Der neue Landdoktor – 1 – Staffel 1

Der neue Landdoktor
– 1–

Staffel 1

E-Book 1 - 10

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2018 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-696-9

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Auf gute Zusammenarbeit!

»Das war knapp!«, rief Sebastian Seefeld, der junge Arzt, der erst vor zwei Wochen die Praxis seines Vaters in Bergmoosbach übernommen hatte. Er hatte sich nur mit einem geschickten Sprung zur Seite vor der Radfahrerin in Sicherheit bringen können, die ihm während seines morgendlichen Spaziergangs auf einem schmalen asphaltierten Weg entgegenkam.

»Tut mir leid, ich wäre schon noch ausgewichen!«, erwiderte die Frau auf dem pinkfarbenen Mountainbike. Sie war ganz in weiß gekleidet, trug einen rosa Sturzhelm und hatte einen hellblauen Rucksack aufgeschnallt.

»Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen!«, antwortete Sebastian, aber das hörte sie nicht mehr. Die Straße war abschüssig, und sie war schon ein ganzes Stück entfernt. Ich denke, auf den Waldwegen werde ich keinen rasenden Radfahrern ausweichen müssen, dachte er und verließ die Straße.

»Kann ich Ihnen helfen?« Sebastian unterbrach seinen morgendlichen Spaziergang, als er die junge Frau bemerkte, die einen Leiterwagen mit sechs Milchkannen beladen einen steilen Weg hinunterzog.

Sie musste offensichtlich ihre ganze Kraft aufwenden, um den Wagen abzubremsen, damit er ihr nicht davonsauste. Immer wieder stemmte sie sich mit ihren schweren Gummistiefeln in den sandigen Boden, um den Wagen zu verlangsamen.

Was ist denn mit den Frauen in Bergmoosbach los? Wollen sie alle irgendeinen Rekord brechen? Wer ist am schnellsten am Ziel oder wer transportiert die schwerste Last? Das darf doch nicht wahr sein«, flüsterte er erschrocken.

Der Bauch der Frau, der sich unter der Latzhose nach vorn wölbte, ließ keinen Zweifel daran, dass sie hochschwanger war. Er überlegte nicht lange, bog in den Weg ein und rannte ihr entgegen.

»Sabine?«, fragte er überrascht, als sie aufschaute und ihn mit ihren matten hellen Augen anschaute.

»Grüß dich, Sebastian, dass du mich noch erkennst«, entgegnete Sabine Mittner, zog die Bremse des Wagens an und wischte sich mit dem Arm über ihre verschwitzte Stirn.

»Wir sind jahrelang zusammen zur Schule gegangen, warum sollte ich dich nicht erkennen?«

»Ich habe inzwischen drei Kinder und erwarte das vierte, das verändert. Du hast dich auch verändert, du bist noch attraktiver geworden, Herr Doktor Seefeld«, sagte sie lächelnd und betrachtete den jungen Mann in der schwarzen Jeans und dem weißen Hemd. »Ich habe es nicht glauben wollen, als sie im Dorf erzählten, dass du die Praxis von deinem Vater übernehmen wirst. Wer gibt Toronto auf und zieht nach Bergmoosbach, habe ich mich gefragt.«

»Vielleicht weiß ich dieses Leben auf dem Land inzwischen besser zu schätzen, nachdem ich so viel Zeit in der Großstadt zugebracht habe.« Er konnte es nicht leugnen, er fühlte sich in diesem hügligen Tal am Fuße der Allgäuer Alpen noch immer zu Hause.

Das Dorf inmitten von buckligen Wiesen und Weiden, die Häuser mal tiefer, mal höher gelegen, wie in seine ganz eigene Gebirgslandschaft eingebettet. Der in der Sonne funkelnde See, die glitzernden Weiher, der Bach, der in einer Quelle oben in den Bergen entsprang, durch das Dorf rauschte, am anderen Ende des Tals in einer Schlucht verschwand und sich irgendwann mit einem größeren Gewässer vereinigte, der Duft nach Moos und Heu, alles erschien ihm unendlich vertraut.

»Was ist?«, fragte Sebastian besorgt, als Sabine sich gegen einen Baum lehnte und ein paar Mal tief durchatmete.

»Gar nichts, es ist alles gut, ich muss dann auch weiter.«

»Kann dein Mann das mit den Milchkannen nicht übernehmen?«

»Das Dach der Scheune ist undicht. Anton muss es reparieren, es kann doch jederzeit regnen.«

»Anton Mittner?«

»Richtig, die Unzertrennlichen aus der Schulzeit sind immer noch unzertrennlich«, antwortete Sabine mit einem Lächeln, das Sebastian zeigte, dass sie ihren Anton liebte.

»Gut, dann werde ich dir helfen.«

»Ich mache das schon«, versuchte sie, die Hilfe des jungen Arztes abzuwehren.

»Auf keinen Fall. Du bist doch schon im neunten Monat, da sollte man sich solche Anstrengungen nicht mehr zumuten.«

»Wir sind auf dem Land, da geht es nicht immer nach Vorschrift, daran wirst du dich wieder gewöhnen müssen, Sebastian.«

»Nicht an so etwas.« Er löste die Bremse des Leiterwagens und zog ihn den Weg hinunter. »Werden die Milchkannen noch an derselben Stelle wie früher abgeholt?«, erkundigte er sich, während sie das Waldstück durchquerten, das die Aussiedlerhöfe vom Dorf trennte.

»An der Bushaltestelle am Ortseingang, das hat sich nicht verändert.«

»Wann warst du das letzte Mal zur Vorsorgeuntersuchung?«, fragte Sebastian, als Sabine sich mit beiden Händen an den Rücken fasste, so als hält sie Schmerzen.

»Es ist alles in Ordnung, das Kleine hat noch ein bisschen Zeit«, wich sie seiner Frage aus.

»Bei wem warst du denn zur Kontrolle? Bei einem Arzt in der Stadt?«

»Nein.« Sabine schüttelte den Kopf. »Die meisten gehen doch jetzt zu Anna.«

»Anna?«

»Anna Bergmann, unsere Hebamme.«

»Bei ihr warst du?«

»Hm«, antwortete Sabine kaum hörbar, »alle mögen Anna, weißt du, sie ist eine umsichtige einfühlsame Person«, sprach sie schnell weiter.

»Das sollte sie in ihrem Beruf auch sein.« Anna war sicher eine dieser älteren Damen, ein bisschen füllig, immer freundlich und mit einer mütterlichen Seele, die den werdenden Müttern viel Mitgefühl entgegenbrachte. »Aber wie auch immer, du solltest mit in meine Praxis kommen, wir könnten einen Ultraschall machen, um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist.«

»Es ist wirklich alles gut. Was das Kinderkriegen betrifft, da bin ich recht erfahren, wie du dir denken kannst.«

»Ich kann dich nicht zwingen, dich untersuchen zu lassen, aber wenn etwas sein sollte, dann melde dich«, bat er sie, als sie den Wald verließen und die Bushaltestelle nur noch ein paar Meter entfernt war.

»Weißt du eigentlich, dass du der Schwarm aller Mädchen in der Schule warst?«, lenkte Sabine ihn wieder ab.

»Du übertreibst«, antwortete er lachend.

»Tue ich nicht.« Sie betrachtete das ebenmäßige Gesicht des jungen Mannes, die hellen grauen Augen, die in einem aufregenden Kontrast zu seinem dunklen Haar standen. »Es tut mir leid, was mit deiner Frau passiert ist«, sagte sie und streichelte ihm mit aufrichtigem Mitgefühl über den Arm. »Es ist furchtbar, wenn ein Mensch so früh gehen muss.«

»Emilia und ich haben eine schlimme Zeit hinter uns, wir mussten erst lernen, ohne Helene zu leben.«

»Wie alt ist deine Tochter?«

»Vierzehn.«

»Ein schwieriges Alter.«

»Allerdings«, stimmte Sebastian ihr zu. Er hatte in letzter Zeit einige Kämpfe mit Emilia ausgetragen. »Ich mache mich dann auf den Weg, pass auf dich auf, Sabine, grüß Anton von mir«, verabschiedete sich Sebastian von seiner ehemaligen Klassenkameradin, nachdem er den Leiterwagen abgestellt hatte und Sabine sich auf die Bank setzte.

»Danke für deine Hilfe«, sagte sie und nickte ihm freundlich zu.

Sebastian wandte sich noch einmal um, als ihm der Lastwagen der Molkerei entgegenkam. Er hielt vor der Haltestelle an, ein kräftiger Mann im blauen Overall stieg aus, und bedeutete Sabine, dass sie sitzenbleiben sollte, während er den Inhalt der Milchkannen in den Tank des Lastwagens füllte.

Wieder fasste sich Sabine mit flackerndem Blick an den Rücken. Sebastian hatte schon einige Geburten miterlebt, und seine Erfahrung sagte ihm, dass es bei Sabine nicht mehr lange dauern würde.

Von der Bushaltestelle waren es nur wenige Meter bis zu seinem Elternhaus, in das er und Emilia nun zurückkehrt waren. Es lag auf einem sanft ansteigenden grünen Hügel am Ende des Dorfes. Eine Treppe führte durch den blühenden Steingarten zum Wintergarten, einem mit roten Schindeln überdachtem Glasbau. Er war die Verbindung zwischen dem Garten und dem Haus mit seinen lindgrünen Fensterläden. Aufgeteilt in Erdgeschoss, ersten Stock und ausgebauten Dachboden bot es genug Platz für eine große Familie.

Durch den Wintergarten ging es in die weite Diele mit der geschwungenen Treppe aus Kiefernholz, die hinauf in den ersten Stock führte. Als sein Urgroßvater die erste Landarztpraxis der Gegend eröffnete, war die Diele das Wartezimmer gewesen, und die Sprechstunde fand im Wohnzimmer statt. Aber das war lange her.

Am Ende der Diele lag die Küche. Die Fenster, nach Osten und Süden ausgerichtet, hatten dort bis zum späten Nachmittag Sonne. Wie immer knarrte der Dielenboden, als er den großen hellen Raum betrat, und Traudel, die gute Seele im Haus der Seefelds, die am Herd stand, wurde sofort auf ihn aufmerksam.

»Heute warst du aber recht lang fort«, sagte sie und musterte Sebastian mit ihren sanften dunklen Augen.

»Ich habe Sabine Mittner getroffen, wir haben uns ein bisschen unterhalten«, klärte er Traudel auf, warum er später kam als sonst.

»Es muss doch bald so weit sein bei ihr.«

»Davon gehe ich aus. Ich finde, sie sollte sich in ihrem Zustand mehr Ruhe gönnen.«

»Auf einem Hof muss eben jeder mitanpacken«, seufzte Traudel, fummelte kurz an der Schleife der weißen Schürze herum, die sie zu ihrem dunklen Dirndl trug, und wandte sich wieder der Pfanne mit den Rühreiern zu.

»Offensichtlich ist das so.«

»Gefällt dir unsere Küche nicht?«, fragte Traudel, als Sebastian sich gedankenverloren umschaute.

»Doch, sie ist wirklich schön geworden«, sagte er schnell, weil er wusste, wie stolz Traudel auf ihr frisch renoviertes Reich war.

Nachdem feststand, dass Sebastian die Praxis übernehmen würde, hatte sein Vater den Umbau beschlossen. Die abgehängte Holzdecke wurde ausgebaut, um den Raum heller und luftiger zu gestalten, die Wände bekamen einen rein weißen Rauputzanstrich, das schwere Büffet aus Eichenholz und der dunkle Küchenblock waren einer hellen Landhausküche mit verglasten Hängeschränken und modernen Küchengeräten gewichen. Nur der rustikale Esstisch und die mit dunklem Leder bezogenen Stühle hatten die Erneuerung überlebt.

»Auch auf dem Land sind die Leute durchaus zu Veränderung bereit«, sagte Traudel.

»Solange du dich nicht veränderst.«

»Geh, Bub«, kicherte sie, als Sebastian sie auf die Wange küsste.

Auf Traudel ließ er nichts kommen. Sie war die Cousine seiner Mutter und kam ins Haus, als seine Mutter kurz nach seiner Geburt starb. Traudel schenkte ihm ihre ganze Liebe und unterstützte seinen Vater, wo sie nur konnte. Traudel hatte dafür gesorgt, dass die Sonne im Haus der Seefelds wieder schien, und dafür auf eine eigene Familie verzichtet.

»Gefrühstückt wird heute auf der Terrasse, dein Vater und unser Madl werden sicher gleich herunterkommen.«

Sebastian wollte gerade nach draußen gehen, als er die leichten schnellen Schritte seiner Tochter auf der Treppe hörte.

»Guten Morgen, Papa!«, rief Emilia gut gelaunt, als sie kurz darauf in die Küche kam.

»Guten Morgen, mein Schatz, hast du gut geschlafen?«

»So ruhig, wie es hier ist, würde ich den ganzen Tag verschlafen, wenn Traudel nicht mit dem Geschirr in der Küche herumklappern würde.«

»Willst du mir etwa sagen, ich sei zu laut?« Traudel musterte das große schlanke Mädchen in der engen Jeans und dem weiten langen T-Shirt mit dem Namen der Fußballmannschaft, für die Emilia in Toronto gespielt hatte.

»So etwas denke ich nicht einmal. Das Geschirrklappern erinnert mich doch nur daran, dass es hier immer etwas Gutes zu essen gibt.« Emilia warf das lange kastanienfarbene Haar zurück, legte den Arm um Traudel und fischte ein Stück gebratenen Schinken aus den Rühreiern, das sie genüsslich in den Mund steckte.

»Nicht mit den Fingern«, ermahnte Traudel das Mädchen, aber es klang nicht wirklich zurechtweisend. Emilia war ihr Augenstern, ihr Sonnenschein, ihr verzieh sie einfach alles.

»Was hältst du davon, wenn wir in den nächsten Tagen etwas Neues zum Anziehen für dich kaufen?«, schlug Sebastian vor, der seine Tochter betrachtete. Seitdem sie in Bergmoosbach angekommen waren, trug Emilia ausschließlich Jeans und T-Shirts mit dem Namen ihrer Fußballmannschaft.

»Gefällt dir nicht, was ich anhabe?«

»Gegenfrage, seit wann lehnst du solch ein Angebot ab?«

»Du wirst mich nicht in ein Dirndl oder so etwas zwängen.«

»Nein. Das habe ich auch gar nicht vor.«

»Verstehe, du meinst, ich sollte mich allmählich von meinem alten Leben verabschieden, von diesem Leben«, entgegnete sie aufmüpfig und zupfte an ihrem T-Shirt.

»Vielleicht findest du einen neuen Fußballverein.«

»In diesem Kaff spielen Mädchen aber nicht Fußball.«

»Das nimmst du an. Du hast dich doch noch gar nicht umgehört. Überhaupt solltest du den Kontakt mit Gleichaltrigen suchen. Oder willst du keine neuen Freunde?«

»Was soll ich mit denen anfangen, die hier wohnen? Mich zu ihnen auf den Traktor setzen und zur Heuernte fahren? Danke, nein«, erklärte Emilia und rümpfte die Nase.

»Ich brauche jetzt einen Kaffee«, sagte Sebastian und ging hinaus in den Garten. Manchmal fragte er sich schon, ob er den richtigen Ton fand, wenn er mit Emilia sprach, oder ob er vielleicht unabsichtlich ihre Gegenwehr herausforderte.

Die Terrasse vor der Küche war mit dunkelgrauen Natursteinen gepflastert und von bunt blühenden Blumenbeeten und duftendem Sommerflieder umgeben. Der Hügel, auf dem das Haus stand, wölbte sich in einer sanften Rundung bis zur Straße hinunter, und der kurzgeschnittene tiefgrüne Rasen verlieh ihm etwas Majestätisches.

Sebastian befestigte das blaue Polster, das von einem der vier Stühle gerutscht war, und setzte sich an den gedeckten Tisch, auf dem bereits eine Kanne Kaffee, eine Karaffe mit Orangensaft und ein Körbchen mit knusprigen Brötchen stand.

»Du machst dir zu viele Gedanken um mich, Papa«, sagte Emilia, die kurz nach ihrem Vater auf die Terrasse kam.

»Du bist meine Tochter, ich werde mir immer Gedanken um dich machen«, entgegnete Sebastian und goss sich eine Tasse Kaffee ein.

»Spaß macht das sicher keinen, sich ständig Sorgen zu machen«, seufzte Emilia, ließ sich in den Stuhl neben ihn fallen und streckte die Beine aus.

»Emilia…«

»…sitz bitte gerade«, vervollständigte das Mädchen den Satz ihres Vaters.

»Braves Kind«, sagte Sebastian lachend, als sie seiner Aufforderung sofort folgte.

»Papa, ich glaube, du musst deine Patienten besser erziehen, sonst sitzen sie irgendwann noch die ganze Nacht in unserem Hof.« Emilia legte ein Brötchen auf ihren Teller und zerteilte es mit einem Messer.

»Wie kommst du jetzt darauf?«, fragte Sebastian.

»Weil dort schon wieder jemand herumsitzt.«

»Entschuldige mich.«

»Wir frühstücken, Papa«, verkündete Emilia mit vorwurfsvollem Blick, als Sebastian aufstand.

»Ich bin gleich zurück«, sagte er. Wer sich so früh auf den Weg zu ihm machte, den musste etwas Ernsthaftes quälen.

Er ging um das Haus herum und lief den weißen Kiesweg entlang, der zu dem hellen Backsteinbau im Hof führte, in dem die Praxis untergebracht war. Ein gepflasterter Weg, breit genug, damit auch ein Krankenwagen ihn passieren konnte, verband den Hof mit der Straße.

Vor dem Eingang der Praxis standen zwei weiße Holzbänke, die von den Patienten im Sommer als Wartezimmer genutzt wurden. Er hatte keine Ahnung, was Emilia gesehen hatte, aber an diesem Morgen waren die Bänke noch leer. Er wollte schon wieder gehen, als er die Frau wahrnahm, die im Schatten der alten Ulme stand, die einen Teil des Hofes mit ihrer Krone überdachte. Er hatte den Eindruck, als wollte sie sich vor ihm verbergen.

»Guten Morgen, Frau Mechler«, sagte er, als er sie erkannte.

»Guten Morgen, Doktor Seefeld«, entgegnete sie leise und machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich weiß, es ist noch recht früh, gehen Sie nur zu Ihrer Familie, ich wollte gar keine Aufmerksamkeit erregen.«

»Das ist in Ordnung, Frau Mechler, ich nehme mir ein paar Minuten Zeit, setzen Sie sich.« Sebastian war nicht entgangen, dass sie mit den Tränen kämpfte, so konnte er sie unmöglich allein lassen. »Was haben Sie, Frau Mechler?«, erkundigte er sich, nachdem sie auf der Bank Platz genommen hatte.

»Mit dem Schlafen klappt es nicht mehr, Herr Doktor, jede Nacht liege ich wach und denke an meinen Josef. Er ist doch vor einem halben Jahr von uns gegangen, wissen Sie. Kinder haben wir ja keine und sonst ist da auch niemand, der mir wirklich nahe steht. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, was ich noch auf dieser Welt soll.«

»Weinen Sie nur, lassen Sie Ihren Kummer erst einmal heraus, wir werden schon etwas finden, was ihre Traurigkeit vertreibt.« Sebastian setzte sich neben Frau Mechler und hielt ihre Hand, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte. Er wusste, wie weh es tat, den Menschen an seiner Seite zu verlieren. Er konnte sich genau daran erinnern, wie es ihm den Boden unter den Füßen wegzog, als die Polizei ihn damals aus dem Bett klingelte und er von dem Unfall erfuhr, der Helene das Leben gekostet hatte. »Wissen Sie, Frau Mechler, Sie haben noch so viel Liebe zu verschenken, und es gibt bestimmt Menschen, die diese Liebe gern annehmen würden. Das ist doch ein Grund, um noch ein wenig Zeit auf dieser Erde zu verbringen«, sagte er und drückte sanft ihre Hände. »Sie dürfen nicht mehr so viel allein sein, das ist das Wichtigste.«

»Weil die Gedanken dann immer kreisen, ich weiß.«

»Was meinen Sie, wollen wir beide darüber nachdenken, wie wir Ihre Lage verbessern können?«

»Sie meinen, es wartet noch ein wenig Freude auf mein altes Herz?«, fragte Frau Mechler, und als sie Sebastian anschaute, zeigte sich ein schüchternes Lächeln auf ihrem Gesicht.

»Wir finden etwas, ganz sicher.«

»Danke, Herr Doktor Seefeld, ich fühle mich schon ein bisschen leichter. Was doch so ein paar Worte ausmachen können.«

»Das ist der Sinn der Sprechstunde, in vielen Fällen ist ein Gespräch immer noch die beste Therapie.«

»Das hat Ihr Vater auch immer gesagt. Wissen Sie, gerade die älteren von uns hatten ihre Bedenken, ob ein junger Arzt sich überhaupt noch die Zeit für Gespräche nehmen wird. Heutzutage muss doch alles schnell gehen, und dann diese vielen Geräte, an die sie uns anschließen und die uns durchleuchten.«

»Manchmal lässt sich das nicht vermeiden.«

»Ich weiß, aber zuerst kommt das Gespräch.«

»So werden wir es auch weiterhin halten«, versicherte Sebastian seiner Patientin.

»Grüßen Sie Ihren Herrn Vater von mir.«

»Das mache ich gern, und wir sehen uns in den nächsten Tagen wieder, um über unser gemeinsames Vorhaben zu sprechen.«

»Sie meinen, dass ich etwas finde, was mir Freude macht?«

»Das meine ich, Frau Mechler, also dann, auf bald.«

»Auf bald, Herr Doktor.«

»Du machst das gut, mein Junge.« Benedikt Seefeld ging aus alter Gewohnheit noch immer jeden Morgen vor dem Frühstück erst einmal in den Hof, um ein paar Worte mit den Leuten zu reden, die dort auf den Beginn der Sprechstunde warteten.

»Beobachtest du mich etwa, Vater?«, fragte Sebastian.

»Ich wusste gar nicht, dass du hier bist.«

»Du kannst es nicht lassen, nicht wahr?«

»Nicht so ganz«, gab Benedikt schuldbewusst zu.

»Deine Patienten vermissen dich auch, besonders die älteren Damen. Frau Mechler hätte sich sicher auch gern mit dir unterhalten, sie lässt dich übrigens grüßen.« Sebastian konnte verstehen, dass die Damen seinen Vater vermissten. Er war eine beindruckende Erscheinung, groß und sportlich, mit silbergrauem Haar, dunklen Augen und einem Lächeln, dem so manche nur schwer widerstehen konnte.

»Einige brauchen eben noch eine Weile, bis sie sich an dich gewöhnt haben, aber ich denke, die meisten sind bereits recht zufrieden mit dir.«

»Wenn das nicht so wäre, dann wäre dein Plan gescheitert.« Sebastian wusste sehr gut, dass sein Vater sich nicht allein aus Altersgründen aus der Praxis zurückgezogen hatte. Er hatte gehofft, ihn und Emilia auf diese Weise dazu zu bringen, dass sie nach Bergmoosbach zurückkehrten, und damit hatte er letztendlich auch Erfolg gehabt. »Sie vermisst dich auch«, sagte er und winkte Gerti Fechner, die von der Straße heraufkam.

Gerti war die Sprechstundenhilfe der ersten Stunde in der Praxis Seefeld. Dreißig Jahre lang hatte sie Benedikt tatkräftig unterstützt, und nun ließ sie Sebastian, den sie hatte aufwachsen sehen, an ihrer Erfahrung teilhaben und umsorgte ihn mit der gleichen mütterlichen Zuneigung wie Traudel.

Gerti liebte deftiges Essen und hausgemachte Kuchen, und im Laufe der Jahre war sie dabei recht rundlich geworden. Aber das bremste sie nicht aus. Mit flottem Schritt marschierte sie den Weg von der Straße herauf. Alles an Gerti strahlte Ordnung aus. Das kurze dunkle Haar war akkurat gekämmt, der graue Faltenrock, die weiße Bluse gestärkt und gebügelt, die schwarzen Halbschuhe poliert und sogar die betagte braune Umhängetasche schien gründlich gewienert.

»Guten Morgen«, sagte sie mit einem fröhlichen Lächeln, und in ihren hellblauen Augen zeigte sich ein Strahlen, als sie ihre beiden ›Doktoren‹, wie sie Vater und Sohn nannte, voller Zuneigung ansah.

»Guten Morgen, Gerti«, antworteten Sebastian und Benedikt und erwiderten ihr Lächeln.

»Ich habe gerade die Mechler Pia getroffen. Sie war geradezu euphorisch, dass du die Open-Air-Sprechstunde vom Herrn Doktor fortsetzt«, wandte sie sich direkt an Sebastian, den sie außerhalb der Praxis duzte, weil sie ihn schon als Kind gekannt hatte.

»Ich habe auch nicht vor, sie abzuschaffen. Ich halte sie für eine gute Einrichtung.«

»Mei, Herr Doktor, das hätten Sie ihm schon ausreden sollen. Oder wird die Zeit jetzt aufgeschrieben, damit ich was zum Abrechnen habe?«, fragte Gerti und schaute Benedikt abwartend an.

»Wir plaudern doch nur ein wenig mit den Nachbarn, Gerti«, verteidigte Benedikt Sebastian und sich. »Sobald jemand die Praxis betritt, kann er ohnehin nicht mehr an dir vorbei.«

»Zum Glück, sonst könnten wir bald Konkurs anmelden.«

»Solange wir dich haben, passiert das sicher nicht«, sagte Sebastian, legte den Arm um Gertis Schultern und drückte sie liebevoll an sich.

»Du machst mich ganz verlegen«, murmelte sie.

»Und solange ich hier im Haus bin, werden die beiden nicht verhungern!«, rief Traudel, die mit einer Pfanne in der Hand um die Ecke schaute. »Die Rühreier werden kalt, würden die Herrschaften sich bitte herbemühen!«

»Ich würde mich beeilen, sonst versalzt sie euch noch das Essen«, sagte Gerti, während sie den Schlüsselbund für die Praxis aus ihrer Umhängetasche fischte.

»Bis später, Gerti«, sagte Sebastian.

»Einen schönen Tag, Gerti«, verabschiedete sich Benedikt.

»Danke«, antwortete sie und wischte mit der Hand über die Lehne der Bank, die neben dem Eingang der Praxis stand. »Das muss noch mal gewischt werden«, seufzte sie.

Wen auch immer sie mit der Reinigung ihrer Praxis beauftragten, Gerti war es nie gut genug.

»Traudel und Gerti tragen immer noch ihre kleinen Kämpfe aus, daran wird sich wohl nie etwas ändern«, stellte Sebastian fest, als er und sein Vater zur Terrasse zurückgingen.

»Jede verteidigt ihr Revier, aber das sind nur Scheingefechte. Ich versichere dir, wenn irgendjemand einen Angriff auf unsere Familie starten würde, dann wären die beiden eine verschworene Gemeinschaft.«

»Dann leben wir in einer uneinnehmbaren Festung?«, fragte Sebastian lächelnd.

»Das möchte ich meinen, wir werden von zwei gestandenen Frauen beschützt, das ist die beste Festung, die wir uns wünschen können, mein Sohn«, sagte Benedikt mit einem liebevollen Lächeln, das diesen beiden Frauen galt.

*

Sebastian hatte sich nach der Nachmittagssprechstunde auf das alte schon ein wenig versessene Ledersofa im Wohnzimmer gelegt. Der gemütliche Raum mit dem grünen Kachelofen und dem Ohrensessel mit dem Rosenmuster hatte einen Durchgang zur Küche. Als Sebastian noch ein Kind war, spielte er an langen Winterabenden in diesem Zimmer, genoss die Wärme des Kachelofens und schaute Traudel in der Küche zu. Ich will nur ein paar Minuten die Augen schließen, dachte er. Das Wartezimmer hatte sich an diesem Tag einfach nicht leeren wollen. Am Vormittag gaben sich die Patienten die Klinke in die Hand und am Nachmittag auch. Gerti hatte ihm versichert, dass es ein außergewöhnlicher Tag war. Vielleicht lag es an der herannahenden Schlechtwetterfront, die sie seit Tagen im Radio ankündigten und die am Abend das Tal erreichen sollte. Da so viele über Kreislaufbeschwerden klagten, lag der Verdacht nahe.

Sein Vater war mit Traudel und Emilia zu einem Biohof im Nachbartal gefahren, der einem Freund von Benedikt gehörte. Traudel wollte dort einkaufen, und Emilia, die sonst lieber im Garten lag und Musik hörte, hatte sich aus irgendeinem Grund dazu durchgerungen, die beiden zu begleiten. Sie wollten gegen halb acht zurück sein. Ein paar Minuten kann ich noch liegen bleiben, dachte Sebastian, als er auf die Uhr schaute. Traudel hatte einen Auflauf vorbereitet, den er eine halbe Stunde vor ihrer geplanten Rückkehr in den Ofen schieben sollte.

Was ist das?, dachte er, als er irgendwann durch einen lauten Knall geweckt wurde und hochschoss.

Der Himmel vor seinem Fenster war nachtschwarz. Wenig später jagte ein Blitz über den Horizont, dem ein krachender Donner folgte. Sebastian schaute auf die Standuhr, die neben der Tür zur Diele stand. Es war bereits neun Uhr vorbei, er hatte beinahe zwei Stunden geschlafen. In der Küche war niemand, und im Haus brannte auch kein Licht. Wo waren Emilia, Traudel und sein Vater abgeblieben?

Er wählte Emilias Handynummer, aber die Leitung brach sofort zusammen. Das Gleiche passierte ihm, als er es auf dem Telefon seines Vaters versuchte. Traudel besaß kein Handy, noch weigerte sie sich strikt, eines zu benutzen. Wie hieß dieser Biohof? Während er versuchte, sich an den Namen zu erinnern, durchforstete er den Kalender, der in der Küche hing, nach einem Hinweis. Traudel trug wichtige Termine immer dort ein. Aber sie hatte für diesen Tag nur »Einkaufen« notiert.

Das Gewitter war jetzt genau über dem Tal. Blitz und Donner wechselten im Sekundentakt, und der Wind nahm stetig zu. Schon flogen kleinere Äste von den Bäumen im Garten am Küchenfenster vorbei. Sebastian unterbrach seine Suche nach der Telefonnummer. Er musste die Fensterläden schließen, damit die Scheiben nicht zu Bruch gingen, wenn das Unwetter noch stärker wurde. Nachdem er die Fenster im Erdgeschoss gesichert hatte, lief er hinauf in den ersten Stock und danach ins Dachgeschoss. Im Arbeitszimmer seines Vaters sah er den Flyer eines Biohofes auf dem Schreibtisch liegen. Er nahm ihn mit in die Küche, griff nach dem Telefon, das in der Ladestation auf dem Fensterbrett stand, und wählte die Nummer des Biohofes. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich dort jemand meldete.

»Kugler Hof, guten Tag«, hörte er eine Frau sagen.

»Sebastian Seefeld, guten Tag, können Sie mir sagen, ob mein Vater bei Ihnen ist? Hallo?!«, rief er, als die Verbindung abbrach. Er wartete einen Augenblick, bevor er es erneut versuchte, aber die Leitung blieb tot. Weder auf dem Festnetz noch auf den Handys konnte er seine Familie erreichen, egal, wie oft er diese Nummern wählte.

Um herauszufinden, was da draußen los war, schaltete er das Radio ein. Es hieß, dass durch das schwere Unwetter einige Funkmasten umgekippt seien. Das war vermutlich der Grund, warum die Leitungen zusammengebrochen waren. Aber er war nicht wirklich beruhigt. Vielleicht waren sie bereits unterwegs gewesen, als das Unwetter losbrach, und steckten nun irgendwo fest. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug und seine Atmung sich beschleunigte. Da war wieder diese Angst, die er empfunden hatte, als er in der Nacht von Helenes Unfall den Polizisten gegenüberstand.

»Ich muss mich zusammenreißen«, sagte er laut. Sein Vater und Traudel würden kein Risiko eingehen, sie kannten die Gefahr dieser Unwetter, die sich zwischen den Bergen fingen.

Der nächste Donner rollte über das Tal hinweg, und Sebastian versuchte, sich erneut davon zu überzeugen, dass es Emilia, Traudel und Benedikt gut ging. Da es nicht funktionierte, dachte er schon daran, sich auf die Suche nach ihnen zu machen, als der Sturm noch an Stärke zunahm. Ein schwerer Ast krachte gegen einen Fensterladen in der Küche. Vorsichtig öffnete er das Fenster und schaute durch die Ritzen des Holzladens hinaus. Der Wind tobte über die Wiesen und Felder, trieb Äste und entwurzelte Bäume vor sich her. Jetzt dort hinauszugehen, das wäre Selbstmord. Er hoffte inständig, dass in den nächsten Stunden niemand seine Hilfe als Arzt benötigte.

Er drehte das Radio lauter und legte sich wieder auf das Sofa. Er musste warten, bis der Sturm abflaute. Nach zwei Stunden war der Spuk endlich vorbei, draußen wurde es wieder ruhiger. Nach den nächsten vergeblichen Versuchen, seine Familie zu erreichen, beschloss er, zum Kuglerhof zu fahren. Er ging in die Küche und machte sich einen Kaffee, um ein bisschen wacher zu werden. Er hatte gerade den ersten Schluck getrunken, als jemand mit beiden Fäusten gegen die Holzladen der Terrassentür hämmerte.

Im ersten Moment wich er erschrocken zurück. Wenn jemand etwas von ihm wollte, warum läutete er nicht einfach an der Haustür.

»Hallo, Doktor Seefeld! Sebastian! Ist jemand da?!«, hörte er gleich darauf einen Mann rufen. So verzweifelt, wie er sich anhörte, befand er sich in einer Notlage.

Vorsichtig zog Sebastian die Terrassentür auf und klappte den Laden zur Seite. Ein völlig durchnässter Mann in Latzhose, Pullover und Gummistiefeln starrte ihn aus angstvollen Augen an.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Sebastian.

»Du musst mitkommen, Sebastian, schnell, mit meiner Sabine stimmt was nicht. Das Baby will kommen, aber es geht einfach nicht«, sagte der Mann, dem das Wasser aus seinen krausen Locken tropfte.

»Anton?«, fragte Sebastian, weil er seinen ehemaligen Schulkameraden nicht wirklich erkennen konnte. Die harte Arbeit, die er jeden Tag verrichten musste, hatte ihn wohl schnell altern lassen.

»Ja, ich bin’s, komm mit, es pressiert.«

»Ich fahre dir hinterher«, sagte Sebastian, nachdem er seine Notfalltasche geholt hatte.

»Das geht nicht, du musst mit mir kommen, auf dem Weg zu unserem Hof liegen umgestürzte Bäume. Deshalb können wir auch keinen Krankenwagen rufen. Du bist unsere einzige Rettung, Sebastian.«

»Aber wie bist du hierhergekommen?«

»Damit.« Anton deutete auf den Traktor mit der überdachten Kabine, der auf dem Rasen vor dem Haus stand.

»Gut, dann mit dem Traktor«, sagte Sebastian.

»Geht es?«, erkundigte sich Anton, nachdem er auf den Fahrersitz gestiegen war und Sebastian auf den Beifahrersitz kletterte.

»Ja, alles gut, wenigstens haben wir ein Dach über dem Kopf. Warte kurz«, bat Sebastian, als sein Handy surrte. »Fahr los«, forderte er ihn gleich darauf auf, als er sah, dass nur eine SMS eingegangen war, die ihn aber glücklicherweise von seinen Sorgen um seine Familie befreite.

»Wegen des Unwetters werden wir auf dem Kuglerhof übernachten. Mach dir keine Sorgen, habe dich lieb, Emilia.«

*

Die Fahrt mit dem Traktor erschien Sebastian endlos lang. Krampfhaft hielt er seine Tasche umfasst und klammerte sich an den Haltegriff neben seinem­ Sitz, während Anton den Traktor an den Hindernissen vorbeisteuerte, die die Straßen und Wege blockierten.

Der Mittnerhof lag außerhalb des Dorfes inmitten von Feldern und Weiden. Auch in der Dunkelheit konnte Sebastian sehen, dass der Hof zwar aufgeräumt und sauber war, der Putz aber von den Mauern des Wohnhauses blätterte und die Stallungen und Scheunen dringend neue Dachabdeckungen benötigen.

»Wohin?«, fragte er, als Anton den Traktor vor der Haustür zum Stehen brachte und er das Gefährt endlich verlassen konnte.

»Hier entlang.« Anton stieß die schwere Eichenholztür auf.

Sebastian fand sich in einer spärlich beleuchteten Diele wieder. Eine dunkle Holztreppe führte nach oben. Unwillkürlich zog er den Kopf ein, so als befürchtete er, sich an der niedrigen Decke zu stoßen.

Das gehört doch dieser Rekordjägerin auf den Straßen von Bergmoosbach, dachte er, als er beim Hinaufgehen ein pinkfarbenes Fahrrad im Treppenhaus stehen sah. Er zuckte zusammen, als er den alles durchdringenden Schmerzensschrei einer Frau hörte. Das klang gar nicht gut. Sabine hatte bereits drei Kinder geboren, sie konnte Schmerzen aushalten.

»Ich bleibe bei den Kindern in der Küche!«, rief Anton und gleich darauf schloss sich eine Tür im Erdgeschoss.

Er hat Angst, dachte Sebastian.

Sabine lag in einer kleinen Stube am Ende des Flurs. Holzdielen, weiße Vorhänge vor den schmalen Fenstern, ein schöner alter Bauernschrank und ein ausgedienter Esstisch, auf dem gebügelte Wäsche und zwei Schüsseln mit heißem Wasser standen. Den meisten Platz aber nahm das mit einem Rosenmuster bemalte Ehebett der Mittners ein, indem Sabine sich hin und her wälzte und die Fäuste ballte, um den Schmerz zu unterdrücken.

Eine junge Frau saß neben Sabine auf dem Bett und trocknete ihre Stirn mit einem sauberen Tuch. Sie trug eine weiße Jeans und ein weißes T-Shirt und hatte ihr langes braunes Haar am Hinterkopf hochgesteckt. Kein Zweifel, sie war die Radfahrerin, die ihn am Morgen beinahe umgefahren hatte. Aber was machte sie hier? War sie eine Verwandte von Sabine?

»Darf ich nach ihr sehen?«, fragte er höflich und stellte seine Tasche auf den Stuhl neben das Bett.

»Deshalb habe ich Sie rufen lassen.« Die Frau wandte sich ihm zu.

Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte Sebastian sich wie gebannt von diesem zarten Gesicht und den grünen Augen, die seinen Blick festhielten.

»Wir haben es mit einer Querlage zu tun«, sagte sie.

»Und woher wissen Sie das?«

»Weil es mein Beruf ist, so etwas zu wissen.«

»Sebastian, das ist Anna Bergmann, unsere Hebamme«, flüsterte Sabine.

Wenigstens ist sie noch bei Bewusstsein, dachte Sebastian und setzte sich neben sie, als Anna ihm den Platz frei machte.

»Haben Sie versucht, das Kind zu drehen?«, fragte er sie.

»Ja, natürlich, leider ohne Erfolg.«

»Wir sollten es noch einmal versuchen.«

Anna schüttelte den Kopf und schaute auf Sabine.

»Seit wann?« Er wusste sofort, was sie meinte, als er Sabine berührte. Ihre Haut glühte, sie hatte hohes Fieber.

»Seit dem Blasensprung vor einer halben Stunde.«

»Können Sie mir assistieren?«

»Ich war OP-Schwester, bevor ich mich zur Hebamme ausbilden ließ.«

»Was ist los?«, fragte Sabine, und die Angst stand in ihren Augen, als sie ihre Hand auf Sebastians Arm legte.

»Ich muss einen Kaiserschnitt machen, Sabine. Du bekommst jetzt eine Narkose, und wenn du wieder wach wirst, dann kannst du dein Baby in den Arm nehmen.« Sebastian streichelte über ihre Wange und sah sie voller Zuversicht an. Er durfte sie nicht spüren lassen, dass ihr Leben und das ihres Kindes auf der Kippe standen.

Sobald während einer Geburt Fieber auftritt und sich eine Infektion ankün­digt, bleibt nicht viel Zeit, um das Kind vor Geburtsschäden oder Schlimmerem zu bewahren. Eine halbe Stunde war schon viel zu lang.

»Räumen Sie bitte den Tisch ab und machen Sie es ihr ein bisschen bequem«, wies er Anna an. Für Höflichkeiten hatten sie jetzt keine Zeit.

Anna nickte, machte den Bügeltisch frei, legte eine Steppdecke aus und bedeckte sie mit mehreren Laken, danach versuchte sie den Tisch von der Wand zu ziehen, damit sie um ihren ›OP-Tisch‹ herumlaufen konnten. Sebastian kam ihr zur Hilfe, nachdem er noch einmal die Herztöne des Kindes abgehört hatte.

»Sie wollen das Kind wirklich hier in diesem Zimmer holen?«, sagte sie leise, dass nur er es verstehen konnte.

»Was wollen wir tun? Warten, bis die Straßen geräumt sind? Sie mit dem Traktor ins Krankenhaus fahren? Glauben Sie mir, ich bin mir bewusst, in welcher Lage wir uns befinden.« Dass sie sich nicht in einem Operationssaal befanden, in dem sie alle nötigen Vorkehrungen treffen konnten, das allein war schon dramatisch genug, dazu kam, dass er absolut nichts über Sabines Vorgeschichte und den Verlauf der Schwangerschaft wusste. »Irgendwelche Krankheiten, Allergien, irgendetwas, was ich über Sabine wissen sollte? Frau Bergmann, was ist mit Ihnen? Ruhig atmen, nicht abbauen, ich brauche Sie.« Er packte Anna an beiden Handgelenken und sah ihr direkt in die Augen, als sie plötzlich ganz blass wurde und unregelmäßig atmete. »Gut so, und jetzt gehen Sie zu Anton und sagen ihm, dass wir einen Rettungshubschrauber brauchen. Der Sturm hat sich gelegt, sie können sicher wieder starten. Wenn sein Telefon nicht funktioniert, muss er ins Dorf fahren und er muss ihnen schildern, was wir hier veranstalten«, erklärte er ihr, als sie sich wieder beruhigt hatte.

»Ich bin gleich zurück. Ich sage Anton nur schnell Bescheid, dass niemand hier hereinplatzt«, wandte sich Anna an Sabine, die sie und Sebastian ängstlich beobachtete. Es ist eine Katastrophe, dachte sie, als sie aus dem Zimmer eilte. Sie konnte Sebastian nichts über Sabines aktuellem Zustand sagen. Sabine war doch nur ein einziges Mal bei ihr gewesen.

»Wo ist dein Mutterpass?«, wollte Sebastian von Sabine wissen. Wenn der Pass ordentlich geführt war, sollte er ihm weiter helfen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie schuldbewusst.

»Dann muss ich mich auf deine Angaben verlassen.«

»Die Schwangerschaft verlief normal, ich habe keine Vorerkrankungen und keine Allergien«, sagte sie, weil das Wort Allergie während seines Gespräches mit Anna gefallen war.

»Danke. Schaffst du es, den Arm um meinen Nacken zu legen?«, fragte er sie, und als sie nickte, hob er sie hoch und trug sie zum Tisch.

»Du hast das schon gemacht?«

»Bevor ich in Toronto im Krankenhaus gearbeitet habe, war ich einige Jahre in einer Landarztpraxis hoch oben im Norden von Kanada. Dort gab es weit und breit keine Klinik. Wir hatten in der Praxis einen kleinen Operationsraum, alles, was nur irgendwie möglich war, haben wir dort gemacht. Kaiserschnitte waren sozusagen an der Tagesordnung«, beruhigte er sie, während er einen kurzen Blick mit Anna tauschte, die wieder ins Zimmer gekommen war und aus ihrem Rucksack und seiner geöffneten Arzttasche alles zusammensuchte, was sie für den Eingriff gebrauchen konnten.

Was er Sabine gesagt hatte, stimmte, mit dem Unterschied, dass diese Eingriffe, die er durchgeführt hatte, alle geplante Kaiserschnitte waren, auf die er sich vorbereitet hatte. Das war sein erster Notkaiserschnitt, und auch noch in einer absolut ungeeigneten Umgebung.

»Ich bin sicher, ich bin bei dir in guten Händen«, sagte Sabine mit schwacher Stimme und versuchte ein Lächeln.

»Es geht alles gut, das verspreche ich dir.« Er schaute sie noch einmal voller Zuversicht an, bevor er ihr die Narkosespritze setzte.

»Das Telefon funktioniert wieder, Anton versucht die Rettungsleitstelle zu erreichen. Trotzdem war das eben ein riskantes Versprechen«, flüsterte Anna, als Sabine eingeschlafen war.

»Ich werde es halten.« Wenn du dich einmal entschieden hast, einen lebensrettenden Eingriff durchzuführen, dann darfst du keine Sekunde an dieser Entscheidung zweifeln, sonst habt ihr beide verloren, dein Patient und du. Das war der erste Satz, den er von seinem Vater nach seinem bestanden Examen gehört hatte. Es war ein guter Ratschlag.

»Die Herztöne des Kindes werden wieder schwächer.« Anna, die genau wie Sebastian Handschuhe und Mundschutz trug, überwachte den Zustand des Kindes, während er sich auf den Eingriff vorbereitete.

Sebastian nahm zwar wahr, was sie sagte, aber er konnte nicht darüber nachdenken, es gab ohnehin kein Zurück mehr. So wie er es gelernt hatte, setzte er den Schnitt an, ganz ruhig, ohne das geringste Zittern oder Zögern.

»Da ist es«, flüsterte Anna er­leichtert, als sie den Kopf des Kindes sah.

»Gleich hast du es geschafft«, sagte Sebastian und kurz darauf holte er den kleinen Jungen ins Leben.

Bevor Anna das Kind übernahm, tupfte sie Sebastian den Schweiß von der Stirn, und sie sah die Erleichterung in seinen Augen. Sie sind grau, grau wie heller Granit, dachte sie und nahm das Kind entgegen, das laut aufschrie, nachdem Sebastian die Nabelschnur durchtrennt hatte. Sie legte den Jungen auf ein sauberes Kissen, das auf dem Bett lag, und versorgte ihn, während Sebastian Sabines Operationswunde schloss.

»Was ist mit dem Kind?«, fragte er, ohne aufzuschauen.

»Die Herztöne sind im Normbereich, Fieber hat er auch keines.«

»Gut.«

»Das ist alles, was Sie dazu sagen? Gut?«

»Verzeihung, aber ich gebe mir gerade große Mühe, dass Sabine mich nicht für meine Nähkunst hasst.«

»Ich denke, Sie muss sich keine Sorgen machen«, versicherte ihm Anna, nachdem sie ihm über die Schulter geschaut hatte.

»Danke.« Sebastian konnte sich noch nicht wirklich entspannen. Erst wenn Mutter und Kind auf dem Weg ins Krankenhaus waren, konnte er die Verantwortung für sie abgeben.

Wenig später kam Sabine wieder zu sich. Er hatte die Narkose so knapp wie möglich bemessen, um sie und das Kind nicht zusätzlich zu schwächen.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN:978-3-95979-293-6

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