Der Maler Malte Westermann lebt in seinem Haus am Meer. Seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben. Er weiß nicht, ob er glücklich ist und woraus Glück besteht. Er weiß nur eines: Glück ist für ihn blau.
Er verbringt seine Tage mit Malen, Strandspaziergängen, Besuchen auf dem Friedhof, Einkaufen im nahen Dorf und mit seinen Freunden Thomas, dem Töpfer, und Imke, der Friesin, die ihm immer Blumen oder Kuchen mitbringt.
Malte ist ein ehrgeiziger Maler: Er will das unmögliche Licht malen, jene Schönheit, von der Stendhal sagt, sie sei das Versprechen des Glücks. Als ihn die Frage nach dem Glück immer mehr umtreibt, kündigt Salome, seine Tochter, ihr Kommen an. Mit dabei ist seine Enkeltochter Elena, und diesmal krempelt ihr Besuch sein ganzes Leben um.
La beauté n’est que la promesse de bonheur.
HENRI STENDHAL
Ich bin ein einfacher Mann.
Ich habe ein schlichtes Gemüt.
Deshalb ist Glück für mich blau.
Immer schon gewesen. Ich weiß nicht,
wo das herkommt.
Ich meine damit nicht nur den Himmel,
das süße, läutende, sich wölbende Blau,
in dem kreideweiß Wolken treiben.
Vielleicht habe ich das aus einem Kinderlied, das
von den Sternlein.
Weithin über die ganze Welt.
Vielleicht ist es auch so, dass ich
schon als Kind die Vorstellung von einer
glücklichen, unbeschwerten Welt
in mir hatte.
Vielleicht habe ich das aus Kinderbüchern,
oder Mutter hat mir davon am Bett gesungen,
vielleicht hatte ich Träume davon
oder vielleicht hat mir einfach die Welt
ein Versprechen gemacht –
das Versprechen des Glücks.
Lange habe ich an dieses Versprechen geglaubt.
Immer wieder hat es mir Hoffnung gegeben, wenn
ich im Zweifel
über mich und alles war. Immer wieder
hat es mich getröstet und angefeuert:
Halt durch!
Das Beste kommt noch!
Es ist nicht gekommen.
Das Versprechen hat getrogen.
Seit ich das weiß, bin ich auf der Suche.
Nicht nach dem Glück, sondern bloß
nach den Bedingungen der Möglichkeit
von Glück.
Ich sitze in meinem kleinen Haus am Meer, in den
Dünen, male den ganzen Tag und kann davon
leben. Meine Frau ist vor fünf Jahren gestorben. An
Krebs.
Magda hat sie geheißen.
Ab und zu besucht mich unsere Tochter Salome
mit ihrer Tochter Elena.
Ich lebe ein ruhiges Leben. Jede Woche fahre ich
ins Dorf und kaufe ein. Selten fahre ich in die Stadt,
fünfzig Kilometer entfernt, gehe ins Kino,
gehe essen, freue mich, unter Menschen zu sein.
Ansonsten male ich.
Zum Malen ziehe ich über meine Kleider einen
Overall, den man „blauen Anton“ nennt. Ich trage
ihn nicht wegen der Farbe, sondern weil er
praktisch ist. Ich trage ihn fast den ganzen Tag.
Nur nicht, wenn ich an den Strand gehe.
Wir haben uns damals, vor Magdas Tod, überlegt,
wo wir hin sollen. In die Berge oder ans Meer.
Die Berge hätten uns auch gefallen. Aber wir haben
uns für hier entschieden, für Dänemark, für die
Nordsee.
Das Gute ist, dass Salome mich besuchen kommen
kann.
Nein, es ist nicht nur der Himmel,
weshalb für mich Glück blau ist.
Das Blau des Meeres kommt hinzu. Des nordischen
Meers mit seiner Nuance von Stahl, ein kimbrisches
Blau.
Das Glitzern und Funkeln an Landestegen, wenn
man sich anschickt, ein Boot zu besteigen.
Hochaufragende Fährdecks, Möwenschwärme,
flaggenbewehrte Kajen.
Aufbruch liegt in der Luft.
Verheißungsblau. Ferneblau.
Wenn die bunten Fahnen wehen.
Das sind Augenblicke, in denen ich glücklich bin.
Ich bin auch im Norden gewesen, wo
im dunklen Waldgrün die Seenaugen blitzen. Das
Land ein geschecktes Fell, ein Allerleirau, und oft
habe ich das Ineinander von Moosgrün,
Russischgrün und
Cyan, Chromblau gemalt.
Damals hatten wir eine Hütte,
Magda und ich,
und verbrachten einige Sommer dort.
Ich weiß noch, wie wir in den hellen Nächten, wenn
die Sonne nicht unterging, auf der Veranda saßen
und den Wäldern, den Seen lauschten.
Mit Magda konnte ich das.
In den Nächten hörte ich eine Stimme.
Unhörbar, die eine Nacht verkündete es
der anderen.
Es war für mich wie ein Versprechen.
Wenn ich es recht bedenke, gibt die Welt
immer noch Versprechen. Nur
glaube ich ihr nicht mehr.
Ach, vielleicht ist das Ganze auch
eine einzige Klage. Eine stille, nach innen gekehrte,
denn ich spreche kaum mit jemandem.
Außer mit Salome und ein paar Freunden an der
Küste. Vor ihnen würde ich nie klagen.
Ich habe keinen Grund zur Klage.
Ich habe mein Auskommen, sitze in keinem Büro
oder Bankschalter, niemand
gibt mir Befehle. Ich habe zu essen, ein Dach über
dem Kopf und bin nicht einsam.
Ich habe
keinen Grund zur Klage.
Und trotzdem muss ich, wenn ich
an das Glück denke,
mit dem Klagen beginnen.
Das scheint mir der
gemäße Ausdruck dafür.
Warum kann man in dieser Welt nicht dauerhaft
glücklich sein?
Warum sind die Menschen nicht glücklich?
Warum ist die Welt so eingerichtet,
dass Menschen unglücklich sind?
Warum gibt es überhaupt Unglück?
Haben wir alle an ein Versprechen geglaubt? Hat
man uns einen Floh ins Ohr gesetzt, den wir nicht
mehr loswerden?
Ich meine: Wozu das Ganze?
Ich habe ein schlichtes Gemüt.
Deshalb verstehe ich die Welt nicht.
Deshalb ist Glück für mich blau.
Im Blau lösen sich alle Fragen.
Es geht tief hinein, ins Herz der Welt
oder hoch über sie hinaus.
Es geht in Stille und Geborgenheit.
Es geht in Ruhe und Betrachtung.
Die Sehnsucht schweigt.
Der Mensch schweigt.
Alles ist einfach da.
Deshalb ist Glück für mich blau.
Ich male.
Ich sitze auf dem Hocker vor der Leinwand. Sie ist
aufgespannt und mit Nägeln festgezweckt. Sie ist
rau, der Pinselstrich bricht auf ihr. Aus der Palette
in meiner Hand duften die Farben, Firnis und
Leinöl, der ganze Raum ist davon erfüllt.
Die Farben sind geschmeidig, werden mit dem