seidenstrasse.

In der Tang-Dynastie (618 – 907) war hier die grösste und kultivierteste Stadt der Welt. Eine weitere Blüte erlebte sie während der Ming-Dynastie (1386 – 1644). Heute ist Xi’an die Hauptstadt der Provinz Shaanxi. Sie dehnt sich ausserhalb der Stadtmauer weit ins umliegende Land aus.

Am Abend des Ankunftstages begebe ich mich auf einen Rundgang und mache Bilder by night. In dieser Stadt werde ich vier Tage und fünf Nächte verbringen. Die Beleuchtung verzaubert die alten Tempel – ich bin wirklich in einer anderen Welt.

In Xi’an am 19. März

Das Frühstück besteht aus verschiedenen gedämpften Gemüsen, einem gekochten Ei und Dampfbrötchen. Mit Stäbchen zu essen habe ich bereits zu Hause geübt. Die Fertigkeit der Chinesen werde ich jedoch nie erreichen. Zum Morgenessen gibt es nichts zu trinken, also der grüne Tee im Zimmer soll genutzt werden.

In den nächsten Tagen will ich folgende Sehenswürdigkeiten besuchen: Glockenturm, Trommel-Turm, alte Moschee, Basar, Süd-Tor, grosse Wildgans-Pagode, historisches Museum und Grabanlagen des ersten Kaisers mit der Terrakotta-Armee.

Der Glockenturm steht zentral auf einem Kreisel, an der Kreuzung der grossen Strassen Nord-Süd und Ost-West. Nur der Kaiser durfte damals höher als zwei Stockwerke bauen. Der Glockenturm war ein Gebäude des Kaisers und hat drei Stockwerke. Dieser Holzbau der Ming steht trotz Erdbeben seit 1582. Mit einer drei Meter hohen Glocke wurde der Stadt die einheitliche Uhrzeit geschlagen.

Heute bewegt sich in dem Kreisel rings um den Glockenturm chaotischer und lauter Verkehr. Wem sein Leben lieb ist, der benutzt die Unterführungen. Die schmalen Augen der chinesischen Autofahrer sehen zwar Vieles gleichzeitig und schätzen die Abstände im Verhältnis zur Geschwindigkeit des Fahrzeuges gut ein. Jedenfalls wird angeraten, in gleichmässigem Tempo über Fussgängerstreifen zu gehen. Eine Veränderung der Geschwindigkeit könnte das Distanzgefühl durcheinander bringen, und die üblichen Ausweichmanöver könnten fehlschlagen. Einen Unfall sah ich allerdings während meiner gesamten Reise nicht.

Unter dem Kreisverkehr um den Glockenturm liegt eine Unterführung für die Fussgänger. Mehrere Treppenaufgänge führen in die Fussgängerzonen der Strassen. Die Unterführung ist hell beleuchtet, und kleine Läden haben sich dort angesiedelt. Dezente, grosse Werbebilder für Kosmetika und Mode vermitteln eine gediegene Stimmung. Es scheint, als ob hier eine Amtsstelle über die Art der Werbung wachen würde. Nicht wie bei uns, wo jeder Unsinn aufgehängt wird. Auch Wandschmierereien (Graffiti) sind in der Unterführung keine zu sehen.

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Nachtaufnahme in Xi’an: Glockenturm (Ming 1582), nur Gebäude des Kaisers durften mehr als zwei Stockwerke haben.

Mit unschlüssigem europäischem Gesicht gehe ich von Aufgang zu Aufgang: Wie komme ich auf den Glockenturm? Da spricht mich ein junger Chinese an; er studiert Tourismus und möchte gerne Englisch sprechen. Der junge Mann ist gut gekleidet und freundlich, vermutlich ist das eine Übung in seiner Tourismus-Ausbildung. Als Europäer bin ich vorerst misstrauisch, wenn ich in einer Unterführung angesprochen werde. Aber ich überwinde mich und sage: „Bell tower.“ Er versteht mich, und ich fühle mich nicht mehr verloren in der fremden Welt. Er führt mich zum richtigen Aufgang ins Innere der Anlage. Wir können uns in einfachem Englisch unterhalten, und er erklärt mir die Ausstellungen im Glockenturm, die antiken Musikinstrumente und Glockenspiele. Die kunstvoll bemalten Holzdecken und Säulen sind exotisch, in verschiedenen Rot-, Blau- und Grüntönen. Für Chinesen ist die Harmonie von höchster Bedeutung; in der Ming-Dekorations-Kunst wird das Streben danach in der Malerei ausgedrückt. Aus dem obersten Stockwerk, dem dritten, können wir die ganze Stadt überblicken, wie der Kaiser. Mit einer dicken Holzstange darf ich an die gewaltige Bronze-Glocke schlagen. Der laute Ton wird heute vom Verkehrslärm verschluckt. Die Ming-Kultur macht Eindruck auf mich.

Wir verlassen den Glockenturm, und ich bedanke mich für die freundliche Führung und möchte ihm ein Trinkgeld in die Hand drücken. Er lehnt es ab, da er sich freut, die englische Sprache und die Fremdenführung geübt zu haben.

Ich frage ihn noch nach einem typischen Warenhaus. Er zeigt mir ein neues Gebäude gleich gegenüber dem Glockenturm. Aus der Unterführung kommend erreiche ich über die Treppe direkt den Eingang. Zuerst stosse ich auf die Parfüm-Abteilung, genau wie in westlichen Warenhäusern. Auf sechs Etagen sind alle möglichen Produkte wie bei uns zu kaufen. Die Preise liegen nur leicht unter den europäischen. Das ist natürlich für einen Chinesen viel zu teuer. Es scheint mir, als ob das Warenhaus für europäische Touristen oder für reiche Chinesen aus dem Osten gemacht wurde. Die Verkäufer tragen grüne Jacken, sie sind zahlreicher als die Kunden, haben nichts zu tun und machen gelangweilte Gesichter. Was ist denn, wenn keine Käufer kommen? Ich gönne mir an einer Theke einen grünen Tee und möchte diese Sorgen nicht am Hals haben.

Der Trommelturm steht etwa 200 Meter vom Glockenturm entfernt auf einer kleinen Anhöhe. Er wurde im Jahre 1380 ebenfalls in der Ming-Zeit aus Holz erbaut. Die mannshohe Trommel steht auf einer Terrasse. Sie diente den Herrschern zum Verbreiten von Nachrichten in der Stadt.

Gleich neben dem Trommelturm beginnt das muslimische Viertel mit der grossen Moschee. Die verschiedenen Moschee-Gebäude sind kaum vom chinesischen Stil zu unterscheiden, da sie keine runden islamischen Kuppeln, sondern Pagoden-Dächer haben. Das Erstellungsjahr ist 742 n.Chr., also in der Tang-Dynastie. Alle Gebäude sind nach Mekka ausgerichtet. Kunstvolle arabische Kalligraphien schmücken Mauern und Tafeln: „Allah ist der einzige Gott“. Die muslimische Gemeinde in Xi’an besteht aus etwa 50’000 Gläubigen; das zeigt die Toleranz der Han-Chinesen. Alle Elemente einer Moschee wie Minarett, Studierräume (Medrese), Raum für rituelle Waschungen, Empfangsraum des Imam, Gebetshalle, Minbar (Gebetsnische) und Mihrab (Kanzel) sind vorhanden. Die Gebäude sehen vernachlässigt aus, und Unkraut wächst auf den Dächern, nach dem Motto: „Allah wird es schon richten“. Die Muslime hingegen tragen weisse Kappen und machen einen sauberen Eindruck.

Mich zieht es weiter in den Basar gleich neben der Moschee im muslimischen Viertel. Die Verkaufsstände gehören chinesischen Muslimen. Auf meiner Reise in vierzehn Städten werde ich viel zu Fuss unterwegs sein. Die Schuhe aus der Schweiz sind dafür nicht geeignet, ich schwitze darin. Ich suche offene Sandalen, die fest am Fuss halten. Nicht weit vom Eingang des Basars finde ich einen Schuhstand, der tatsächlich solche Sandalen führt. Mit viel Mühe kann ich den Preis von 550 Y auf 200 Y (€ 20,–) herunterhandeln und kaufe sie. Als echtledern angepriesen, erweisen sie sich später aber als aus Kunstleder gefertigt. Dann sehe ich eine Marktstrasse weiter ähnliche Sandalen, die 45 Y kosten. Kaum zu glauben, für einfache Chinesen hat ein Y etwa zehn Mal mehr Kaufkraft als der Wechselkurs zum Euro andeutet. Jedenfalls begleiteten mich die teuren Sandalen auf der gesamten weiteren Reise und leisteten viele Kilometer gute Dienste. Bei den Antiquitäten fällt mir ein kleines Pferd (Ming) aus Bronze auf. Zur Hälfte des gefragten Preises erstehe ich es. Weiter hinten bietet eine alte Frau verschiedene Alben mit Silber-Münzen an. Ich erstehe eine davon in der Grösse eines Silberdollars für 30 Y. Zu Hause erfahre ich später: das Stück ist echt antik, und im Nachhinein betrachtet hätte ich das ganze Album mit etwa Einhundert dieser Klunker kaufen sollen.

Man kann nicht alles haben. Natürlich können wir vom Westen hier für relativ wenig Geld schöne Dinge kaufen. Aber was bringt das, ausstellen in einem Gestell für Souvenire, neben welchen aus Mexiko oder Ägypten? Wenn jemand zu Besuch kommt erklärt man die Umstände, woher das Ding kommt und unter welchen Umständen. Aber wen interessiert das schon: alles ist sowieso ein Kopie, und der Gast sagt: nächstes Mal zeige ich dir meine Souveniers aus Südafrika und aus Thailand.

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Mit der Holzstange links wurde der Stadt über Jahrhunderte die Zeit angeschlagen. Heute dämpft ein Tuch den Schall, Touristen schlagen die Glocke zu Unzeiten.

In Xi’an am 20. März

Nach dem üblichen chinesischen Schlank-werde-Frühstück zieht es mich heute an das Südtor der mächtigen Ming-Stadtmauer. Von meinem Hotel aus sind es zwei Kilometer Fussmarsch. Der Verkehrslärm und die Huperei auf der breiten Ausfallstrasse nach Süden sind enorm. Mich erstaunen die vielen grossen und neuen Autos. Die Chinesen mögen grundsätzlich keine kleinen Autos. VW baute in Shanghai immer den Santana und nicht den Fox. Teure Fahrzeuge wollen sie aber auch nicht, so sah ich beispielsweise nirgends die Marke Mercedes. Die Autos werden offensichtlich durch die Partei, oder neuerdings von erfolgreichen Firmen, als eine Art Bonus an loyale und erfolgreiche Mitarbeiter vergeben, und das können natürlich keine Kleinwagen sein! Fahrräder sind fast vollständig verschwunden, einfach von der Strasse verdrängt – kein Platz mehr. In anderen Städten auf meiner Reise sind für Fahrräder eigene Fahrspuren eingerichtet; dort findet noch ein reger Fahrrad- und Elektrorad-Verkehr statt.

Innnert wenigen Jahren haben Banken, Versicherungen und Staatsbetriebe imposante Prestigebauten hochgezogen. Auf meinem Fussmarsch zum Südtor sehe ich manche architektonische Augenweide, wirklich erstaunlich. Vor den imposanten Gebäuden steht meist eine prestigevolle Auto-Armada aufgereiht. Leider fahren diese Autos über den Fusssteig zu ihrem Abstellplatz. Für Fussgänger ist das äusserst unangenehm, man muss nach allen Seiten aufpassen. Rasch habe ich mir in China schnelle Kopfbewegungen, ähnlich einem Bussard.

Am Südtor finde ich eine originelle chinesische Altstadt, mit vielen kleinen Läden, die Kunsthandwerk verkaufen. Ich bin der einzige Tourist weit und breit. Das bewirkt, dass sich die bisher umsatzlosen Verkäufer auf mich stürzen und mir unbedingt etwas verkaufen wollen. Wie ich aus Tourismusprospekten weiss, ist die Touristen-Saison im Mai und Juni sowie im Herbst. Was machen die denn in der übrigen Zeit? Sie fertigen Kopie um Kopie von alten Kunstwerken an, die dann an die Touristen verkauft werden.

Erstmals sehe ich das „Fliegende Pferd“ von Wuwei: Es ist zum Symbol des chinesischen Tourismus geworden. In Städten mit Tourismus-Ambitionen steht es aus Bronze grossformatig in Kreiseln oder an anderen belebten Orten. Ich kaufe mir einen Bronzeguss des Pferdes, etwa sechs Zentimeter hoch, der mir sehr gefällt. Beinahe kaufe ich auch noch ein Rollbild mit Zweigen und Kirschblüten. Wegen des riesigen Angebotes und der tiefen Preise von 10 Y verliere ich die Wertschätzung für diese schöne chinesische Tradition. Und wie soll ich auch noch ein Rollbild über die weiteren 5‘000 Kilometer mitnehmen? Ein nachhaltiges Erlebnis sind die originellen alten Gassen und die vielen kleinen Geschäfte. Nicht in die Augen schauen und vorbeigehen ist das Rezept, um an den Verkäufern vorbeizukommen. Es sind alles schöne Dinge, mit viel Kunstfertigkeit hergestellt.

Am Nachmittag will ich das ausserhalb des Stadtkerns liegende Historische Museum (Sheng Lishi Bowuguang) der Provinz Shaanxi besuchen. Mein Weg führt durch weniger belebte Strassen. Eine unendlich scheinende Anzahl kleiner Läden am Strassenrand bietet mir Abwechslung. Nach Branchen geordnet reihen sich mehrere ähnliche Läden nebeneinander, zum Beispiel für Fische, kleine Schildkröten, Aquarien, dann Elektro-Material oder Möbel, und dann Sanitärbedarf, um nur einige zu nennen.

Das Historische Museum ist neu, ein gewaltiger Bau aus poliertem Granit und blauem Glas. Ich bin um 13 Uhr dort und komme mit meinem schweizerischen Pass rasch durch drei Kontrollen. Später sehe ich aus dem Fenster lange Warteschlangen. Das Museum muss auch für Chinesen eine Attraktion sein; sie werden aber auch kontrolliert. Es sind alles Reisegruppen, nicht Einzelgänger wie ich. Die Ausstellungen in den grossen Hallen begeistern mich. Die chronologische Ausstellung über die Dynastien ist für Kulturinteressierte beeindruckend. Eine grosse Abteilung ist dem Grab-Areal des ersten Kaisers „Qin Shi Huangdi“ gewidmet. Auch über die Geschichte der Seidenstrasse, die ja von Xi’an ausgeht, gibt es eine interessante, historische Ausstellung.

Im Museumsladen können zertifizierte Kopien von alten Kunstwerken gekauft werden. Beinahe hätte ich ein Keramik-Pferd mit farbiger Glasur gekauft. Aber auch hier: Wie mitnehmen? Ich besichtige dann alte Münzen mit dem viereckigen Loch in der Mitte. Diese Art führte „Qin Shi Huangdi“ ein. Alle späteren Dynastien behielten diese Form der Münzen bei. Auf einer Schnur konnten Bünde davon aufgefädelt werden.

Ich interessiere mich für ein Album mit antiken Kupfer-Münzen. Sie sind chronologisch geordnet, beginnend mit den frühen Formen, dann die Münzen der Qin und der späteren Dynastien bis in die Republik 1925. Der Verkaufspreis des Albums von 1‘500 Y (€ 150,–) ist zu viel. Ich laufe weg, da springt mir eine Dame des Museumsladens nach, nimmt mich am Arm und sagt: „Für Sie ein Spezialpreis von 800 Y! Diese Sammlung gibt es sonst nirgends in dieser Form, mit Kommentaren und Angabe der Dynastie und Jahrzahl.“ Ich lasse mich umstimmen, verlange aber die offiziellen roten Stempel aus dem Mineral Zinnober, damit ich das Album aus China ausführen darf. Die Damen wissen um das Problem und erstellen drei verschiedene Zertifikate mit dem obligaten roten Stempel. Ich kann mit meiner Mastercard bezahlen und bin stolzer Besitzer einer einmaligen Sammlung. Das Album wiegt etwa ein Kilogramm. Es begleitete mich im Kofferrolli die gesamte Reise bis nach Hause und bereitete mir an keiner Kontrolle Probleme.

Heut habe ich viel neue und alte chineische Kunst mit Beschreibungen in Englisch gesehen. Mich erstaunt die Lieblichkeit, nicht alles ist brutal und grausam wie im finsteren Mittelalter Europas. Die hohen Kulturen der Dynastien hier, waren eigentlich nicht kriegerisch sondern pflegten einen feinen und höflichen Umgang miteinander.

In Xi’an am 21. März

Heute ist Samstag und in den Büros wird nicht gearbeitet. In der Fussgängerzone komme ich kaum vorwärts: Alles ist schwarz von Leuten. Ich habe wieder das Gefühl, der einzige Europäer weit und breit zu sein und von allen Seiten beobachtet zu werden.

Han-Chinesen sind selbstbewusst; ihre Leistungen wie Exporte in die ganze Welt, schöne Bauten, die Olympiade und nicht zuletzt die alte Kultur machen sie stolz. Mir scheint, viele blicken mich forschend an, oft direkt in die Augen, um herauszufinden, ob ich als „Langnase“ auch dieser Meinung sei. Die Schweiz ist klein, doch bei vielen Chinesen bekannt, einerseits wegen der Architekten des Olympia-Stadions, das eine antike Keramiktasse mit gesprungener Lasur als Vorbild hatte und später „Vogelnest“ hiess, andererseits durch Roger Federer, der in Shanghai Turniere gewann. Fragt mich jemand in einer Suppenküche, woher ich komme, und ich mit „Schweiz“ (Ruishi) antworte, denken sie, ich bin ein Hochstapler und wenden sich eher ab. Ein Ruishi sitzt doch nicht am gleichen Tisch wie einfache Chinesen und zahlt 7 Y für eine Nudelsuppe. Ein Grund für die Bekanntheit könnten aber auch die Bilder der Drogenszene beim „Platsspitz“ in Zürich gewesen sein, die als schlechtes Beispiel rund um die Welt gingen.

Übrigens, je öfter ich am gleichen Ort zu Abend esse, umso mehr Gewürze, Fleisch und feine Gemüse hat meine Nudelsuppe. Man kann sich die Vorteile eines Stammkunden erwerben. Ein geeignetes Lokal zu finden ist nicht einfach, entweder sind es exklusive Esstempel, wie wir es in Europa von Chinesen kennen, oder kleine Ecken, die eher ärmlich aussehen. Durchfall hatte ich nie wegen einer gekochten Nudelsuppe, eher wegen Salat oder wegen nicht garen Teigtaschen.

Am heutigen Tag hat der Kauf des Zug-Tickets nach Lanzhou (Distanz 591 Kilometer) erste Priorität. Danach will ich den grossen Tempel „Da Ci’en“ mit der Wildgans-Pagode besichtigen. Die Rezeption schreibt mir auf, welchen Bus ich zum Bahnhof nehmen soll und ab welcher Haltestelle. Mit dem Zettel in der Hand lerne ich jetzt die grosse Unsicherheit kennen: Wie fahre ich Bus in einer fremden Stadt, finde ich je mein Ziel und komme ich auch wieder zurück? Als Sicherheit habe ich in meiner Brusttasche immer die chinesische Visitenkarte meines Hotels dabei.

Den Bussen in Chinas Städten muss ich einen Kranz winden. Eine mittlere Stadt hat einige Millionen Einwohner und dehnt sich in alle Richtungen weit ins Land hinaus. Busse gibt es wie Sand am Meer, mit allen möglichen Nummern, die Ortsbezeichnungen in Mandarin kann ich leider nicht verstehen. Die Bus-Nummern sind aber Gott sei dank in Arabisch angeschrieben. Wenn ich weiss, ab welcher Haltestelle und welche Bus-Nummer ich nehmen soll, bin ich bereits ein Busfahrer. Eine Fahrt kostet in allen Städten, die ich besuchte, 1 Y. An der Einstiegstüre befindet sich eine Metallbox mit Schlitz oder einfach eine Kartonschachtel. Wenn jemand nichts hineinwirft, brüllt der Fahrer etwas und fährt nicht weiter. In grösseren Städten werden Plastik-Karten verwendet, und das Lesegerät piepst beim Abbuchen laut, damit der Fahrer es hören kann.

Teilweise wird heute versucht, Buslinien zu privatisieren. Die Folge davon sind schlechter Service und alte verlotterte und schmutzige Busse. Ein Yuan pro Fahrt kann die Kosten eines Busses und den Lohn des Personals nicht decken, also wird gespart. Oder der private Eigentümer nimmt zu viel Geld für sich selbst aus dem Unternehmen. Die öffentlichen Busse hingegen sind in gutem Zustand. Niemand denkt nach, ob sich das rechnet, und es wird auch nicht kalkuliert. Der Preis und die Kosten sind staatlich geregelt.

Auf der Reise zum Bahnhof muss ich einmal umsteigen und habe mir die dreistelligen Nummern der beiden Busse aufgeschrieben. Das erste Mal fahre ich in China mit einem öffentlichen Stadtbus – es wird nicht das letzte Mal sein. Das Problem ist nun: Wo steige ich aus und wo nehme ich den zweiten Bus? Ich lese in meinem kleinen Langenscheidt das Pinyin-Wort für Bahnhof heraus. Die Chinesen verstehen das Wort, und ich werde mit der Hand weiter gewiesen, bis ich den Bahnhof erreiche. Es ist ein moderner Bau mit grossem Vorplatz, der von schwarzen Köpfen wimmelt. An diesem Ort treten die verschiedenen Ethnien Chinas besonders deutlich in Erscheinung: Die Mehrzahl hier sind Han, daneben sehe ich Mongolen mit rundem Gesicht und konservativ gekleidete Turkvölker wie Kirgisen, Kasachen und Uiguren. All diese Menschen bilden Aufläufe und Kolonnen vor 30 Schaltern. Ich frage vorsichtshalber einen Uniformierten nach „Lanzhou“. Der sieht, dass ich Ausländer bin, und zeigt auf den Schalter 22. Ich reihe mich in die Schlange ein, weit und breit bin ich die einzige Langnase. An diesem Schalter spricht die Beamtin ein wenig Englisch und fragt: „Softsleeper or hardsleeper?“ – das sind beide Liegewagen. Die billigeren Klassen will sie mir gar nicht anbieten. Ich entscheide mich für „hardsleeper“. Wie ich bei meiner ersten Zugfahrt sehen werde, haben die hardsleeper Matratzen und Leintücher, also genug Luxus für mich. Die Bahn ist in China ein Prestige-Objekt und in sehr gutem Zustand. Das Ticket für 590 Kilometer kostet 175 Y, und ich fühle mich damit sicherer auf meinem weiteren Weg. Auf dem Ticket sind chinesische Zeichen und arabische Zahlen aufgedruckt. Es sollte einige Zeit vergehen, bis ich verstand, welche der arabischen Zahlen das Datum, die Fahrzeit, die Wagen-Nummer und der Sitz sind.

Nun kann ich mich wieder den Besichtigungen widmen. Den Tempel „Da Ci’en“ will ich zu Fuss erreichen. Chinas volksreiche Städte sind sehr weitläufig, und während meiner Reise werde ich Dutzende von Kilometern zu Fuss zurücklegen. Vorbedingung dafür ist jeweils ein Stadtplan. In meinem DuMont-Reiseführer finde ich nur kleine Pläne der wichtigen Sehenswürdigkeiten. Die Städte mit touristischen Ambitionen haben eigene Strassenkarten; diese sind aber schwierig zu finden. Die Hotels schicken mich auf meine Anfrage in die „Book-Shops“. Dort sind die Stadtpläne natürlich auf Chinesisch, nur vereinzelt sind bei Attraktionen auch englische Wörter abgedruckt. In meinem DuMont steht bei wichtigen Sehenswürdigkeiten deren Pinyin-Wort: Ich riss oft die ganze Seite heraus und konnte so ein Bild meines Ziels vorzeigen.

Die langen Fussmärsche konnte ich mir zu Hause nicht vorstellen und trainierte sie deshalb auch nicht. In den ersten Städten meiner Reise lief ich den halben Tag, den Rest des Tages war ich müde, und die Füsse taten mir weh. Ich ruhte dann im Hotel aus und schrieb meine Berichte auf meinem Notebook.

Die Schuhe, die ich aus Europa mitnahm, sind viel zu heiss für lange Wanderungen: Ich werfe sie weg. Jetzt kommen die Sandalen aus dem Basar zum Einsatz. Diese Fussbekleidung wird mich bis zum Ende der Reise begleiten. Ich ernte damit oft schräge Blicke, weil höchstens Pilger und ärmere Leute vom Land Sandalen tragen. Ein Businessman hat doch schwarze Stadt-Sneakers!

Ab heute habe ich eine Standard-Ausrüstung. Die Manchesterhosen aus der Schweiz warf ich gleich weg. Als Standard trage ich meine Segeltuchhosen in dezentem Grün und ein Hemd mit Brusttasche. Die Brusttasche ist sehr wichtig, denn sie enthält ein Schreibwerkzeug und Papier. Daneben befindet sich dort auch die Visitenkarte meines Hotels in Chinesisch, ferner Zettel mit den Pinyin-Namen meiner Ziele. Alle möglichen Tickets werden ebenfalls in der Brusttasche aufbewahrt. Die rechte Hosentasche enthält die Digital-Kamera, hinten rechts ist der Geldbeutel mit Yuan und Dollars, hinten links der Zimmerschlüssel des Hotels. In meiner Hand trage ich als ständigen Begleiter eine kleine Leinentasche, cirka 30 x 20 Zentimeter groß, die ich zusammenrollen oder für Einkäufe benutzen kann. Die Leute von der Rezeption sollen doch nicht alles sehen, was ich hereinbringe. Normalerweise befinden sich darin:

- die Sonnenbrille

- der Sonnenhut mit dem Glücks-Drachen „Long“ darauf

- ein Stadtplan

- mein Langenscheidt Wörterbuch

- der Kultur-Reiseführer DuMont

- ein halber Liter Mineralwasser

- und eine Banane.

So ausgerüstet mache ich mich auf. Der Tempel Da Ci’en („Grosse Gnade und Güte“) steht in einem weiten Tempelareal. Er wurde 648 vom Tang-Kaiser Gao Zong zu Ehren des berühmten Pilgermönchs Xuanzang (602 – 654) errichtet, um die grossen Mengen buddhistischer Schriften zu verwahren, die dieser von seiner Reise aus Indien mitgebracht hatte. Xuanzang lebte nach seiner Rückkehr selbst im Tempel und übertrug hier die heiligen Sanskritund Pali-Texte ins Chinesische. Aus seinem Reisebericht entstand später eine berühmte Geschichte, in der ein geistreicher Affe sein mutiger und loyaler Weggefährte war.

Der Buddhismus fand in China zuerst Anhänger unter einigen Exzentrikern der Oberschicht und wurde später volkstümlich. Dieser Glaube bietet einen Ausweg aus dem Leiden. Buddha war ein Zeitgenosse von Konfuzius, und beide haben Systeme beschrieben, um ein harmonisches und friedliches Leben zu führen. Alle weltliche Erfahrung ist bei Buddha illusorisch. Aus der Drangsal des jetzigen Lebens erlöst eine Wiedergeburt in eine bessere Umgebung. Der Buddhismus rettet die armen Seelen vor der Hölle und verspricht am Ende den Eingang in das Nirwana (selige Ruhe).

Im Tempelareal steht auch die Wildgans-Pagode: Sie ist 73 Meter hoch und soll an die Stupa in Bodh Gaya (Nordindien) erinnern, jenen Ort, an dem der historische Buddha Shakyamuni seine Erleuchtung erfuhr. Dies ist eines der wichtigsten historischen Monumente Chinas. Ich besuche die Tempel und die Pagode und lasse mich durch die starke und friedliche buddhistische Ausstrahlung tragen. Das Umfeld der Tempelanlagen ist heute zu einem Vergnügungspark für die Bevölkerung geworden. Den gesamten Komplex umgibt eine grosse Mauer, und der Besucher fühlt sich in einer anderen Welt, in der meditiert und ausgeruht wird. Autos sind nicht zu hören.

Im Park ausserhalb der Tempel stosse ich auf großes Gedränge. Es ist Samstag, und ich denke, die Leute haben frei und vergnügen sich im Park. Dann kann ich aber an etwas Aussergewöhnlichem teilnehmen, das nur an Samstagen zu einer bestimmten Zeit abläuft: Zuerst fliesst Wasser über einen etwa 200 Meter breiten und 4 Meter hohen Wasserfall in drei darunter liegende Becken von je etwa 200 x 100 Meter. In diesen drei Wasserbecken wird durch eine Vielzahl von beweglichen Rohren ein Wasserspiel aufgeführt, wie ich es noch nicht gesehen habe. Xi’an tut etwas für seine Bevölkerung!

Nach all diesen Erlebnissen muss ich mich auf den Weg nach Hause machen. Deutlich spüre ich, ein Fremder zu sein. Die Chinesen halten in ihren Familien (clans) und Gruppen sehr eng zusammen. Ein Einzelgänger ist ihnen suspekt: Sie denken, er kann sich nicht einordnen oder er wurde ausgestossen. Ich fühle mich beobachtet und spüre Misstrauen vor dem Fremden. Aber es war ein schöner Samstag, ich habe viel erlebt und gesehen!

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Wasserspiele in Xi’an beim Tempel „Da Ci’en“

In Xi’an am 22. März