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Epilog
Nachwort
Unter Verschluss
Adrenalin
@E.R.O.S.
12 Stunden Angst
Greg Iles wurde in Deutschland geboren, da sein Vater damals die medizinische Abteilung der Amerikanischen Botschaft leitete. Er verbrachte seine Jugend in Natchez, Mississippi. 1983 beendete er sein Studium an der University of Mississippi. Danach trat Greg Iles zunächst als Profi-Musiker auf, bevor er sich der Schriftstellerei widmete. Seine Bücher erscheinen inzwischen in 25 Ländern. Der überaus produktive Autor pflegt außerdem eine Leidenschaft für Filme. Der Autor lebt mit Frau und zwei Kindern in Natchez, Mississippi.
Ein dunkler Plan in einer noch dunkleren Zeit …
Im Januar 1944 halten vier Menschen das Schicksal der Welt in ihren Händen: ein amerikanischer Arzt, eine deutsche Krankenschwester, ein zionistischer Attentäter und eine junge jüdische Witwe. Im Auftrag des britischen Premierministers Winston Churchill sollen sie eine Mission erfüllen, die ihnen allen den Tod bringen kann.
In einem Gefangenenlager in Mecklenburg arbeiten die Deutschen fieberhaft an der Herstellung von Giftgas, dessen Einsatz den Krieg entscheiden soll. Die Briten verfügen ebenfalls über diese Wunderwaffe, und Churchills Plan ist einfach – aber auch perfide: Die vier Auserwählten sollen das britische Giftgas in dem deutschen Lager freisetzen und die Pläne der Nazis zunichtemachen – ohne Rücksicht auf die zumeist jüdischen Gefangenen …
Spannung pur – ein fesselnder historischer Thriller von Greg Iles und laut Autor sein bestes Buch!
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
Greg Iles
Schwarzer Tod
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von
Wolfgang Thon
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1995 by Greg Iles
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Black Cross
All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.
This edition published by arrangement with Dutton, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2015/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven
© oraziopuccio/AdobeStock; carstenbrandt/iStock; Jewelsy/iStock; © Silas Manhood
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-1028-2
be-ebooks.de
lesejury.de
Für
Betty Thornhill Iles
und
alle Frauen und Männer,
die ihr Leben für den Kampf
der Alliierten geopfert haben.
Vielen Dank an Natasha Kern, eine »Super«agentin im wahrsten Sinne des Wortes.
Vielen Dank auch an Elaine Koster, eine Verlegerin, die den Mumm hat zuzulassen, dass ihre Autoren die Regeln verletzen.
Mein besonderer Dank gilt John Grisham.
Und Edward Stackler, einem großartigen Lektor und Meister des POV!
Für ihre Hilfe bei den Recherchen bedanke ich mich bei:
Schottland: Colin Maclean und Beryl Austin; London: Folly Marland, Stuart Hamilton und dem Imperial War Museum, Peters Simkins; Washington D.C.: David Kasmier; Portland OR: Oriana Green, Novato CA: Dale Wilson.
Medizinische Ratgeber: Jerry Iles, M.D., Michael Bourland, M.D., Noah Archer, M.D., Barry Tillman, M.D., David Steckler, M.D.
Elektronik: Marlon Copeland, Howard Wooten.
Sprachen: Toos S. Nooijen, Jean-Claude Coulerez, Susan Callon, Christof Schauwecker, Gloria Glickstein Brame.
8th US Air Force: Austin Ingels, Donald Toye.
Judaica: Jerry Gross, Louis DeVries, Ronald E. Stackler.
Schottische Politik: Diana Gabaldon.
Vielen Dank an Jeff Walker für seine teuflischen Plottips.
Vielen Dank auch an Geoff Iles für seinen brüderlichen Rat.
Ruhm gebührt auch den Profis bei Dutton/Signet.
Korrekturleser: Betty Iles, Courtney Aldridge, Mary Lou England.
Das »Wir-halten-deine-Bessenheit-aus«-Committee: Carri und Madeline.
Für alle Fehler übernehme ich allein die Verantwortung.
Es gibt einen geheimnisvollen Zyklus in der menschlichen Geschichte.
Manchen Generationen ist viel gegeben.
Von anderen Generationen wird viel erwartet.
Diese Generation hat ein Rendezvous mit dem Schicksal.
Franklin Delano Roosevelt
Es ist merkwürdig, wie oft der Tod eher einen Anfang denn ein Ende markiert. Wir kennen Menschen seit zehn, zwanzig Jahren oder länger. Wir sehen sie jeden Tag. Wir reden, lachen und streiten mit ihnen; wir glauben zu wissen, wer sie sind.
Dann sterben sie.
Im Tod nehmen die Eindrücke, die man im Laufe eines ganzen Lebens bekommen hat, endgültig Gestalt an. Die Bilder werden schärfer. Neue Tatsachen kommen ans Licht. Safes werden geöffnet, Testamente verlesen. Aus der Distanz erkennen wir endgültig, dass die Menschen, die wir zu kennen glaubten, in Wirklichkeit ganz anders waren, als wir sie uns vorgestellt hatten. Und je näher wir ihnen gestanden haben, desto schockierender ist diese Erkenntnis.
So war es bei meinem Großvater. Er starb eines gewaltsamen Todes, und das in aller Öffentlichkeit. Die Umstände waren so außergewöhnlich, dass darüber dreißig Sekunden lang landesweit in den Abendnachrichten berichtet wurde. Es geschah letzten Dienstag in einem Rettungshubschrauber, der von Fairplay, Georgia, der kleinen Stadt, in der ich geboren wurde und aufgewachsen bin, in das Emory University Hospital in Atlanta unterwegs war. Dort arbeite ich als Arzt in der Notaufnahme. Mein Großvater ist im Schwesternzimmer zusammengebrochen, während er gerade seine Visite im Krankenhaus von Fairplay machte. Tapfer hat er den schrecklichen Schmerz im unteren Rückenbereich ignoriert und sich von einer Schwester Blut abnehmen lassen. Nachdem man ihm die Werte gesagt hatte, hat er eine korrekte Diagnose gestellt, nämlich eine geplatzte, krankhaft erweiterte Hauptschlagader. Ihm war klar, dass er ohne eine sofortige Notoperation sterben würde.
Mithilfe zweier Schwestern konnte er gerade noch so lange telefonieren, um den MedStar Hubschrauber aus dem vierzig Meilen entfernten Atlanta zu alarmieren. Meine Großmutter bestand darauf, an seiner Seite zu bleiben, und der Pilot hat zögernd nachgegeben. Normalerweise ist das nicht erlaubt, aber in der Medizinergemeinde von Georgia kannte so ziemlich jeder meinen Großvater: einen ruhigen, doch ungeheuer hoch angesehenen Lungenspezialisten. Außerdem war meine Großmutter keine Frau, der Männer zu widersprechen wagten. Niemals.
Zwanzig Minuten später ist der Hubschrauber auf einer ruhigen Straße in einer Vorstadt von Atlanta aufgeschlagen. Das war vor vier Tagen, doch man weiß noch immer nichts über die Absturzursache. Es war wohl eines dieser verrückten Dinge, glaube ich. Sie nennen das gern Pilotenfehler. Mir ist es jedoch wirklich egal, wessen Fehler es gewesen ist, und ich will auch niemanden vor Gericht zerren. So eine Familie sind wir nicht oder vielmehr waren wir nicht.
Der Tod meiner Großeltern hat mich besonders hart getroffen, weil sie mich seit meinem fünften Lebensjahr aufgezogen haben. Meine Eltern sind bei einem Autounfall in den 70er-Jahren ums Leben gekommen. Ich habe wohl ein mehr als gerüttelt Maß an Tragödien miterlebt. Und es geht immer weiter. Jeden Tag und jede Nacht ist die Unfallambulanz voll davon, und sie hinterlassen eine Spur von Blut, Kokain, Whiskyatem, verbrannter Haut und toten Kindern. So ist das Leben. Ich schreibe das nieder, um die Geschehnisse bei der Beerdigung besser erklären zu können. Oder genauer: wegen der Menschen, die ich bei der Beisetzung kennengelernt habe. Denn dort, an diesem Ort des Todes, ist endlich das Geheimnis gelüftet worden, das mein Großvater sein Leben lang gehütet hat.
Die für unsere kleine Stadt recht umfangreiche Trauergemeinde, die hauptsächlich aus Protestanten bestand, kehrte bereits zu der langen Schlange aus dunklen Lincolns und meist helleren japanischen Fahrzeugen zurück. Ich stand auf der Grasnarbe neben den Gräbern, zwei Löchern, die nebeneinanderlagen und nach frisch aufgeworfener Erde rochen. Zwei Totengräber warteten darauf, die silbrig glänzenden Kisten mit Erde zu bedecken. Sie schienen es nicht besonders eilig zu haben. Beide waren sicherlich schon einmal Patienten meines Großvaters gewesen. Einer von ihnen, ein drahtiger Bursche namens Crenshaw, war sogar von ihm zur Welt gebracht worden; das behauptete er jedenfalls.
»Solche Ärzte wie Ihren Großvater gibt es heute nicht mehr, Mark«, erklärte er. »Oder Doktor, sollte ich wohl besser sagen.« Er lächelte. »Ich kann mich an den Titel einfach nicht so richtig gewöhnen. Ich will Sie nicht beleidigen, aber ich erinnere mich noch daran, wie ich Sie hier draußen um Mitternacht mit dem Clark-Mädchen erwischt habe.«
Ich erwiderte sein Lächeln. Die Erinnerung gefiel mir. Und außerdem kann ich mich auch nicht an den Titel gewöhnen. Doktor McConnell. Ich weiß, dass ich einen Doktor habe, einen sehr guten sogar, aber wenn ich neben meinem Großvater stehe, oder vielmehr stand, dann habe ich mich immer mehr wie ein Lehrling gefühlt: ein kluger, aber unerfahrener Student im Schatten seines Meisters. Daran dachte ich gerade, als jemand von hinten an meinem Jackettärmel zupfte.
»Guten Tag, Rabbi«, sagte der Totengräber und nickte jemandem hinter mir zu.
»Shalom, Mr. Crenshaw«, erwiderte eine tiefe, weise klingende Stimme. Ich drehte mich um. Hinter mir stand ein onkelhafter alter Mann mit schlohweißem Haar und einer Jarmulke auf dem Kopf. Mit funkelnden Augen musterte er mich von Kopf bis Fuß. »Wirklich das Ebenbild«, sagte er ruhig. »Obwohl Sie ein wenig kräftiger sind als Mac.«
»Das sind die Gene meiner Großmutter«, erwiderte ich. Dass ich nicht wusste, wer der Mann war, war mir ein wenig unangenehm.
»Sehr richtig«, antwortete der alte Mann. »Sehr richtig. Und außerdem war sie auch eine wunderschöne Frau.«
Plötzlich wusste ich, woher ich ihn kannte. »Rabbi Leibowitz, nicht wahr?«
Der alte Mann lächelte. »Sie haben ein gutes Gedächtnis, Doktor. Es ist schon lange her, dass Sie mich aus der Nähe gesehen haben.«
Die Stimme des alten Mannes besaß einen heiseren, melodischen Klang, als wenn die Ecken und Kanten von den Jahren gemessener Rede abgeschliffen worden wären. Ich nickte. Die Totengräber traten von einem Fuß auf den anderen.
»Nun«, sagte ich, »es wird wohl allmählich Zeit …«
»Ich nehme die Schaufel«, sagte Rabbi Leibowitz zu Crenshaw.
»Aber Rabbi, Sie sollten sich so eine schwere Arbeit nicht mehr zumuten.«
Der Rabbi nahm dem verblüfften Totengräber die Schaufel aus der Hand und stieß sie in den weichen Erdhaufen. »Diese Arbeit gebührt dem Freund eines Mannes und seiner Familie«, sagte er. »Doktor?« Er sah mich an.
Ich nahm dem zweiten Gräber die Schaufel ab und folgte dem Beispiel des Rabbi.
»Schönen Tag, Mark.« Crenshaw war leicht verstimmt und trottete mit seinem Kollegen zu dem verbeulten Pickup, der in angemessener Entfernung wartete.
Ich schaufelte mit regelmäßigen Bewegungen Erde in das Grab meiner Großmutter, während Rabbi Leibowitz sich Großvaters Grab annahm. Es war heiß, ein typischer heißer Georgia-Sommertag, und ich schwitzte bald aus allen Poren. Als sich das Grab langsam füllte und die Erde mir fast bis zu den Füßen reichte, stellte ich etwas überrascht fest, dass dieses Schaufeln besser war als irgendetwas anderes, seit ich vom Tod meiner Großeltern erfahren hatte. Und es tröstete mich weit mehr als alles, was mir die Leute gesagt hatten. Verblüfft bemerkte ich, dass der alte Mann mit seiner Arbeit nur wenig hinter mir zurückstand. Ich riss mich zusammen und schaufelte weiter.
Schließlich war ich mit dem Grab meiner Großmutter fertig und ging zu Rabbi Leibowitz, um ihm zu helfen. Zusammen füllten wir das Grab meines Großvaters innerhalb weniger Minuten. Der Rabbi legte die Schaufel auf den Boden hinter sich, drehte sich zum Grab um und begann, leise zu beten. Ich blieb schweigend stehen und hielt die Schaufel fest, bis er fertig war. Dann gingen wir wie in gegenseitigem Einverständnis zu der schmalen, asphaltierten Straße, wo ich meinen schwarzen Saab geparkt hatte.
Weit und breit waren keine anderen Wagen mehr zu sehen. Der Friedhof lag gute anderthalb Meilen von der Stadt entfernt. »Sind Sie den ganzen Weg hier heraus zu Fuß gegangen, Rabbi?«
»Ein guter Christ hat mich mitgenommen«, antwortete er. »Und ich hatte gehofft, dass ich vielleicht mit Ihnen zurückfahren könnte.«
Diese Bitte kam etwas plötzlich, ich willigte aber trotzdem ein. »Sicher, es würde mich freuen.«
Ich öffnete ihm die Beifahrertür, ging dann um den Wagen herum und setzte mich hinters Steuer. Der schwedische Motor brummte geschmeidig. »Wohin?«, fragte ich. »Wohnen Sie immer noch gegenüber der Synagoge?«
»Ja. Aber ich hatte eigentlich daran gedacht, dem Haus Ihrer Großeltern einen Besuch abzustatten. Wohnen Sie nicht dort, wenn Sie in der Stadt sind?«
»Doch«, gab ich zu. »Das tue ich.« Ich sah ihn neugierig an. Dann empfand ich ein Gefühl des Wiedererkennens. Solche Situationen hatte ich schon vorher erlebt. Manche Leute fühlen sich einfach nicht wohl, wenn sie ernste medizinische Symptome in einer Arztpraxis beschreiben müssen. »Wollen Sie mir etwas mitteilen, Rabbi?«, fragte ich bedächtig. »Brauchen Sie ärztlichen Rat?«
»Nein, nein, mir geht es ganz gut für mein Alter – Gott sei Dank. Aber es gibt tatsächlich etwas, worüber ich gern mit Ihnen sprechen würde, Mark. Etwas, das Ihr Großvater Ihnen wohl erzählen wollte … irgendwann. Ich vermute, dass er nicht mehr rechtzeitig dazu gekommen ist.«
»Wovon reden Sie?«
»Über das, was Ihr Großvater im Krieg getan hat, Mark. Haben Sie jemals darüber gesprochen?«
Ich spürte, wie ich errötete. »Nein. Er hat niemals über die Vergangenheit gesprochen. ›Ich habe meine Pflicht getan, als es erforderlich gewesen ist‹ war alles, was ich je aus ihm herausbekommen konnte.«
»Das sieht ihm ähnlich.«
»Er hat auch niemals mit meiner Großmutter darüber gesprochen«, beichtete ich zu meiner eigenen Überraschung. »Sie hat es mir erzählt, und … es hat sie verletzt. Es war wie ein … ein Loch in unserem Leben. Ein kleines vielleicht, aber trotzdem: Es war da. Ein dunkler Fleck, verstehen Sie?«
Rabbi Leibowitz nickte. »Ein sehr dunkler Fleck sogar, und ich glaube, es wird langsam Zeit, dass jemand für Sie ein bisschen Licht darauf wirft.«
Eine Viertelstunde später standen wir im Arbeitszimmer des großelterlichen Hauses. In diesem weitläufigen, mit Schindeln verschalten Landhaus waren drei Generationen von Ärzten aufgewachsen. Wir standen vor dem stählernen, feuersicheren Safe, in dem mein Großvater immer seine persönlichen Unterlagen aufbewahrt hatte.
»Kennen Sie die Kombination?«, fragte der Rabbi.
Ich schüttelte den Kopf. Er griff in seine Gesäßtasche, zog seine Brieftasche hervor und kramte darin herum, bis er gefunden hatte, was er suchte. Eine kleine weiße Visitenkarte, die meines Großvaters. Der Rabbi las einige Zahlen von der Rückseite ab und sah mich anschließend erwartungsvoll an.
»Hören Sie, Rabbi …« Mir wurde allmählich unbehaglich. »Ich weiß nicht genau, was wir hier wollen. Ich meine, ich weiß, dass Sie und meine Großeltern miteinander bekannt waren, aber ich wusste nicht, dass Sie sich so nahestanden. Und ehrlich gesagt glaube ich kaum, dass irgendetwas in diesem Safe Sie etwas angehen könnte.« Ich hielt inne. »Es sei denn … Hat er der Synagoge etwas in seinem Testament hinterlassen? Ist es das?«
Leibowitz kicherte. »Sie sind ein misstrauischer Mensch, Mark, genau wie Ihr Großvater. Nein, das hier hat nichts mit Geld zu tun. Um ehrlich zu sein, bezweifle ich, dass Mac viel hinterlassen hat. Bis auf seine Lebensversicherung; aber die beläuft sich nur auf etwa 50 000 Dollar, glaube ich. Er hat den größten Teil seines Geldes verschenkt.«
Ich blickte ihn von der Seite her an. »Woher wissen Sie das alles?«
»Ihr Großvater und ich waren mehr als nur Bekannte, Mark. Wir waren enge Freunde. Und von dem Geld weiß ich, weil er viel davon der Synagoge gespendet hat. Er glaubte, dass Sie nach erfolgreichem Medizinstudium auf eigenen Beinen stehen könnten, genauso wie er davon ausging, dass Ihre Großmutter allein zurechtkommen würde, falls er zufällig als Erster sterben würde. Natürlich gehört ihm dieses Haus. Das bekommen Sie. Und was das Geld anging, das er mir gegeben hat: Es war für verfolgte Juden bestimmt, die versuchten, Israel zu erreichen.« Leibowitz drehte seine schwieligen Handflächen nach oben. »Das alles hat seine Wurzeln im Krieg, Mark. Es hängt mit dem zusammen, was Ihr Großvater im Krieg getan hat. Wenn Sie diesen Safe öffnen, wird Ihnen alles sehr viel klarer werden.«
Man konnte dieser vernünftigen, aufrichtigen Stimme nur schwer widersprechen. »Einverstanden.« Ich wusste zwar, dass ich manipuliert wurde, aber seltsamerweise konnte ich mich nicht dagegen wehren. »Lesen Sie die Kombination noch einmal vor.«
Während Leibowitz las, drehte ich das Schloss, bis ich ein deutliches Klick hörte; dann zog ich die schwere Tür auf. Ganz vorn lag ein großer Stapel Papiere. Genau, was ich erwartet hatte. Es schien sich um Besitzurkunden zu handeln: über die beiden Autos, das Haus und Belege über eine uralte Hypothek.
»Sehen Sie eine Schachtel?«, fragte der Rabbi. »Sie müsste ziemlich flach sein und nicht sehr groß.«
Sorgfältig durchsuchte ich die Unterlagen. Natürlich. Am Boden des Papierstapels stieß ich mit den Fingern gegen eine flache Holzschachtel. Ich nahm sie aus dem Safe. Sie bestand aus einfachem Kiefernholz und maß etwa zwölf Zentimeter im Quadrat. Ich hatte sie noch nie gesehen.
»Öffnen Sie sie«, befahl Leibowitz.
Ich warf ihm einen Blick über die Schulter zu, drehte mich wieder um und hob den Deckel an. Das polierte Metall glänzte im Licht.
»Was ist das?«
»Das Victoria-Kreuz. Es ist der begehrteste Orden des Britischen Empires. Haben Sie davon gehört?«
»Das Victoria-Kreuz … Hat das nicht Michael Caine in dem Film Zulu verliehen bekommen?«
Leibowitz schüttelte langsam den Kopf. »Fernsehen«, murmelte er. »Ja, das Victoria-Kreuz wurde einer Handvoll Engländern verliehen, die eine übermächtige Zulu-Armee am Rorke’s Drift in Südafrika zurückgeschlagen haben.«
Vorsichtig hob ich das Kreuz aus seiner Schachtel und betrachtete es im Licht. Es bestand aus Bronze und hing an einem roten Band. Im Mittelpunkt des Kreuzes befand sich ein Löwe, der auf einer Krone thronte, und darunter waren in einer Schriftrolle die Worte eingraviert: FÜR TAPFERKEIT.
Rabbi Leibowitz’ Worte schienen sich an eine kleine Versammlung zu richten, als er fortfuhr. »Die Liste der Empfänger des Victoria-Kreuzes besteht aus den berühmtesten Namen der britischen Militärgeschichte, Mark, und offiziell haben nur 1350 Menschen diese Ehrung je empfangen, seit Königin Victoria diesen Orden 1856 eingeführt hat. Aber es gibt noch eine Liste, eine sehr viel kürzere Liste, die nur der König und der Premierminister kennen. Es ist die Geheime Liste, und auf ihr befinden sich die Namen all jener Personen, die beispiellose Tapferkeit im Angesicht des Feindes gezeigt haben, aber deren Taten von so heikler Natur waren, dass sie niemals enthüllt werden dürfen.« Er holte tief Luft. »Der Name Ihres Großvaters steht auf dieser Liste, Mark.«
Ich fuhr erstaunt herum. »Sie scherzen wohl! Er hat mir gegenüber so etwas nie erwähnt!«
Der alte Rabbi lächelte geduldig. »Das war die Bedingung, die mit der Verleihung einherging. Der Orden durfte niemals in der Öffentlichkeit getragen werden. Ich nehme an, dass dieses geheime Kreuz verliehen wurde, damit in dunkler Nacht, lange nachdem der Ruhm verblasst war, Männer wie Ihr Großvater etwas hatten, was sie daran erinnerte, dass ihre … ihre Opfer anerkannt wurden.« Leibowitz wirkte nachdenklich. »Trotzdem erfordert es eine besondere Persönlichkeit, einen solchen Ruhm geheim zu halten.«
»Großvater war kein Egomane«, stimmte ich ihm zu. »Aber er war auch nicht sonderlich bescheiden. Er hat niemals die Meriten versteckt, die er sich verdient hat.«
Leibowitz seufzte traurig. »Mac hat diese Ehre ebenfalls verdient, doch er war nicht gerade stolz auf das, was er dafür getan hat. Er hat den Krieg immerhin aus Gewissensgründen abgelehnt.«
»Das wusste ich nicht.«
»Mark, vor langer Zeit ist Ihr Großvater zu mir gekommen, um mit mir über etwas zu sprechen, was ihn zutiefst beunruhigte. Er hatte mit seinem Pastor darüber gesprochen, aber er meinte, dieser Mann hätte nicht wirklich begriffen, über was er redete. Der Pastor hat Mac nur gesagt, er wäre ein Held und hätte keinen Grund, sich für das zu schämen, was er getan hatte. Mac hat eine Weile allein mit sich gerungen und ist schließlich zu mir gekommen.«
»Warum ausgerechnet zu Ihnen?«
»Weil ich ein Jude bin. Er dachte wohl, dass ich ihm einen besonderen Blickwinkel des Problems vermitteln und ihm helfen könnte, seine Seele zu erleichtern.«
Ich schluckte. »Und? Haben Sie das getan?«
»Ich habe mein Bestes gegeben. Wirklich. Und zwar einige Jahre lang. Er war dankbar für meine Bemühungen. Aber ich habe nie wirklich Erfolg gehabt. Ihr Großvater hat seine Bürde mit ins Grab genommen.«
»Na gut, dann sollten Sie es mir aber jetzt endlich erzählen. Was hat er denn so Schreckliches getan? Und wann hat er es getan? Er hat mir gesagt, dass er den Krieg in England verbracht habe.«
Leibowitz blickte in eine unbestimmte Ferne. »Er hat die meiste Zeit des Krieges in England verbracht, das stimmt, und in Oxford geforscht. Aber in nur zwei kurzen Wochen ist Ihr Großvater ziemlich weit gereist, und seine Reise hat ihn letztlich zu einem Ort geführt, der der Hölle auf Erden sehr ähnlich gewesen sein muss.«
»Und wo soll das gewesen sein?«
Leibowitz’ Miene wurde hart. »Zu einem Ort namens Totenhausen, in der Nähe der Recknitz, in Norddeutschland. Und wann Mac dort gewesen ist, das erfahren Sie, wenn Sie das Kreuz umdrehen.«
Ich gehorchte. Auf der Rückseite waren die Worte eingraviert:
Mark Cameron McConnell, M. D.
15. Februar 1944
»Das ist das Datum, an dem diese tapfere Tat stattgefunden hat«, murmelte Leibowitz. »Vor fünfzig Jahren hat Ihr Großvater etwas so Heroisches, so Einzigartiges getan, dass ihm eine Ehre zuteilwurde, der sich außer ihm nur ein einziger anderer Nichtbrite rühmen kann. Dieser andere Ordensträger war ebenfalls Amerikaner.«
»Wer?«
Der Rabbi richtete sich auf, so gut es ihm mit seinem alterssteifen Rücken gelingen wollte. »Der Unbekannte Soldat.«
Ich hatte einen Kloß im Hals. »Das kann ich nicht glauben«, sagte ich heiser. »Das ist das Ungewöhnlichste, was ich jemals gehört habe. Und auch gesehen«, fügte ich hinzu und hielt das Kreuz am Band hoch. Irgendwie kam es mir so schwerer vor, als wenn ich es in der Hand hielt.
»Sie werden noch etwas viel Ungewöhnlicheres sehen«, erklärte Leibowitz. »Etwas Einzigartiges.«
Mir zog sich vor lauter Erwartung der Hals zusammen.
»Sehen Sie unter der Polsterung der Schachtel nach. Es müsste noch dort sein.«
Ich reichte Rabbi Leibowitz das Kreuz und hob dann vorsichtig das Leinentuch hoch, das auf dem Boden der Schachtel lag. Darunter befand sich ein ausgefranstes Wollstück mit Schottenmuster. Fragend blickte ich zu meinem Gegenüber.
»Machen Sie nur weiter«, ermunterte mich Leibowitz.
Unter dem Stoff kam eine Fotografie zum Vorschein. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto, dessen Kontraste so stark waren, dass es wie eines der alten Staublochfotos aus dem Life-Magazin wirkte. Es zeigte eine Halbporträtaufnahme einer schlanken jungen Frau. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid, und sie stand ein bisschen ungelenk vor dunklen Holzbrettern. Ihr schulterlanges Haar war blond und glatt, und schien vor dem Hintergrund des unbehandelten dunklen Holzes zu glänzen. Sorgenfalten zeigten sich um ihren Mund herum, doch es waren die Augen, die ihr Gesicht beherrschten – Augen, die so dunkel waren wie das Holz hinter ihr. Ich schätzte sie auf etwa dreißig.
»Wer ist das?«, fragte ich. »Sie ist … Ich weiß nicht. Sie ist nicht direkt schön, aber sehr … lebendig. Ist das meine Großmutter? Als sie noch jünger war, meine ich.«
Rabbi Leibowitz winkte ungeduldig ab. »Alles zu seiner Zeit. Sehen Sie unter der Fotografie nach.«
Das tat ich und förderte ein sorgfältig gefaltetes Blatt Papier zutage. Es war zerknittert und vom Alter vergilbt. Ich begann, es auseinanderzufalten.
»Vorsichtig.«
»Ist das die Belobigung zu dem Orden?«, fragte ich, während ich behutsam das Papier entfaltete.
»Nein, es ist etwas vollkommen anderes.«
Mittlerweile hatte ich es geöffnet. Die handgeschriebenen blauen Buchstaben waren fast gänzlich verblasst, als wenn die Notiz versehentlich in eine Waschmaschine geraten wäre; doch einige Worte waren noch immer lesbar. Ich las sie mit merkwürdiger Verwunderung.
Auf meinen Schultern lasten diese Toten.
W.
»Ich kann es kaum lesen. Was bedeutet es? Und wer ist ›W‹?«
»Sie können die Schrift kaum lesen, Mark, weil sie 1944 vom eiskalten Wasser der Recknitz verwaschen worden ist. Was diese Notiz bedeutet, kann man nur erklären, wenn man Ihnen eine andere, verwickelte und äußerst entsetzliche Geschichte erzählt. Und das ›W‹, wie der Autor dieses Briefs sich so geheimnisvoll beschreibt, steht für Winston Churchill.«
»Churchill!«
»Ja.« Der alte Rabbi lächelte eigenwillig. »Und deswegen hängt natürlich eine Geschichte daran.«
»Meine Güte.«
»Haben Sie zufällig einen Brandy griffbereit?«, fragte Leibowitz.
Ich holte die Flasche.
»In meinen Augen trägt Churchill die ganze Verantwortung.«
Der alte Rabbi hatte es sich in einem Lederohrensessel bequem gemacht, eine Häkeldecke über die Beine gelegt und schwenkte das Brandyglas in der Hand. »Sie wissen natürlich, dass Mac zunächst als Rhodes-Stipendiat nach England ging. Das war 1930, ein Jahr nach dem Börsenkrach. Er blieb zwei Jahre und wurde dann aufgefordert, noch ein drittes Jahr zu bleiben und sich dort zu immatrikulieren. Eine hohe Ehre. Nach seinem Abschluss kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück. Ich bin sicher, dass er seine ›Englische Periode‹ für abgeschlossen hielt. Aber er sollte sich irren.
1938 beendete er sein Medizinstudium und schaffte es irgendwie, auch noch einen Abschluss in Chemie während seiner Assistenzarztzeit zu machen. Mittlerweile schrieben wir 1940. Er stieg in die Praxis eines Freundes seines Vaters ein; doch er hatte sich kaum eingerichtet, als er einen Anruf aus Oxford bekam. Sein alter Tutor erzählte ihm, dass einer von Churchills wissenschaftlichen Beratern von einigen Monografien beeindruckt gewesen sei, die Mac über chemische Kriegsführung während des Ersten Weltkriegs geschrieben hatte. Sie wollten, dass er einem britischen Team beitrat, das an der Entwicklung von Giftgas arbeitete. Amerika war zwar noch nicht in den Krieg eingetreten, aber Mac wusste, was auf dem Spiel stand. Englands Schicksal hing an einem seidenen Faden.«
»An so viel erinnere ich mich noch«, erwiderte ich. »Er ist nur unter der Bedingung gegangen, dass man ihn ausschließlich für Verteidigungsmaßnahmen einsetzen würde.«
»Ja. Das war ziemlich naiv, muss ich schon sagen. Auf jeden Fall hat er Ihre Großmutter nach England mitgenommen. Sie gerieten mitten in die Schlacht um England. Es war nicht leicht, aber er überredete Susan, wieder in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Hitler gelang es zwar niemals, in England einzufallen, doch da war es schon zu spät. Sie waren während der Operation getrennt.
»Fünfzig Jahre«, fuhr Leibowitz leise fort. Er hielt inne, als wäre er in Gedanken verloren. »Ich nehme an, das kommt Ihnen wie eine Ewigkeit vor, aber versuchen Sie trotzdem, sich diese Zeit vorzustellen. Mitten im Winter, Januar 1944. Die ganze Welt, einschließlich der Deutschen, wusste, dass die Alliierten im Frühling in Westeuropa einmarschieren würden. Die einzige Frage war, wo die Invasion stattfinden würde. Eisenhower war gerade zum Oberbefehlshaber der Operation ›Overlord‹ ernannt worden. Churchill …«
»Entschuldigen Sie, Rabbi«, unterbrach ich ihn. »Ich will nicht respektlos erscheinen, aber mich beschleicht das Gefühl, dass Sie mir die lange Version der Geschichte erzählen.«
Er lächelte mit einer Geduld, die er im Umgang mit hyperaktiven Kindern gelernt haben musste. »Haben Sie einen dringenden Termin?«
»Nein, aber ich bin neugierig auf die Geschichte meines Großvaters, nicht auf die von Churchill oder Eisenhower.«
»Mark, wenn ich Ihnen einfach nur das Ende dieser Geschichte erzählen würde, dann würden Sie mir nicht glauben. Das meine ich ernst. Sie können nicht begreifen, was ich Ihnen sagen werde, ohne zu wissen, was dazu geführt hat. Verstehen Sie das?«
Ich nickte und versuchte, meine Ungeduld zu unterdrücken.
»Nein«, widersprach Leibowitz leidenschaftlich. »Das tun Sie nicht. Das Schlimmste, was Sie jemals in Ihrem Leben gesehen haben, alle üblen Dinge zusammengenommen, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, selbst Mord, all dies ist nichts im Vergleich zu dem, was ich Ihnen erzählen werde. Es ist eine Geschichte, deren Grausamkeit jedwede Vorstellungskraft übersteigt. Es ist eine Geschichte über Frauen und Männer, deren Heldenmut seinesgleichen sucht.« Er hob einen klauenartig gekrümmten Finger und sprach plötzlich sehr leise. »Nachdem Sie diese Geschichte gehört haben, wird Ihr Leben nie wieder so sein wie früher.«
»Das sind eine Menge Vorschusslorbeeren, Rabbi.«
Er trank einen Schluck Brandy. »Ich habe keine Kinder, Doktor. Wissen Sie, warum nicht?«
»Tja. Ich nehme an, Sie wollten keine. Oder Sie oder Ihre Frau sind sterilisiert worden.«
»Ich bin sterilisiert worden«, gab Leibowitz zu. »Mit sechzehn wurde ich von einigen deutschen Ärzten aufgefordert, mich auf eine Bank zu setzen und ein Formular auszufüllen. Das dauerte etwa eine Viertelstunde. Während dieser fünfzehn Minuten beschossen sie meine Hoden von drei Seiten mit hoch dosierten Röntgenstrahlen. Zwei Wochen später retteten ein jüdischer Chirurg und seine Frau mir das Leben, als sie mich in ihrer Küche kastrierten.«
Meine Hände fühlten sich plötzlich kalt an. »Waren Sie … in den Lagern?«
»Nein. Ich bin nach Schweden entkommen, zusammen mit dem Chirurgen und seiner Frau; doch ich habe meine ungeborenen Kinder zurückgelassen.«
Darauf wusste ich nichts zu sagen.
»Das ist das erste Mal, dass ich es einem Christen erzählt habe«, bemerkte Leibowitz.
»Ich bin kein Christ, Rabbi.«
Er sah mich aus zusammengekniffenen Augen heraus an. »Wissen Sie vielleicht etwas, das ich nicht weiß? Ein Jude sind Sie auch nicht.«
»Ich bin gar nichts. Agnostiker trifft es wohl am ehesten. Ein professioneller Zweifler.«
Leibowitz musterte mich lange, und auf seinem runzligen Gesicht zeichneten sich Gefühle ab, die ich nicht zu deuten vermochte. »Das sagt sich leicht für jemanden, der so wenig durchgemacht hat.«
»Ich habe meinen Teil an Leid gesehen und einiges auch schon gelindert.«
Der Rabbi vollführte eine typisch europäische Handbewegung, die so viel auf einmal zu sagen schien. »Doktor, Sie haben noch nicht einmal über den Rand des Abgrunds geblickt.«
Leibowitz legte die Hand auf die Augen und verharrte so fast eine Minute vollkommen regungslos. Er schien herausfinden zu wollen, ob er überhaupt die Stärke besaß, diese Geschichte zu erzählen. Gerade als ich etwas sagen wollte, ließ er die Hand sinken und fragte: »Sind Sie jetzt bereit zuzuhören, Mark? Oder möchten Sie die Dinge so lassen, wie sie sind?«
Ich blickte auf das Victoria-Kreuz, betrachtete die verblichene Notiz, den Schottenstoff und das Bild der Frau. »Sie haben mich am Haken«, erklärte ich. »Aber warten Sie noch einen Augenblick.«
Ich ging ins Schlafzimmer meines Großvaters und holte den kleinen Kassettenrekorder, auf den er seine medizinischen Tabellen diktiert hatte, sowie einen Stapel Mikrokassetten. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich das aufnehme?«, fragte ich und stellte das Diktiergerät auf den Tisch. »Wenn diese Geschichte so wichtig ist, sollte sie vielleicht dokumentiert werden.«
»Sie hätte schon vor langer Zeit erzählt werden sollen«, antwortete Leibowitz zustimmend. »Aber Mac wollte nichts davon wissen. Er sagte, es würde die menschliche Geschichte kein Stück ändern, ob man dies hier wüsste oder nicht. Darin habe ich ihm widersprochen. Es ist schon lange überfällig, diese Geschichte ans Licht zu bringen.«
Ich sah aus dem Fenster. »Es wird langsam dunkel, Rabbi.«
Er seufzte. »Dann machen wir eben die Nacht zum Tag.«
»Darf ich Ihnen einen kleinen Rat geben? Redaktionell gesprochen?«
»Ach. Sind Sie jetzt Redakteur?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich habe ein paar Artikel verfasst. Eigentlich spiele ich mit dem Gedanken, an meinen freien Wochenenden einen Roman zu schreiben: einen medizinischen Thriller. Aber vielleicht habe ich hier eine andere Geschichte gefunden, die sich zu erzählen lohnt. Sei’s drum, hier ist mein Rat: Sie können ihn annehmen oder ignorieren. Dieses ›Stellen-Sie-sich-die-Szene-vor‹- und ›Ich-nehme-an‹-Geschwafel: Vergessen Sie’s. Erzählen Sie die Geschichte einfach so, wie Sie glauben, dass sie sich ereignet hat. Als wären Sie dabei gewesen wie eine Fliege an der Wand.«
Nach einer Weile nickte Leibowitz. »Ich glaube, das schaffe ich«, erklärte er. Er schenkte sich einen zweiten Brandy ein, lehnte sich dann in dem Lederarmsessel zurück und hob das Glas.
»Auf den tapfersten Mann, den ich jemals kennengelernt habe.«