cover image

images

Dipl.-Sozialpäd. Imke Urmoneit ist Systemische Familientherapeutin, Supervisorin, Organisationsberaterin und Reit- und Voltigierpädagogin in eigener Praxis für systemische Beratung und Supervision in Lörrach.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03012-5 (Print)

ISBN 978-3-497-61421-9 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61422-6 (EPUB)

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

3., aktualisierte Auflage

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Zeichnung auf S. 8 von Heike Bonk

Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

images

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

1 Begleitung von Veränderungsprozessen aus neurobiologischer Sicht

Entfaltung des Entwicklungspotenzials

Aufbau von Mustern – die Macht der Gewohnheit

Bindung und Autonomie

Stressreaktionen

Beziehungsgestaltung

Durch Herausforderungen zum Kompetenzzuwachs

Befriedigung von Bedürfnissen – die Entstehung der Motivation

Anknüpfungspunkte an bestehende Muster im Gehirn

Bewusstmachung von unbewussten Prozessen

2 Systemische Grundhaltungen

Autopoiese, Autonomie und Zirkularität

Wirklichkeitskonstruktion – der Aufbau von Mustern

Kybernetik 2. Ordnung und die Bedeutung der Metaebene

Diagnostik – kleine Schritte zwischen Problem und Lösung

Kontextrelevanz – eine ökosystemische Perspektive

Balance zwischen Bestätigung und Irritation

3 Wahrnehmung, Kognition, Motorik und Emotion – Resonanz- und Rückkopplungsprozesse

Wahrnehmung – Wie organisieren wir uns durch die Lenkung der Aufmerksamkeit?

Kognition – Wie organisieren wir uns über unser Denken?

Motorik – Wie organisieren wir uns durch Körperbewegungen?

Affekte – Wie lenken Emotionen unsere Motivation?

Zusammenspiel von Wahrnehmung, Kognition, Motorik und Emotion

4 Die Rolle der Pädagogin

Selbstfürsorge

Die Entwicklung eines eigenen Stils

Die Haltung des distanzierten Engagements in komplexen Systemen

Das Konzept der sachorientierten Partnerschaft

Präsenz

Beziehungsorientierte emotionale Rahmung instabiler Systeme

Kommunikation

Ressourcenorientierte Prozesssteuerung

Einbindung des Pferdes

5 Die Rolle des Pferdes

Das Pferd als Interaktionspartner

Pferde organisieren sich durch den Aufbau von Mustern

Nonverbaler Dialog

Der Bewegungsdialog

Der Aufforderungscharakter des Pferdes

Pferde rahmen Entwicklungsprozesse in Form einer bezogenen Individuation

Spiegelung – Training der Eigenwahrnehmung

Präsenz – Fokussierung auf die Gegenwart

6 Das Zusammenwirken im Beziehungsdreieck

Pferd und Pädagogin in direkter Interaktion – Klient in der Beobachterposition

Pferd und Klient in direkter Interaktion – Pädagogin in der Beobachterposition

Pädagogin und Klient in direkter Interaktion – Pferd in einer passiven, nicht direkt einbezogenen Position

Pferd, Pädagogin und Klient in direkter Interaktion

Pferd, Pädagogin und Klient ohne direkte Interaktion

Ausweitung auf den Gruppenkontext

7 Auftragsklärung

8 Die Gestaltung des Settings

Die Auswahl des Settings

Settings in der Arbeit mit Familien am Pferd

9 Zehn Bausteine der pferdegestützten systemischen Pädagogik

10 Ausblick

Literatur

Übersicht über die Fallbeispiele

Sachwortregister

images

images

Geleitwort

Es ist schon viele Jahre her, da fragte mich eine Kollegin im Rahmen ihrer familientherapeutischen Ausbildung am Weinheimer Institut (IFW), ob sie eine Supervisionssitzung mit einer Beratungsklientin in der Reithalle abhalten könne. So sehr mich dieses Anliegen damals verwunderte, so neugierig machte es mich auch – und da Klientin und Gruppe einverstanden waren, die Möglichkeiten zu erproben, die in diesem Setting liegen könnten, gab es keine Einwände. Wir erlebten eine Beratung, in der die systemische Therapeutin und ihre Klientin gemeinsam auf dem Pferd, mit dem Pferd und ohne dieses experimentierten.

Besonders bewegend waren verschiedene Skulpturen, die die Klientin stellte, indem die Mitglieder der Supervisionsgruppe die Rollen bedeutsamer Figuren aus ihrer Herkunftsfamilie einnahmen. Denn in diese Bilder war das Tier auf eine besondere Weise mit einbezogen (natürlich ohne explizit eine „Rolle“ zugewiesen bekommen zu haben). Mit Erstaunen verfolgte ich, wie das Pferd den Beratungsprozess intuitiv und auf eindrückliche Weise begleitete, zwischen teilnahmslosem Stehen am Rand bei spannungsfreien Momenten und deutlicher, bezogener Aktivität bei kritischen Szenen. So ging das imposante, große Tier bei einer konfrontativen Szene zwischen der Klientin und ihrem Vater mitten durch die Skulptur, genau zwischen dem Rollenspiel-Vater und der Tochter hindurch, was die Situation deutlich entschärfte.

Für die Klientin war es ein wichtiger Moment, hier die „Hilfe“ eines anderen Lebewesens erfahren zu haben, das offenbar die Spannung des Moments genau gespürt hatte. Zudem war es jedoch auch eine ziemliche Mutprobe für alle nicht mit Pferden vertrauten Gruppenteilnehmern (zu denen auch ich gehörte). Die Stunde hat mich sehr beeindruckt und ist mir in bleibender, lebendiger Erinnerung. Bis dahin war mir das therapeutische Reiten nur aus der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen ein Begriff und die Idee, dass über den Kontakt mit dem Pferd die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seine Koordinationsfunktionen besser integriert werden können, war für mich schlüssig und nachvollziehbar. Doch die Erfahrung, dass es auch möglich ist, ein Pferd im Kontext systemischer Praxis als aktiven Akteur mit in ein Beratungsgeschehen einzubeziehen, war mir neu. Ich erlebe sie bis heute als reizvolle Herausforderung – und als eben diese Kollegin mich nun fragte, ob ich für ihr Buch ein Geleitwort schreiben könnte, habe ich daher besonders gern zugestimmt.

Das, was vor Jahren als Experiment begann, hat Imke Urmoneit im Laufe der Zeit konsequent weiterverfolgt und vertieft. Entstanden ist ein Werk, das in der Praxis tief verankert ist und eine jahrelange Erfahrung widerspiegelt: Therapeutische, pädagogische und Beratungsprozesse werden anhand sehr unterschiedlicher Fallbeispiele lebendig beschrieben, zugleich aber werden auch auf überzeugende Weise theoretische Überlegungen über die Wirkmechanismen angestellt, die dem Geschehen zugrunde liegen. Es wird immer wieder gezeigt, wie die affektspezifische Logik aussieht, die die Erfahrungen der Akteure begleitet und eben mehr ist als nur ein „nettes Spiel“ , sondern eine komplexe Erfahrung, die sich auch in neurophysiologischen Prozessen niederschlägt.

Was mich bei der Lektüre besonders beschäftigt hat, ist die Bedeutung eines „Dritten“ , auf das sich Beraterin und Klient oder Klientin gemeinsam beziehen können. Jedes Beziehungssystem – und damit auch ein dyadisches – braucht ein Drittes, auf das es sich beziehen kann, um sich als soziales System zu konstituieren. In der systemischen Theorie wird unter diesem Gesichtspunkt „das Problem“ oft auf eine besondere Weise verstanden. Es wird darauf geachtet, wie sich um „das Problem“ herum ein „Problemsystem“ entwickelt hat, das durch problembezogene Kommunikationen gekennzeichnet ist – und paradoxerweise manchmal auch gerade das Problem, das es so energisch bekämpft, stabilisiert. Problemsysteme können dann sehr stabil sein, bedauerlicherweise sind sie oft mit negativen Gefühlen für alle Beteiligten verbunden, weil kritische Kommunikationsmuster immer wieder durchlaufen werden.

Das Pferd bietet hier ein neues derartiges „Drittes“ . Ein ungewöhnlicher Kontext entsteht. Er ist durch die Möglichkeit gekennzeichnet, sich gemeinsam auf einen Fokus zu beziehen, der nicht belastet ist und der so eine Musterunterbrechung und mit ihr den Übergang in ein anderes Sozialsystem erleichtern kann. Wie anders ist ein Kontakt, in dem sich etwa der kleine Felix (das erste Praxisbeispiel) gemeinsam mit der Beraterin unterhält, während beide das Pferd putzen, im Vergleich zu einem Kontakt, wo das „Dritte“ , auf das Beide Bezug nehmen, vielleicht sein Problem ist („Weißt du, warum du hier bist?“ , „Wie lange hast du das Problem schon?“ usw.)?

Das neu entstehende Sozialsystem, das Pädagogin, Kind und Pferd umfasst, ermöglicht einen Experimentierraum, in dem das Kind ganz neue Erfahrungen machen kann, die insbesondere dadurch Wirkung entfalten, dass das Dritte auch noch ein aktives, auf seine Weise „antwortendes“ Lebewesen ist. Dadurch können neue affektlogische Schemata verinnerlicht werden, die mit entsprechenden neurobiologischen Umstrukturierungen einhergehen. Diese – und das ist schon lange bekannt – vertiefen sich mit der Zahl und Intensität der Erfahrungen: Das neu entstehende „Straßennetz“ im Gehirn wird dichter und zugleich wächst das Vertrauen in die eigene Kraft und in die Fähigkeit, in kritischen Situationen bestehen zu können.

Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass sich Pferde besonders gut dafür eignen, Menschen zu solchen neuen Erfahrungen zu verhelfen. Zum einen sind sie beeindruckend in ihrer Größe und Kraft, zum anderen sind sie keine Raubtiere, sondern als Herden- und Fluchttiere auf Sicherheit und Kooperation ausgerichtet. Sie sehen daher in dem lebendigen Gegenüber nie die potentielle Beute, sondern prüfen jeweils, ob und wie sie zu ihm eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen können. Ihre Fähigkeit, sich in Herden zu organisieren, versieht sie zugleich mit einem intuitiven Wissen über soziale Dynamiken, das man sich in der beraterischen Praxis zunutze machen kann. Sie spüren die Situationen auf, in denen sie sich wohlfühlen können und organisieren ihre sozialen Interaktionen um diese Fragen herum.

Die in diesem Buch ausführlich beschriebenen Chancen, die sich ergeben, wenn Menschen in Not neben einer hilfreichen pädagogisch-therapeutischen Beziehung ein „Drittes“ angeboten wird, das den Beratungskontakt mit hoher Intensität und Dichte versorgt, geben zahlreiche Anstöße zur Weiterentwicklung der eigenen Praxis. Natürlich werden es vor allem Menschen lesen, denen die Arbeit mit dem Pferd vertraut ist bzw. die sich damit vertraut machen wollen. Doch ich sehe das Buch auch für andere Leserkreise als interessant an. Die Möglichkeiten, die aus der Hineinnahme eines dritten Elements in den Beratungsdialog entstehen können, können für alle Personen, die im Kontext von Beratung, Pädagogik oder Therapie tätig sind, bereichernd sein. Und so wünsche ich diesem Buch eine große und vor allem begeisterte Leserschaft.

Witten/Osnabrück, im Herbst 2012

Arist von Schlippe

images

Vorwort

Mich freut es sehr, dass meine in diesem Buch dargelegten Erfahrungen eine so große Resonanz gefunden haben und von Fachkräften als Bereicherung für ihren Praxisalltag erlebt werden. Nun geht das Buch bereits in die 3. Auflage. In den Rückmeldungen, die mich in den letzten Jahren erreicht haben, werden zwei Aspekte besonders betont.

Die Verbindung der pferdegestützten Angebote mit dem mittlerweile wissenschaftlich anerkannten Konzept der systemischen Therapie und Beratung wird als hilfreich erlebt, um die eigene Arbeit zu verorten und begründen zu können. Die Gestaltung des Angebots, aber auch konkrete Interventionen und konzeptionelle Hintergründe der Arbeit werden durch die theoretischen Grundlagen auch für Kollegen und Kolleginnen aus anderen Professionen nachvollziehbar. Dadurch wird dem noch immer vorhandenen Vorurteil, dass die Arbeit mit Klienten am Pferd dem Hobby der Fachkraft geschuldet ist oder einfach nur „netter“ Reitunterricht stattfindet, entgegengewirkt. Die Ankopplung des therapeutischen Reitens an wissenschaftlich begründete und in einer breiten Fachwelt anerkannte Konzepte wird weiterhin erforderlich sein, um die Akzeptanz und Anerkennung des Einsatzes von Pferden zu verbessern.

Viele Rückmeldungen beziehen sich darauf, dass die Fallbeispiele und konkreten Beschreibungen pädagogischen Handelns als Bereicherung für die eigene Arbeit erlebt werden. Ich durfte in den letzten Jahren zahlreiche angehende Fachkräfte in ihrer Ausbildung durch meine Referententätigkeit für das Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reiten e. V. begleiten. Es beeindruckt mich, mit wie viel Engagement und Begeisterung die Ausbildungsteilnehmerinnen Ideen einbringen, Fachwissen aufbauen und sich mit unterschiedlichen Sichtweisen auseinandersetzen. Da es noch immer nicht leicht ist, die Finanzierung für pferdegestützte Angebote so sicherzustellen, dass die Rahmenbedingungen gute Voraussetzungen für die Umsetzung professioneller Konzepte in die Praxis bieten, ist dieses Engagement alles andere als selbstverständlich.

Gut erinnere ich mich noch daran, dass ich beim Schreiben dieses Buches vor mehr als acht Jahren ein wenig mit mir gehadert habe. Ich beschreibe zwar die Rolle des Pferdes in der Arbeit; seine Bedürfnisse, die Bedeutung der Ausbildung und des verantwortungsvollen Einsatzes nehmen jedoch wenig Raum ein. Claudia Pauel hat sich darauf eingelassen, mit mir gemeinsam ein Buch zu schreiben, in dem diese Fragen im Mittelpunkt stehen. Der intensive Blick auf die Pferde und die Darstellung des großen Erfahrungsschatzes meiner Kollegin hat meine „Zeit im therapeutischen Reiten“ mit Zufriedenheit und Dankbarkeit abgeschlossen.

Seit einigen Jahren arbeite ich nicht mehr mit Pferden, sondern konzentriere mich auf die systemische Beratung und Supervision sowie die Unterstützung sozialer Einrichtungen im Rahmen der Organisationsentwicklung. Bei der Überarbeitung dieses Buches für die dritte Auflage ist jedoch etwas Wehmut in mir aufgekommen. Es berührt mich noch immer, wie besonders die pferdegestützte Begleitung für Menschen ist, die an sich zweifeln, die sich selbst im Wege stehen, die sich nach gelingenden Beziehungen sehnen, die zur Ruhe kommen müssen, um sich selbst zu spüren, oder die einfach nur ein Gegenüber brauchen, das ihr Verhalten nicht sofort als „gut“ oder „schlecht“ bewertet. In meiner aktiven Zeit im Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten e. V. hat mich der Austausch mit den Kollegen und Kolleginnen bereichert. Viele Ideen in diesem Buch wären ohne diese Auseinandersetzung nicht entstanden.

Die eigene Haltung und die Reflexion der pädagogischen Interventionen bilden die Basis des Konzepts der pferdegestützten systemischen Pädagogik. Als roter Faden ziehen sich die Darstellung der theoretischen Grundlagen, die Beschreibung von Fallbeispielen und die sich daran anschließende Reflexion des Prozesses durch das Buch. Um die Klienten und Klientinnen zu schützen, wurden die Namen und einige Eckdaten zu den Familien geändert. Da auch acht Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage noch immer überwiegend Frauen Pferde in pädagogischen Kontexten einsetzen, verwende ich weiterhin die weibliche Form. Kollegen anderen Geschlechts dürfen sich selbstverständlich gleichermaßen angesprochen fühlen. Bei der Klientel wechseln sich, abgestimmt auf die Fallbeispiele, die weibliche und männliche Form ab. Im Fall von Verallgemeinerungen wird zugunsten einer besseren Lesbarkeit die männliche Form bevorzugt.

Seit einigen Jahren begeistert mich die Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Neurobiologie und der Hirnforschung so sehr, dass ich mich intensiv darum bemühe, dieses Wissen in konkrete Handlungskonzepte in Beratung, Coaching, Supervision und in Seminare einzubringen. Dabei leitet mich die grundlegende Frage, wie wir Menschen unsere Wahrnehmung, unser Denken, Fühlen und Handeln gestalten. Schon beim Schreiben des Manuskripts für die erste Auflage dieses Buchs beschäftigte mich diese Frage, so dass das Eingangskapitel einige grundlegende Aspekte beschreibt. Beim Überarbeiten des Inhalts für die Neuauflage habe ich viel darüber nachgedacht, diese Kapitel neu zu gestalten und die neurobiologischen Grundlagen genauer zu beschreiben. Schnell wurde mir jedoch klar, dass die Komplexität, die durch das Übertragen neurobiologischer Grundlagen in Konzepte der pferdegestützten Pädagogik entsteht, ein eigenes Buch erfordern würde. Der kleine Einblick in die Bedeutung der neurobiologischen Aspekte anhand eines Fallbeispiels im ersten Kapitel leitet in meine Arbeitsweise und dieses Buch ein.

Das daran anschließende Kapitel umreißt die Grundlagen der systemischen Pädagogik und Beratung. Das Menschenbild, die damit verbundene Haltung sowie die Auswirkungen der Interventionen stehen im Mittelpunkt der Betrachtung. Die systemische Perspektive beinhaltet nicht nur die Beachtung der Dynamiken zwischen den Sozialpartnern. Auch das innere Erleben des Klienten ist als ein integraler, systemisch angelegter Interaktionsprozess zu verstehen. Daher wendet sich das dritte Kapitel der Frage zu, wie Menschen ihr Verhalten über die Wahrnehmung, das Denken, Fühlen und sich Bewegen organisieren. Fallbeispiele verdeutlichen, dass die Betrachtung der einzelnen Bausteine der menschlichen Selbstorganisation eine auf den Klienten abgestimmte Begleitung von Entwicklungsprozessen ermöglicht.

Kapitel vier widmet sich ausführlich der Ausgestaltung der pädagogischen Rolle. Die Wahrnehmung der Rollenverantwortung durch die Pädagogin hat großen Einfluss auf die Gestaltung pädagogischer Angebote. Das von Antonius Kröger entwickelte Konzept der sachorientierten Partnerschaft sowie die Ergänzung und Erweiterung durch systemische Elemente bilden die Grundlage. Daran schließt sich die Betrachtung der Rolle des Pferdes in ihren vielfältigen Aspekten an. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich zwischen Menschen und Pferden herausbilden und wie diese in pädagogischen Prozessen genutzt werden. Das Pferd kann seine Wirkung nur entfalten, wenn mir seine Ressourcen bewusst sind und ich diese in der Prozessgestaltung in den Vordergrund stelle. In Kapitel sechs werden die Aspekte der einzelnen Rollen hinsichtlich ihrer Bedeutung im Beziehungsdreieck beleuchtet.

In der systemischen Arbeitsweise werden durch die Klärung des Auftrags entscheidende Weichen für den Prozessverlauf gestellt. Dieser Grundsatz gilt ebenso für die Arbeit am Pferd, so dass dieses Thema in einem eigenen Kapitel ausführlich dargestellt wird. Daran schließen sich Ausführungen zur Gestaltung des Settings, insbesondere hinsichtlich der Einbindung der Familie oder Teilen der Familie, an.

Das Buch schließt mit einer Zusammenstellung von zehn Bausteinen der pferdegestützten systemischen Pädagogik und einem Ausblick ab.

Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern Freude an der Auseinandersetzung mit meinen Erfahrungen und Ideen aus meiner aktiven Zeit in der pferdegestützten systemischen Pädagogik und Begeisterung bei der Entwicklung eigener Wege.

Lörrach, Juli 2020

Imke Urmoneit

images

1 Begleitung von Veränderungsprozessen aus neurobiologischer Sicht

Alle menschlichen Lebensäußerungen organisieren sich über neurobiologische Prozesse im Gehirn. Informationen werden im Gehirn strukturiert, miteinander in Beziehung gesetzt und gespeichert. Erst diese Prozesse versetzen das Lebewesen in die Lage, komplexe Kompetenzen aufzubauen. Um diese Vorgänge zu unterstützen und das darin enthaltene Potenzial auszuschöpfen, benötigt der Mensch angemessene Beziehungsangebote. Neben zwischenmenschlichen Beziehungen eröffnen Interaktionen mit Tieren ebenfalls Chancen, Kompetenzen aufzubauen und zu erweitern (Urmoneit 2020).

Entfaltung des Entwicklungspotenzials

Lange Zeit gingen die Neurobiologen davon aus, dass die Gene alle Informationen sowie den Bauplan zur individuellen Entwicklung eines Menschen enthalten und somit die Persönlichkeit und das Entwicklungspotenzial größtenteils genetisch festgelegt sind. Damit war die Vorstellung verbunden, dass Rahmenbedingungen und zwischenmenschliche Beziehungen auf das Gehirn nur geringen Einfluss ausüben und Ausfälle von Gehirnzellen (Neuronen) mit einem unwiederbringlichen Verlust von Fähigkeiten verbunden sind (Hüther 2018).

Heute basiert der Forschungsstand auf der Annahme, dass sich die Entwicklung des menschlichen Gehirns mit einem dynamischen Modell erklären lässt (Hüther 2018). Durch das genetische Programm wird das Rohmaterial zur Verfügung gestellt, nicht jedoch eine Arbeitsanweisung, die vorgibt, wie die einzelnen Neuronen ihre Vernetzung organisieren müssen, damit komplexe Leistungen möglich werden. Erst durch den Impuls von außen wird ein Neuron im Gehirn angeregt und beginnt, mit dem angrenzenden Neuron über chemische Botenstoffe zu kommunizieren. Es kommt zu einem wechselseitigen Austausch von Botenstoffen und somit zu einer gegenseitigen Aktivierung.

Nur durch diese synaptische Übertragung (Kommunikation) wird das Neuron ausreichend angeregt, um seine Vernetzungsmuster zu erweitern. Die Kommunikationsprozesse zwischen den Neuronen laufen abhängig von den Reizen der Umgebung (Rahmenbedingungen) in millionenfacher Weise ab und machen in der Summe Lernen und Veränderung aus. Die Neuronen, die nicht durch Impulse stimuliert werden, vernetzen sich nicht und sterben letztendlich ab (Hüther 2007; 2018). Für die Ausschöpfung des Entwicklungspotenzials ist nicht die Anzahl der Neuronen von entscheidender Bedeutung, sondern die Bereitstellung von angemessenen Herausforderungen in Halt gebenden Beziehungen.

Gene und impulsgebende Rahmenbedingungen befinden sich in einer gegenseitigen Abhängigkeit, die mit dem Begriff der „strukturellen Kopplung“ bezeichnet wird. Das Entwicklungsprinzip der strukturellen Kopplung basiert auf der Annahme, dass durch die lebenslange Plastizität des Gehirns eine optimale Anpassung an die vorgefundenen Rahmenbedingungen möglich ist (Doidge 2017). Was auf den ersten Blick positiv aussieht, bedeutet jedoch, dass sich insbesondere Kinder auch an nicht adäquate Erfahrungs- und Beziehungsangebote anpassen. Dem Gehirn fehlen in den ersten Lebensjahren Verarbeitungsformen im frontalen Kortex, die für das bewusste Denken, die Reflexion und Bewertung zuständig sind. Kinder passen folglich z. B. ihre Fähigkeiten an das Erleben von körperlicher oder emotionaler Gewalt an, ohne die Idee zu entwickeln, dass ihnen Unrecht widerfährt (Strüber 2016). Wallin führt dazu aus: „Eine Bindungsbeziehung zu einer primären Bezugsperson ist für das körperliche und emotionale Überleben eines Kindes und für seine Entwicklung unverzichtbar. Aufgrund dieser Unverzichtbarkeit ist das Kind gezwungen, sich an die Bezugsperson anzupassen und radikal alles auszuschließen, was die Bindungsbeziehung gefährden könnte“ (Wallin 2016, 14)

EXKURS

Der Aufbau des menschlichen Gehirns

Der entwicklungsgeschichtlich älteste Teil des Gehirns, das Stammhirn, beinhaltet die Regelkreise zur Steuerung der körperlichen Prozesse wie z. B. der Instinkte, Reflexe und des vegetativen Zentrums (Atmung, Herz-Kreislauf-System, Verdauung). Dieser Teil des Gehirns formt sich bereits vorgeburtlich weitestgehend aus. Doch auch Nervenregionen, die nicht mehr zum Gehirn zählen, übernehmen wichtige Aufgaben bei der Steuerung körperlicher Prozesse. So ist beispielsweise das Vagussystem an der Regulation des Tonus und des Aufmerksamkeitsniveaus beteiligt.

Oberhalb des Stammhirns ist das limbische System angesiedelt. Diese Hirnregion leitet aus Umweltinformationen die Bedeutung für den Organismus ab. Damit beantwortet es die Frage, ob die Auswirkungen eines Außenreizes als hilfreich oder gefährlich einzustufen sind. Im limbischen System sind die Steuerung der Affekte sowie die Möglichkeit, Ausdrucksverhalten zu zeigen, verortet. Auf der Grundlage dieser unbewusst ablaufenden Bewertung und der Entwicklung von Affekten lenkt das limbische System die Funktionen des Stammhirns. So fungiert es als organisierende Metaebene, die für eine Anpassungsleistung des Körpers sorgt. Zusätzlich ist das limbische System für eine Kopplung von Prozessen zwischen unterschiedlichen Hirnregionen zuständig.

Über das limbische System wölbt sich die Großhirnrinde (Kortex), die bewusste Leistungen wie z. B. willkürliche Bewegungen, Sprache, Handlungsplanung, analytisches Denken (Kosten-Nutzen-Analyse) und bewusstes Erleben ermöglicht. Der Kortex ist somit für die Entwicklung des Selbstbildes und der Selbstwirksamkeit, der Entwicklung von zielgerichteter Motivation und von emotionalen und sozialen Kompetenzen von entscheidender Bedeutung. Ohne den Aufbau von Mustern im Kortex verfügt der Mensch nicht über Möglichkeiten, sein Handeln bewusst zu reflektieren. Diese Gehirnregion verfügt über die größte Plastizität und ermöglicht dem Menschen durch die bewusste Bewertung von Situationen lebenslanges Lernen. Lernen und die Umgestaltung von Mustern sind auch nach der Adoleszenz noch möglich, dafür braucht es jedoch besondere Rahmenbedingungen, die vor allem Lernmotivation erzeugen.

Das Stammhirn und das limbische System sind dem Bewusstsein nicht zugänglich und können somit auch im pädagogischen Kontext nicht willentlich beeinflusst werden. Willentlich beeinflussbar ist der Kortex. Als Metasystem für das limbische System übernimmt der Kortex bremsende Funktionen (Impulskontrolle), sodass wir den unbewussten Bewertungen des limbischen Systems nicht ausgeliefert sind. Der Organismus organisiert autonom und größtenteils unbewusst, welche Gedanken, Gefühle und Körperbewegungen ein Reiz auslöst. Reflektieren wir eine Situation bewusst, gibt der Kortex das Ergebnis als Information an das limbische System weiter und steuert somit die Affekte, die aktiviert wurden. Stellen wir beispielsweise fest, dass keine Gefahr droht, kann die Reaktion des limbischen Systems, die wir in Form von Angst spüren, angehalten werden. Daraus ergibt sich wiederum eine Einwirkung auf das Stammhirn. Unsere Atmung beruhigt sich und die Pulsfrequenz sinkt.

FALLBEISPIEL

Felix – Entfaltung seines Potenzials unter erschwerten Bedingungen

Felix (5 Jahre) wird aufgrund von tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in meiner Praxis angemeldet. Die Eltern berichten, dass die Schwangerschaft problematisch verlaufen sei. Zudem hätten sich Felix‘ Fontanellen (Spalten zwischen den einzelnen Schädelplatten, die sich beim Neugeborenen noch nicht durch Verknöcherung geschlossen haben und so eine Dehnung des Schädels beim Ausreifen des Gehirns ermöglichen) zu früh geschlossen, sodass er zahlreiche Operationen, Krankenhausaufenthalte und damit auch Trennungen von Bezugspersonen hinter sich habe.

Er wird mir als unsicheres Kind beschrieben, das sich nicht von seiner Mutter trenne. Er könne eigene Bedürfnisse nur schwer aufschieben, gehe kaum Kontakt mit anderen Kindern ein und sei motorisch unruhig. Positiv erwähnen die Eltern, dass er wissbegierig sei, sehr genau beobachte und sich alles merke. Außerdem verfüge er über einen besonderen „Charme“ , womit er sich Aufmerksamkeit beschaffe, die er aber nicht für das Eingehen eines wirklichen Kontakts nutze. Die Eltern sorgen sich, da Felix in knapp eineinhalb Jahren eingeschult wird. Ihre größte Befürchtung besteht darin, dass Felix den Kontakt zu Lehrern und Kindern verweigern, sich durch sein „Clown-Verhalten“ in den Mittelpunkt spielen und seine motorische Unruhe ein aufmerksames Folgen des Unterrichts unmöglich machen könnte. Der behandelnde Kinderpsychiater benennt als Ziele: die Ablösung von der Mutter, den Aufbau adäquater Sozialkontakte und die Minimierung der motorischen Unruhe.

Felix hatte in den ersten Lebensjahren Erfahrungen gemacht, die mit einer hohen emotionalen Beteiligung einhergingen und für deren Bewältigung er aufgrund seines Alters nicht auf die erforderlichen Kompetenzen zurückgreifen konnte. Daher ging ich davon aus, dass Felix viele seiner als „schwierig“ beschriebenen Verhaltensmuster fest gebahnt hatte. Die Begleitung seines Veränderungsprozesses würde Zeit und Geduld erfordern.

Aufbau von Mustern – die Macht der Gewohnheit

Treffen wir in unserem Leben immer wieder auf ähnliche Situationen, Begegnungen und Abläufe (Reize) und sind diese Reize mit einer hohen emotionalen Beteiligung (Freude, Angst, Wut, Trauer) verbunden, wird die Impulsverarbeitung in Form von festen Verbindungen zwischen den Neuronen besonders stabil verankert. Es bilden sich Muster im Gehirn aus. Diese dienen dazu, Reize nicht mehr durch den Aufbau einer neuen Verbindung zwischen den Neuronen mühevoll verarbeiten und beantworten zu müssen, sondern über eine Vorlage für die Reizverarbeitung zu verfügen.

„Bei völliger Nichtaktivierung werden existierende neuronale Verbindungen erstaunlich schnell geschwächt. Die frei werdenden Hirnareale werden umgehend für andere Zwecke verwendet. Umgekehrt führen intensive wiederkehrende Einflüsse, die immer wieder dieselben Synapsen aktivieren, mit der Zeit nicht nur zu funktionellen, sondern auch zu strukturellen Veränderungen in den betreffenden Hirnarealen. Diese durch Bahnung entstandenen strukturellen Veränderungen gewährleisten eine dauerhaft erhöhte synaptische Übertragungsbereitschaft. Die gebahnten Prozesse laufen immer leichter ab und werden allmählich automatisiert“ (Grawe 2004, 139).

Stößt ein Reiz nicht auf ein passendes Muster, beginnt das Gehirn ein ähnliches Muster zu suchen und dieses so zu verändern, dass der neue Reiz eingepasst werden kann. Reize, für die kein auch nur annähernd passendes Muster gefunden wird, sind nicht wirklich integrierbar. Es kommt zu Unsicherheit, Angst und der Suche nach Sicherheit (z. B. bei einer vertrauten Person oder durch die Ausschaltung der Reizwahrnehmung), um die Kontrolle wiederzugewinnen.

Unser Gehirn ist ein Anknüpfungsorgan. Es setzt Reize dann ohne Irritation miteinander in Beziehung, wenn diese Reize an bereits bestehende Erfahrungen anknüpfen. Durch den Aufbau von Mustern wird die Voraussetzung geschaffen, komplexe Abläufe wie z. B. Bewegungen, Lesen oder die Art der Kontaktaufnahme zu automatisieren. Viele unserer alltäglichen Handlungen rufen wir so ohne bewusstes Nachdenken durch integrale Muster auf der kognitiven, emotionalen und motorischen Ebene ab.

Dieses sinnvolle biologische Prinzip führt dann zu Problemen, wenn für störendes, nicht mehr als sinnvoll erlebtes Verhalten sehr stabile Muster angelegt wurden, die automatisiert ablaufen. Der Mensch handelt in vertrauter Weise, erlebt sein Handeln aber nicht mehr als sinnvoll und kann es nur schwer stoppen. Für eine effiziente Alltagsbewältigung, in Gefahrensituationen, in denen schnelles Handeln notwendig ist, und für die Filterung von Wichtigem und Unwichtigem braucht es eine Begrenzung der Möglichkeiten durch Automatisierung. Ein Zuviel an Effizienz bedeutet jedoch eine Einschränkung der Möglichkeiten und eine erschwerte Anpassung an neue Herausforderungen. Für das Erlernen neuer Verhaltensweisen benötigt der Mensch eine Balance zwischen Anknüpfung an bestehende Erfahrungen und Herausforderungen, die groß genug sind, um eine automatisierte Beantwortung zu verhindern.

Dabei gilt es zu beachten, dass das Einüben neuer Kompetenzen in einer Stunde pro Woche nicht ausreicht, um neue Muster ausreichend zu bahnen. Um einen Lernprozess effektiv zu rahmen, bedarf es eines Transfers der Lernsituationen in den Alltag der Menschen.

Bindung und Autonomie

Bowlby (2016) beschäftigt sich in der Bindungstheorie mit der Frage, welche Auswirkungen gelingende oder von Irritationen geprägte emotionale Beziehungen zwischen Eltern und Kindern in den ersten Lebensjahren auf die Entwicklung der Kinder haben. Er erachtet eine sichere Bindung als wichtige Grundlage, damit das Kind später ein angemessenes Explorationsverhalten zeigen kann. Wallin (2016) zeigt Möglichkeiten auf, Bindungsmuster zu verstehen und in therapeutischen Beziehungen angemessen damit umzugehen.

Auch Strüber (2016) beschreibt anschaulich, wie Eltern über das Bindungssystem auf das Gehirn eines Kindes einen prägenden Einfluss nehmen. Durch die vielfältigen Lebensvollzüge der Mutter (z. B. Bewegung, Nahrung, Emotionen) erhält der Embryo Impulse, die ihn auf der Grundlage der festen Bindung über die Nabelschnur und das Getragenwerden wachsen lassen. Das Wachstum basiert dabei immer stärker auf Impulsen und Verknüpfungen, die der Embryo nicht nur von außen aufnimmt, sondern autonom erzeugt. Schon zu Beginn des Lebens werden Verbundenheit (Bindung) und eigenständiges Wachstum (Autonomie) als grundlegende Zielsetzungen des Lebens in Form von Mustern im Gehirn angelegt.

Bei der Weiterführung dieser Erfahrungen nach der Geburt des Kindes baut uns die Natur eine Brücke. Der Klang der Stimme, der Geruch der Mutter und ihr Herzschlag sind dem Kind vertraut und sorgen dafür, dass das Gefühl der Verbundenheit nicht abreißt. Auch Autonomie und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit werden sofort nach der Geburt thematisiert, indem z. B. das Kind die Brustwarzen der Mutter aktiv suchen muss. Aufgabe des Bezugssystems ist es, das Kind zu unterstützen, diese beiden Fähigkeiten im Kontakt mit anderen Personen auszubauen. Dem Vater kommt hier eine besondere Bedeutung zu, da er in der Regel die erste Bezugsperson ist, auf die das Kind die Bindungs- und Autonomieerfahrungen überträgt (Hüther 2007).

„Das Kind verinnerlicht seine frühen dyadischen Beziehungserfahrungen. Sie schlagen sich in seinem impliziten Gedächtnis in Form von Wahrnehmungs-, Verhaltens-, emotionalen Reaktionsbereitschaften und motivationalen Bereitschaften nieder […] In einer guten Bindung sind die Bezugspersonen ein immer erreichbarer Zufluchtsort, der physische Nähe, Schutz, Sicherheit und Trost bietet“ (Grawe 2004, 193).

FALLBEISPIEL

Felix – auf der Suche nach Sicherheit

In der Vorplanung der ersten Stunde gehe ich davon aus, dass für Felix und seine Familie der Aufbau von Bindung durch die vielen Krankenhausaufenthalte erschwert war. Felix wurde früh und intensiv mit Reizen konfrontiert, ohne dass er zur Bewältigung auf geeignete Muster zurückgreifen konnte. Dies führte zu einer Dauerbelastung in Form von Angst und Unsicherheit, die er seither über die enge und in seinem Alter nicht mehr angemessene Bindung zur Mutter reguliert. Die Übertragung von Bindung auf andere Menschen stellt für ihn eine Herausforderung dar, die er eher durch Vermeidung als durch Annäherung löst. Selbstwirksamkeit und Autonomie hat sich Felix durch die Aneignung von Wissen aufgebaut. Durch die von außen gesetzten Anforderungen gerät das Familiensystem zunehmend unter Druck.

Zum ersten Termin am Stall kommt Felix an der Hand der Mutter. Mein Hund begrüßt beide freudig und legt sich danach mitten ins Geschehen. Felix zeigt keine Angst. Frau K. berichtet mir, sie habe Felix erklärt, warum er zu mir und den Pferden kommen solle. Beim ersten Mal werde sie dabei bleiben, in der nächsten Woche dann aber gehen. Felix drückt sich an seine Mutter und erklärt mir, ohne Blickkontakt aufzunehmen, dass er schon wisse, was ich wollen würde, er das aber nicht wolle und auf keinen Fall vorhabe zu bleiben. Dann berichtet er davon, was er alles über Hunde weiß. Dabei trippelt er neben seiner Mutter hin und her und schaut auf den Hund. Berühren will er den Hund nach Aufforderung durch die Mutter nicht. Er wisse nicht, wie das gehe und der Hund könne ihn beißen. Felix verschwindet hinter seiner Mutter.

Stressreaktionen

Das Gehirn bewertet Situationen danach, ob wir durch Selbstwirksamkeit Einfluss nehmen können und somit die erfolgreiche Bewältigung möglich erscheint. In Situationen, in denen die Angst zu groß wird, kann der Mensch nicht mehr auf differenzierte Lösungsstrategien zurückgreifen (Urmoneit 2017b). Die in Bezug auf die Grundbedürfnisse als existenziell bedrohlich erlebte Situation setzt eine unkontrollierte Stressreaktion in Gang, bei der eine große Menge Cortisol aus den Nebennierenrinden freigesetzt wird.

„Das System ist in dieser Situation mit sich selbst beschäftigt, nicht mit der Bewältigung der Umgebung […] Gelernt wird in einer solchen Situation aber vor allem der durch den Stressor ausgelöste Zustand selbst, und das ist primär Angst“ (Grawe 2004, 246).

Dies führt dazu, dass wir keinen Zugriff mehr auf Lösungsmuster des Kortexes haben. Archaische Verhaltensweisen wie Flucht, Angriff oder Erstarrung, die als Muster in den entwicklungsgeschichtlich älteren Hirnregionen gespeichert sind, werden abgerufen (Rothschild 2011). Lösungsstrategien werden nur entwickelt, wenn die Unruhe im Gehirn durch Angst und Stress und die damit einhergehende Ausschüttung von Cortisol nicht zu groß ist. Dann bauen Menschen Wissen, Wahrnehmungsfähigkeit, Motorik, soziale Beziehungen, Neugier und Lernverhalten auf und stellen sich Herausforderungen. Wir müssen erleben, dass es Probleme gibt und diese durch das Zurückgreifen auf Selbstwirksamkeit und Beziehungsunterstützung lösbar sind.

FALLBEISPIEL

Felix – erste Kontaktmomente

Felix teilt deutlich mit, dass sein Überlebenskonstrukt mit dem Gehen der Mutter in Gefahr gerät und er von mir Forderungen erwartet, denen er sich nicht gewachsen sieht. Dadurch, dass er keinen Blickkontakt aufnimmt, ist es ihm nicht möglich, in meinem Gesicht zu lesen und damit eine Bewertung vorzunehmen, ob und wie ich mich in ihn einfühle (→ Exkurs „Spiegelneuronen“ ). Er versucht die Situation über sein kognitives Wissen zu „retten“ . Diese Strategie funktioniert bis zu der Aufforderung, eine Handlung auszuführen und mit einem anderen Lebewesen Kontakt aufzunehmen. Er reagiert mit Flucht, versteckt sich hinter dem Rücken seiner Mutter. Daher besteht mein erstes Ziel darin, Felix zu unterstützen, Sicherheit und Ruhe zu finden, damit er überhaupt die Chance hat, seine Wahrnehmungsfähigkeit zu nutzen. Ich erläutere der Mutter meine Sichtweise und bitte sie, in den Stunden als sicherer Ort für Felix anwesend zu bleiben. Außerdem vereinbare ich mit ihr die folgenden Punkte:

Sie nimmt nicht an Aktivitäten der Kinder teil.

Sie bietet Felix Schutz, wenn er unsicher wird.

Sie beantwortet seine Fragen.

Felix erkläre ich, dass in der nächsten Woche auch andere Kinder dabei sein werden. Er könne in Ruhe mit seiner Mutter schauen, was wir machen. Eine Einzelmaßnahme halte ich nicht für geeignet. Felix stünde zu sehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und hätte somit zu wenig Rückzugsraum. Mit den Eltern vereinbare ich regelmäßige Gesprächstermine, um mein Handeln zu begründen, den Prozess zu reflektieren und nach Möglichkeiten zu suchen, wie Felix dabei unterstützt werden kann, die neuen Kompetenzen im Alltag zu üben.

In den ersten Stunden bleibt Felix in der Nähe der Mutter. Er beschäftigt sich mit meinem Hund, den er nach und nach immer häufiger berührt. Nach der vierten Stunde berichtet er mir von seinen Kontakten mit dem Hund. An seine Kontaktaufnahme knüpfe ich mit Fragen, die auf seine Kompetenzen in der Beziehungsgestaltung zum Hund abzielen, an. Z.B.: „Wie machst du das, dass Candy beim Streicheln so stillhält?“ Daraufhin fängt Felix immer häufiger an, meine Aufmerksamkeit einzufordern. Meine Fragen laden ihn ein, mir zu erzählen und zu zeigen, wie er im Kontakt mit dem Tier etwas tut. Das angelernte „Fachwissen“ verliert an Bedeutung. Damit treten seine Handlungskompetenzen in den Fokus unseres Dialogs.

EXKURS