Ein Forschungsprojekt, das eine neuartige Energiegewinnung verspricht, im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Wirtschaft – ein Wissenschafter, der sich in unterschiedlichen Wirklichkeiten bewegt und darüber in Zweifel gerät – die industrielle Arbeitswelt mit ihrem Mangel an Lust und ihrem fehlenden Bezug zur Natur – die Begegnung mit den USA ... Das sind Elemente, die in diesem Roman vernetzt werden und die ihn so lesenswert machen, dass er neu aufgelegt wird.

Andreas Pritzker, geboren 1945, ist Schweizer, Physiker und Schriftsteller. Bisher sind von ihm erschienen: „Filberts Verhängnis“ (Roman, 1990), „Das Ende der Täuschung“ (Roman, 1993), „Eingeholte Zeit“ (Erzählung, 2001), „Die Anfechtungen des Juan Zinniker“ (Roman, 2007) sowie „Allenthalben Lug und Trug“ (Roman, 2010). Er war Mitherausgeber des REFUNA-Jubiläumsbuchs „1/3 Technik, 1/3 Politik, 1/3 Psychologie” (2004) und verschiedener Texte in erzählter Geschichte. Zudem hat er in Zusammenarbeit mit Zeitzeugen die „Geschichte des SIN” (2013) verfasst.

Umschlagbild: Thomson-Parabelspektrograph des Autors am Schweizerischen Institut für Nuklearforschung (SIN), 1983.

Dieses Buch erschien erstmals 1993. Für die zweite Ausgabe, die der munda-Verlag in Brugg (Schweiz) 2004 veröffentlichte, wurde der Text vom Autor überarbeitet.

Neuausgabe:

© 2014 Andreas Pritzker

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt (D)

ISBN 978-3-7357-6639-7

1

Adam Schreiner kam es vor, als sei ihm beim Erwachen, in der Unbestimmtheit der Morgendämmerung, etwas entglitten und davon geschwebt. Wie ein Traumbild, an das er sich noch lange festgeklammert hatte. Nun fühlte er sich dem gewohnten Geschehen entrückt. Als ob die Verbindungsfäden zwischen ihm und den Kräften, welche die Welt bewegten, gerissen wären.

Er blickte in den Spiegel und wunderte sich, dass der Mann, der da voll Zweifel zurück starrte, er selbst sein sollte. Er würde diesen Mann in den kommenden Tagen beobachten, registrieren, was er unternahm und aus welchen Überlegungen er dies tat. Wie er seine Pflichten erfüllte, die keine eigenen Ziele darstellten. Ein Teil von ihm – heute Morgen entstanden – würde die Szene wie ein Kameramann betrachten, nicht unmittelbar, sondern durch ein optisches Gerät. Das ihm nicht nur ermöglichte, beliebige Einstellungen des Szenenbildes vorzunehmen, sondern das Bild noch aufzeichnete.

Gestern hatte ihn Schönholzer zu sich gerufen. Ohne anzudeuten, worum es ging. Nur: Er solle alles liegen lassen und sich beeilen. Schreiner merkte gleich, dass etwas in der Luft lag. Er versuchte, von Schönholzers Assistentin Näheres zu erfahren. Sie zuckte nur mit den Schultern und lächelte ermutigend. Da riss Schönholzer bereits die Tür auf und zerrte Schreiner in sein Büro.

„Dein Projekt wird von der amerikanischen Energiebehörde begutachtet, Adam. Und du sollst dabei sein. Morgen reist du ab. Alles Weitere wird dir der Präsident bekannt geben. Er will dich sogleich sehen. Unter vier Augen. Adam, das ist deine Chance. Wer hat schon das Glück, vom höchsten Mann empfangen zu werden. Mir hat er ein einziges Mal die Hand geschüttelt, als er die Labors besichtigte. Mach uns keine Schande, Adam. Bleib ruhig, äussere dich knapp und klar und nur, wenn gefragt.“

Rückblendend sah sich Schreiner mit dem separaten Lift ins sonst unerreichbare elfte Stockwerk des gläsernen Turms emporschweben, von dessen Höhe aus das Werkgelände, überhaupt die ganze Welt, spielzeugartig erschien. Er dachte, es ist nicht mein Projekt. Ich verfolge die Arbeiten des Labors in Princeton und verfasse darüber Berichte an die Konzernleitung.

Schreiner hatte den Präsidenten bisher nur auf Fotos gesehen. Aus der Nähe wirkte der Mann grau und unscheinbar. Aber als er sprach, spürte Schreiner die Kälte der Macht und die Fähigkeit, den Menschen seinen Willen aufzuzwingen.

„Sie wissen, dass mir dieses Projekt sehr wichtig ist. Ich habe es ausgewählt, weil es nicht nur gewinnträchtig, sondern auch publikumswirksam ist, und das kann man leider nicht von allen Projekten unserer Forschung und Entwicklung sagen. Deswegen kümmere ich mich persönlich darum. Ich habe alle Ihre Berichte gelesen. Ihr Glück, dass sie knapp und klar schreiben, sonst sässen Sie jetzt nicht hier. Nun, Sie werden mir nicht nur über die Begutachtung berichten, sondern dabei aktiv unsere Interessen vertreten. Wir haben bislang zehn Millionen investiert, und weil wir zurzeit finanziell nicht besonders gut dastehen, brauchen wir Geld von Dritten. Das heisst, das Gutachten muss positiv heraus kommen. Sie reisen morgen ab. Somit bleibt Ihnen eine Woche um die Gutachter zu bearbeiten. Sie finden sie auf der Liste hier. Kennen Sie jemanden?“

Schreiner stockte der Atem. Was der Präsident forderte, war ihm zutiefst zuwider. Er versteckte seinen Gesichtsausdruck hinter der Liste und musterte die Namen. Dann schüttelte er den Kopf.

Der Präsident fuhr fort.

„Universitätsprofessoren, nicht wahr? Ich kann mit diesen Akademikern nichts anfangen. Sie kümmern sich nicht darum, wie das Geld erarbeitet wird, von dem sie leben. Aber Sie sind selbst ein Wissenschafter und finden bestimmt den richtigen Ton. Bringen Sie denen bei, wie die Welt tickt. Sagen Sie denen, es seien genau solche Erfindungen, welche die Industrie von der Wissenschaft braucht, nicht Gespinste aus dem Elfenbeinturm. Treten Sie überzeugend auf, der Konzern steht hinter Ihnen. Und sprechen Sie vor der Abreise noch mit Professor Franzotti. Sein Urteil können Sie drüben ebenfalls in die Waagschale werfen. Wozu sonst halten wir uns diesen teuren Berater? Nötigenfalls holen Sie Hilfe bei unserem Vertreter in New York. Kennen Sie ihn? Er heisst Rudloff und weiss, wie man Einfluss nimmt. Haben Sie begriffen, worum es geht?“

Schreiner nickte. Er begriff vor allem, dass der Präsident ein Mensch war, der genau wusste, was er wollte. Im Gegensatz zu ihm selbst. In der Forschung ging er zwar zielgerichtet vor. Was er im Leben erreichen wollte, war ihm jedoch unklar. Schreiner wurde gelebt.

Der Präsident sprach schon weiter.

„Und dann schreiben Sie mir umgehend einen Bericht über die guten Erfolgsaussichten des Projekts. Doch denken Sie daran: auch für die Juristen im Verwaltungsrat verständlich. Selbst wenn die amerikanische Energiebehörde Ja sagt, werden wir einen weiteren Beitrag leisten müssen. Ach, und tun Sie mir einen Gefallen. Statten Sie John Frost einen Höflichkeitsbesuch ab, er ist für uns ein wichtiger Partner.

Sie kennen ihn, hat man mir gesagt. Bringen Sie seiner Gattin einen teuren Blumenstrauss mit, in meinem Namen. Nun, sie war früher eine sehr attraktive Frau. Viel Glück, Schreiner, und enttäuschen Sie mich nicht. In Ihrem eigenen Interesse. Bei diesem Projekt akzeptiere ich keinen Misserfolg. Sollte die Begutachtung schief gehen, bin ich, und das müssen Sie sich merken, keineswegs sicher, ob wir Sie weiterhin in unserer Forschung beschäftigen können.“

Schreiner spürte Protest in sich aufwallen. Doch bevor er sich genügend gesammelt hatte um sich zu äussern, hatte ihn der Präsident bereits verabschiedet. Als er durch das betriebsame Werkgelände zu den Forschungspavillons schritt, war er noch ganz benommen vom Treffen mit dem Mann, der es in der Hand hatte, mit wenigen Worten eine Angelegenheit der Firma zu einer persönlichen für Schreiner zu machen. Bevor er den Laborbau betrat, blickte er unsicher zurück zum Glasturm, der dunkel in den milchigen Himmel ragte.

Heute Morgen fühlte er sich auf ungewohnte Weise losgelöst. Die Drohung des Präsidenten hatte ihm den Boden unter den Füssen weggezogen und ihn in einen unsicheren Schwebezustand versetzt. Sie hatte den Faden, der ihn bisher ohne Unterbruch von der Vergangenheit in die Zukunft geleitet hatte, entzwei gerissen. In dieser Lage wäre Schreiner nicht imstande gewesen, sich bei Professor Franzotti anzumelden. Nur gut, dass er das Treffen schon gestern vereinbart hatte. Ungern zwar. Der Professor übte auf ihn eine ermüdende Wirkung aus. Er führte im Auftrag der Alcoswiss komplizierte Berechnungen durch. Schreiner fand, Franzotti hätte ruhig mitreisen und seine nicht einfach zu beschreibenden Arbeiten selbst verteidigen dürfen. Doch hatte der von fern ins Telefon gelacht und abgewehrt: „Ach wissen Sie, für so lange Flüge bin ich einfach zu alt.“

Es war ein kühler, grauer Novembermorgen mit tief hängenden Wolken und wiederkehrenden Regenschauern. Das physikalische Labor der Universität stand hell erleuchtet da, auch wenn sich in den Korridoren niemand blicken liess. Nur das gedämpfte und monotone Summen ständig arbeitender Apparaturen lag in der Luft.

„Kommen Sie, kommen Sie“, rief Franzotti aus, in der Türe seines Büros stehend, ergriff Schreiner am Arm und zog ihn ins Zimmer, „mein Assistent ist auch schon hier, gleich lassen wir Kaffee kommen, Sie nehmen doch eine Tasse, wir werden Ihnen unsere Resultate vorlegen, die sind interessant, sogar hochinteressant, ich hoffe, Ihre Firma wird zufrieden sein, auch wenn sie nicht gerade günstig aussehen, muss ich sagen, aber wir werden schliesslich von Ihnen für die Richtigkeit der Resultate bezahlt und nicht dafür, dass sie günstig aussehen.“

Auf einem Tisch stapelten sich vom Rechner ausgedruckte Listen und Diagramme. In ihnen begann Franzotti fahrig zu blättern, wobei er Schreiner hier auf eine Zahlenreihe, dort auf eine Figur aufmerksam machte. Der Assistent sass geduldig daneben und schwieg. Die Rechnungen waren sein Werk. Endlich durfte der junge Mann Schreiners Fragen beantworten. Er tat es dankbar und bemühte sich eifrig, auch ein wenig zur Geltung zu kommen.

„Und wie beurteilen Sie das Projekt insgesamt?“ fragte Schreiner zum Schluss.

Franzotti gab dem Assistenten keine Gelegenheit zur Antwort.

„Nun, zum jetzigen Zeitpunkt möchte ich mich keinesfalls festlegen. Ich gehöre nicht zu jener Sorte von Kollegen, die bereits mit ihren vorläufigen Erkenntnissen hausieren gehen. Wir müssen unbedingt unsere Studien vertiefen – ich hoffe doch, Ihre Firma verlängert unseren Beratungsauftrag. Sagen wir, die Chancen sind vielleicht nicht überwältigend hoch, aber die Neuartigkeit der Idee lohnt den Einsatz. Diese Aussage können Sie ruhig zitieren. Übrigens, darf ich Sie um einen Gefallen bitten? Ich habe vor Jahren in den USA eine Funkanlage gekauft und benötige ein Ersatzteil dafür, dessen Beschaffung von hier aus recht teuer und umständlich ist. Seien Sie doch so lieb und besorgen Sie mir das Ding, hier haben Sie die Umschreibung sowie die Adresse eines Geschäfts ganz in der Nähe Ihres Reiseziels. Und nun lassen Sie uns auf ein wollendes Urteil für das Projekt hoffen.“

Franzotti schüttelte ihm hingebungsvoll die Hand, er wollte nicht aufhören damit, und Schreiner war erleichtert, als er die verbindenden Finger endlich zurückziehen konnte.

Er fuhr nach Hause.

Aus Unlust hatte er das Packen bis jetzt hinausgezögert. Stets konnte er sich erst im letztmöglichen Augenblick dazu aufraffen. Nun erledigte er es in kürzester Zeit, indem er den Koffer geöffnet aufs Bett legte und, im Geist seinen üblichen morgendlichen Verrichtungen folgend, alles hineinwarf, was er für den Alltag brauchte. Anna pflegte ihn wegen dieser und ähnlicher Methoden einen systematischen Menschen zu nennen (wie er umständlich eine Kanne Tee zubereitete, sich sorgfältig, Hautstreifen um Hautstreifen drannehmend, rasierte oder die von der übrigen Familie irgendwo ins Gestell geschobenen Schallplatten chronologisch einordnete). Allerdings war er nicht sicher, ob sie das anerkennend meinte. Eher glaubte er, aus ihrer Bemerkung einen spöttischen Unterton herauszuhören.

Auch den Kriminalroman auf seinem Nachttisch vergass er nicht. Schreiner las Kriminalromane. Ihm fiel ein, dass Anna ihn gestern Abend wieder einmal aufgefordert hatte, endlich einmal etwas Vernünftiges zu lesen. Im ersten Augenblick wusste er darauf nichts zu entgegnen. Dann hatte er nachgedacht und war zum Schluss gekommen, dass die Welt der Menschen von hintergründigen Untaten geradezu durchzogen war und die Vorstellung wohl tat, es werde wenigstens literarisch Ordnung hergestellt. Ausserdem interessierte ihn als Wissenschafter der Vorgang der Aufdeckung.

„Gib doch zu, es gibt keine menschliche Konstellation, die nicht nach Aufdeckung verlangen würde. Ausgehend von allzu spärlicher oder allzu reichlicher Information, das macht den Vorgang anspruchsvoll. Der Nachweis der Schuld, die Urteilsfindung: immer sind sie unsicher und von den Verhältnissen beeinflusst. Denk nur an die Begutachtung, der ich entgegenblikke.“

Anna hatte lachend den Kopf geschüttelt und war in die Küche gegangen.

Er schloss den Koffer, dem der häufige Gebrauch anzusehen war. Mit zunehmendem Alter fielen ihm solche Reisen immer lästiger. Der Reiz des in der Welt Herumkommens war längst verflogen. Er fühlte sich mit Boston, Los Angeles, Oxford und neuerdings auch mit Städten wie Tokio und Seoul schon bis zum Überdruss vertraut. Wenn sich die Reisen häuften, beklagte sich seine Familie. Von ihr hatte er sich am frühen Morgen verabschiedet. Anna – sie hatte vor zwei Jahren wieder eine Stelle als Bibliothekarin angenommen – war zur Arbeit gefahren, seine Tochter an der Universität, sein Sohn am Gymnasium. Wie jeden Tag.

Es kam selten vor, dass er sich an einem gewöhnlichen Vormittag allein in der Wohnung befand, der ungewohnten Stille ausgesetzt. Mattes Licht drang durch die Tüllvorhänge. Die Gegenstände schienen ihm mit einem Mal wie gestellt, gemäss einer bestimmten, dem Blick verborgenen Ordnung. Heute Morgen kam ihm die vertraute Szene so fremd vor wie die Wirklichkeit einer Theaterbühne. Wenn er sich umschaute, sah er eine Menge von Geräten der Unterhaltungselektronik; ein Gestell mit zweihundert Schallplatten; eine Bücherwand mit rund sechshundert Bänden. Beinahe schon intellektuell, der statistisch ermittelte Schweizer Leser besitze kaum hundert Bücher, pflegte Anna zu bemerken. Sie hatte die Bücher ausgesucht und gelesen. Seine Kriminalromane waren in den Korridor verbannt, neben die Tür zum Bad. Sein Blick glitt über einige künstlerische Handarbeiten, bei Gelegenheit gekauft; exotische Zimmerpflanzen; das Saxophon seines Sohnes David, griffbereit in einem Metallständer. Die Wohnung war angenehm temperiert.

Sein ganzes Leben schien ihm plötzlich aufwendig und vielfältig, alles andere als einfach. Eigentlich zu aufwendig und zu vielfältig. Und wozu? Der antike Weise solle seinen ganzen Besitz auf sich getragen haben, hiess es. Jedenfalls musste Schreiner all dies zurücklassen, wenn sein Flugzeug von einer Bombe zerrissen oder wenn er in den USA auf offener Strasse erschossen wurde. In der heutigen Zeit drängten sich derartige Gedanken unwillkürlich auf. Die Ängste der Menschen wurden von den täglichen Nachrichtensendungen gesteuert. Dagegen konnte er nichts unternehmen. Dieser Situation waren alle ausgeliefert.

Er bestellte ein Taxi zum Flughafen und nahm sein Gepäck auf. In zwei Wochen werde ich wieder hier sein, redete er sich ein, als er die Wohnungstür abschloss.

Die Maschine nach New York, ein weisser Riesenvogel ohne scharfen Schnabel, startete pünktlich. Mit leichtem Schütteln durchpflügte sie die wattige Wolkendecke und tauchte in die zeitlose, silbrige Helle empor. Nachdem die Flughöhe erreicht war, wurde eine Mahlzeit serviert. Eigentlich hatte Schreiner keinen Appetit. Er nahm das Tablett dennoch entgegen. Immerhin half ihm das ausgeklügelte Programm von Portionenpackungen, die Zeit zu vertreiben. Bedeutete doch ein Überseeflug nichts anderes als einigen Stunden Haft ausgeliefert zu sein. Rational betrachtet erwies sich nämlich der Unterschied zwischen zehn Stunden Atlantikflug in einem voll gepackten Grossraumflugzeug und (als Beispiel) zehn Stunden Polizeihaft in einer voll gepackten Zelle als geringfügig. Warum wurde er dennoch als grundsätzlich empfunden? Weil die Bewertungen, die sich die Menschen zurechtlegten, nicht auf die Welt, sondern auf sie selbst abgestimmt waren. Weil sie die Welt nicht unbeteiligt betrachteten, sondern ihre Empfindungen dazwischenschalteten. Diese Tatsache war die Grundlage aller Missverständnisse.

Er malte sich aus, wie Anna ihn mit fröhlichem Augenzwinkern anblickte und provozierend fragte, wie er sich das vorstelle? Ob er etwa die Möglichkeit der menschlichen Verständigung leugne? Das nicht gerade, würde er erwidern. Doch seien die Menschen geprägt von den Konstellationen auf der Bühne des Daseins, seien diese nun dauerhaft oder vom Alltag vorübergehend hingewürfelt. Von da aus beurteilten sie alles, und innerhalb seiner eigenen Wirklichkeit habe jeder Recht. Es gehe darum, die Fäden zu erkennen zwischen dem, wie jemand leben muss und dem, was er glaubt.

Hatte er damit die Menschen verstanden? Oder gab es noch tiefer reichende Beweggründe, die sich hinter diesen Wirklichkeiten verbargen? Sie müssten so elementar sein wie die Kräfte der Physik, und er konnte nur vermuten, dass es sich um so etwas handelte wie die sieben katholischen Todsünden, welche die Menschen kräftig antrieben.

Gleichmässig dröhnend zog die Flugmaschine dahin. Schreiner blickte durchs Fenster. Das ganze derzeitige Gesichtsfeld war von einem dünnen Eiswolkenschleier überzogen. Vollkommen amorph. Die Verbindung zur bodenständigen Welt war abgebrochen.

Er nahm einen technischen Bericht zur Hand, dessen Lektüre er sich vorgenommen hatte um den lästigen Aktenberg auf seinem Schreibtisch abzubauen; konnte sich aber nicht konzentrieren. Sätze wie „die Spallationsneutronenquelle für die Erforschung der kondensierten Materie wurde als interessante Neuentwicklung im Bereich Neutronenquellen ohne nukleare Kettenreaktion konzipiert und bot sich an, weil eine Erhöhung des Zyklotron-Strahlstroms ohnehin geplant war“ vermochten gerade jetzt nicht, in seinem Bewusstsein Anker zu werfen.

Er lehnte sich zusammen mit der Sitzlehne zurück und bestellte bei der Stewardess ein Getränk. Er dachte an die kommenden Tage. An die Drohung des Präsidenten. Und daran, dass er in eine Vergangenheit zurückkehrte, an die er sich lange nicht erinnert hatte. Als dieses Projekt angelaufen war, hatte er im Auftrag der Alcoswiss zwei Jahre am Labor in Princeton gearbeitet. Ihm fiel sofort ein, dass er stets unerwünscht gewesen war. Was erwartete ihn? Es ging um seine Zukunft. Ach was! Es machte keinen Sinn, die Situation im Voraus zu erdenken. Er begann, zu dösen.

Es war achtzehn Uhr mitteleuropäischer Zeit, als die Maschine über Neufundland hinweg flog. Doch die Zeitangabe hatte ihre Verbindlichkeit verloren. Er sah sich schweben zwischen der Zeit auf seiner Armbanduhr (auch seiner inneren, biologischen Uhr) und jener ausserhalb des Flugzeugs, gekennzeichnet durch das gleissende Licht des frühen Nachmittags. Der Sinkflug setzte ein, und eine freundliche weibliche Stimme bat die Insassen, sich anzuschnallen.

Schreiner konnte nördlich von Cape Cod die geschichtsträchtige Bucht ausmachen, in der die Mayflower einst gelandet war. Ebenso den Kanal, dessen silbriges Band Cape Cod vom Festland trennte. Und wenig später die riesigen Brücken über die Narragansett Bay. Das menschliche Ameisenvolk weit unter ihm schuf unermüdlich Abkürzungen. In jener Wirklichkeit, die den Gesetzen der Ökonomie unterworfen war, wurden Berge durchstochen und Gewässer überbrückt um auf direktestem Weg ans Ziel zu gelangen. In unzähligen anderen Wirklichkeiten, regiert von Ritualen, die den Menschen Halt gaben, war der bevorzugte Weg zum Ziel allerdings selten direkt.

Mit der unter ihm dahinfliegenden Landschaft war Schreiner vertraut. Ihm kam unvermittelt jenes Oktoberwochenende in den Sinn, als nach langer Regenzeit das Wetter über Nacht umgeschlagen hatte: der Samstagmorgen strahlend, klar und rein gewaschen, in der Luft eine Stimmung, die ihn bewog, Anna und den Kindern am sonnenbeschienenen Frühstückstisch vorzuschlagen, der Küste entlang nach Norden zu fahren. Einfach so, ungeplant, ein bisschen verwegen. Ausgerechnet die Kinder weigerten sich, mitzukommen.

„Ach komm, Vati, vergiss es. Wir sind zu einer irrsinnigen Party eingeladen. Was glaubst du, wie viele Mädchen mich darum beneiden. Und David muss einfach mitkommen, weil sie da ein Tischtennisturnier veranstalten. Und übrigens muss ich schon sagen, wir sind grundsätzlich gegen diese sinnlose Wochenendraserei“, erklärte Ruth. Und David, hingerissen von seiner älteren Schwester, unterstützte diese bedingungslos. Schreiner fügte sich und fuhr mit Anna allein los.

Die Autobahn führte im Landesinnern durch bunt leuchtende Herbstwälder. Manchmal durch alte, einst von Feuer und Erde errichtete, inzwischen von Wasser und Luft wieder abgetragene Felsbarrieren. Unberührt das Land ausserhalb der menschlichen Siedlungen. Schreiner, am Steuer seines kraftvoll ziehenden Pontiac, genoss die freie Fortbewegung bei nur dünn rieselndem Verkehr.

Gegen Abend fuhren sie bei bläulichem Licht der Küste entgegen und entdeckten einen kleinen Hafenort mit weiss gestrichenen Häusern.

„Sie sind unsere einzigen Gäste“, bemerkte die ältere Inhaberin des auf einem Felsvorsprung über dem Meer gelegenen Hotels in ihrem Wohnzimmer, das ihr als Büro diente.

„Die Nacht wird sternenklar und kalt, Sie nehmen besser diese mit“, sagte sie und händigte ihnen zusätzliche Wolldecken aus.

Schreiner erinnerte sich, damals eigenartig berührt gewesen zu sein. Wie wenn er in eine andere Welt eingedrungen wäre. Der Ort war bar jeder Hektik gewesen. Hier lief die Zeit langsam ab und blieb zuweilen stehen. Zeitlos der Stil der Holzhäuser, welche die Hafenbucht säumten. Seit Jahrhunderten mischten sich in der klaren, frischen Luft der Salzgeruch des Meeres und der Rauch von abendlichen Kaminfeuern. Dorfbewohner standen herum und plauderten. Keine Fahrzeuge unterwegs. Der schadhafte Strassenbelag ging mit ausfransenden Rändern in sandige Gehwege über, in seinen ebenfalls sandigen Löchern wuchsen Büschel eines gelblichen, harten Grases. Bei genauem Hinsehen offenbarten sich das Abblättern der Farbanstriche der Häuser und die Risse in den Fliegengittern vor den Fenstern. Doch war diese Vernachlässigung nicht als Zeichen von Armut, sondern von Genügsamkeit zu verstehen. Ein bescheidenes Leben, so ursprünglich wie die Namen, welche die indianische Urbevölkerung dem Land hinterlassen hatte.

Das einzige Restaurant am Ort hiess Fishmonger’s Café. So stand es in farbigen Buchstaben auf einer über dem Eingang befestigten Planke. Drinnen wurde ihnen an einem rohen Holztisch eine einfache, schmackhafte Mahlzeit aus gekochtem Heilbutt serviert. Als sie das Restaurant verliessen, war die Nacht hereingebrochen. Der Himmel sternenklar. Schwache Reflexe schimmerten auf der still daliegenden Meeresoberfläche. Die Küstenlinie setzte sich im Dunkel als schwarze Masse fort. Über dem Ort blinkte ein Leuchtfeuer.

Unterwegs in einer Linienmaschine der neuesten Bauart, auf einer Luftstrasse, die auf direktem Weg von einem Wirtschaftsraum zum andern führte, sah Schreiner die damalige Szene scharf umrissen vor sich. Irgendetwas war in seinem Leben gründlich falsch gelaufen, sodass er nun zu den Menschen zählte, deren Alltag nichts als hektische Betriebsamkeit war mit dem Zweck, unaufhörlich scheinbar weltbewegende Pläne in die Tat umzusetzen.

Er verfolgte durchs Fenster, wie die Flugmaschine durch ein Wolkenfeld auf Long Island hinab sank und landete. Die Luft in New York war sehr kalt und trocken, seine Nase fühlte sich an, als ziehe sie sich von innen zusammen. Nach kurzem Warten holte ihn der Pendelbus der Autovermietung ab. Der schwarze Chauffeur trug eine voluminöse Schirmmütze und schenkte ihm ein offenes, amerikanisches Lächeln. Er brachte ihn, mit dröhnender Stimme Spirituals vor sich hin singend, zum Mietwagenparkplatz. Unterwegs beobachtete Schreiner seinen Koffer, der auf der Gepäckplattform herumrutschte. Fällt er zu Boden oder bleibt er stehen? Den Trägheitskräften ausgeliefert. Wie sein Besitzer.

Kaum eine Stunde nach der Landung war er auf der Autobahn unterwegs. Sie hatten ihm als Wagen einen Maverick zugeteilt. Dieser Ausdruck für ein herrenloses Rind schien ihm für einen Mietwagen ausgesprochen passend. Es begann ihn die Wirklichkeit des fremden Landes aufdringlich zu umfangen. Auf der Strasse dichter Verkehr. Alle diese Menschen waren in irgendeinem Auftrag unterwegs, als Rädchen jener hintergründigen, alles erfassenden Maschinerie, die Gott abgelöst hatte. Er fuhr der sumpfigen, mit Schilf bestandenen Küste der Jamaica Bay entlang, dann durch die Backsteinblocks von Südbrooklyn, überquerte die Verrazano Brücke und gelangte über Staten Island aufs Festland, wo er die Autobahn in südlicher Richtung nahm.

Die Fahrt war ihm vertraut, doch erblickte er heute die in dieser Gegend konzentrierte Superinfrastruktur wie durch eine Filmkamera. Er überlegte, dass die Millionen Tonnen Beton und Stahl, verbaut in Form von Brücken, Hochhäusern und zwölfspurigen Autostrassen, irgendwo gigantische Kieswerke, Zementwerke, Stahlwerke erforderten und Zeugnis ablegten von menschlicher Produktionswut. Die Menschen schienen süchtig nach Vermehrung zu sein, und wo sie nicht in der Lage waren, Güter zu produzieren, erzeugten sie Menschen. Es musste sich um eine grundsätzliche Veranlagung handeln, die keine Genügsamkeit zuliess.

Das von seinem Vorgänger eingestellte Programm am Autoradio verströmte gute Laune und ein Gefühl von Leichtigkeit. Nachdem er einige Zeit zügig vor sich hin gefahren war, wurde das Land parkartig. Er näherte sich dem Städtchen Princeton, dem Ziel seiner Reise. Am Ende hielt er vor einem Motel namens „Woodland Inn“, in dem das firmeneigene Reisebüro ihm ein Zimmer reserviert hatte.

Der Name hatte nichts mit der Wirklichkeit zu schaffen. Es erstreckte sich an der einen Seite des zweckmässig gebauten Blocks bloss ein dünnes Laubwäldchen, und über das Gelände verstreut standen ein paar entblätterte Zierbäume. Sein Zimmer lag im Obergeschoss, an der Rückseite. Schreiner wunderte sich über die Enge der Treppe, die ihn mit dem Koffer überall anecken liess. Er hatte sich an ein Leben gewöhnt, in dem er nirgends aneckte. Von oben überblickte er das für den Winter trockengelegte Schwimmbassin, in dem sich Unrat und dürres Laub sammelten, sowie eine Siedlung von normierten Backsteinwohnhäusern. Dahinter die Idylle eines ehemals schiffbaren Kanals, der, von Weiden gesäumt, den Sportruderern der Universität von Princeton als Übungsstrecke diente.

Im Zimmer warf er das Gepäck auf eines der beiden Doppelbetten und nahm eine Dusche. Aussen prickelte das laue Wasser angenehm auf seiner Haut. In seinem Innern prickelte die Neugier des Zurückkehrenden. So eingestimmt fuhr er zum Labor der CERO, das unweit seines Motels lag.

Schreiner war dabei gewesen, als der frühere Alcoswiss-Vertreter Feininger von seinem engen, papierübersäten Büro in Manhattan aus die CERO in diesem ausgedehnten, nicht mehr genutzten Fabrikareal am Rand von Princeton eingemietet hatte. Schreiner gehörte zum Gefolge des Präsidenten, der eigens nach New York gekommen war, um mit der CERO einen Vertrag abzuschliessen. Der Präsident erklärte sich überzeugt, dass das Projekt der CERO sich in kürzester Zeit mit einem Riesengewinn vermarkten lasse.

Dessen Erfinder sei ein echter Pionier. Man denke bei ihm unweigerlich an Edison, aus dessen Genie sich der General Electric-Konzern entwickelt habe. So hatte es Schönholzer seiner Forschungsabteilung verkündet, und einige der jüngeren, noch nicht abgebrühten Wissenschafter hatten vehement genickt.

Schreiner war ausersehen, das Projekt für die Alcoswiss zu begleiten. Er war erfreut gewesen über die berufliche Abwechslung und gerne bereit, mitzuhelfen, den Skeptikern das Gegenteil zu beweisen.

Die CERO war von einem geschäftigen Physikprofessor namens Bomolkin ins Leben gerufen worden. Er sei imstande, mit wenig Geld – einigen Millionen, ein Bruchteil des amerikanischen Forschungsbudgets! – in allerhöchstens vierundzwanzig Monaten eine auf ganz neuen Ideen beruhende Anlage für die Gewinnung von Energie marktreif zu entwickeln. Doch glückte es ihm nicht, seine Universität von der Wichtigkeit oder Richtigkeit dieser Ideen zu überzeugen. Seine reiche Frau glaubte an ihn, auch ein Dutzend begeisterter Assistenten. Also nahm er seine Gefolgsleute mit und machte sich selbständig, sobald er einen finanzkräftigen Partner gefunden hatte. Und zwar die Alcoswiss.