Traumberuf Opernsänger
Von der Ausbildung zum Engagement
HENSCHEL
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ISBN 978-3-89487-746-0
© 2012 by Henschel Verlag in der Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig
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Lektorat: Anja Herrling
Umschlaggestaltung: Ingo Scheffler, Berlin
Titelbild: Diana Damrau (als Gilda) und Juan Diego Flórez (als Herzog von Mantua) in RIGOLETTO an der Sächsischen Staatsoper Dresden (2008). © Matthias Creutziger
Vorwort
Das Berufsbild
Voraussetzungen für den Beruf
Physische Voraussetzungen
Psychische Voraussetzungen
Musikalische Voraussetzungen
Künstlerische Voraussetzungen
Intellektuelle Voraussetzungen
Talent
Wie wird man Opernsänger/in? – Ausbildungswege
Gesangslehrer
Erster Unterricht
Das Studium an Musikhochschulen
Die Eignungsprüfung
Der Verlauf eines Gesangsstudiums
Das Master- bzw. Aufbaustudium
Stimmgattung und Stimmfach
Die Stimmgattungen
Die Stimmfächer
Stimmtypus
Die Zuordnung zur Stimmgattung
Die verschiedenen Stimmfächer: Frauenstimmen
Stimmgattung Sopran
Stimmgattung Mezzosopran/Alt
Die verschiedenen Stimmfächer: Männerstimmen
Stimmgattung Tenor
Stimmgattung Bariton
Stimmgattung Bass
Gedanken über Stimme und Stimmfach
Vorsingen
Bewerbung für ein Vorsingen
Was soll eine Bewerbung für ein Vorsingen beinhalten?
Bewerbungen an Opernhäusern – das Opernstudio
Bewerbung bei Vermittlungsagenturen
Bundesagentur für Arbeit (ZAV)
Private Opern-, Konzert- und Musikagenturen
Die Vorsingesituation
Das Vorsingerepertoire
Organisation des Vorsingens
Die Kleidungsfrage
Repetitor, Notenmaterial
Der Vortrag
Gesangswettbewerbe
Das persönliche Netzwerk
Einsicht in die Realität: Was tun, wenn Vorsingen erfolglos bleiben?
Berufswechsel
Berufswege in das Umfeld des Opernmilieus
Aufbaustudium im Fach Kulturmanagement
Der Weg in den Beruf des Opernchorsängers
Singen als Hobby
Das erste Engagement
Arbeitsverträge
Der Ensemblevertrag, Festvertrag, Arbeitsvertrag, Normalvertrag Bühne (NV Bühne)
Der Gastvertrag, das Gastengagement, der Teilzeitvertrag
Leistungsschutzrechte des Opernsängers
Provision für Vermittlungsagenturen
Lohn- und Einkommensteuer, Sozialversicherungen
Gastierurlaub
Vertragsverlängerung
Folgeengagement
Der Arbeitsalltag eines Opernsängers
Das Studium der Partien
Der Korrepetitor (oder Repetitor)
Dirigenten
Stilfragen und Interpretation
Das Lesen des Notentextes
Text und musikalische Textbetrachtung
Rollendramaturgie, Rollengestaltung
Rezitative
Dialoge
Das Auswendiglernen
Proben
Das Einsingen
Das Markieren
Repetitionsproben
Szenische Proben
Kostümproben
Schlussproben
Das Glück der gelungenen Aufführung
Die Routine
Solist und dennoch Teamworker
Ensemble oder Freiberuflichkeit? – Eine Frage der Karriere und ihrer Planung
Berufliches Selbstmanagement
Stimmkontrolle und Stimmökonomie
Disziplin und Harmonie in der Lebensführung
Phasen der Entspannung
Der Terminkalender
Indisponiertheit, Krankheit, Absagen
Ein Abschnitt nur für Sängerinnen
Der Umgang mit Kritik
Schlussbemerkung
Anhang
Steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Aspekte beim Fest- und beim Gastvertrag
1. Ensemblevertrag
2. Gastvertrag
Anmerkungen
Über den Autor
Liebe Leserinnen und Leser,
die folgenden Gedanken zum Beruf des/der Opernsänger/in* sind Ergebnis einer mehr als vierzigjährigen Arbeit und Erfahrung mit jungen, aber auch arrivierten Opernsängern an großen und kleinen Theatern, bei Wettbewerben, Meisterkursen, im Unterricht, bei der Korrepetition oder im Gespräch. Sie betreffen in erster Linie die praktischen Aspekte des Berufsbildes. Auf die künstlerische Seite des Opernsingens gibt es nur hin und wieder einige Querbeleuchtungen, die überwiegend mit der Praxis zusammenhängen. In diesem Sinne versteht sich das Buch als Leitfaden. Es kann nur bedingt Ratgeber sein, weil jeder Künstlerpersönlichkeit eine unverwechselbare Individualität innewohnt, auf die das eine angewendet werden könnte, aber vielleicht das andere nicht. Eine Orientierungshilfe jedoch, gerade für den angehenden oder jungen Opernsänger, können die folgenden Überlegungen in jedem Fall darstellen, weil ich versucht habe, die typischen Muster des Berufs, die Notwendigkeiten, die objektivierbaren Schwierigkeiten, die er mit sich bringt, aufzuzeigen. Auch scheinbare Selbstverständlichkeiten sind benannt, wie z. B. korrektes Studium, Pünktlichkeit oder Disziplin, weil ich immer wieder die Erfahrung machen musste, dass viele junge Opernsänger wesentliche und obendrein völlig unnötige Schwierigkeiten in der Praxis haben, wenn ihnen diese Grundsätze in der eigenen Arbeitsweise fehlen.
Da es sich bei diesem Beruf um ständige Selbstbehauptung durch Qualität, Wettbewerb und konzentrierte Leistung handelt, sind die Erfolgserlebnisse umso glückhafter und können die Grundlage für einen dauerhaft zutiefst befriedigenden Umgang mit diesem Beruf bedeuten, hohe Erfüllung bescheren und zu gesellschaftlichem Ansehen verhelfen. In diesem Zusammenhang ist jedoch auch das Illusionspotenzial zu benennen, das dem Thema innewohnt. Denn Opernsänger zu sein ist wunderbar, wenn man erfolgreich ist, und wir kennen nur die Erfolgreichen, die großen Namen und die Berühmtheiten. Die Spitze der Pyramide leuchtet und verführt leicht zur Meinung, diese Spitze stelle den Normalfall dar. Dabei sind es aber nicht einmal hundert Opernsänger auf der ganzen Welt, die in unserer Medienwelt in diesem Beruf zu Stars werden können. Daher möchte dieses Buch auch ein wenig desillusionieren im Hinblick auf die tatsächliche Quote derer, die sich in diesem Beruf überhaupt so erfolgreich entwickeln, dass sie einmal zur Weltspitze gehören könnten.
Jeder, der diesen Beruf ergreifen will, braucht Enthusiasmus, Leidenschaft für das Singen, Selbstbewusstsein und die Überzeugung, dass er es schaffen wird! Ohne diese Ausgangsdisposition gelingt kein Start. Insofern muss der angehende Opernsänger immer positiv und idealistisch zu seinem Ziel stehen. Nur sollte ihn dabei stets eine Bereitschaft begleiten, die Realität der Beziehung zwischen sich und seinem Ziel möglichst illusionslos zu registrieren. Bitternis und Traurigkeit überkommen mich nicht selten, wenn ich sehe, dass manche junge Sänger viele Jahre studiert und dabei nicht einmal das notwendige sängerische Rüstzeug erworben haben, das sie für einen Einstieg in den Beruf qualifizieren könnte. Von ihren Lehrern um wertvollste Jahre ihres Lebens betrogen, stehen sie traumatisiert vor der Realität. In diesem Sinne soll das Buch nicht zuletzt zur Reflexion anregen.
Es möchte aber auch ein Berufsbild zeichnen. Damit will es dem Opernfreund und dem interessierten Laien Einblicke geben in den Alltag des Opernsängers und damit in die Vielschichtigkeit der Phänomene, die diesen Beruf strukturieren. Der angehende oder junge Opernsänger wird sich dabei eingeführt sehen in das künstlerische Milieu, das den Beruf charakterisiert. Für Studierende des Operngesangs und unbedingt auch für diejenigen, die sich für das Studium interessieren, wird dies von Wichtigkeit sein, da man sich als junger Mensch normalerweise von dieser spezifischen Berufswelt keine konkrete Vorstellung machen kann.
Für sie und für jene, die ein Gesangsstudium ergreifen wollen, sind die Anmerkungen zur Gesangsausbildung gedacht, wobei der Verweis auf verschiedene Hochschulen stets neu aktualisiert werden muss.
Gerd Uecker,
im Februar 2012
Für viele Menschen stellt der Beruf des Opernsängers einen Traumberuf dar. Auf der Bühne, im Rampenlicht zu stehen, mit Gesang die Emotionen der Menschen zu wecken, mit den größten Kunstwerken interpretatorisch umzugehen – all diese Verheißungen können den Beruf äußerst attraktiv erscheinen lassen. Dazu kommt Hoffnung auf Berühmtheit und gesellschaftliches Ansehen sowie wirtschaftlichen Wohlstand. Gerade weil dieser Beruf im Allgemeinen nur von seiner glänzenden Seite aus wahrgenommen werden kann, ist es so wichtig, sich von ihm ein realistisches Bild zu machen. Es liegt nahezu im Wesen des Berufs, nur das fertige und glänzende Produkt, nämlich die Opernaufführung, preiszugeben und alles, was sich »hinter den Kulissen« abspielt, auszublenden.
Der Beruf des Opernsängers ist ein Spezialberuf, der von vergleichsweise sehr wenigen Menschen ausgeübt wird. In festem Vertragsverhältnis mit deutschen Bühnen standen z. B. im Jahr 2008 weniger als 3000 Opernsängerinnen und Opernsänger.1 Das ist eine im Vergleich zu anderen Berufszweigen fast verschwindend kleine Gruppe. Zwar sind zu ihnen noch die als »Gäste« bzw. nicht fest engagierten Sänger hinzuzuzählen, aber dennoch bleibt der prozentuale Anteil der Berufsgruppe »Opernsänger« am gesamten Arbeitsmarkt marginal.
Der Beruf ist geprägt durch die Notwendigkeit einer außergewöhnlich hohen Individualisierung der Menschen, die ihn ausüben. Er definiert sich nahezu durch die Individualität der künstlerischen Profilierung des Opernsängers. Wie den des Schauspielers und Tänzers zählt man ihn zu den darstellenden künstlerischen Berufen. Der Opernsänger nimmt in diesem Zusammenhang insofern eine besondere Stellung ein, als ihn vom Schauspieler, der ja auch eine Rolle auf der Bühne spielt, etwas unterscheidet, nämlich dass er seine Rolle singen muss. Der Schauspieler hingegen, auch wenn er höchsten künstlerischen Ansprüchen genügen muss, verbleibt in seiner »natürlichen« Ausdruckswelt der Sprache und des Sprechens, also dort, worein der Mensch auch geboren ist. Denn als ein »Singender« kommt er nicht auf die Welt, das Singen stellt innerhalb der Entwicklung eines Menschen eine wesentlich spätere und eindeutig »künstlichere« Form der Kommunikation dar. Beim Opernsänger kommt also noch zum künstlerischen Spektrum der Darstellung die Voraussetzung einer organischen Disponiertheit seiner Singstimme hinzu.
Anders als in manchen anderen Berufen steht der Opernsänger in der Situation, während Proben und Aufführungen jeweils Höchstleistungen bieten zu müssen. Das sängerische und darstellerische Niveau, das von ihm erwartet wird, muss abrufbar erbracht, besser noch, gesteigert werden können. Ist, aus welchen Gründen auch immer, diese Fähigkeit in Wiederholungsfällen geschwächt oder nicht möglich, stellt dies eine konkrete Gefährdung für die Berufsausübung des Sängers dar. So steht ein Opernsänger in einem andauernden Wettbewerb: einmal hinsichtlich anderer Kollegen, dann aber auch gegen sich selbst, da er ja sein künstlerisches Niveau gleichmäßig halten bzw. dieses gerade in jungen Jahren sogar steigern muss.
Die Arbeitsrhythmik des Opernsängers bringt es mit sich, dass sich der Beruf unter Umständen als eine Belastung für das Privat- oder Familienleben erweisen kann. Er kennt keine Feiertage, Wochenenden oder regelmäßig freien Abende. Immer dann, wenn sich die anderen Menschen aus ihrer Arbeitswelt zurückziehen, sich der Familie, der Erholung oder ihren privaten Interessen widmen, steht für den Opernsänger Vorstellungsdienst an. Denn der Oper widmen kann sich der Besucher allemal nur in seiner Privat- oder Freizeit.
Für viele Sänger bringt der Beruf auch eine rege Reisetätigkeit mit sich. Konzerte, Gastspiele, Vorsingen bei Agenturen oder Opernhäusern und gegebenenfalls Tourneen erfordern die Bereitschaft zur Mobilität, die entsprechende Akzeptanz und Unterstützung von Familie und Lebenspartnern hinsichtlich der unabhängigen Gestaltung des persönlichen Lebensrhythmus.
Der Beruf des Opernsängers ist heute von Internationalität geprägt. Schon zu Beginn ihres Entstehens war die Oper als Kunstgattung international. In Italien um etwa 1600 geboren, eroberte sie in kurzer Zeit fast alle Länder des damaligen Zentraleuropas, die dann auch der Oper jeweils eigene stilistische Impulse vermittelten. In den letzten 150 Jahren wurden fast auf der ganzen Welt Opernhäuser gebaut. Hatte man früher Opernaufführungen jeweils in die eigene Landessprache übersetzt – Verdi forderte das sogar, weil es dem besseren Verständnis der Werke diente –, so ist man in den letzten Jahrzehnten immer mehr dazu übergegangen, die Opern in ihrer Originalsprache aufzuführen. Durch die technische Erfindung sogenannter »Übertitel« erscheint dann eine jeweilige landessprachliche Übersetzung für alle Zuschauer sichtbar über oder neben dem Portalbereich der Bühne oder auf einem Display, eingebaut in die Rückenlehne des Vordersitzes. Man hört also heute in Tokyo und New York die Opern Verdis in italienischer, die Wagners in deutscher und die Opern Janáčeks in tschechischer Sprache mit Übertiteln. Ein anderer Aspekt der Internationalität des Berufs ist die Tatsache, dass oftmals Sänger verschiedenster nationaler Herkunft gemeinsam engagiert werden, um Opernwerke zur Aufführung bringen. Die Vorstellung einer italienischen Oper in Berlin mit einem amerikanischen Tenor, einer spanischen Sopranistin, einer lettischen Mezzosopranistin und einem koreanischen Bass, dirigiert von einem französischen Dirigenten ist durchaus nicht undenkbar. Die Möglichkeiten der technischen Reproduktion und der internationalen Verbreitung machen überdies mit Live-Übertragungen und Live-Mitschnitten jedem Interessierten Aufführungen aus der ganzen Welt zugänglich und finden ein begeistertes Publikum.
Der Opernsänger kann sich nicht auf seinen Leistungen ausruhen. Ein einmal beruflich-handwerklich erworbenes Können muss stets – wie im Sport – durch Training, Coaching und Kontrolle in Form gehalten werden und abrufbar bleiben. In der künstlerischen Durchdringung der Rollen – in der Oper heißen sie »Partien« – wird ein ernsthafter Sänger nie an einen Punkt kommen, an dem er nun »genau weiß, wie es geht«. Stets wird er in der Opernpraxis neuen ästhetischen oder sängerisch-musikalischen Impulsen ausgesetzt sein, die ihn in der Vertiefung seiner Interpretationen vor neue Aufgaben stellen. Diese Herausforderungen anzunehmen ist eine Grundbedingung für eine gelingende Sängerlaufbahn.
Die Oper wird als eine zusammengesetzte Kunstform bezeichnet. Denn in ihr werden Musik, Sprache, Bild und Bewegung zu einer künstlerischen Einheit gebracht. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Berufen wider, die an einem Opernhaus zusammenarbeiten. Man kennt die künstlerischen und nicht-künstlerischen Zweige, die darstellenden und nicht-darstellenden künstlerischen Berufe. Oft trifft man auf künstlerische Spezialberufe, wie zum Beispiel den des Inspizienten, der die Hauptverantwortung für die Koordination einer Bühnenvorstellung trägt und für den es nicht überall einen vorgegebenen Ausbildungsweg gibt. Die verschiedenen Berufsfelder treffen auf der Bühne auf engstem Raum zusammen und müssen einen hohen Integrationsgrad untereinander aufweisen. Der Bühnenhandwerker wirkt während der Vorstellung direkt mit dem Opernstar zusammen, technische Vorgänge tragen und begleiten künstlerische Abläufe. Ein dichtes Aufeinandertreffen von unterschiedlichsten Wirkungssphären macht eine konfliktfreie Kooperation am Theater unentbehrlich. Menschen verschiedenster sozialer Herkunft wirken bei der Vorstellung Hand in Hand zusammen. Es ist kein Geheimnis, dass manchmal die Abendgage eines Protagonisten auf der Bühne dem Jahreslohn eines Bühnenarbeiters entspricht. Dennoch funktioniert dieses »Wunder« Oper. Es motiviert die Menschen, die an diesem »Gesamtkunstwerk« arbeiten, es schafft kreative Räume und es stellt eine permanente Herausforderung für den Einzelnen und für die Kollektive dar – seien sie künstlerisch oder auf technischem Gebiet tätig. Das Berufsethos an Theatern ist im Vergleich zu anderen Berufsfeldern überdurchschnittlich ausgebildet.
Opernsänger zu sein, wird im gesellschaftlichen Ansehen honoriert, denn das Berufsbild wird meinungsmäßig mit hoher Leistungsbereitschaft und überdurchschnittlichem Talent in Verbindung gebracht. Der Beruf kann also bei entsprechender Begabung tatsächlich als ein Traumberuf bezeichnet werden, denn er bietet ein Tätigkeitsfeld, das eine Art von Verwirklichung eigener Persönlichkeitslinien zulässt, in einem höchst anspruchsvollen künstlerischen Rahmen steht und zudem eine unbestritten wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllt.
Etliche junge Menschen, die am Ende ihrer Schulzeit stehen, werden von der Frage gequält, was sie denn nun eigentlich für einen Beruf lernen sollten oder, im Falle eines Gymnasialabschlusses, ob sie und was sie studieren sollten. Heute nimmt ihnen niemand diese Entscheidung ab. Es liegt auf der Hand, dass eine individuelle Neigung zu den verschiedenen Berufsbereichen eine Entscheidung wesentlich erleichtert und prägt. Oft finden junge Menschen aber keine echte Neigung für irgendwelche technischen, wirtschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Zweige etc., und oft wird dann aus Verlegenheit ein Studium, bestenfalls ein sogenanntes »Schnupperstudium«, aufgenommen. Die Zahl derer, die eine Berufsausbildung, im engeren Sinn ein Studium abbrechen, entspricht statistisch derzeit der Zahl jener, die am Anfang ihrer Ausbildung keine ausgesprochen erkennbare Neigung zum gewählten Studiengang vorweisen. Dies schließt natürlich nicht aus, dass man auch in einem Beruf, den man nicht aus Neigung, sondern aus anderen Gründen, und sei es der Zufall, ergriffen hat, durchaus erfolgreich und glücklich werden könnte.
Will man nun das Opernsingen als Beruf erwählen, werden sicher nicht der Zufall oder die Verlegenheit dafür den Ausschlag geben. Denn dieser Beruf setzt etwas Unabdingbares voraus: die Liebe zum Singen und die Freude, sich in einer Rolle darzustellen. Wenn man beides in sich spürt, muss man zwar deswegen nicht zwangsläufig Opernsänger werden. Will man aber tatsächlich diesen Beruf ergreifen, dann muss man erfasst sein von einer natürlichen Affinität zum Singen, fast könnte man diese als eine Art Lebenseinstellung oder Lebenshaltung deuten. Wenn man mit dem Musiktheater noch keine nennenswerten Erfahrungen machen konnte, was für einen jungen Menschen eher die Regel sein dürfte, so sollte jedoch das Singen und die Musik im Allgemeinen, sei es Klassik, Jazz oder Pop, eine nachhaltige Faszination ausüben, sie sollte aus dem Leben nicht wegzudenken sein. Die Liebe zum Singen entwickelt sich meist schon im Kindesalter bei entsprechender Förderung. Bereits im frühkindlichen Alter werden die hinführenden Wege spielerisch gefunden. Kindergarten, Kinderchor und Schulchor sind dann als erste Schritte geeignete Orte, um die Liebe zum Singen und auch den Grad des natürlichen Talents dafür zu entdecken. Bei außerordentlicher Begabung ist für Knaben dann die Aufnahme in einen der berühmten Knabenchöre, wie die Regensburger Domspatzen, der Tölzer Knabenchor, der Windsbacher Knabenchor oder der Kreuzchor in Dresden – um nur die herausragendsten zu nennen –, ein erstrebenswertes Ziel und schafft hervorragende Voraussetzungen für die Herausbildung allgemeiner Musikalität sowie spezifischer sängerischer Grundlagen. Dazu gehört in erster Linie die Schulung des Gehörs, das Vom-Blatt-Singen und die technische Entwicklung der Gesangsstimme. Aber bis in solche elitäre Höhen braucht es keineswegs zu kommen, um den Wunsch nach einem Sängerberuf hervorzubringen. Das Wichtigste ist, dass sowohl das Singen zu einer selbstverständlichen und natürlichen Ausdrucksäußerung wird, als auch ein tiefer werdendes Verständnis für Musik im Allgemeinen sich herausbildet. Förderlich für die Berufswahl Opernsänger ist natürlich ein Elternhaus, in dem Musikhören zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit zählt. Ein kulturell aufgeschlossenes, musisch-musikalisches soziales Umfeld bedeutet eine unleugbare Hilfestellung und befördernde Motivation im Zusammenhang mit der Wahl eines künstlerischen oder Musikberufes, wozu ja auch der des Sängers bzw. Opernsängers zählt.
Zwangsläufig ist es so, dass eine gewisse Kenntnis, was denn Oper überhaupt sei, vorhanden sein muss, will man sich für den Beruf entscheiden. Nun sind diese Kenntnisse, vor allem darüber, wie denn der Sängerberuf tatsächlich in der Praxis aussieht, gar nicht so leicht zu erhalten. Denn die Arbeit in einem Opernhaus spielt sich zum allergrößten Teil für Außenstehende unsichtbar ab. Nur die glanzvolle Spitze dieser Arbeit, nämlich die Aufführung, wird man normalerweise zu sehen und zu hören bekommen. Die Strukturen des Opernbetriebs bleiben dem Zuschauer in der Regel verborgen – und das ist auch richtig so, denn alles, was an Arbeit an einem Opernhaus geleistet wird, dient konsequenterweise nur dazu, die Aufführungen perfekt zu gestalten und ein Publikum für sie zu interessieren. In manchen anderen Berufen ist das natürlich ganz ähnlich. Also gilt es, sich neben der sängerischen Ausbildung konkrete Kenntnisse über den »Betrieb Oper« anzueignen. Im ersten Schritt geschieht dies durch den Besuch geeigneter Opernaufführungen. Vor allem die Angebote der in den letzten Jahrzehnten breit entwickelten Sparte der Kinder- und Jugendoper an fast allen deutschen Opernhäusern stellen eine wunderbare Chance dar, Wege zum Musiktheater zu finden und ein Gefühl dafür zu entwickeln, was Oper sei. Die Opernhäuser haben erkannt, dass sie für ihr Publikum von morgen die Türen frühzeitig öffnen und altersgerechte Begegnungen mit dem Opernmetier anbieten müssen. Der Anschluss an einen Opernjugendclub oder an ähnliche Formationen, die sich ja an etlichen größeren Opernhäusern etabliert haben, kann nicht nur gefühlsmäßige und emotionale Annäherung an den Opernbetrieb ermöglichen, sondern auch ganz konkrete Einblicke vermitteln, wie sich die Arbeit an einem Opernhaus strukturiert. Vor allem die aufs Erste fast unüberschaubare Fülle der verschiedenen Berufsbilder, die an einem Opernhaus alle zusammenwirken müssen, um das Ergebnis zu erreichen, dass eine Opernaufführung stattfinden kann und besucht wird, kann eine Vorstellung von der Komplexität der Opernarbeit vermitteln.
Um zu erfahren, wie die künstlerische Seite des Opernbetriebs sich darstellt, bietet es sich an, die Spielpläne verschiedener Häuser zu studieren, um damit das Repertoire2 kennenzulernen, das einen ja im wünschenswerten Fall einmal als Tagesaufgabe beschäftigen würde. Und man sollte versuchen, Künstler kennenzulernen, erst einmal als Zuschauer, dann über die Medien oder vielleicht bei Publikumsgesprächen im Opernhaus, nach Vorstellungen am Bühneneingang – all dies sind kleine Schritte, um sich kundig und erfahren zu machen, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen, sodass ein gefühlsmäßig zutreffendes Vorstellungsbild vom Opernberuf entstehen kann. Auch bietet es sich an, einmal ein Schulferienpraktikum an einem Opernhaus zu machen und dabei auch persönliche Kontakte mit dem einen oder anderen Mitarbeiter herzustellen. Zusammen mit dem Gesangsunterricht wird sich auch die konkrete Kenntnis der Opernmusik von Jahr zu Jahr erweitern. Bei der Allverfügbarkeit von Ton- und Bildträgern auch im Opernbereich ist es mittlerweile ein Leichtes, sich zu günstigen Bedingungen Kenntnis von der Repertoirebreite dieser Musik zu verschaffen. Was davon an den Theatern und Opernhäusern aufgeführt wird, findet man auf den Homepages der verschiedenen Theater. Eine statistische Übersicht über all die Werke des Musiktheaters, die in einer Spielzeit an den deutschen Bühnen aufgeführt wurden, erhält man über den Deutschen Bühnenverein.3 Speziell in dessen Publikation »Wer spielte was?«, die für jede Spielzeit neu erscheint, findet man eine Aufstellung über die am häufigsten aufgeführten Werke an den deutschen Theatern. Auch im »Deutschen Bühnen-Jahrbuch«, das ebenfalls jährlich erscheint, ist die jeweils aktuellste Zusammenfassung aller Informationen über Opernhäuser, Orchester, Theater, Festspiele etc. nachzulesen.4 Es empfiehlt sich sehr, im Hinblick auf eine mögliche Berufswahl, die ja einmal lebensbestimmend werden wird, sich so viele Informationen über den Beruf zu verschaffen wie nur irgend möglich. Natürlich wird man im Vorfeld nie wirklich in Erfahrung bringen können, was es mit der Realität der Berufspraxis letztlich auf sich hat, aber man kann ein Gespür dafür entwickeln, ob man sich auf einem Weg befindet, der den persönlichen Vorstellungen, wie man sein Leben beruflich gestalten und leben möchte, entspricht oder nicht. Denn auch von einem Berufswunsch abzukommen und sich schließlich für etwas anderes zu entscheiden, lohnt die Mühe, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Dass diese Vorstellungen vom Beruf bei jungen Menschen zum Teil Wunschvorstellungen sein können, die mit der Realität nicht immer im Einklang stehen, ist das Vorrecht der Jugend. Denn Erfahrungen müssen selbst gemacht werden, man kann sie nicht delegieren (obwohl Eltern häufig zu dieser Meinung neigen), man kann sich aber durch Recherche besser auf die Wirklichkeit einstellen.
Ein weiterer Gesichtspunkt sei an dieser Stelle noch hinzugefügt: Man muss für die Oper oder das Musiktheater ein gewisses Wertempfinden entwickelt haben, ein Gespür dafür und eine Überzeugung davon, dass man mit Kunstwerken umzugehen hat, die gegenüber anderen Dingen des Alltags etwas Besonderes darstellen und eine Wichtigkeit für den Sänger und sein Leben darstellen.
Wir leben in einer Zeit, die in hohem Maß von Visualisierung geprägt ist. Bilder bestimmen unseren Alltag, unser Leben. Nie zuvor in der Geschichte wurden so viele Bilder produziert und mit ihnen Botschaften übermittelt wie in den letzten Jahrzehnten. Dabei sind die Botschaften der Werbe- und Konsummedien weniger informativer oder sachlicher Natur, sondern in erster Linie dienen sie einer emotionalen Sendung, und ihre Aufbereitung folgt konsequent den stets wechselnden ästhetischen Trends und Kanons. Die Bildpräsenz in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, forciert durch eine sich ständig steigernde Verfügbarkeit zeitgleicher Informationen, prägt unsere Zivilisation, unsere Kultur und unser Leben mehr, als wir es wahrhaben wollen. Vor allem die Bildkultur, und hier natürlich in erster Linie die Omnipräsenz der Fotografie, hat auch unser Menschenbild verändert bzw. unsere Vorstellung davon. Das Bild vom Menschen orientiert sich heute weitgehend an Idealtypen, die durch die Bildindustrie geschaffen werden. Mode und Medien geben vor, was für den Rest der Welt als schön, was als »in oder out«, was ästhetisch als erstrebenswert zu gelten hat. Ganze Industrien entstanden, um dem Menschen zu verheißen, auf welche Weise er diesen bildlichen Vorgaben sich annähern oder diese gar erreichen könnte. Natürlich vollzieht sich der Abgleich zwischen den schon fast ins Irreale entschwebenden Ästhetikentwürfen der Schönheitsindustrie und den sogenannten »normalen« Menschen nicht zu Hause vor dem Badezimmerspiegel. Vorzugsweise die Prominenz in den bunten Blättern, sei sie aus Sport, Mode, Medien, Film oder Politik, wird williges und sich anbiederndes Opfer für den täglichen Testlauf des Vergleichens, wer als Typ, als Figur, als Person oder als Milieusymbol noch auf der Top-Ten-Liste der neuesten Lifestyle-Skala anzutreffen sei.
Auch vor der Künstlerprominenz im Musik- und Theaterbetrieb machte diese Entwicklung nicht halt. Auch hier bevölkern zunehmend die »Schönen« und »Attraktiven« die einschlägigen Publikationen und stehen im Fokus von Medienstrategien. Hatten in der Vergangenheit der Operngeschichte die Karikaturisten den »Operntenor« oder die »Operndiva« als sich durch eklatante Übergewichtigkeit und durch dürftige und klischeehafte Ausdrucksgestik auszeichnende Typen stilisiert, so hat sich in den letzten Jahrzehnten dieses Bild auf den Opernbühnen deutlich gewandelt. Auch hier orientiert sich der Besetzungstrend hin zum schönen, attraktiven und szenisch »glaubwürdigen« Sänger. Damit lassen sich manchmal auch Defizite des Gesangs kompensieren. Denn es ist eine bekannte Tatsache, dass der Mensch auch mit den Augen hört. Das beste Beispiel für die »schöne Sängerin« bietet in den letzten Jahren die großartige Sopranistin Anna Netrebko. Sie ist eine wunderbare Künstlerin und singt auch sehr schön. Aber dennoch gründet sich ihre Nachfrage mehr auf das einmalige Zusammenspiel ihrer körperlichen Schönheit mit ihrer Bereitschaft, sich aktiv medial vermarkten zu lassen, als ausschließlich auf ihre gesanglichen Leistungen.5 Denn es gab Vorstellungen mit ihr, in denen man sich fragte, woher die Irrationalität rühre, die Menschen in schiere Verzückung versetzt, obwohl sich auf der Bühne keineswegs exorbitante musikalische Ereignisse registrieren ließen. Den Inbegriff des Stars erfüllt Anna Netrebko auf ideale Weise, gerade weil die Bewunderung ihrer Person auch in ziemlich operfernen Kreisen – allerdings durch Marketingaktivitäten schon bis an die Grenze zur Peinlichkeit getrieben – sich eben nicht nur auf Kunst bezieht, sondern von einem zusätzlichen irrationalen, gleichwohl ästhetischen Aspekt körperlicher Schönheit getragen wird. Festzustellen bleibt, dass die auffallende Schönheit dieser Frau auf der Opernbühne zu einer Chiffre eines Paradigmenwechsels in der Opernästhetik geworden ist. Denn das visuelle Erscheinungsbild einer Opernsängerin bestimmte in den letzten zwanzig Jahren graduell mehr und mehr die Besetzungspraxis in den Opernhäusern mit und gewann an Bedeutung für eine allgemeine ästhetische Ausrichtung der Bühnenarbeit. Vor allem die konzeptionellen Intentionen der Regisseure haben wesentlich dazu beigetragen, den Typ der Opern-Heroine und die Karikatur des übergewichtigen Opernsängers früherer Zeiten zurückzudrängen.
Die Kulturhistorikerin und Buchautorin Eva Gesine Baur hat in einem sehr informativen und witzigen Beitrag über übergewichtige Opernsängerinnen die These vertreten, die Oper suche heute ihre Glaubwürdigkeit darin, die Idealfiguren der Opernlibretti mit Sängerschönheiten à la Netrebko zu besetzen, wobei damit aber gleichzeitig die der Oper eigene Magie und ihre grundsätzliche Illusionsstruktur verloren gehen würden.6 Diese Meinung ist journalistisch und sicher zu kurz gegriffen. Zweifellos haben in der Vergangenheit die Oper und ihre Glaubwürdigkeit nicht darunter gelitten, wenn stark beleibte Opernsängerinnen, die zum Teil ihr jugendliches Alter nur noch auf Fotografien legitimieren konnten, junge, verführerische Frauen darstellen sollten. Es hätte aber der Oper auch in keinem Fall geschadet, wenn statt dieser reiferen Damen schlanke und attraktive, junge Schönheiten auf der Bühne gestanden hätten. Es handelt sich hier weniger um eine Glaubwürdigkeitskrise der Oper als um einen Wandel unserer visuellen ästhetischen Rezeptionserwartungen. Diese werden eben von Bereichen außerhalb der Oper in den Alltagsbereichen der Mode, der Kosmetik und des Lifestyle aufgebaut und beeinflussen indirekt alle anderen ästhetischen Werturteile, die wir vornehmen. Wie Naturwissenschaftler festgestellt haben, stellen sich diese Bewertungen in Sekundenschnelle bei der visuellen Begegnung zwischen Menschen ein. Sympathie und Antipathie, Gleichgültigkeit und Interesse, Hochschätzung und Ablehnung als Grundlage für die Einschätzung fremder Menschen entstehen zum großen Teil dadurch, ob sich ein visuell-ästhetischer Eindruck, den wir bei der ersten Begegnung mit ihnen gewinnen, in unsere Bewertungsstrukturen, die wir in uns tragen, positiv, neutral oder negativ abgleicht.
So auch in der Oper. Diese hat uns in ihrer Geschichte stets eine visuelle Scheinwelt vorgestellt. Die Kraft und die Magie der Musik hat dann in dieser optischen Scheinwelt eine zweite Wirklichkeit, einen Kunstraum entstehen lassen, der seine eigenen Gesetze schuf und der theatrale Behauptungen aufstellte, die wir als Zuschauer uns zu akzeptieren auch bereitfanden und nach wie vor bereitfinden. Die visuelle Scheinwirklichkeit der Bühne ist, neben der musikalischen, ein konstitutives Element der Oper. Insofern liegt es nicht im Bereich des Nebensächlichen, auch den visuellen Erwartungshaltungen des Menschen von heute Aufmerksamkeit zu schenken. Das bedeutet für die Besetzungsbüros der Opernhäuser eben auch den Blick auf die körperliche Statur der Sänger. Das ist durchaus legitim – vor allem, wenn wir bedenken, dass beim Film alles andere undenkbar wäre.