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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-710-2
Die Uhr zeigte gerade erst zehn, doch die Luft im »Café Krümel« war bereits rauchgeschwängert. Birgit Meyer versuchte, die Rauchschwaden wegzufächern, und sagte fast vorwurfsvoll zu ihrer Freundin:
»Daß du hier arbeiten kannst, Kim. Und daß die Leute bei dieser Luft hier überhaupt noch Lust auf ein Frühstück haben.«
»Man gewöhnt sich daran, und außerdem, schau’ dich einmal um. Alle Tische sind belegt. Das ›Krümel‹ ist nach wie vor das beliebteste Studentencafé im Viertel.« Kim lächelte.
»Das muß an deinem Lächeln liegen, Kim. Anders kann ich mir das nicht erklären«, sagte Birgit und grinste schief. Dann sah sie die Freundin ernst an. Keine Frage, die fast bodenlange weiße Schürze stand Kim ausgezeichnet. Sie betonte ihre schlanke Figur, und Kim hatte wirklich ein gewinnendes Lächeln. Ihre strahlend blauen Augen blickten lebhaft unter blonden Ponyfransen hervor.
»Du weißt, warum ich hier bin…«, begann Birgit zögernd.
»Ja«, kam die gedehnte Antwort.
»Erst schmeißt du die Ausbildung, und jetzt willst du dein Studium an den Nagel hängen. Möchtest du dein Leben lang in einer Studentenkneipe jobben?« Birgit war ernstlich besorgt um die jüngere Freundin. Sie hatte an der Theke Platz genommen und schaute Kim dabei zu, wie sie Tassen und Kännchen mit Kaffee füllte, belegte Brötchen mit Gurkenscheiben verzierte und in kleine Glasschälchen eine rote Marmelade füllte.
»Mach’ dir ’mal nicht zuviel Sorgen um mich, Biggi«, versuchte Kim der Freundin den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Nenn’ mich bitte nicht Biggi. Du weißt, wie ich den Namen hasse.«
Kim schmunzelte spitzbübisch. Dann wurde sie wieder ernst.
»Das Studium ist nichts für mich. Hätte ich geahnt, daß Ernährungswissenschaft so viel mit Chemie zu tun hat, hätte ich erst gar nicht angefangen«, erklärte sie.
»Dafür gibt es die Studienberatung«, murmelte Birgit kaum hörbar.
»Na ja«, fuhr Kim fort, »warum ich die Ausbildung zur Diätassistentin abgebrochen habe, weißt du ja.«
»Ja, das weiß ich. Es war an einem Montagmorgen, und Kim Meißner sollte dreißig Liter Diätpudding anrühren. Da hatte sie auf einmal das Gefühl, ihr Leben würde an ihr vorüberziehen.« Birgit hatte in einem ironischen Tonfall gesprochen. Doch Kim ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Stimmt genau«, antwortete sie und sah die Freundin trotzig an. Bevor Birgit weitere Einwände erheben konnte, marschierte Kim mit einem hoch beladenen Tablett davon. Birgit nahm eine Tageszeitung zur Hand und blätterte darin. Dann studierte sie die Stellenanzeigen. Sie war etwas verstimmt. Kim war ihre beste Freundin, aber in punkto Lebensplanung waren sie grundverschieden. Nie wäre es Birgit eingefallen, einfach etwas aufzugeben, wenn man nichts Neues in Aussicht hatte. Als Kim kurz darauf wieder zur Stelle war, wollte die Freundin erneut in sie dringen, doch unerwartet war Kims Chef aufgetaucht und schaute sich prüfend in seinem Café um.
»Wie läuft es, Frau Meißner?«
»Gut«, antwortete Kim und machte sich daran, Orangen auszupressen.
Herr Vogt hatte schlechte Laune, und mit einem »gut« wollte er sich nicht begnügen. Mit einem Blick hatte er gesehen, daß an vielen Tischen noch nicht serviert worden war. Die Kunden schien das nicht weiter zu stören, denn die meisten waren in Gespräche vertieft. Herr Vogt glaubte hingegen, an diesem Tatbestand die mangelhafte Organisation seiner Kellnerin zu erkennen.
»Das Tempo scheinen Sie nicht erfunden zu haben, Frau Meißner. Alle Tische belegt, aber die wenigsten Gäste haben etwas darauf.«
»Tja, Herr Vogt. Um diese Zeit ist das oft so. Die Leute kommen fast alle gleichzeitig nach der Acht-Uhr-Vorlesung hierher, und ich habe halt nur zwei Hände.«
»Um eine Antwort sind Sie nie verlegen, Frau Meißner. Und wer sind Sie, wenn man einmal fragen darf?« Er schaute Birgit wie einen Eindringling an.
Birgit war verdutzt. »Ich bin bloß eine Bekannte…«
»Aha, dachte ich ’s mir. Wenn Sie Ihre Zeit hier verquatschen, Frau Meißner, dann wundert mich gar nichts.«
»Daß ich hier meine Zeit verquatsche, ist eine Unterstellung, Herr Vogt. Sie hatten wohl ein schlechtes Wochenende…«
»Jetzt werden Sie nicht auch noch unverschämt«, brauste Herr Vogt auf.
»Fragt sich, wer hier unverschämt wird«, antwortete Kim seelenruhig. Birgit schloß unwillkürlich die Augen.
»Frau Meißner, Sie hatten heute Ihren letzten Tag im ›Café Krümel‹. Herr Vogt ging an die Kasse, nahm einige Scheine heraus, knallte sie auf den Tresen.
»Wenn die Ablösung kommt, will ich Sie hier nicht noch einmal sehen. Schönen Tag noch.« Herr Vogt verschwand so schnell, wie er gekommen war.
»Jetzt habe ich wirklich ein Problem«, sagte Kim und sah ihre Freundin mit großen Augen an.
»Es tut mir so leid, Kim… es ist meine Schuld. Ich hätte mich sofort verziehen sollen…«
»Ach was. Der wollte mir kündigen. Der hat bloß nach einem Anlaß gesucht«, beruhigte sie Kim.
»Und der Anlaß war ich«, sagte Birgit und raufte sich die Haare. Kim sagte nichts, doch ihre Hände zitterten, als sie erneut Kaffee eingoß. Der Job in der Kneipe war ihre einzige Einnahmequelle. Wovon sollte sie nun die Miete bezahlen? Birgit schnappte sich die Zeitung, in der sie eben noch geblättert hatte.
»Kim, schau her. Ich habe eben diese Anzeige gefunden. Dabei habe ich sofort an dich gedacht.« Sie hielt der Freundin die Zeitung hin.
»Suche dringend ein Kindermädchen für die fünfjährige Mara…«, las Kim laut vor und überflog den Rest der Anzeige.
»Hast du die Adresse gesehen, Birgit?«
»Ja. Tempelberg. Das ist das teuerste Wohnviertel der Stadt«, antwortete Birgit. »Aber deshalb ist es ja so interessant. Wer da wohnt, bezahlt hoffentlich gut.«
»Kann schon sein. Aber bei irgend so einer verwöhnten Göre Kindermädchen zu sein, stelle ich mir schrecklich vor. Wahrscheinlich suchen die ein Kindermädchen, damit die Dame des Hauses in Ruhe Golf spielen kann.«
»Ach, Kim, das ist nun aber wirklich ein Vorurteil. Komm, ruf’ da einmal an.«
»Ich muß bedienen«, antwortete Kim und verschwand wieder mit einem überladenen Tablett. Birgit überlegte nicht lange, nahm ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer. Zu ihrer Verwunderung wurde sie mit einem Band verbunden, auf dem eine weibliche Stimme dem Anrufer mitteilte, daß Interessenten sich bitte heute gegen fünfzehn Uhr persönlich vorstellen sollten. Dann wurde die Adresse mitgeteilt. Birgit notierte die Adresse und nahm sich vor, nicht eher von ihrem Platz zu weichen, bis Kim sich einverstanden erklären würde, um fünfzehn Uhr am Tempelberg zu erscheinen.
*
Christoph von Dahlem hatte keine andere Wahl. Erst gestern hatte er eine Sekretärin beauftragt, seine Tochter Mara während der Bürozeit zu beaufsichtigen. Es war mehr schlecht als recht gegangen, und Frau Ahrend hatte ihm zu verstehen gegeben, daß sie keine Kindergärtnerin sei, sondern Bürokauffrau. Und heute sah er sich gezwungen, ein Kindermädchen für die Kleine auszuwählen. Auch diese Aufgabe hätte er gern delegiert. Aber niemand von seinen Mitarbeitern hatte sich bereit erklärt, diesen Job zu übernehmen. Nun saß er mit seiner kleinen Tochter im Wohnzimmer, das die Ausmaße eines Saales hatte, und Arthur Schmettwitz, das »Mädchen« für alles im Hause von Dahlem, ließ nacheinander die im Foyer wartenden Bewerberinnen herein. Christoph von Dahlem wußte nicht recht, was er die Damen fragen sollte. Er selbst war in der Computerbranche tätig und ein gefragter Software-Spezialist. Aber was mußte man wissen oder können, wenn man ein Kind betreuen wollte? Christoph von Dahlem wußte es nicht, und deshalb waren die Gespräche mit den Bewerberinnen bisher sehr hölzern verlaufen. Niemand hatte ihm gefallen. Sympathisch mußte diejenige schon sein, entschied er. Mara schien vollkommen teilnahmslos. Blaß mit dünnen blonden Zöpfen und von sehr zarter Gestalt, saß das kleine Mädchen neben ihrem Vater und puzzelte. Arthur ließ gerade die fünfte Bewerberin eintreten.
»Fräulein Kim Meißner«, stellte er Kim ohne irgendein erkennbares Interesse vor.
Christoph von Dahlem schaute hoch. Was er zu sehen bekam, gefiel ihm so gut, daß er zunächst vergaß, überhaupt etwas zu sagen. Eine junge Frau von mädchenhaft schlanker Gestalt mit blondgelocktem Haar, das bis auf die Schultern reichte, stand im Raum und schaute ihm mit großen blauen Augen offen ins Gesicht. Christoph wollte gerade einige einleitende Worte an sie richten, doch Kim ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen, sondern wandte sich sofort an Mara.
»Hallo, du bist sicher die Mara. Mensch, was für ein großes Puzzle. Laß mich raten. Das sind bestimmt schon hundert Teile.«
Mara hob verwundert ihr schmales Gesicht und lächelte kaum merklich. »Nein, das sind erst sechzig Teile, aber ich habe auch schon hundert Teile geschafft«, antwortete sie stolz.
»Toll«, lobte sie Kim. »Und was wird es, wenn es fertig ist?«
»Zwei kleine Kätzchen mit einem Wollknäuel«, antwortete Mara.
»Aha, du magst also Katzen?«
»Ja, aber ich darf keine haben… wegen der Alogie.«
»Allergie heißt es, Mara«, verbesserte Christoph von Dahlem. Kim schaute kurz zu ihm herüber und setzte sich zu Mara.
»Du kannst Katzenhaare nicht vertragen, Mara?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie verunsichert und schaute zu ihrem Vater.
»Es ist so. Meine Mutter, also Maras Oma, hat eine Katzenallergie, und Mara neigt zu Neurodermitis. Deshalb haben wir beschlossen, keine Haustiere anzuschaffen.«
Kim betrachtete den dunkelhaarigen Mann mit der tiefen Stimme. Er sah gut aus, aber sie wußte nicht, ob er ihr gefiel oder eher nicht. Irgendwie schien er sich nicht wohlzufühlen in seiner Haut. Als sei er hier zu Besuch und nicht zu Hause.
»Wohnt Maras Oma denn mit im Haus?« fragte sie dann.
»Nein, Oma ist doch im Krankenhaus«, klärte Mara sie auf.
»Ja, das ist richtig«, bestätigte Herr von Dahlem. »Und das ist auch das Problem. Normalerweise versorgt meine Mutter Mara. Doch vor zwei Tagen ist sie gestürzt und hat sich eine Oberschenkelhalsfraktur zugezogen. Sie wird heute noch operiert und fällt dann für längere Zeit aus, und ich bin beruflich zu eingespannt, als daß ich Maras Betreuung übernehmen könnte.«
Kim nickte verstehend. »Also ist der Job hier nur vorübergehend?«
»Ja, wahrscheinlich schon«, antwortete ihr Christoph von Dahlem voller Unbehagen. Kim warf wieder einen Blick auf das kleine Mädchen. Sie hatte mit Puzzeln innegehalten und lauschte dem Gespräch der Erwachsenen. Sie ist viel zu ruhig für ihr Alter, dachte Kim, und zu blaß ist sie auch.
»Okay, wenn Mara mich will, würde ich bleiben«, hörte Kim sich selbst sagen. »Willst du mir einmal dein Zimmer zeigen, Mara?«
Die Kleine lächelte und stand auf. Christoph von Dahlem schaute perplex und wollte Einspruch erheben. Doch dann besann er sich. Warum eigentlich nicht? Seine Laune hatte sich in den letzten Minuten erheblich gebessert. Ich weiß zwar nichts über die junge Frau, dachte er, aber sie ist sympathisch und sehr hübsch, und Mara scheint sie auch zu gefallen.
*