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Der Autor

 

Gustav Bovensiepen, Dr. med., ist Lehranalytiker und Supervisor der DGAP/IAAP und am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie im Rheinland (IPR) tätig. Er hat viele Jahre als Analytiker für Kinder, Erwachsene und Jugendliche in Berlin und in Köln gearbeitet und blickt auf langjährige Supervisions- und Lehrtätigkeit in Europa und den USA zurück. Er hat zahlreiche Publikationen mit dem Schwerpunkt der analytischen Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen und zu behandlungstechnischen Fragen psychoanalytischer Psychotherapie verfasst.

Gustav Bovensiepen

Die Komplextheorie

Ihre Weiterentwicklungen und Anwendungen in der Psychotherapie

Verlag W. Kohlhammer

Für Christa, meine geduldige Diskussionspartnerin.

 

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030106-1

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-030107-8

epub:  ISBN 978-3-17-030108-5

mobi:  ISBN 978-3-17-030109-2

Geleitwort

 

 

 

Dieser Buchreihe gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg. Dies geschieht heute an einer Station in der psychotherapeutischen Landschaft, von der aus man fast verwundert zurück blickt auf die Zeit, in der sich Angehörige verschiedener »Schulen« vehement darüber stritten, wer erfolgreicher ist, wer die besseren Konzepte hat, wer zum Mainstream gehört, wer nicht, und – wer, gerade weil er nicht dazu gehört, deshalb vielleicht sogar ganz besonders bedeutsam ist. Unterdessen wissen wir aufgrund von Studien zur Psychotherapie, dass die allgemeinen Faktoren, wie zum Beispiel die therapeutische Beziehungsgestaltung, verbunden mit der Erwartung auf Besserung, wie die Ressourcen der Patienten, wie das Umfeld, in dem die einzelnen leben und in dem sie behandelt werden, eine größere Rolle spielen als die verschiedenen Behandlungstechniken. Zudem – und das zeigen auch Forschungen (PAPs Studie, Praxisstudie Ambulante Psychotherapie Schweiz) – werden heute von den Therapeutinnen und Therapeuten neben den schulspezifischen viele allgemeine Interventionstechniken angewandt, vor allem aber auch viele aus jeweils anderen Schulen als denen, in denen sie primär ausgebildet sind.

Gerade aber, weil wir unterdessen so viel gemeinsam haben und unbefangen auch Interventionstechniken von anderen Schulen übernehmen, wächst auch das Interesse daran, wie es denn um die Konzepte der »jeweils Anderen« wirklich bestellt ist. Als Jungianerin bemerke ich immer wieder, dass Theorien von Jung als »Steinbruch« benutzt werden, dessen Steine dann in einer neuen Bauweise, beziehungsweise in einer neuen »Fassung« erscheinen, ohne dass auf Jung hingewiesen wird. Das geschah mit der Jungschen Traumdeutung, von der viele Aspekte überall dort übernommen werden, wo heute mit Träumen gearbeitet wird. Dass C.G. Jung zwar auch nicht der erste war, der mit Imaginationen intensiv gearbeitet hat, Imagination aber zentral ist in der Jungschen Theorie, wurde gelegentlich »vergessen«; die Schematheorie kann ihre Nähe zur Jungschen Komplextheorie, die 100 Jahre früher entstanden ist, gewiss nicht verbergen.

Vieles mag geschehen, weil die ursprünglichen Konzepte von Jung zu wenig bekannt sind. Deshalb begrüße ich die Idee von Ralf Vogel, eine Buchreihe bei Kohlhammer herauszugeben, bei der grundsätzliche Konzepte von Jung – in ihrer Entwicklung – beschrieben und ausformuliert werden, wie sie heute sich darstellen, mit Blick auf die Verbindung von Theorie und praktischer Arbeit. Ich bin sicher, dass von der Jungschen Theorie mit der großen Bedeutung, die Bilder und das Bildhafte in ihr haben, auch auf Kolleginnen und Kollegen anderer Ausrichtungen viel Anregung ausgehen kann.

Verena Kast

Inhalt

  1. Geleitwort
  2. Einführende Einleitung
  3. Teil I:    Theoretischer Teil
  4. 1          Jungs Modell der Psyche und die Komplextheorie
  5. 1.1       Was ist ein Komplex nach Jung?
  6. 1.2       Das Modell der Psyche von C. G. Jung
  7. 1.3       Emergenztheorie
  8. 2          Die Entwicklung der Komplextheorie
  9. 2.1       Assoziationsexperimente
  10. 2.2       Die Eltern-Komplexe
  11. 2.3       Der Ich-Komplex
  12. 3          Postjungianische Weiterentwicklungen der Komplextheorie
  13. 3.1       Weiterentwicklungen der Komplextheorie bei Verena Kast, Hans Dieckmann und Mario Jacoby
  14. 3.2       Neuropsychologie: Psychische Realität, Körper-Seele-Problem
  15. 3.3       Trauma und Komplex
  16. 3.4       Zusammenfassende Diskussion zur Weiterentwicklung der Komplextheorie
  17. 4          Komplex, Neuropsychologie und Gedächtnis
  18. 4.1       Netzwerkstruktur des Gehirns und Dissozialität der Psyche
  19. 4.2       Gedächtnis und Embodiment
  20. 5          Das Innenleben der Komplexe
  21. Teil II:    Klinischer Teil
  22. 6          Komplexe und Entwicklung: Kinder- und Jugendlichenbehandlungen
  23. 6.1       Jungs Auffassung zur Kinderbehandlung und die post-jungianische Entwicklung
  24. 6.2       Michael: Komplexreaktion als Angriff auf die Symbolisierungsfähigkeit und die Transzendente Funktion
  25. 6.3       Martin: Komplexreaktion und Übertragung
  26. 6.4       Tom: Vom Körper zum Symbol oder der »Zerschossene-Körper-Komplex«
  27. 6.5       Peter: Transformation des Vaters-Komplexes in der Pubertät
  28. 6.6       Martina: Phallischer Vater-Komplex als Abwehr gegen einen negativen Mutter-Komplex
  29. 6.7       Paul: Leben im Roboter-Komplex
  30. 7          Ein Netzwerk-Modell der Komplexe
  31. 7.1       Klinische Theorie des Komplex-Netzwerkes
  32. 7.2       Komplexe als innere Objekte
  33. 7.3       Frau K.: Eine pathologische Organisation der Komplexe oder Rückzug ins »Asyl der Ignoranz«
  34. 8          Coniunctio – Das analytische Paar
  35. 8.1       Ein Blasen-Komplex: Das unfruchtbare Paar
  36. 8.2       Das Selbst, die innere Paarbildung und Verteidigung des Selbst
  37. 8.3       Frau A.: Entwicklungszusammenbruch in der Postadoleszenz oder ein »Leben in der Seifenblase«
  38. 9          Depressive und narzisstische Komplexorganisationen
  39. 9.1       Psychodynamische Aspekte der Depression oder der »Missglückte-Opfer-Komplex«
  40. 9.2       Herr A.: Übertragung und Gegenübertragung – Eine kollusive Vater-Sohn-Komplex-Organisation
  41. 10       Im Komplex leben
  42. 10.1     Komplex und innere Objekte im Vergleich
  43. 10.2     Komplexorganisation und psychischer Raum: Die innere Welt der Komplexe
  44. 10.3     Sebastian: Vernetzte Komplexe als Höhlensystem im Unbewussten
  45. 11       Kollektive Komplexe
  46. 12       Zusammenfassung
  47. Literatur
  48. Stichwortverzeichnis

Einführende Einleitung

 

 

 

Die Komplextheorie ist eines jener zentralen tiefenpsychologischen Konzepte, das untrennbar mit dem Namen von C.G. Jung verbunden ist. Er entwickelte sie aus seinen experimentalpsychologischen Untersuchungen (Diagnostische Assoziationsstudien) in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts und ging davon aus, dass es überwiegend unbewusste gefühlsbetonte Vorstellungskomplexe seien, die unser Gedächtnis beeinflussen und für psychische Störungen verantwortlich seien. Es war der wissenschaftliche Beweis für die Existenz des Unbewussten, weswegen Siegmund Freud Jungs Arbeit mit größtem Interesse aufnahm, seinen Kontakt suchte und das wichtigste Beziehungs-Konzept der frühen Psychoanalyse danach benannte: den Ödipus-Komplex. Post-jungianische Autoren entwickelten dann die Komplextheorie weiter, und man kann die Komplextheorie als das jungianische Pendant zur psychoanalytischen Neurosenlehre verstehen. Dennoch war es in den letzten drei Jahrzehnten stiller um die Komplextheorie geworden. Vor allem anglo-amerikanische Jungianer befassen sich immer weniger mit ihr, wohingegen die Archetypentheorie von Jung sehr zur Verbreitung der Analytischen Psychologie, besonders in den USA beigetragen hat.

In diesem Buch plädiere ich für eine Wiederbelebung der Komplextheorie und werde sie in verschiedener Hinsicht weiterentwickeln. Ausgehend von Jungs Bezeichnung von Komplexen als »Teilpsychen« verstehe ich die Komplexe als die grundlegenden Bausteine der Psyche, die sich sowohl untereinander zu Netzwerken verknüpfen können, als auch einen inneren Raum haben mit einem eigenen Innenleben. In den Komplexen können das Ich oder Teile des Ich »leben«, also mit bestimmten Aspekten der Komplexe identifiziert sein. Komplexe verstehe ich nicht nur ätiologisch (der »pathogene Komplex«) als eine Folge von Traumata und inneren Konflikten, sondern als »normale«, nicht per se pathologische, basale Funktionseinheiten der Psyche. Dieser Gedanke und Jungs Modell der Psyche bilden zusammen den konzeptuellen Rahmen für die Erfassung, Beschreibung und Untersuchung der »psychischen Wirklichkeit« (Jung, 1929/1971, GW Bd. 16, § 111). Dieses Modell der Psyche ist im Vergleich zu denen der Psychoanalyse wesentlich umfassender. Klinisch werde ich nicht nur auf neurotische und strukturelle Störungen, sondern auch auf die Identitäts- und Beziehungsproblematik vieler junger Erwachsener unserer Zeit eingehen. Diese führen aus meiner Sicht oft eine Art von Blasenexistenz, leben also psychisch in einer Art von Blase, in die sie sich als Schutz vor tieferen Beziehungen zurückziehen. Diese Blasenexistenz wird nicht selten durch eine Identifizierung mit den virtuellen Räumen des Internets und der sozialen Medien gestützt, ist aber äußerst fragil und verdeckt nicht selten eine innere Leere und tiefgreifende Identitätsunsicherheit junger Erwachsener. Dies wird offenbar, wenn diese Blase infolge von Krisen oder psychosozialen Veränderungen zusammenbricht oder versucht wird, sie zu verlassen, um in eine lebendige Beziehung zur analogen Welt, also zur emotionalen Realität zu treten.

Den größten Teil des Buches nehmen ausführliche Darstellungen der Behandlung von Kindern Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein. Mein besonderes Anliegen ist es, die Komplexlehre theoretisch wie auch praktisch-klinisch in Beziehung zu aktuellen Entwicklungen der Psychoanalyse zu setzen, um einen Austausch der verschiedenen analytischen Traditionen zu fördern.

Teil I:   Theoretischer Teil

1          Jungs Modell der Psyche und die Komplextheorie

 

 

 

1.1       Was ist ein Komplex nach Jung?

Der Gebrauch des Begriffes Komplex als laienpsychologische Zuschreibung, manchmal auch abwertend oder pseudopsychologisch, ist schon länger in der Alltagssprache angekommen: »Er hat einen Mutter-Komplex« oder »Sie hat einen Vater-Komplex«, wenn wir damit ausdrücken wollen, dass jemand mit seinen Elternfiguren auf nicht mehr altersgemäße oder auf neurotische Weise verwickelt oder identifiziert ist. Oder wir sprechen von Neidkomplex, Machtkomplex oder Minderwertigkeitskomplex, wenn diese Motive und Affekte für jedermann ersichtlich im Vordergrund stehen.

Jung entwickelte das Konzept der Komplexe im Laufe seiner experimentalpsychologischen Arbeiten an den Assoziationstudien zwischen 1904 und 1911. Samuels, Shorter & Plaut (1989) definieren den Komplex als eine »Sammlung von Bildern und Vorstellungen, die um einen Kern gruppiert sind, der sich aus einem oder mehreren Archetypen ableitet; sie sind durch eine gemeinsame emotionale Tönung charakterisiert. Wenn sie ins Spiel kommen (›konstelliert werden‹), tragen die Komplexe zum Verhalten bei und sind – ganz gleich ob man sich ihrer bewusst ist oder nicht – durch das Auftreten eines Affekts gekennzeichnet.« (S. 124).

Jung hielt sein Konzept der Komplexe für so bedeutsam, dass er zeitweise in Erwägung zog, seine psychoanalytische Theorie als Komplexe Psychologie zu bezeichnen. In seiner großen Arbeit »Über die Psychologie der Dementia praecox: Ein Versuch« 1907 (1907/1971, GW Bd. 3) entwickelte Jung seine wesentlichen Ideen zur Komplexlehre, die als klinisches Konzept als eine Art von jungianischer Neurosenlehre verstanden werden kann. Für S. Freud waren zu jener Zeit die experimentalpsychologischen Arbeiten von Jung sehr wichtig (Images Kap. 2), bestätigten sie doch sein Konzept des Unbewussten und ließen ihn hoffen, dass seine Gedanken in der damals führenden akademischen Psychiatrie (E. Bleuler am »Burghölzli« in Zürich) jene Anerkennung erfuhren, die ihm in Wien versagt wurde. Jung sah die zentrale klinische Bedeutung der Komplexe in der Psychologie der Affekte:

»Die wesentliche Grundlage unserer Persönlichkeit ist die Affektivität. Denken und Handeln ist sozusagen bloß Symptom der Affektivität. Die Elemente des psychischen Lebens, Empfindungen, Vorstellungen und Gefühle sind dem Bewußtsein in Form gewisser Einheiten [Hervorhebung d. Autors] gegeben, die man etwa, um eine Analogie zur Chemie zu wagen, dem Molekül vergleichen kann.« (Jung, 1907/1971, GW Bd. 3, § 78)

Hier klingt bereits an, dass Jung, der als einer der ersten Psychiater ein psychologisches Verständnis und eine Psychotherapie der Schizophrenie versucht hatte, ein für die heutigen Verhältnisse sehr modernes Verständnis der zentralen Rolle der Affekte für die Persönlichkeitsentwicklung vertrat.

Um die große theoretische und klinische Bedeutung der Komplexe und die Modernität der Komplextheorie einschätzen und verstehen zu können, muss zunächst Jungs Konzept der Psyche betrachtete werden. Jung entwickelte sein Modell der Psyche vor allem aufgrund seiner klinischen Arbeit mit psychotischen Patienten. Daraus entstand eine von Freuds Modell grundsätzlich verschiedene Auffassung über den Aufbau der Psyche.1

1.2       Das Modell der Psyche von C. G. Jung

Jungs Modell der Psyche unterscheidet sich grundsätzlich von dem der Psychoanalyse. Es umfasst die »Gesamtheit aller psychischen Vorgänge, der bewussten sowohl wie der unbewussten« (Jung, 1921/1971, GW Bd. 6, § 877). Als »Dimension des menschlichen Seins« ist für Jung die »psychische Wirklichkeit« (Jung, 1929/1971, GW Bd. 16, § 111) neben dem geistigen und dem biologischen Bereich ein eigenständiger Bereich. Jung spricht von der autonomen Psyche, sieht sie aber in beständiger Wechselbeziehung zur biologischen und zur geistigen Dimension. Dies hat der englische Jungianer A. Samuels, (1994) als die Pluralität der Psyche bezeichnet. Die Wandlungs- oder Veränderungsdynamik der Psyche sieht Jung in einer die intrapsychischen Gegensätze verbindenden Energie und in einer transformativen Kraft dieser Energie, die sich z. B. in Symbolen, aber eben auch in Symptomen oder psychischen Erkrankungen manifestieren kann. Dass sein Aufsatz »Die Transzendente Funktion« (1958/1971, GW Bd. 8) zwar 1916 entstanden war, er ihn aber erst 1958 publizierte, zeigt, wie vorsichtig Jung mit dieser so wichtigen Annahme eines transformativen Faktors in der Psyche umging. Jungs Modell der Psyche ist ein holistisches, ganzheitliches Modell der Auffassung von Wirklichkeit. Aus der Auffassung einer ganzheitlichen und pluralen Natur der Psyche kann Jungs Annahme eines nicht nur persönlichen, sondern auch eines kollektiven Unbewussten hergeleitet werden. Für Jung ist das Unbewusste die Hauptquelle schöpferischen Potenzials, es hat eine final-prospektive Tendenz und steht in einer kompensatorischen Beziehung zum Bewusstsein. Die Herstellung einer durchlässigen Wechselbeziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten (vgl. Jung, 1916/1971, GW Bd. 7) ist einerseits Ziel des psychotherapeutischen Prozesses und andererseits allgemeines Ziel eines lebenslangen, persönlichen Entwicklungsprozesses des Selbst, den Jung später als Individuation bezeichnet hat. Im Unterschied zur (psychoanalytischen) ichpsychologischen Auffassung des Selbst (vgl. Selbst-Objekt-Differenz) versteht Jung das Selbst als den zentralen, die Gesamtpsyche umfassenden Motor einer Entwicklungsdynamik, das in seiner Entfaltung (Individuation) über alle Lebensphasen bis ins Alter aktiv sein kann.

Eine umfassende, aktuelle und kritische Würdigung von Jungs Konzept des Selbst im Kontext von Subjektivität und Intersubjektivität hat Roman Lesmeister (2009) publiziert. Lesmeister (S. 266 ff.) zeigt, dass Jung bereits sehr früh von einem bereitliegenden Entwicklungspotenzial (Lesmeister nennt es »primordiale Matrix«) zur individuellen Entwicklung ausging, das Jungs Konzept des Selbst zugrunde liegt. Im Hinblick auf das Ziel des psychotherapeutischen Prozesses formuliert Lesmeister: »Der Andere (Patient) erzeugt durch seine Einwirkung auf mich (Therapeut) in meinem psychischen System einen Abdruck seines Selbst beziehungsweise bestimmte Aspekte seines Selbst. Dieser Abdruck ist zugleich die Wirkung, von der Jung spricht, und in diesem Abdruck drückt sich das individuelle Sein des Patienten aus. Nur dies ist die genuine Form, in der sich das Lebendig-Individuelle des Anderen mitteilt«. (S. 272).

In meinem Verständnis beschreibt Lesmeister, wie sich aus diesem Konzept ein modernes Verständnis von Psychotherapie ableiten läßt, das ich auch teile: Es ist weniger die Deutung als mutative Intervention das Ziel der Psychotherapie, sondern die Art und Weise wie Therapeuten in der Lage sind, den Patienten einen inneren Raum zur Verfügung zu stellen, in den sich Teile der Psyche der Patienten einnisten können. Aus meiner Sicht wird dieser Aspekt psychotherapeutischer Arbeit nach wie vor zu wenig gewürdigt und untersucht, da ihm m. E. außerordentlich subtile Formen des Gegenwiderstandes des Therapeuten zugrunde liegen, die nicht allein durch bestimmte Übertragungs-/Gegenübertragungs-Konstellationen erkennbar sind (vgl. Bovensiepen, 2014). Wie viele seiner psychologischen Modelle, ist auch Jungs Konzept des Selbst in sich paradox: Das Selbst als das Zentrum der Persönlichkeit wird gleichzeitig als die umfassende Gesamtpersönlichkeit gesehen. Die zentrierende und anordnende Funktion des Selbst beeinflusst die Dynamik und das Zusammenspiel der Komplexe. Die basalen Strukturelemente der Psyche, ihre Bausteine, die Einheiten (Jung) sind in Jungs Auffassung die gefühlsbetonten Komplexe mit ihrem archetypischen Kern, welche die interpersonalen Erfahrungen von Geburt an intrapsychisch organisieren und psychosomatisch speichern. Psychosomatisch speichern deswegen, da Komplexe immer als psychisch und körperlich verwurzelt gedacht werden und vermutlich eine enge Verbindung zum Körpergedächtnis haben.

Zieht man die von Jung nachdrücklich betonte natürliche (nicht pathologische) Dissoziabilität (Spaltfähigkeit) der Psyche in Betracht, so kann man sagen, dass das Modell der Psyche bei Jung kein hierarchisches, vertikal strukturiertes ist, wie etwa das der psychoanalytischen Strukturtheorie (Über-Ich/Ich/Es bzw. Unbewusste). Vielmehr handelt es sich um ein sich selbst organisierendes System von psychischer Energie, die sich u. a. in Verhalten, Komplexen, Bildern, unbewussten Phantasien oder Symptomen manifestieren kann.

Die Übergänge von Bewusstsein zum Unbewussten werden als fließend aufgefasst. Das Unbewusste ist nicht auf das persönlich Verdrängte (wie das Unbewusste im Konzept bei Freud) begrenzt, sondern das Unbewusste einschließlich des kollektiven Unbewussten, kann in meinem Verständnis wie ein Ozean aufgefasst werden, auf dem kleine Inseln des Bewusstseins und des Ich schwimmen. Der weitaus größere Teil der Gesamtpsyche bleibt unbewusst und enthält ein hohes kreatives Potenzial.

Eine weitere, sehr wichtige Perspektive auf die seelische Wirklichkeit ist die Bi-Polarität psychodynamischer Prozesse. Letztlich ist sie Ausdruck der Pluralität der Psyche, wie Jung sie versteht. Diese Auffassung von der Verteilung der Libido innerhalb einer Gegensatzspannung durchzieht Jungs gesamtes Werk. Die Gegensatzpaare von bewusst/unbewusst, männlich/weiblich, Schatten/Persona, individuell/kollektiv, innen/außen tragen dazu bei, dass es – wie Jung es ausdrückt – zu einer Entzweiung mit sich selbst kommen kann und damit zu psychischen Störungen. Dieses Neuroseverständnis ist einerseits eine Bereicherung des psychoanalytischen Neuroseverständnisses als Psychodynamik innerer Konflikte, andererseits besteht die Gefahr, dass diese Perspektive der Polarität sich als eine Einengung des klinischen Blicks auf die seelische Wirklichkeit erweist.

1.3       Emergenztheorie

Weiterentwicklungen und Neubewertungen von Jungs Modell der Psyche werden zurzeit vor allem durch die Anwendung der Emergenztheorie vorgenommen unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Entwicklungsforschung, Neurobiologie und Kognitionsforschung. Eine permanente Wechselbeziehung zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten ist ein natürlicher Vorgang. Mit »natürlichem Vorgang« beziehe ich mich auf den Aufsatz »Die synthetische oder konstruktive Methode«, in dem Jung schreibt:

»Die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten ist ein Prozess oder je nachdem auch ein Erleiden oder eine Arbeit, die den Namen transzendente Funktion erhalten hat, […] Sie ist ein natürlicher [Hervorhebung d. Autors] Vorgang, eine Manifestation der aus der Gegensatzspannung hervorgehenden Energie, und besteht in der Abfolge von Phantasievorgängen, die spontan in Träumen und Visionen auftreten« (1916/1971, GW Bd. 7, § 121)

Seit Mitte der 1990er wird vor allem im angelsächsischen Sprachraum versucht, Jungs holistischen Zugang zur Wirklichkeit der Seele und seine Archetypen-Theorie mit Hilfe der Emergenztheorie neu zu bestimmen. Tresan (1996), Hogenson (2004), Saunders und Skar (2001), Cambray und Carter (2004) und mit Einschränkungen auch Jean Knox (2003 und 2010) sind die wichtigsten Vertreter dieser Auffassung.

Sehr vereinfacht ausgedrückt ist mit Emergenz in komplexen Systemen eine spontane, oft als überraschend erlebte Herausbildung oder das Auftauchen neuer Elemente (z. B. Strukturen oder Eigenschaften, aber auch z. B. Träume, Fantasien oder Symptome) gemeint, die sich nicht auf einzelne, im System enthaltene Elemente zurückführen lassen. Konzepte der Emergenz werden umfangreich in der naturwissenschaftlichen Forschung, aber auch in der Philosophie und in der Soziologie verwandt (Übersicht z. B. bei Stephan, 2007).

Jungianische Vertreter dieser Perspektive beziehen sich auf Jungs vielzitierte Äußerung zum lebendigen Dritten aus seinem Aufsatz zur Transzendenten Funktion (Jung, 1958/1971, GW Bd. 8) in dem Jung schreibt:

»Das Hin und Her der Argumente und Affekte stellt die transzendente Funktion der Gegensätze dar, […] die Lebendiges erzeugt, ein Drittes […], eine lebendige Geburt, die eine »neue Stufe des Seins, eine neue Situation herbeiführt« (Jung, 1958/1971, GW Bd. 8, § 189). Diese Annahme einer neuen Stufe des Seins«, die aus der Interaktion von Bewusstsein und Unbewusstem entsteht, wird als Ausdruck für die emergente Eigenschaft der Psyche angesehen (Cambray & Carter, 2004).

Die Vermittlung der dialektischen Interaktion von bewussten und unbewussten Prozessen durch Symbole im analytischen Prozess ist eine weitere Kern-These der Analytischen Psychologie: Symbole, so formulieren Cambray und Carter, »entstehen als synthetische Produkte aus den Begegnungen mit affektiv aufgeladenen psychischen Zuständen, gesättigt mit aktiviertem unbewusstem Material. Sie sind […] der unmittelbare psychologische Ausdruck des emergenten ›Dritten‹ des interaktiven Feldes (ob intrapsychisch oder interpersonal)« (Cambray &Carter, 2004, S. 121; Übersetzung d. Autors). »Emergenz« – so formuliert es Bisagni – »scheint auf dem subtilen Rand von Chaos und Ordnung zu funktionieren, wo das Chaos keine gestaltlose und konfuse Zufälligkeit ist, sondern von undurchsichtiger Komplexität« (Bisagni, 2009, S. 13; Übersetzung d. Autors).

Eine wichtige Eigenschaft von Emergenz ist das spontane, plötzliche, überraschende Auftauchen neuer Elemente oder Strukturen. Es erfolgt unvorhersehbar und kann im analytischen Prozess beim therapeutischen Paar zu einem prägnanten Gefühl der Überraschung führen. Überraschungen in Analysen, negative wie positive, können so zu sehr dynamisierenden Momenten werden. Der Affekt der Überraschung scheint direkt mit der psychischen Erfahrung von Emergenz verbunden zu sein. Die post-kleinianische Kindertherapeutin Anne Alvarez hat gezeigt, wie der Affekt der Überraschung in der Therapie das unmittelbare Erleben von Verbundenheit oder von Getrenntheit intensivieren kann (Alvarez, 1998).

In dem Zitat über das emergente Dritte wird der Begriff des interaktiven Feldes gebraucht, ein von Jungianern in den USA häufig gebrauchter, etwas unscharfer Begriff, den Joe Cambray auf mein persönliches Nachfragen hin präzisiert hat: In Wahrheit halte er das Konzept des interaktiven Feldes als den Kern von Jungs »Auffassung der Übertragung«. Er versucht damit auszudrücken, dass er die Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung nicht nur auf das interaktive Feld zwischen Analytiker und Analysand begrenzt versteht, sondern dass es auch den Raum bereit stelle für das Kollektive und Archetypische, also das, was Jung als die objektive Psyche bezeichnet hat. Dies sei - so Cambray - auch der entscheidende Unterschied zum intersubjektiven Konzept der Übertragung (J. Cambray, persönl. Mitteilung, 28.02.2011). Zur einer Ergänzung und Vertiefung dieses Konzeptes kann die Beschäftigung mit den von Ferro und Basile herausgegebenen Arbeiten zum Analytischen Feld (Ferro & Basile, 2009) beitragen. Dies ist ein stärker klinisch ausgearbeitetes Konzept, das dem des interaktiven Feldes ähnlich ist und mit der Perspektive von W.R. Bion auch die intersubjektive Wende in der Theorie vom Unbewussten untersucht.

Der andere Bereich, in dem sich die emergente Struktur der Psyche und des kollektiven Unbewussten manifestiert, sind die Archetypen. Archetypische Muster werden als emergente Eigenschaften der Psyche verstanden. (Cambray & Carter, 2004, S. 119). Jean Knox (2003) argumentiert mit den Forschungsergebnissen der Bindungstheorie, der kognitiven und neuropsychologischen Forschung auch für eine Emergenz des Psychischen. Im Unterschied zu Cambray oder Hogenson (2004) sieht sie allerdings die Archetypen nicht als emergente Eigenschaften der Psyche an. Nach einer kritischen Diskussion der vielen Auffassungen, was Archetypen eigentlich sein können, kommt sie zu folgender Schlussfolgerung: »Archetypen als solche sind nicht angeborene, genetische Strukturen. Aus der Entwicklungsforschung wird evident, dass Archetypen mit Bild-Schemata gleichgesetzt werden, mit räumlichen Modellen, die sehr früh im Prozess der mentalen Entwicklung geformt werden und die Kerninformationen über die räumliche Beziehung zu Objekten um uns herum enkodieren.« (S. 66). Sie ist der Überzeugung, dass es notwendig sei, eine Sicht der Archetypen einzunehmen, die diese als »einen Prozess und als ein sich entfaltendes Muster von Beziehungen