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An Lichterfelde

Heinrich Seidel

Wo liegt der allerschönste Ort

In unserm Vaterlande?

Mit Freuden ruf ich aus das Wort:

Er liegt am Bäkestrande!

Ein Ort, so schön wie ein Gedicht -

So lieblich ist sein Angesicht,

Daß ich mit Freuden melde:

Er nennt sich Lichterfelde!

Landhäuser liegen schmuck und blank

In Gärten, wo ich wandre

Bei Blütenduft und Vogelsang,

Und keins ist wie das andre.

Nach jedem Sinn in diesem Ort

Findt Schlösser man und Häuschen dort,

Denn jedem, wie ich melde,

Gefällt’s in Lichterfelde!

Gar kluge Männer, schöne Frau’n

Sieht man der Gärten warten,

Die Obst und Kohl und Erbeer’n bau’n

Unď Rosen aller Arten.

Nur die Kartoffel wird nicht dick

Das halt’ ich für kein Mißgeschick,

Wie ich mit Achtung melde,

Vor dir, o Lichterfelde!

Und allezeit warst du voran,

Bist nie zurückgeblieben:

Wo ward die allererste Bahn

Elektrisch wohl betrieben?

Das neidet dir die ganze Welt,

Das ist es was auch uns gefällt

Und was mit Stolz ich melde

Von Dir, o Lichterfelde!

Jetzt zieht auch der Kanal daher

Gleich einem Silberbande,

Nun geht ein Weg von Meer zu Meer

Durch deine grünen Lande.

zur großen Seestadt wirst du dann,

Die sich mit Leipzig messen kann,

Wie rühmend ich vermelde:

Ein Hurra Lichterfelde!

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2014 Harald Hensel

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783735768483

Vorwort zur 1. Auflage

Die Idee zu diesem Buch ist im Frühjahr 2008 während eines geführten Rundganges durch das Villenviertel der Gartenstadt Lichterfelde-West entstanden. Dabei hatten ältere Anwohner erzählt, wie es hier bei Kriegsende 1945 aussah und wie sich seither die Bebauung und das Geschäftsangebot verändert haben. „Wenn man das jetzt nicht bald aufschreibt, sind diese Fakten der jüngeren Geschichte von Lichterfelde vergessen“, dachte ich. So suchte und fand ich ältere Lichterfelder, die als „Zeitzeugen“ über Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend sprechen, Erinnerungen zu Menschen und Örtlichkeiten hier in Lichterfelde-West mitteilen wollten.

So ist dieses Buch mit persönlichen Berichten über das Leben in unserem schönen Wohnviertel entstanden. Es sind Erinnerungen an die Zeit während des Krieges und an den Wiederaufbau, an die Phase des Wirtschaftswunders. Alle Texte beziehen sich auf Lichterfelde und zeigen schlaglichtartig, wie die Menschen hier in der Zeit zwischen 1940 und 1970 gewohnt, gelitten und gehofft, gespielt, gelernt, gearbeitet, eingekauft und sich amüsiert haben. Die Autoren schildern ernste und tragische Ereignisse und manchmal beschreiben sie auch rückblickend den Alltag, sie erzählen amüsante Anekdoten oder berichten von einer Begegnung mit bekannten Persönlichkeiten.

In den Beiträgen ist jene Begeisterung zu spüren, die der Dichter Heinrich Seidel in seiner Ode an Groß-Lichterfelde bereits vor über 100 Jahren zum Ausdruck brachte.

Mein besonderer Dank und meine Anerkennung gelten allen Autorinnen und Autoren, dass sie diese ganz persönlichen Erinnerungen öffentlich machen und uns auch einen Blick in die privaten Fotoalben gestatten.

Für die Mitwirkung an der ansprechenden Gestaltung und für ihre Bemühungen um ein fehlerfreies Lesevergnügen danke ich Hans-Joachim Filter, Barbara Luchmann, Wolfgang Holtz, Rolf und Inge Geldner und Sabine Plümer!

Harald Hensel

Berlin-Lichterfelde, November 2008

Inhaltsverzeichnis

Die Schrecken des Krieges erlebt – und überlebt in Lichterfelde

Irene Sternberg, geb. Warncke

Mit dem Feuer gespielt – und Glück gehabt in Lichterfelde

Ekhard Franke

Kriegsende am Johanneskirchplatz – und der Friede kam

Elisabeth Stein, geb. Tecklenburg

Vorzugsweise ein Ort für Damen in Lichterfelde – das Rother-Stift

Michael Appenroth

Schwere Zeiten, gute Zeiten in Lichterfelde

Nanette Lange-Kowal

Schuld und Sühne – Entnazifizierung in Lichterfelde, ein Beispiel

Harald Hensel

„Schwester!!“ – Als Krankenschwester im Rittberg-Krankenhaus

Gerda Peeschke

Schule in der Nachkriegszeit – in der 13. Grundschule

Gudrun Stolze

Hauskonzert und Kellerfete – wie der Jazz nach Lichterfelde kam

Tilo Wedell

Als „Trümmermädchen“ in der Köhlerstraße

Monika Gesierich, geb. Kuchwalek

Wir Straßenkinder – Spielen auf der Straße in Lichterfelde

Harald Hensel und Barbara Luchmann, geb. Friesecke

Halbstark in Lichterfelde – stark war die Zeit!

Bobby Kreuz

„Lass doch der Jugend, der Jugend ihren Lauf…“

Dietrich Kleiner

Von der Besatzungs- zur Schutzmacht – die Amis in Lichterfelde

Rainer Longk

„Mach Dir ein paar schöne Stunden – geh’ ins Kino Der SPIEGEL“

Christel Filter, geb. Fischer

Der ersehnte Kinofilm – „freigegeben ab 16 Jahre“

Monika Gesierich, geb. Kuchwalek

„Was darf’s denn sein?“ Auf Einkaufstour im Bahnhofsviertel

Margot Hansen, geb. Grosse

Einkaufsboulevard und Geschäftsmeile in der Ringstraße

Brigitte Schiller, geb. Quedenfeld

Knusprige Schrippen, frisches Brot – und immer nett lächeln!

Gertrud Alexander, geb. Grell

Hier geht’s um die Wurst: als „Fleischmamsell“ in Lichterfelde

Rita Curt, geb. Schulz

In der Drakestraße: Zehn Bolle-Filialleiter überlebt!

Maria Lehmann

Lässt den Kiez gut zu Fuß aussehen: Schuhmacher Meißner

Jutta Meißner

Elektro-Radio Kurt Broy: Frühes „Public Viewing“ in Lichterfelde

Dr. Cornelia Broy-Bülow, geb. Broy

Einmal Lichterfelde – für immer Lichterfelde!

Walter Nikolaus Böhm

„Man trägt Hut in Lichterfelde!“ – und die Nase hoch?

Elisabeth Meurer, geb. Ristau

„Gut Sport!“ – Lichterfelde hält sich fit mit TusLi

Irmgard Demmig, geb. Scholz

Tanzen will gelernt sein – bei Tanzschule Knaul in der Drakestraße

Susanne Knaul

Wohnen in Lichterfelde-West – Gute Nachbarschaft

Dr. Wilfried Reinicke

Ein Jahr im Haus des Bischofs Otto Dibelius

Agnes v. Walther

Leben in Lichterfelde mit dem Maler Max Kaus

Sigrid Kaus

Begegnung mit meinem Lehrer Dr. Ernst-Erwin Lange-Kowal

Wolfgang Holtz

In guter Nachbarschaft mit Herta und Boleslaw Barlog

Wilma Gütgemann-Holtz

Lichterfelde – Ort der Glückseligen und ein reichlich kriminelles Pflaster

Harald Hensel

Die Schrecken des Krieges erlebt – und überlebt in Lichterfelde

Irene Sternberg, geb. Warncke

Studentin Irene Warncke

1933 bezogen meine Eltern, mein älterer Bruder und ich unser Haus im Weißdornweg, das mein Vater von der Lichterfelder Firma „Andreas Doll“ hatte bauen lassen. Der Weißdornweg verbindet die Carstennstraße mit der Berner Straße, unweit des damaligen Rittberg-Krankenhauses.

Eingeschult wurde ich im Frühjahr 1935 in die 13. Volksschule in der Kommandantenstraße. In jeder Altersstufe gab es eine Jungen- und eine Mädchenklasse. Der Schulhof wurde in den Pausen auf der einen Hälfte von den Mädchen, auf der anderen von den Jungen genutzt. Die Lehreraufsicht sorgte streng für die Einhaltung dieser Ordnung. Zum 5. Schuljahr (1939) wechselte unsere Klasse fast geschlossen in die Barbara-Uttmann-Oberschule (Lyzeum) in der Dürerstraße. Dass so viele Schüler einer Klasse in ein Gymnasium wechselten, war damals ungewöhnlich und lag sicher an den an der Bildung ihrer Kinder interessierten Eltern hier in Lichterfelde-West. Die Väter meiner Klassenkameradinnen waren Professoren, Offiziere, Staatsbeamte; mein Vater arbeitete in einer Bank im Zentrum Berlins.

Schon vor Kriegsbeginn waren einige Lebensmittel rationiert, von Kriegsbeginn an gab es Lebensmittelkarten. Am Schulalltag änderte sich zunächst wenig. Wenn es in der Nacht Fliegeralarm gegeben hatte, fing der Unterricht zwei Stunden später an. Wir Schüler sammelten morgens die Splitter der Flak-Geschosse (Flak bedeutet Flug-Abwehr-Kanone). Anfang des Jahres 1943 gab es vermehrt schwere Luftangriffe auf Berlin. Alliierte Bomberverbände legten Teile Berlins in Schutt und Asche. Bei einem Angriff am 1. März 1943 wurden auch Teile Lichterfeldes schwer getroffen und ließen uns Kinder hautnah spüren, was Krieg wirklich bedeutet. Besonders getroffen wurde die Gegend nördlich und vor allem südlich der Kaserne in der Finckensteinallee, damals „Leibstandarte Adolf Hitler“. Wir hatten zu dieser Zeit, wie viele andere auch, noch keinen ausgebauten Luftschutzkeller. Nie wieder habe ich später das Sausen und Krachen der Bomben so laut und unmittelbar vernommen wie in dieser Nacht. Bei diesem Angriff ist die Mutter einer Klassenkameradin in der Potsdamer Straße ums Leben gekommen. Unter den Bombenopfern befanden sich auch der Vater einer guten Bekannten und ein Schulkamerad meines Bruders, die beide in der Nähe des Thuner Platzes umgekommen waren.

Im August 1943 wurden alle Berliner Schulen geschlossen, die Kinder meist klassenweise mit den Lehrern evakuiert. Ich kam nach Lissa (Leszno) im Warthegau, so nannte man damals die ehemalige Provinz Posen, wohnte bei Verwandten und besuchte das dortige Kant-Gymnasium. Am 24. März 1944 erhielten wir aus Berlin ein Telegramm mit der Nachricht, dass unser Haus bei einem Luftangriff durch eine Luftmine total zerstört worden war. Trotz des Schreckens waren wir glücklich, dass alle Verwandten am Leben waren! Ein Nachbar hatte sich einen unter der Erde gelegenen Bunker bauen lassen, den auch mein Vater und meine Großeltern bei diesem Angriff aufgesucht hatten. In unserem Haus hätte niemand überlebt.

Bald darauf erhielten meine Eltern die Genehmigung, im Garten ein Behelfsheim zu errichten, wobei auch italienische Kriegsgefangene eingesetzt wurden. Weihnachten 1944 konnte auch ich zu meinen Eltern nach Berlin kommen und wir feierten in Lichterfelde den Heiligen Abend zusammen mit unseren italienischen Bauhelfern in dem neuen Behelfsheim. So halfen wir uns gegenseitig hinweg über dieses Weihnachtsfest. Wir waren in großer Sorge um meinen Bruder, der zur Verteidigung von Königsberg eingesetzt worden war. Nachdem mein Vater mit Hilfe von Freunden und Nachbarn die gefährlichen Abrissarbeiten an der Ruine des Hauses vorgenommen hatte, gelang es den italienischen Bauarbeitern, die untere Etage unseres Hauses bis Kriegsende wieder zu errichten, so dass meine Großeltern das Behelfsheim beziehen konnten.

Im Januar 1945 fuhr ich nach Lissa, zum Glück in Begleitung meiner Mutter. Unmittelbar nach unserer Ankunft hörten wir, dass wegen der Nähe der Front die Schulen in Lissa geschlossen werden. Am nächsten Tag waren Bahnhof und Züge überfüllt. Mit Schrecken denke ich daran, dass wir in Glogau umsteigen mussten, auf dem Bahnhof bereits das Schießen in der Ferne hörten und der Zug schon überfüllt ankam. Mein Vater war glücklich, als wir wieder in Berlin waren. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, dass er uns hatte fahren lassen.

Bei den Abrissarbeiten hatte sich mein Vater verletzt, die Wunde nicht richtig behandelt und es entwickelte sich eine Blutvergiftung, so dass ihm im Rittberg-Krankenhaus ein Finger abgenommen werden musste. Es gab noch kein Penicillin und so erlebten wir wieder Tage ernster Sorge.

Häuser in der Potsdamer Straße nach dem Bombenangriff 1943

Unser Haus im Weißdornweg mit Totalschaden am 24.03.1944

Gartenhaus, erbaut im Sommer 1944

Unser Haus behelfsmäßig wieder hergestellt

Wiederaufbau des Hauses 1956/57

Mehrere Nachbarn wurden zum Volkssturm eingezogen. Die Berichte über das Heranrücken der Front waren bedrohlich und immer wieder gab es inzwischen auch Tagesangriffe der britisch-amerikanischen Bomberflotten.

Dennoch erlebte ich im Vorfrühling 1945 in Lichterfelde wieder ein Stück „normales Leben“. An der „Karin-Göring-Schule“ (jetzt Goethe-Schule) im Ostpreußendamm erteilten zurückgekehrte Lehrer wieder einige Stunden Unterricht. Besonders positiv empfand ich den außergewöhnlich frühen und schönen Frühling. Die Frühlingssonne, die Vögel und das frische Grün in den Gärten – auch in den Ruinen – stimmten mich froh. Zugleich spürte ich die allgemeine Angst, die Sorge vor dem Ungewissen. Einige entfernte Nachbarn nahmen sich das Leben. Die Begegnungen im Mädchenkreis der Johannesgemeinde mit Fräulein Kusserow stärkten meinen Glauben und gaben mir Trost und Hoffnung. Als der Gefechtslärm näher kam, gab es Sonderzuteilungen für Fleisch und Brot. Meine Mutter wagte sich nicht mehr aus dem Haus. Ein mutiger Nachbar holte das Fleisch bei Thümmling in der Finckensteinallee für mehrere Familien.

Als wir am 25. oder 26. April 1945 den Gefechtslärm immer näher kommen hörten, suchten wir zusammen mit unseren Nachbarn ihren Bunker im Garten auf. Unter uns war ein kleines Kind und so konnten wir eine weiße Windel vor den Eingang des Bunkers hängen. Als das Schießen aufhörte, wagte sich der Nachbar vorsichtig aus dem Bunker heraus und bemerkte einen russischen Panzer in der Carstennstraße. Am folgenden Tag sah man überall auf den Straßen Soldaten der Roten Armee. Die Türen aller Häuser mussten offen bleiben. Die Russen gingen den ganzen Tag über ein und aus und nahmen mit, was sie haben wollten. Vor allem an Armbanduhren waren sie interessiert. Am Abend saßen meine Eltern und ich im Keller unseres Hauses. Wir hatten keinen Strom und saßen bei Kerzenlicht. Der erste Russe, der den Raum betrat, kam sofort auf mich zu. Als der Soldat direkt vor mir stand, fiel plötzlich die Kerze um. Es wurde stockdunkel und der russische Soldat floh. Verschiedene Frauen aus der Nachbarschaft kamen zu uns, leider konnten wir sie nicht schützen. Ein ganzer Trupp russischer Soldaten kam und nahm alle Frauen mit, darunter auch meine Mutter. Mich – unter einer Decke liegend – hatten sie übersehen. Ich floh ins Nachbarhaus. Wie durch ein Wunder blieb ich wieder unentdeckt.

Am Morgen verließen wir unser Haus und versuchten, zu Verwandten nach Potsdam durchzukommen, aber bereits an der Potsdamer Chaussee hörten wir wieder Schüsse. In Richtung Potsdam wurde noch gekämpft. Als wir uns ratlos auf der Straße niederließen, wurden wir plötzlich auf eine in der Nähe gelegene Schule hingewiesen, die von einem russischen Kommandanten bewacht wurde. Hier konnten wir in Ruhe übernachten. In dieser Schule erlebte ich am 30. April meinen 16. Geburtstag. Es war der Tag, an dem Hitler sich das Leben nahm. Nach einer Woche konnten auch meine Mutter und ich zurückkehren. Die Häuser und Grundstücke durften wieder abgeschlossen werden. Die sowjetischen Kommandanten bemühten sich, dass keine Übergriffe mehr passierten.

Es dauerte nicht lange und der Unterricht begann wieder. Die beiden Lichterfelder Oberschulen für Mädchen wurden zusammengelegt unter dem Namen Goethe-Schule und erhielten das Gebäude Drakestraße/Ecke Weddigenweg. Anfangs waren wir in der Klasse nur 13 Schülerinnen, aus meiner alten Klasse waren es nur noch vier. Zwei davon hatten einen jüdischen Elternteil. Viele Kinder waren mit ihren Eltern in den Westen gegangen, andere hielten sich der besseren Ernährung wegen noch auf dem Lande auf. Gas und Strom gab es nur stundenweise und auch die Straßenbahn sowie die S-Bahn kamen im Sommer erst wieder nach und nach in Gang. Überaus glücklich waren wir in der Familie, als mein Bruder im Herbst 1945 nach Hause kam. Er war schwerkrank aus russischer Gefangenschaft entlassen worden. Als Berlin in Sektoren aufgeteilt wurde, gehörte Lichterfelde zum amerikanischen Sektor. Am Anfang gab es bei unserem Bäcker (Scheppan) nur Weißbrot. Für meinen Bruder war es die Rettung. Das Weißbrot regulierte den kranken Magen und mein Bruder erholte sich langsam.

Die Lehrer an der Goetheschule waren für mich alle neu. Pflicht waren in der Oberstufe für uns alle drei Fremdsprachen. Erste Fremdsprache war Englisch, die zweite Russisch, die dritte wahlweise Latein oder Französisch. Ich entschied mich für Französisch, in diesem Fach unterrichtete uns Frau Kirchner („Kiki“). Frau Kirchner hat viel gefordert und mich sehr gefördert, ihr habe ich mein Interesse für die französische Sprache zu verdanken. 1947 habe ich die Abiturprüfung abgelegt und bald darauf mein Studium begonnen, zuerst an der Pädagogischen Fakultät der Universität Berlin im Bezirk Mitte. Nach drei Semestern wechselte ich in die inzwischen neu gegründete Freie Universität in Dahlem, an der ich 1953 mein Staatsexamen ablegte. Bereits im gleichen Jahr kam ich an der Hermann-Ehlers-Schule in Steglitz in den Schuldienst.

In den ersten Jahren nach dem Krieg bestimmte der Mangel alle Lebensbereiche. Wir versuchten, in unserem Garten so viel Gemüse wie möglich anzubauen. Ich kaufte gerne Pflanzen in der Gärtnerei Wienholz in der Finckensteinallee, wo es einen sprechenden Papagei gab. Mit den Lebensmittelmarken stand ich beim Kaufmann Grabo (Carstennstraße/Privatstraße) an, beim Fleischer Eigenwillig holten wir „Fleisch, möglichst etwas fett“, wie mich meine Mutter beauftragte. Zur Zeit der Luftbrücke waren wir froh, dass wir Trockenkartoffeln erhielten.

Eine schwierige Phase erlebten wir in der Familie nach der Währungsreform 1948. In Westdeutschland und in Westberlin gab es nun die neue Währung, die D-Mark. Mein Vater aber wurde weiter im Osten bezahlt, mein Bruder und ich studierten. Sparsamkeit war nun oberstes Gebot. Gerade zu dieser Zeit gab es aber endlich auch in Westberlin viele Lebensmittel, die wir so lange vermisst hatten. Zum Glück hatten wir Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten. Einen Tag im Sommer 1947 habe ich als Trauertag in Erinnerung: Unbekannte hatten nachts alle Kartoffeln ausgegraben und gestohlen, die wir angebaut hatten und deren Ernte ein Freudenfest hatte werden sollen!

Unsere Lage änderte sich schnell, als mein Vater 1951 in einer Bank in Westberlin eine neue Stelle angetreten hatte. 1957 ließ mein Vater das Haus in verkleinerter Form (erneut von der Firma Doll) wieder errichten.

Die Liebe war es, weshalb ich Lichterfelde verließ. Nach unserer Hochzeit 1954 zogen mein Mann und ich in das Haus einer Tante in Staaken, das nur leichten Bombenschaden erlitten hatte. Von dort zunächst zu Fuß, dann mit Bahn und Bus zur Schule in Steglitz, das war schon täglich eine kleine „Weltreise“. Später wurden wir stolze Besitzer einer Isetta. Im Jahr 1963 zogen wir mit unseren Kindern nach Luxemburg, wo mein Mann und ich an der Europäischen Schule unterrichteten. Seit 2003 lebe ich wieder in der schönen Gartenstadt Lichterfelde, nur „einen Katzensprung“ vom väterlichen Haus im Weißdornweg entfernt, das jetzt meine Tochter mit Familie bewohnt.

Hochzeit im Jahr 1954

Mit dem Feuer gespielt – und Glück gehabt in Lichterfelde

Ekhard Franke

Ekhard Franke im Jahr 1941

Als ich neun Jahre alt war, ist unsere Familie 1938 in die neu erworbene Villa Baseler Straße 69 eingezogen. Meinem Vater gehörte die Firma Hermann Franke, ein bereits vom Großvater 1896 gegründetes Geschäft für Bau- und Brennmaterial. Der Hauptsitz der Firma befand sich in der Schillerstraße 23 in Lichterfelde-Ost, eine Zweigstelle mit Lagerplatz hatten wir in der Curtiusstraße/Ecke Kadettenweg an der Bahnlinie gleich neben unserem Konkurrenten Berger, Kulp & Röchling (heute Auto-Eicke). Ab 1940 besuchte ich das Schiller-Gymnasium am Ostpreußendamm, nahm dann aber auf Wunsch meiner Eltern nicht an der „Kinderlandverschickung“, der Evakuierung ganzer Schulklassen, teil, die angesichts zunehmender Bombenangriffe auf die Reichshauptstadt im August 1943 angeordnet wurde. Kurzzeitig war ich in einem Internat in Strausberg untergebracht. Dort wollte ich aber schnell wieder weg, weil diese Anstalt mir als NS-Eliteschule missfiel. Meine Eltern sind Regimegegner gewesen, mein Vater war als langjähriger Freimaurer sehr individualistisch eingestellt und er legte auf die persönliche Freiheitsentfaltung großen Wert. So dachten auch die Wollmanns, eine angesehene Juristenfamilie aus dem Freiwaldauer Weg in Lichterfelde, mit deren Söhnen Rüdiger und Jürgen ich eng befreundet war. Unseren Eltern gelang es, uns einen Platz in einer Schule in Potsdam zu besorgen, wohin wir täglich mit der S-Bahn fuhren. In der Baseler Straße hatte mein Vater hinten im Garten einen Splittergraben ausheben lassen, in den sich unsere Familie bei Fliegeralarm zurückziehen konnte. Bei einem Bombenangriff im Jahr 1944 erhielt das Haus der Wollmanns im Freiwaldauer Weg 31 einen Volltreffer – Frau Wollmann sowie die Tochter, die beide allein zu Hause waren, kamen ums Leben. Angesichts dieses tragischen Ereignisses waren Herr Dr. Wollmann und meine Eltern nun besonders besorgt, dass wir fünfzehnjährigen Jungen doch noch als letztes Aufgebot in den Krieg müssen. Eine schriftliche Aufforderung, uns in ein „Wehrertüchtigungslager“ nach Tschechien zu schicken, ignorierten wir im Januar 1945 einfach, „denn die Jungen sind gerade bei Verwandten auf dem Lande“. Unsere Väter hatten uns vorher schnell nach Töplitz geschickt. Im März 1945 erhielten wir eine Einberufung zum Volkssturm und hatten uns in einer Schule am Augustaplatz einzufinden, wo wir einige Tage an panzerbrechenden Waffen ausgebildet wurden. Unsere Gruppe umfasste sämtlich Jugendliche des Geburtsjahrgangs 1929. Ein SS-Offizier forderte uns in einer heroischen Rede zur freiwilligen Meldung für den direkten Fronteinsatz auf. Wir sollten gemeinsam der neuen „Division 29“ angehören, die die Reichshauptstadt heldenhaft verteidigen wird. Ich hatte Angst und wusste, jetzt muss ich Zeit gewinnen, die Entscheidung hinauszögern. Sowohl Jürgen Wollmann als auch ich meinten, das müssten wir erst mit unseren Vätern klären um uns von ihnen auch gebührend verabschieden zu können. Dennoch erhielt ich am 20. April, am „Führergeburtstag“, die Einberufung, einen Stellungsbefehl zum Volkssturm. Die Eltern haben uns aber zu Hause versteckt, zudem war der Schwager meiner Schwester bei uns in der Baseler Straße untergetaucht, der von der inzwischen bedrohlich nahen Ostfront getürmt war und sich hier als Deserteur in größter Lebensgefahr befand. So blieben wir bis zum 25. April 1945 unbehelligt, als die Russen Lichterfelde einnahmen. In unser Haus wurden drei russische Offiziere einquartiert, die sich unserer Familie gegenüber ordentlich verhalten haben. Im Juli übernahmen die Amerikaner Lichterfelde und wieder quartierte man Besatzungssoldaten bei uns ein. Jetzt grub mein Vater einige Kisten Wein im Garten aus, die er vorsorglich verbuddelt hatte. Den Wein haben wir mit den Amerikanern gemeinsam getrunken. Dennoch beschlagnahmten sie unser Haus und bis 1947 war hier ein Casino der US Army untergebracht. Wir wohnten damals Baseler Straße 65 und später Nr. 63. Ab Herbst 1945 bin ich auf das Heese-Gymnasium gegangen, wo ich 1948 das Abitur ablegen konnte.

Ekhard (li.) im Zeltlager am Wannsee 1947

Die „Wollmänner“ und ich, wir waren während des Krieges neugierige und abenteuerlustige Jungen. So sind wir 1943 zum Gefangenenlager an der Wismarer Straße geradelt und haben dort am Stacheldrahtzaun geguckt, was das wohl für Sträflinge sind. Ich nahm an, das müssen Kriminelle sein. Einmal hatte ich einen Trupp auch in der Straßenbahn gesehen, als sie unter Bewachung offenbar zum Arbeitseinsatz fuhren. Später erst habe ich erfahren, dass es ausländische Zwangsarbeiter waren, die uns nicht verstehen konnten, als wir sie am Zaun laut ansprachen. Mit großem Interesse haben wir der 8,8 cm-Flak auf der Wiese zwischen Altdorfer und Murtener Straße zugesehen, wenn diese Batterie auf die Flugzeuge am Himmel ballerte. Und wir sammelten natürlich Granatsplitter sowie möglichst unbeobachtet Propagandaflugblätter, die von den alliierten Feindflugzeugen abgeworfen wurden. Deren Besitz war streng verboten, dennoch tauschten wir sie gern, zum Beispiel „Das Sternenbanner“. Besonders reizvoll war es jedoch, Blindgänger von Stabbrandbomben zu finden. Das galt als sehr gefährlich und war gleichfalls streng verboten. Dennoch haben wir diese Blindgänger heimlich aufgesammelt, die Rohre aufgeschraubt und das Thermit, die Brandchemikalie, herausgekratzt und zum Bau von „Schwärmern“ benutzt!! Einmal erfuhren wir von Verwandten über das Telefon, dass in Schöneberg gerade bei einem Luftangriff Brandbomben abgeworfen wurden und nun auch viele Blindgänger auf den Straßen herumliegen. Da sind wir Jungen ganz schnell mit der S-Bahn hingefahren, haben zahlreiche der nicht funktionierenden Stabbrandbomben gefunden, in zwei Aktentaschen gesteckt und sind damit in der voll besetzten S-Bahn (!) wieder bis Lichterfelde-West zurückgefahren. Eine große Blechbüchse mit diesem Thermit hatte ich bis zum Abi 1948 aufgehoben – und es dann als Brandbeschleuniger zum rituellen Verbrennen der Schulhefte spendiert.

Nach dem Abitur begann ich bei Thyssen in Tiergarten eine Lehre als Großhandelskaufmann und stieg anschließend in das Geschäft meines Vaters ein. Da mein Vater mit Brennmaterialien und Baustoffen gehandelt hat, ging es uns unmittelbar nach dem Krieg vergleichsweise gut. Wir hatten immer genug Kohlen und da wir auch Firmen wie beispielsweise Bäcker Brunner oder die Gärtnerei Ulrich in der Curtiusstraße belieferten, wurde immer auch ein gewisser Naturaltausch praktiziert, wir mussten also nie hungern.

1952 hatte mir mein Vater sogar einen alten BMW Dixi spendiert. Wir lebten gut, sehr gut und offenbar auch auf zu großem Fuß – die Firma warf dauerhaft nicht soviel ab, dass wir uns eine 11-zimmrige Villa und zwei Hausangestellte leisten konnten. Zudem war mein Vater als alter Lichterfelder gegenüber den Stammkunden äußerst generös und deren Zahlungsmoral ließ leider nach. So mussten wir im Jahr 1954 das Haus in der Baseler Straße 69 mitsamt dem 2.000 qm großen Grundstück für lediglich 40.000 DM verkaufen – und im Jahr 1961 hat es die Johannes-Gemeinde vom Nachbesitzer für die Jugendarbeit erworben.

Der Kostendruck im Betrieb wurde im Jahr 1957 so groß, dass mein Vater sich zum Aufgeben gezwungen sah. Die Firma meldete nach über 60 Jahren Konkurs an. Ich konnte zwischenzeitig wieder bei Thyssen einsteigen und wechselte 1959 zu „Banzhaf“, einem florierenden Privatunternehmen, das sich sowohl auf dem Schrott- als auch auf dem Bausektor erfolgreich betätigte. In den Jahren des Wiederaufbaus waren Gerüstbau und Baumaschinen stark nachgefragt. Ich hatte einen tollen Chef und es ging mir richtig gut. Wirtschaftswunder eben. Nachdem ich 1955 geheiratet hatte, wohnte unsere Familie erst am Jungfernstieg und dann bis heute in der Hochbaumstraße, gegenüber der Kolonie Sonnenschein. Die Kontakte zu den Wollmännern schliefen langsam, bis auf wenige Ausnahmen, ein. Ich wollte nie raus hier aus Lichterfelde und ich bin auch nie rausgegangen aus diesem schönen Wohnviertel. Das stimmt mich jetzt im Alter froh. Ebenso, dass ich Glück gehabt habe, damals mit unseren Brandbomben und bei der drohenden Einberufung zum Volkssturm.

Stolzer Besitzer eines BMW Dixi

Urlaubsbekanntschaft 1952 in Bella Italia

Immer mobil sein!

Beruflich erfolgreich in den 60ern: Ekhard Franke (li.)

Kriegsende am Johanneskirchplatz – und der Friede kam

Elisabeth Stein, geb. Tecklenburg

Ende 1942 bin ich als zwölfjähriges Mädchen mit meinen Eltern nach Lichterfelde-West in die Reichshauptstadt gekommen. Mein Vater Bruno Tecklenburg hatte als engagierter Pfarrer im Notbund der (NS-kritischen) „Bekennenden Kirche“ in Brandenburg an der Havel zunehmend Probleme bekommen und wurde deshalb in die Johannesgemeinde versetzt. Wir haben im Pfarrhaus am Johanneskirchplatz an der Ringstraße gewohnt, wo auch später das Büro der Superintendentur (Kirchenleitung für Steglitz) untergebracht war. Die Kirche und das Gemeindebüro befanden sich jeweils direkt gegenüber auf den anderen Seiten des Platzes.

Rote Armee an unserer Ecke auf dem Johanneskirchplatz einen Katjuscha-Raketenwerfer („Stalinorgel“) in Stellung, der jedoch bei einem Gegenangriff der deutschen Verteidiger zerstört wurde. In den nächsten Tagen, als die Sowjets sich schon weiter in die Innenstadt vorgekämpft hatten, haben meine Mutter und ich einige der in unserem Haus und Garten herumliegenden, noch scharfen Geschosse der Stalinorgel vorsichtig in den Splittergraben getragen. Auch bei uns waren die russischen Soldaten in die Häuser eingedrungen, sie erzwangen die Herausgabe von Uhren und Radioapparaten und bedrohten vereinzelt Frauen. Ich vermute, dass wir es dem resoluten und zugleich würdevollen Auftreten meiner Mutter zu verdanken haben, dass uns nichts passiert ist. Die Rote Armee richtete in unserem Pfarrhaus kurzzeitig eine Offizierskommandantur ein. Das erwies sich als zweifacher Glückstreffer: die Anwesenheit der Offiziere schützte die deutschen Bewohner vor weiteren Übergriffen und wir Kinder profitierten von der jetzt vor dem Haus stationierten „Gulaschkanone“. Immer wieder bekamen wir etwas von der Suppe ab. Überhaupt, muss ich sagen, habe ich die Russen allgemein als sehr kinderfreundlich erlebt. Bemerkenswert auch, dass einige der Offiziere wiederholt bei der Morgenandacht erschienen, die meine Mutter täglich im Pfarrhaus abgehalten hat. Da die zentrale Wasserversorgung unterbrochen war, musste ich mehrmals am Tag das benötigte Wasser von einer Handpumpe in der Kommandantenstraße holen. Auch später noch, 1946, half ich meiner Mutter bei der Beschaffung der dringend benötigten Lebensmittel. Bei „Hamsterfahrten“ in völlig überfüllten Zügen in die Mark Brandenburg erwiesen sich unsere Kontakte zu den örtlichen Pfarrhäusern als sehr hilfreich. Obst und Kartoffeln sowie Melasse waren damals eine Delikatesse.