Die Linke und die Kunst
Ein Überblick
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Jens Kastner
Die Linke und die Kunst
1. Auflage, Oktober 2019
ebook UNRAST Verlag, April 2020
ISBN 978-3-95405-061-1
© UNRAST-Verlag, Münster 2019
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Umschlag: cuore.berlin
Satz: Andreas Hollender, Köln
0. Die Linke und die Kunst
Zur Einleitung und Einführung
01. »wirksamer als hundert Flugschriften«
Die Kunst bei Marx & Engels
02. »Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!«
Kunst und anarchistische Theorie
03. Ein »konkretes und wirkliches Erfüllungsgebiet«
Kunst im Marxismus-Leninismus
04. »im Protest gegen soziale Rezeption«
Kunst in der Kritischen Theorie
05. »mit der praktischen Strömung zur Negation vereinigt«
Kunst und die situationistische Theorie
Exkurs: Spiegelung und Brechung
Von Lenin zum Poststrukturalismus
06. »because it’s what they know best«
Kunst im Feminismus
07. »Ohne Unterdrückung und ohne Rassismus kein Blues«
Kunst und Black Liberation
08. »a recognition of related practices«
Kunst und materialistische Praxistheorie
09. »veränderte Setzung«
Kunst in der poststrukturalistischen Theorie
10. »a lot like communism«
Kunst im Postoperaismus
11. »die perfide Struktur kultureller Herrschaft«
Kunst in der post- und dekolonialistischen Theorie
12. Zum Schluss: »Subjekte für den Gegenstand …«
… und die drei Brüche in der linken Auseinandersetzung mit Kunst
Literatur
Jens Kastner (*1970), PD Dr. phil. habil., ist Soziologe und Kunsthistoriker und lebt in Wien. Er ist Senior Lecturer am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien und schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften über zeitgenössische Kunst, soziale Bewegungen und Kulturtheorien. Er hat zwei Kinder.
»Nein: weder die Künstler noch ihre Historiker können von der Schuld an unseren Zuständen freigesprochen werden noch entbunden von der Verpflichtung, an der Änderung der Zustände zu arbeiten.«[1]
Was wollte und was will die Linke von der Kunst? Dieses Buch versucht nicht mehr, als diese lapidare und doch in mehrerlei Hinsicht rätselhafte Frage zu beantworten. Die Rätselhaftigkeit liegt sowohl in den Begriffen ›Linke‹ und ›Kunst‹ selbst, als auch in deren komplexen Verhältnissen zueinander begründet.[2]
Das Feld der Kunst erscheint heute, zumindest in seinen anerkannten, legitimen Bereichen, häufig als noch »exklusiver als Segelklubs«[3]. Rezipiert wird die bildende Kunst nicht von einer breiten Öffentlichkeit, sondern von kleinen Zirkeln ausgewählter SammlerInnen und Kunstfeldangestellten wie MuseumsdirektorInnen und GaleristInnen. Trifft die zeitgenössische Kunst doch mal auf eine größere Menge an Leuten, dann handelt es sich dabei meist um relativ gebildete und auch finanziell nicht eben arme Menschen. Bei Kunstmessen wie etwa der Art Basel handelt es sich um »praktisch rein ›akademische‹ Veranstaltungen«[4], Angehörige unterer sozialer Milieus finden sich dort überhaupt nicht. Sich der Kunst widmen zu können, Zeit und Wissen zu investieren und diese Investition auch irgendwie als lohnend empfinden zu können (also als sozial oder intellektuell gewinnbringend zu verbuchen), ist alles andere als selbstverständlich. Weil es sehr voraussetzungsreich ist, gelingt es nur vergleichsweise wenigen. Der Umgang mit Kunst ist ein Privileg – trotz wachsender Zahlen an BesucherInnen in Museen und bei Großausstellungen, auch trotz der steigenden Zahl solcher Veranstaltungen wie der Biennalen. Die Liebe zur Kunst ist weder eine über alle Zeiten hin stabile, anthropologische Konstante, noch ist sie jeweils aktuell überall im sozialen Raum anzutreffen. Sie muss erlernt und unbewusst antrainiert werden. In Anlehnung an den ironischen Titel, den Pierre Bourdieu und Alain Darbel in den späten 1960er-Jahren ihrer Studie zum Museumsbesuch gegeben hatten, schreiben Franz Schultheis u.a. in ihrer Studie zur Art Basel deshalb: In Wirklichkeit sei die von Bourdieu und Darbel sezierte ›Liebe zur Kunst‹ nichts anderes als »ein soziales Privileg, das seinerseits sozial privilegiert.«[5]
Das zur Kunstrezeption. Für die Seite der Produktion gilt insofern Ähnliches, als empirischen Studien zufolge bloß zwischen zwei und fünf Prozent aller AbgängerInnen von Kunsthochschulen auch von der Kunst leben können. Auch das KünstlerIn-Sein bedarf also einiger Voraussetzungen. Nicht nur finanzieller Art, sondern zudem erfordert die Tatsache, dass es irgendwie als erstrebenswert erscheint, sich zum Künstler oder zur Künstlerin ausbilden zu lassen, obwohl die Aussichten auf ökonomische Entlohnung und soziale Anerkennung miserabel sind, den Aufbau eines spezifischen Glaubens: daran, dass Kunst mit kreativer Selbstverwirklichung zu tun hat, dass Kreativsein trotz allem – Creative Industries, Kreativitätsdispositiv etc. – etwas Gutes ist, dass Kunstmachen vielleicht auch bloß weniger schlimm im Vergleich zu den ökologischen oder sozialen Folgen anderer Werktätigkeiten ist. Und es setzt einen immer bedeutsamer werdenden Glauben voraus, dass das kreative Tun auch bessere Subjekte hervorbringt als das vermeintlich stumpfe Angestelltendasein oder gar die körperliche Arbeit der weniger Privilegierten. Das erforderliche soziale Privileg scheint zumindest ein, wenn auch prekäres, gefühltes Privileg zur Folge zu haben.
So weit, so schematisch. Wenn nun Kunst – anschauen, aber auch machen – nicht bloß Privilegien voraussetzt, sondern selbst welche produziert, stellt sich selbstverständlich die Frage, warum überhaupt irgendjemand irgendetwas Positives im Sinne sozialer und kultureller Gleichheit oder emanzipatorischer Veränderungen von der Kunst erwarten sollte. Es gibt diese Jemands, und zwar nicht nur als Ausnahmen. Obwohl es also eigentlich erstaunlich sein könnte, warum sich linke, an Emanzipation und sozialer Gleichheit orientierte Menschen mit Kunst beschäftigen, haben sie es massenhaft getan und tun es immer noch. Und sie beschäftigen sich mit Kunst nicht nur in ideologiekritischer, Ausschluss und Privileg aufdeckender Absicht. Selbst Pierre Bourdieu schreibt, nachdem er in Die Regeln der Kunst deren elitären und exkludierenden Dynamiken analysiert hat, abschließend vom »Instrument der Freiheit«[6], als das Kunst (und Kultur insgesamt) auch begriffen werden müsse. Er nennt dies seine »normative Stellungnahme« und die hat, auch und gerade in Verbindung mit analytischen Beschreibungen dessen, was Kunst ist und ausmacht, Tradition. Die Beschäftigung mit Kunst fand und findet also auch im emphatischen Sinne statt: Kunst hat in vielerlei (normativer) Gestalt in die Narrative der Linken Eingang gefunden: als Mittel der Aufklärung, als Behälter von Wahrheit, als Entlarvungsgeste, als Teil von Emanzipationsprozessen, als Ermächtigungspraxis, als performatives Potenzial des Bruchs mit Konventionen, als Bestandteil sozialer und kultureller Neuzusammensetzung, als Instrument der Freiheit usw. usf. Bei denjenigen, die sich so stark und positiv auf Kunst bezogen haben, lassen sich (mindestens) drei Gruppen unterscheiden – die sich selbstverständlich auch überschneiden.
Es waren erstens selbstverständlich KunstproduzentInnen selbst, die immer wieder ihre Ansprüche auf sozialen Wandel proklamiert haben. Die Geschichten der Avantgarden und ihrer Manifeste und Praktiken sind voll von verschiedensten Versionen des Anspruchs darauf, die Kunst als Betrieb oder System oder sonst wie erfahrenen Rahmen zu verlassen und soziale Effekte zu zeitigen. Die Liste von engagierten Künstlerinnen und Künstlern ist unendlich lang. Und sie reicht von kunstfeldexternen, organisierten Zusammenschlüssen wie der Gewerkschaft revolutionärer Maler, Bildhauer und Grafiker, die 1923 in Mexiko gegründet wurde, bis zu kunstfeldinterner Institutionskritik á la Hans Haacke und Andrea Fraser. Dazwischen finden sich diverse Strategien, um mit der und aus der Kunst heraus soziopolitische Wirkung zu erzielen.
Zweitens haben auch soziale Bewegungen, allen voran die ArbeiterInnenbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts ihre Ansprüche auf sozialen Wandel mit einer Erneuerung von Kultur im Sinne von allgemeinen Lebensweisen verknüpft: Als Mittel dazu war nicht selten Kultur im engeren Sinne literarischer und künstlerischer Werke vorgesehen. Sie sollten, ebenfalls grunderneuert, zu emanzipatorischen soziopolitischen Verhältnissen beitragen. Im Austromarxismus der 1920er-Jahre etwa sollten »alle Anstrengungen der fortgeschrittendsten Schichten der Arbeiterklasse [unterstützt werden], sich die Errungenschaften der Wissenschaft und der Kunst anzueignen und sie mit den sich allmählich aus den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse selbst entwickelnden, vom Geist ihres Befreiungskampfes erfüllten Kulturelementen zu Keimzellen der werdenden proletarisch-sozialistischen Kultur zu verschmelzen.«[7] So steht es im Linzer Parteiprogramm der sozialdemokratischen SDAPÖ von 1926. Auch im nicht weniger massentauglichen spanischen Anarchismus der gleichen Zeit spielte Kultur in beiden Bedeutungen (als Lebensweise und Sinngebungsprozess wie auch in Form künstlerischer Arbeiten) eine enorme Rolle. Die großen Sympathien, die der Anarchismus in Spanien genoss, gründeten geradezu auf den Erwartungen an die Verbreitung einer proletarischen Kultur, einer Ästhetik, die »die Kunst mit dem Leben in Beziehung setzte.«[8] Bei dem Anspruch, diese erneuerte und erneuernde Beziehung herzustellen, ging es nicht bloß um ein funktionalistisches Kunstverständnis, bei dem Kunst möglichst effektiv die Ziele der Bewegung zu kommunizieren und schließlich durchzusetzen gehabt hätte. Kunst im Kontext von emanzipatorisch gedachten Bildungsprozessen wurde nicht bloß als Kommunikation verstanden, sondern sollte durchaus auch der Entfaltung all jener kognitiven wie affektiven Aspekte der Persönlichkeit dienen, die als von Kapital und / oder Staat unterdrückt analysiert wurden.
Drittens waren es aber auch die TheoretikerInnen der Linken, die in ihren allgemeinen sozial- und kulturtheoretischen Entwürfen der Kunst oder künstlerischen Praktiken einen besonderen Stellenwert einräumten. Oder sie befassten sich sogar gesondert und speziell (in eigenen Studien oder Traktaten) mit Kunst. Um diese soll es im Folgenden vor allem gehen.
Das ist eine wichtige Eingrenzung, um solch eine Überblicksarbeit überhaupt beginnen zu können. Es geht um die Rolle der Kunst in linker Theorie, es geht nicht um künstlerische Manifestationen und auch nicht um Bewegungspraktiken. Allerdings tun sich auch bei einer solchen Einschränkung sehr schnell grundlegende Probleme auf, die es gleich einleitend zu benennen gilt. Die Problembereiche sind, kurz gesagt, erstens die Theorie, zweitens die Linke und drittens die Kunst. In allen drei Fällen versteht sich keinesfalls von selbst, was der jeweilige Begriff eigentlich bezeichnet. Es ist erläuterungsbedürftig, was gemeint ist, wenn von Theorie, von der Linken und von Kunst die Rede ist, wenn über die Frage gesprochen werden soll, wie die drei Bereiche zusammenhängen.
Erstens die Sozialtheorie: Sie entwickelt Modelle zum Verständnis sozialer Ordnung, sozialen Handelns und sozialer Transformation und reagiert auf aktuelle Entwicklungen, die nicht bloß Entwicklungen in der Theorie sind. Theorie, insbesondere und gerade linke Theorie, steht selbstverständlich nicht für sich. Theorie ist, wenn sie sich als Gesellschaftstheorie versteht, immer Teil ihres Gegenstandes. Auch die Theorie bleibt nicht unberührt von sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen, sie reagiert vielmehr auf diese. Nachzuzeichnen, wie und inwiefern das in Bezug auf die Kunst geschah, kann hier allerdings nicht geleistet werden und müsste in einzelnen Studien überprüft und eingeholt werden. Anders gesagt: Einerseits werden im Folgenden Ereignisse, die für die Theorie in der Linken Einschnitte waren – von der Pariser Commune über die Oktoberrevolution und den Spanischen Bürgerkrieg und die Dekolonisierung bis zu den Revolten um 1968 und der Entstehung der Zweiten Frauenbewegung –, hier nur am Rande erwähnt. Andererseits kann auch der gesellschaftliche Kontext der jeweiligen Positionen nicht ausführlich geschildert werden, wohl wissend, dass der Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts auch für die Kunst anderes bedeutete als die Gesellschaftsformation der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen oder gar der kognitive, postfordistische Kapitalismus der Gegenwart. Das alles nur skizzieren zu können, bringt das Format der Einleitung und Einführung mit sich.
Weil die Einflüsse auf die Theorie immer auch aus anderen gesellschaftlichen Bereichen als jenen der Theorieproduktion kommen und von nicht-sozialwissenschaftlichen Praktiken ausgehen, können sie auch aus der Kunst kommen. Das ist einer der Gründe dafür, dass sich GesellschaftstheoretikerInnen der Kunst zugewandt haben. Linke TheoretikerInnen haben sich manchmal KünstlerInnen ihrer Zeit gewidmet (mit denen sie häufig auch befreundet waren), um aus der Beschäftigung mit künstlerischen Arbeiten auch Aussagen über die soziale Welt insgesamt treffen zu können: Pierre-Joseph Proudhons Ausführungen zu Gustave Courbets Malerei wären dafür ein Beispiel oder auch Jean-Paul Sartres Texte zur Kunst Alberto Giacomettis.[9] Linke TheoretikerInnen haben aber auch ganz allgemein zur Rolle und Funktion von Kunst geschrieben und einzelne Arbeiten dabei nur sporadisch, bloß zur Bebilderung oder sogar gar nicht beschrieben. Paolo Virnos Konzept der Virtuosität etwa erwähnt zwar irgendwo Glenn Gould, es geht aber ganz allgemein um die »Abwesenheit eines ›fertigen Produkts‹, die unmittelbare und unausweichliche Beziehung zur Gegenwart«[10], die die konzeptuelle und performative bildende Kunst überhaupt auszeichnet und die sich im Postfordismus verallgemeinert habe. Linke Theorie entwickelt sich also auch entlang von Kunst weiter, selbst dann, wenn sie sie nicht direkt zum Gegenstand zu hat. Aber zum Gegenstand hat sie sie selbstverständlich auch. Darunter fallen nicht zuletzt auch die Praktiken und Erzeugnisse linker KunsthistorikerInnen, linker KunstsoziologInnen und -philosophInnen und kunstaffiner AktivistInnen, die ein gewissermaßen professionelles Interesse am Wechselverhältnis (oder der Dialektik oder den Überlappungen und Verkettungen) von Kunst und sozialer Welt haben, insbesondere im Hinblick auf dessen transformatorische Aspekte. So hat etwa Peggy Phelan die Geschichte feministischer Ansätze in der Kunst des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet und dabei angemerkt, dass es sich bei feministischem Schreiben über Kunst immer darum handle, »eine Sprache zu formen, die sich der Bewegung am Rand dieser Ordnung [der Kunst] bewusst ist«[11]. All die Studien der letzten Jahre, die sich mit Kunst und Aktivismus beschäftigen, ließen sich hier ebenfalls anführen.[12]
Zweitens muss klar sein bzw. hiermit erklärt werden, dass die Linke selbstverständlich kein einheitlicher, deutlich umgrenzter und einfach fassbarer Gegenstand ist. Im Gegenteil, man muss nicht der (falschen) These anhängen, dass die politischen Zeichen ›links‹ und ›rechts‹ ihre Bedeutung verloren haben, um Probleme zu haben mit der Eingrenzung dessen, was als links bezeichnet werden kann. Inhaltliche Unterscheidungen wären vorzunehmen, historische und geografische Differenzen wären aufzuführen und Grenzbereiche zu benennen, in denen linke und nicht-linke Positionen sich nebeneinander und in Abgrenzung zueinander entwickelt haben. Das würde selbstverständlich den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Um sie dennoch schreiben zu können, lässt sich weniger ›die Linke‹, denn ›linke Theorie‹ definieren und zwar als solche, die die soziale Welt als komplexe, dynamische Konstellation ohne natürliche Gesetzmäßigkeiten, aber mit praktisch erzeugten und strukturell verfestigten Ungleichheiten auffasst und die in diese Konstellation mittels ihrer selbst eingreifen möchte. Linker Theorie ist demnach zum einen immer an der De-Naturalisierung sozialer Verhältnisse und andererseits an Intervention in diese Verhältnisse gelegen. Das ist selbstverständlich bloß eine Minimaldefinition. Sie ermöglicht aber, ein recht breites Spektrum an Schriften, Werken, Andeutungen zur Kunst in Betracht zu ziehen, ohne sich auf bestimmte Denkschulen oder Theorieansätze im Vorhinein festlegen zu müssen. Marx und verschiedenen Marxismen allerdings kommt selbstverständlich so oder so eine besondere Bedeutung zu. Aber es gibt auch linke Theorie, die nicht (mehr) im engeren Sinne marxistisch ist. Es liegen sicherlich nicht nur Jahrzehnte, sondern auch theoretische und politische Welten zwischen etwa Leo Trotzkis Literatur und Revolution (1923) und Gerald Raunigs Kunst und Revolution (2005) – doch hier brüchige Kontinuitäten und potenzielle rot-schwarze Fäden zwischen verschiedenen linken theoretischen Formationen nachzuzeichnen, darin liegt auch ein Reiz dieses Vorhabens.
Drittens ist zu (er-)klären, dass das Ausgefranste und Undeutliche, das schon den Gegenstand ›Linke‹ auszeichnet, auch für das gilt, was unter ›Kunst‹ zu verstehen ist. Hierbei muss Kunst nicht unbedingt bildende Kunst sein – Malerei und Grafik, Bildhauerei und Architektur, plus Video, Performance, Installation und all ihre Mischvarianten. Viele marxistische TheoretikerInnen haben sich etwa dem Theater oder der Literatur gewidmet und dabei von der Kunst gesprochen. Beschreibungen und Ansprüche bezogen sich dabei häufig auf das eine wie das andere, also auf kulturelle Praktiken im engeren Sinne von Kultur: auf Praxis, die im Feuilleton besprochen wird, weil sie nicht Politik, Wirtschaft oder Recht (in je engem Sinne) ist, sondern eigene, relativ autonome Traditionen sowie die daraus erwachsenen Anerkennungs- und Legitimationsmodi aufweist. Vielleicht paradigmatisch spricht Herbert Marcuse diese Position aus, wenn er in Die Permanenz der Kunst anmerkt, er schreibe eigentlich über Literatur und sei gar nicht qualifiziert, über Malerei, Skulptur und Musik zu sprechen, um dann hinzuzufügen, »trotzdem aber glaube ich, daß das am Beispiel der Literatur Gesagte mutatis mutandis auch für diese Künste gilt.«[13] Zwar ist tatsächlich in Texten von Marx bis Negri von ›Kunst‹ im allgemeinsten Singular die Rede und es kann der Eindruck entstehen, als handele es sich bei all diesen Schriften um Behandlungen ein und desselben Gegenstands. Aber Kunst ist selbstverständlich – auch mit dem einschränkenden Adjektiv ›bildende‹ davor – kein einheitlicher und kein statischer Gegenstandsbereich. Zwar galten etwa die Gemälde Manets zu Zeiten ihrer Entstehung als Kunst (wenn auch noch nicht als gute, legitime Kunst) und sie tun es heute auch noch bzw. umso mehr. Zugleich aber hat sich der Status und Stellenwert eines Gemäldes im Kontext aller anderen visuellen Objekte seit dem 19. Jahrhundert mehrmals gewandelt. Nicht nur im Vergleich zu anderen (kunstinternen) Genres wird die Malerei anders gewertet als im 19. Jahrhundert, auch haben Gemälde in Relation zu anderen Bildern einen völlig anderen (und wesentlich weniger bedeutsamen) Stellenwert als vor der Erfindung der Fotografie und des Films und des Fernsehens und Instagram. Kunstinterne Entwicklungen – ready made und konzeptuelle Kunst, performative und partizipative Kunst – haben also auch das verändert, was als ›Kunst‹ beschrieben wird. Und zugleich haben kunstexterne technologische und soziopolitische Entwicklungen (von der Fotografie bis zu Facebook) in den Selbstverständigungsprozess über das, was Kunst ist, eingegriffen und damit nicht zuletzt auch den sozialen Stellenwert der Kunst verändert. Wie die ›Kunst‹ konzipiert ist, muss daher letztlich immer auch als Teil der Auseinandersetzung um ihre Potenziale und Effekte begriffen werden.
Bei aller Vielgestaltigkeit und bei allen poröser werdenden Grenzen ist das, was als ›bildende Kunst‹ bezeichnet wird, vor allem das historische Produkt europäischer Diskurse und Praktiken seit der Renaissance – mit ihren Anleihen an und Bezügen auf, Abgrenzungen zu und vor allem wohl Unterdrückungen von andere(n) Traditionen außerhalb ihrer selbst. Sie hat sich, wie der peruanisch-mexikanische Kunsttheoretiker Juan Acha es genannt hat, als eines von drei »spezialisierten ästhetischen Produktionssystemen«[14] herausgebildet (neben Handwerk und Design und in Abgrenzung von ihnen). Die Produktion, Rezeption und Distribution von Kunst geschieht innerhalb konkret-historischer sozioökonomischer Herrschaftsverhältnisse (ohne dass sie sich direkt von diesen ableiten ließe). Die chilenische Kulturkritikerin Nelly Richard beschreibt diese »international imbalances in cultural power«[15] als erstens eine Form von sozioökonomischer Struktur, die die Teilnahme am Kunstgeschehen je nach Nähe und Entfernung zu Europa-Nordamerika wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht, und zweitens als Praktiken jener, die in das »international network of management of ›symbolic capital‹«[16] involviert sind. Diese Praktiken fungieren zugleich als »network of authority«[17], das auch die kulturelle Wertigkeit, d.h. die Legitimität von Prozessen gewährleistet. Dementsprechend herrscht auch in der linken Theorie zur Kunst ein unübersehbarer Eurozentrismus vor, der einerseits gewissermaßen strukturell dem (eurozentrischen) Gegenstand geschuldet ist, andererseits aber auch auf Ignoranz gegenüber künstlerischen Entwicklungen wie auch gegenüber linken Positionen von außerhalb des westeuropäisch-nordamerikanischen Theorie-Universums gründet. Ich habe mich bemüht, zumindest Positionen aus Lateinamerika zu integrieren. (Einem potenziellen Anspruch, linke Theorie aus Lateinamerika, Afrika und Asien auch nur annähernd gleichberechtigt darzustellen, werde ich hier nicht gerecht.)
Sicherlich reagiert Kunst auf sozialen Wandel und politische Aufbrüche und ist durch sozioökonomische Bedingungen präfiguriert. Allerdings ist mit den meisten linken TheoretikerInnen auch davon auszugehen, dass die Entwicklungen innerhalb der Kunst immer bloß stark vermittelte Bezüge zu wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Situationen aufweisen. Die Geschichte der künstlerischen Produktion, der Stilentwicklung und auch der Rezeptionsakte, schrieb der marxistische Kunstsoziologe Arnold Hauser (1892–1978), »rührt nicht von einem Antagonismus zwischen den gesellschaftlichen und den künstlerischen Interessen her, sondern ist die Folge von Konflikten innerhalb der künstlerischen Absichten, Probleme, Lösungsmöglichkeiten und Darstellungsmittel, kurz, das Ergebnis einer individuellen Differenzierung, eines Geschmacks- und Stilwandels, zu welchen die gesellschaftliche Entwicklung bloß den Anlaß gibt, die aber nicht von einer Widersprüchlichkeit zwischen Kunst und Gesellschaft ausgehen.«[18] Auch wenn ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ weniger als zwei stabile Blöcke verstanden werden, dessen kleinerer (Kunst) sich im größeren (Gesellschaft) bewegt, und auch wenn es kein direkt ableitbares Einflussverhältnis zwischen dem Allgemeinen (Gesellschaft) und dem Besonderen (Kunst) gibt, besteht doch ein irgendwie gearteter Zusammenhang, eine gegenseitige Durchdringung. Die Frage, die sich linken TheoretikerInnen im Gegensatz zu anderen, mit Kunst befassten Menschen stellt, ist nun allerdings nicht nur die danach, wie die Vermitteltheit zwischen ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ aussieht und zu begreifen ist, sondern auch, wie sie aussehen sollte. Nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ an die Kunst heranzutreten, vereint alle im Folgenden besprochenen Ansätze. Diese normative Haltung ist ein häufig nicht explizit gemachter Anspruch in der Beschreibung von Kunst. Wie in künstlerischen Selbstbeschreibungen oder Museumstexten wird auch in theoretischen Texten nicht selten stillschweigend (oder auch lauthals) vorausgesetzt, was im Grunde prinzipiell zur Debatte steht: dass ein bestimmtes Gemälde oder eine Installation irgendwelche Effekte auf die Wahrnehmung (nicht nur) der BetrachterInnen hat, dass es oder sie den Raum, in dem es oder sie hängt, erweitert oder überhaupt erst formt, dass Performances neue Kollektivitäten evozieren o.Ä. Es wird also angenommen, dass Kunst, vor allem gute Kunst, ins Soziale eingreift. Die Kultur im spezifischen Sinne von beispielsweise Praktiken bildender Kunst, so wird behauptet, formt oder gestaltet Kultur im allgemeinen Sinne, verstanden als umkämpfte Prozesse der Sinn- und Bedeutungsproduktion. An diesem Punkt lässt sich durchaus nachhaken. Theorie – ob philosophische, soziologische oder ästhetische – adressiert sehr gerne ›die Kunst‹. Ein so allgemeiner Gegenstand ist im Hinblick auf allgemeine Aussagen über allgemeine Funktionen sicherlich legitim. Aber es muss auch die Frage gestellt werden, welche Art von Kunst in welcher Situation eigentlich gemeint ist. Es lässt sich dann durchaus auch die ganz konkrete Frage stellen, inwiefern eine Skulptur von Giacometti oder von Damian Hurst auf die soziale Welt oder die bestehende »Aufteilung des Sinnlichen« (Jacques Rancière) einwirkt, ob sie es überhaupt tut und wenn ja in welcher Weise. Tut sie es anders als ein Gemälde von Courbet? Und eine Performance von Andrea Fraser? Gibt es künstlerische Praktiken, die, falls sie es überhaupt merklich tun, auf möglicherweise bessere (emanzipatorische) Art ins Soziale eingreifen als andere? Solche konkreten Fragen werden innerhalb linker Theorie, wie sich zeigen wird, ebenso aufgeworfen wie auch verdeckt, diskutiert wie auch ausgeblendet.
Ich beschränke mich in diesem Buch aus pragmatischen Gründen auf bildende Kunst und die Frage, wie sie in linker Theorie auftaucht. Das grenzt zwar enorm ein, bietet allerdings noch ausreichend weiteren Klärungsbedarf. Denn selbst bei einer Beschränkung auf bildende Kunst muss nicht unbedingt jene ausschließliche und ausschließende Praxis gemeint sein, die mit großen Namen und hohen Preisen verbunden ist, die heute große Teile des internationalen Kunstfeldes prägt und von der eingangs die Rede war. Bildende Kunst existiert auch in unzähligen und ungezählten Varianten individuellen und kollektiven Schaffens jenseits der großen Ausstellungshäuser und jenseits von Kunstmessen. Und sie motiviert auch noch ganz andere AkteurInnen als SammlerInnen oder KunstkritikerInnen zu Bezugnahmen, sie interveniert in andere Felder oder Systeme und wird selbstverständlich auch von diesen beeinflusst und verändert. Einerseits ragen etwa Praktiken aus dem Kunstfeld heraus in den politischen Aktivismus, andererseits fließen aber auch Praxismuster, Wertmaßstäbe aus anderen kulturellen Feldern wie der Mode oder auch aus kulturfernen Bereichen wie der Ökonomie in die Kunst ein. Dabei ist all dies, inklusive der gebrauchten Begrifflichkeiten, bereits Teil der Debatte, die im Folgenden erst am Beispiel linker Theorie ausgeführt werden soll.
Schließlich möchte ich noch einige Bemerkungen dazu anbringen, wie ich das Thema die Linke und die Kunst angegangen bin. Es geht in diesem Buch nicht in erster Linie um linke Kunsttheorie, sondern um den Stellenwert der Kunst in linker Theorie insgesamt. Erst die Tatsache, dass linke Theorie sich mit Politik und Ökonomie, auch mit Kultur insgesamt, aber gerade nicht schwerpunktmäßig mit Kunst beschäftigt hat (und beschäftigt), macht die Frage nach ihrem Stellenwert zu einer reizvollen und vielversprechenden. Karl Marx, Leo Trotzki oder Simone de Beauvoir und Frantz Fanon waren keine KunsttheoretikerInnen, aber die Kunst kommt dennoch in ihren gesellschaftstheoretischen Entwürfen und politischen Schriften vor. Auf disziplinäre Zuordnungen (Soziologie, Philosophie, Ästhetik, Kulturwissenschaften etc.) wird in dieser Arbeit zunächst keine Rücksicht genommen. Insofern ist sie also weder Überblick über linke Kunstsoziologie, noch eine Skizze historischer ästhetiktheoretischer Entwürfe. Dieses Vorgehen, bloß allgemeine linke Theorie (und nicht linke Kunsttheorie) auf Kunsterwähnungen hin abzuklopfen, ist allerdings auch nicht ganz konsistent durchzuhalten. Das liegt weniger an der Analysemethode als am Gegenstand selbst. Denn spätestens ab den 1960er-Jahren, im Grunde aber schon drei bis vier Jahrzehnte früher, sind ästhetische Fragestellungen und kulturtheoretische Überlegungen, die sich jeweils nicht nur, aber auch um Kunst drehen, längst nicht mehr marginalisiert in der linken Theorie. Zwar lässt sich das Ausblenden kultureller Aspekte etwa in den ökonomischen Analysen der marxistischen Dependenztheorien der 1960er- und 70er-Jahre beklagen, gleichzeitig existierte aber eine transnationale marxistische Ästhetikdebatte und die durch die Kritische Theorie oder auch durch Antonio Gramsci aufgeworfenen, kulturtheoretischen Fragestellungen in der Gesellschaftstheorie waren längst etabliert. Kunst kam darin auch immer vor. Darüber hinaus tritt auch linke Kunsttheorie verstärkt nicht mehr länger allein als Theorie über Kunst, sondern eher als von Kunst ausgehende Theorie über Gesellschaftsformationen sowie Strukturen und Praktiken auch außerhalb künstlerisch-ästhetischer Bereiche auf. Man würde etwa Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels (1967) falsch interpretieren, läse man es bloß als Kunsttheorie. Von Debord bis Martha Rosler sind zudem linke KünstlerInnen selbst die ProduzentInnen linker Theorie. Eine Trennung wäre hier also nicht nur albern akademisch, sondern sinnlos. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, habe ich mit den einzelnen Kapiteln nicht nur Positionen einzelner AutorInnen beschrieben, sondern jeweils ein ganzes Geflecht aus kunsttheoretischen Einlassungen nachvollziehbar zu machen versucht.
Es versteht sich wohl von selbst, dass dabei in keinerlei Hinsicht so etwas wie Vollständigkeit gewährleistet werden kann: Weder die Liste der vorkommenden Namen, der behandelten Positionen, noch jene der Problematiken, die im Verhältnis von der Linken zur Kunst aufgetreten sind und auftreten, ist in irgendeiner Weise komplett. Dennoch hege ich selbstverständlich die Hoffnung, einen plausiblen Überblick liefern zu können.
Einerseits soll eine gewisse Chronologie gewahrt (bzw. auch hergestellt) werden. Auch wenn Marx nicht der erste linke Theoretiker der Geschichte ist, bedarf es vielleicht nicht allzu großer Rechtfertigungen, mit seinen Positionen zu beginnen. Mit der De-Naturalisierung und der Historisierung der Kunstpraxis (Produktion wie Rezeption) leitet Marx eine Abkehr von Kunstbetrachtungen im Anschluss an Kant und Hegel ein, die es rechtfertigt, diese beiden Vorläufer und wichtigen Bezugspunkte auch heutiger Auseinandersetzungen in dieser Arbeit auszuklammern. Um dem Marxismus in all seinen Formen aber auch nicht das Monopol auf linke Theorie zuzuschreiben, setze ich das Buch mit dem Anarchismus fort, der einen weiteren – gerade für die künstlerischen Avantgarde-Bewegungen mindestens ebenso wichtigen – Strang von linker Theorie etablierte. Wenn dann vom Marxismus-Leninismus über Feminismus bis hin zur post- und dekolonialistischen Theorie verschiedene Debattenfelder, also theoretische Formationen benannt und beschrieben werden, soll damit nicht gesagt sein, dass sie jeweils abgeschlossen für sich existiert haben (und existieren) oder dass das eine Feld das andere historisch obsolet hat werden lassen. Theoretische Formationen entstehen aus gemeinsam geteilten Fragestellungen, bestehen aus gemeinsamen Grundannahmen und Methoden und sind dennoch nicht scharf abgrenzbar, sie sind methodologisch und historisch immer dynamisch und sie überlappen einander.
Neben der Ausrichtung an diesen mit Labels wie Kritische Theorie oder Postoperaismus beschriebenen theoretischen Formationen orientiert sich der Text andererseits aber auch an Problematiken, die im Verhältnis von linker Theorie und Kunst zentral waren und sind, argumentiert entlang thematischer Schwerpunkte und versucht, einige Grundbegriffe der Debatte zur Kunst innerhalb der Linken zu (er-)klären. Dabei müssen notgedrungen Vereinheitlichungen vorgenommen werden, die in anderem Rahmen wieder zu entwirren und auszudifferenzieren wären: Während ein zusammenfassendes Label wie Kritische Theorie längst relativ gefahrlos benutzt werden kann, auch wenn selbstverständlich nie abschließend zu klären ist, wer und welche Positionen noch dazu gehören und welche nicht, sind Bezeichnungen wie Black Liberation oder auch Feminismus selbstverständlich wesentlich offener und größer. Dementsprechend gewagt ist es, sie für kleine Kapitel zu benutzen, da mit Erwähnungen und Auslassungen selbstverständlich in den Diskurs um den Gegenstand eingegriffen (und dieser nicht nur abgebildet) wird. Zum Zwecke einer Überblicksdarstellung lassen sich solche Zusammenfassungen aber nicht vermeiden. Auch wenn sich auch über die Triftigkeit der jeweiligen von mir sogenannten theoretischen Formation sicherlich streiten lässt, ergeben sich ihre Plausibilitäten dann inhaltlich.
Dieser Überblick liegt mit dem Fokus auf theoretische Formationen quer zu den Debatten um ›Kunst und Politik‹. Es geht eher darum, allgemeine Bedingungen des Verhältnisses zwischen beiden zu beschreiben als spezifische Fälle künstlerischer Politik vom »Surrealismus im Dienste der Revolution« oder dem Verhältnis von Joseph Beuys zur Partei Die Grünen bis zum sogenannten Artivismus zu diskutieren.
Es werden die groben Linien theoretischer Herangehensweisen – durchaus auch entlang konkreter künstlerischer Arbeiten oder spezifischer Fragestellungen – nachgezeichnet, die den alltäglichen Auseinandersetzungen im Kunstfeld und darüber hinaus zugrunde liegen. Die ausgewählten theoretischen Formationen werden vor allem hinsichtlich dreier Fragen diskutiert: Erstens: Welches Verständnis von Kunst wird vertreten? (I) Zweitens: Welcher Stellenwert wird der so verstandenen Kunst in der Gesamtheit gesellschaftlicher Verhältnisse eingeräumt? Wie verhält sich die Kunst zu anderen Strukturbereichen und anderen Praktiken, die nicht Kunst sind? Und welche Kunst ist überhaupt gemeint? (II) Und drittens: Was wird von der Kunst erwartet? Ist sie Teil emanzipatorischer Veränderungen oder steht sie ihnen im Wege? (III)
Damit soll dieser Überblick Folgendes leisten: Es wird erstens deutlich werden, dass Kunst überhaupt eine wichtige, wenn auch nur selten eine zentrale Rolle in linker Theorie gespielt hat (und spielt). Bei Marx / Engels und Proudhon angefangen, spielt die Kunst in der Theorie der Linken keine unbedeutende Rolle, sie taucht in unzähligen gesellschaftstheoretischen Entwürfen auf und ihr werden gleichermaßen befreiende wie regressive, emanzipatorische wie verschleiernde und verdinglichende Potenziale zugeschrieben. Um das nachzuzeichnen, werden zweitens die unterschiedlichen Argumentationslinien nachvollzogen, mit denen diese jeweilige Rolle und Funktion begründet wurde, und es wird aufgezeigt, wie genau diese eigentlich definiert wurde. Wenn auch über den Stellenwert der Kunst für die jeweilige Gegenwartsgesellschaft häufig nicht sehr viel in Erfahrung zu bringen ist, so ist es doch auffällig, wie stark die Bezüge zur Kunst sind, wenn es um Prozesse und Praktiken der Emanzipation geht. Diese Tatsache fällt vielleicht in ihrer Deutlichkeit erst in der Zusammenschau der so unterschiedlichen Ansätze auf. Die Positionen zur Kunst werden drittens nicht nur für einzelne AutorInnen, sondern anhand einer ganzen Reihe linker theoretischer Formationen nachgezeichnet – eben von Marx und Engels über den Anarchismus, den Feminismus, Black Liberation bis hin zum Postoperaismus und zur post- und dekolonalistischen Theorie.
Auch wenn es mir in erster Linie um eine Überblicksdarstellung geht, ist der Text selbstverständlich nicht frei von eigenen Stellungnahmen. Eine These, die sich aus der Darstellung ergeben hat und die sich durch das Buch zieht, ist die, dass es im Wesentlichen drei Brüche oder Risse gab und gibt, die die linke, theoretische Auseinandersetzung mit der Kunst geprägt haben und prägen. Die Produktion und Rezeption von Kunst werden bereits von Marx gegenüber idealistischen Ansätzen zu ihrer Erklärung als historisch und sozial ausgewiesen. Diese Historizität und Sozialität der Produktions- und Rezeptionspraxis von Kunst werden in der Folge dann etwas verengt als Widerspiegelung interpretiert – Werke wie auch der Umgang mit ihnen spiegeln demnach soziale Verhältnisse wider. Der erste Bruch, der sich in der Konzeptionalisierung von Kunst in der Linken ergibt, ist jener mit dem Widerspiegelungstheorem. Während im Anschluss an Marx und Engels und in vielen Varianten des Anarchismus, vor allem aber im Marxismus-Leninismus Kunst als (Mittel der) Widerspiegelung gedacht war, bricht vor allem die Kritische Theorie mit dieser Herangehensweise. Kunst spiegelt demnach nicht länger Wirklichkeit wider, womit auch der normative Fokus auf die Frage, wie sie die Widerspiegelungsfunktion erfüllen soll – etwa in Form von realistischen Darstellungen – seine dringende Relevanz verliert. Kunst wird als Gegenstand mit eigensinniger Logik und eigenständiger Wahrheit konzipiert. (In dieser Konzeption wird letztlich wieder an Kant und Hegel angeknüpft.) Der zweite Bruch verabschiedet dieses Verständnis vom eigensinnigen, autonomen Kunstwerk. Er beginnt mit Walter Benjamin, der infrage stellt, dass nach der technischen Reproduzierbarkeit so etwas wie ein Kunstwerk überhaupt noch sinnvoll ohne seinen institutionellen Kontext untersucht werden kann. Hier trennen sich marxistische Ästhetik, die sich nach wie vor dem autonomen Kunstwerk widmet, und materialistische Kunstsoziologie, die auf dessen Kontexte, sprich Produktionsverhältnisse ausgerichtet ist. Dieses Kunstverständnis wird in den materialistischen Praxistheorien ausgeführt. Der dritte Bruch oder Riss erweitert diese Herangehensweise. Ausgelöst von feministischen und Black-Liberation-Theorien, aber auch – unabhängig von diesen – innerhalb der materialistischen Praxistheorien, wird der Kontext (das Feld) als konstitutiv für die Produktion und Rezeption von Kunst begriffen. Sie erweist sich dabei nicht nur generell als sehr voraussetzungsreich, sondern letztlich als soziales Privileg vergleichsweise weniger. Post- und dekolonialistische Ansätze vertiefen diesen Bruch, indem sie darauf hinweisen, dass die bildende Kunst überhaupt nur im Zusammenhang mit der Herausbildung einer politischen und symbolischen Ordnung unter ›westlicher‹ Hegemonie zu verstehen ist. Die Brüche – von der Widerspiegelung zum autonomen Kunstwerk, vom autonomen Kunstwerk zur Institution Kunst und von der Kunst als Institutionengefüge zur Kunst als privilegiertes Praxisfeld – lassen sich zwar chronologisch beschreiben, es gibt aber jeweils auch Ideen und Konzepte, die sie vorbereiten. Und sie sind auch keine absoluten Brüche im Sinne von Paradigmenwechseln: Vom autonomen Kunstwerk wird auch nach der kunstsoziologischen Wende noch gesprochen und nicht jeder Fokus auf Kunst als Privileg ist zugleich eine feld- oder institutionenkritische Analyse. Deshalb ist es vielleicht sinnvoller, von Rissen zu sprechen, die sich durch die Auseinandersetzung mit Kunst innerhalb linker Theorie ziehen und die mal mehr, mal weniger aufklaffen. Die eingangs erwähnte Exklusivität jedenfalls wurde auch vom Anarchisten Michael Bakunin bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Kunst moniert – mehr dazu im Anarchismuskapitel.
Um die Darstellung nicht mit der eigenen These zu überfrachten, greife ich sie vor allem im Schlusskapitel wieder auf. Vor allem geht es in diesem Buch um die Zusammenschau der verschiedenen Ansätze, die so meines Wissens noch nicht gemeinsam dargestellt und in Beziehung gesetzt wurden. Auf der Suche nach einer Einführung zum Thema ›die Linke und die Kunst‹ war ich erfolglos geblieben. Das war die zentrale Motivation, sie selbst zu schreiben.
In einem Aufsatz von 1846 lobt Friedrich Engels das Bild des Düsseldorfer Malers Carl Wilhelm Hübner (1814–1879) »Die schlesischen Weber« (1844 / 45) als eines, das »verständlicherweise so manches Gemüt für soziale Ideen empfänglich gemacht«[19] habe. Das Gemälde zeigt eine Gruppe armer Weberinnen und Weber, die einem ebenfalls dargestellten Verleger die Produkte ihrer Arbeit anbieten. Der zweigeteilte Bildaufbau zeigt links den potenziellen Käufer in der Pose eines Aristokraten und mit der Mimik eines unerbittlichen Geschäftsmanns, in der rechten Bildhälfte die armen und verzweifelten Weberinnen und Weber, die ihm ausgeliefert sind. Während der Verleger auf einem Teppich vor seinem im Hintergrund sichtbaren, gut ausgestatteten Wohnbereich steht, kauern die Weberinnen und Weber auf kargem Steinfußboden. Der Klassenantagonismus ließe sich kaum deutlicher ins Bild setzen. Engels hielt Hübner für »einen der besten deutschen Maler« und sagte über das Bild – das in drei Versionen existiert und auch in zeitgenössischen Ausstellungen zu sehen war –, es habe »wirksamer für den Sozialismus agitiert […] als hundert Flugschriften.«[20]
Der bildenden Kunst wird hier enorme soziale Relevanz zugesprochen. Sie kann nicht nur empfänglich machen für neue Denkweisen, sondern diese Ideen sogar zur Wirkung bringen, ohne es – anders als beispielsweise Flugschriften – in besonderer Weise darauf angelegt zu haben. Trotz dieses Potenzials, das Engels ihnen hier zuspricht, haben künstlerische Arbeiten in der marxistischen Theorie nicht gerade eine Hauptrolle gespielt. Marx und Engels waren keine Kunsttheoretiker und Kunst kommt in ihren Werken kaum vor. Auch im Gros der marxistischen Gesellschaftswissenschaften spielt Kunst keine entscheidende Rolle. Aber es gibt auch Ausnahmen: Eine Vielzahl marxistischer AutorInnen verschiedenster Schulen und akademischer Disziplinen beschäftigten sich mit Kunst und ihrem gesellschaftlichen Stellenwert: von theorieaffinen PolitikerInnen wie Lenin, Plechanow, Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci über Soziologen wie Arnold Hauser bis zu Philosophen wie Adolfo Sánchez Vázquez oder Theodor W. Adorno. Der marxistische Historiker Perry Anderson hat sogar die Aufmerksamkeit für Kultur als zentrales Charakteristikum der ganzen Tradition des von ihm sogenannten ›westlichen Marxismus‹ ab den 1920er-Jahren ausgemacht – und kritisiert. Anderson sah in der Hinwendung marxistischer TheoretikerInnen zu Literatur und Kunst ein Symptom für die Abwendung des Marxismus »von jeder revolutionären Praxis.«[21] Nicht nur die Ökonomie wurde laut Anderson durch die Hinwendung zur Kultur vernachlässigt, auch die Verbindung der Theorie zur ArbeiterInnenbewegung wurde gekappt. Allerdings kommt Anderson nur deshalb zu diesem negativen Urteil, weil er hier Kunst und Kultur fälschlicherweise weitgehend gleichsetzt. Er sieht nicht (oder will nicht sehen), dass mit Kultur nicht nur spezifische Praktiken gemeint sind (wie eben Kunstmachen und -rezipieren), sondern dass Kultur auch als ein alle Denk- und Wahrnehmungsweisen betreffendes Terrain von Kämpfen verstanden werden kann (und von den ›westlichen‹ MarxistInnen verstanden wurde). Ich komme darauf zurück.
Zugleich jedenfalls gab und gibt es auch neben der allgemeinen Kulturaffinität (›westlicher‹) marxistischer TheoretikerInnen eine spezifische marxistische Kunstgeschichte. Hier lassen sich beispielsweise mit Warren Carter die drei Phasen der »interwar, post-68 and contemporary incarnations«[22] unterscheiden. Auch wenn es spezifische Auseinandersetzungen mit künstlerischen Arbeiten und Fragen des Kunstpublikums und der Kunstinstitutionen gab und gibt, muss die marxistische Kunstgeschichte allerdings in allen drei Phasen immer als eine bloß tendenziell von anderen disziplinären Feldern wie der Soziologie oder der Philosophie abgegrenzte begriffen werden. Wäre marxistische Kunstgeschichte nicht immer auch die Geschichte anderer Produktionsverhältnisse (oder zumindest in ihre Fragestellungen verwoben), wäre sie wohl nicht mehr marxistisch. Da Marxismus für die Linke selbstverständlich ein zentraler, wenn nicht überhaupt der Bezugspunkt schlechthin ist, werden im Folgenden zunächst einige weitere Grundzüge marxistischen Kunstverständnisses skizziert. Die sich entwickelnden Differenzen und Differenzierungen innerhalb marxistischer Debatten sind jeweils expliziter Gegenstand späterer Kapitel.
Der marxistische Literaturkritiker und Philosoph Michail Lifschitz (1905–1983) macht in der Einleitung seines Buches Karl Marx und die Ästhetik (1931) eine erstaunliche Bemerkung. Er schreibt: »Die Bedeutung der Theorie von Marx wäre selbst dann für die Philosophie der Kunst enorm gewesen, wenn wir nichts von den ästhetischen Ansichten der Begründer des Marxismus wüßten.«[23] Wie kann die enorme Bedeutung zustande kommen, muss man sich fragen, wenn man nichts darüber weiß bzw. wüsste, worauf sie sich im Konkreten gründen könnte? Lifschitz, der in den 1930er-Jahren mit Georg Lukács befreundet war und später zu einem führenden marxistisch-leninistischen Theoretiker in Sachen Kunst und Ästhetik in der Sowjetunion wurde – ab 1975 leitete er die Kunstakademie der UdSSR –, begründet diese These so: Historisch hat die Ästhetik da ihren Wert und ihre Relevanz, wo das Bürgertum um individuelle Freiheit kämpft. Wie verschleiert auch immer, werden in Fragen der Kunst die Fragen menschlicher Emanzipation verhandelt. Dann aber tritt das Proletariat auf die Bühne der Weltgeschichte, und die Frage der Emanzipation wendet sich dem Funktionieren von Ausbeutung und ihrer Aufhebung durch das neue Subjekt der Geschichte zu. Insofern Marx und Engels ihre Aufmerksamkeit auf diese Frage richten und sich von der Kunst abwenden, befinden sie sich (nach Lifschitz) »auf der Höhe der geschichtlichen Aufgaben«[24]. Vor dem Hintergrund der fortschrittsorientierten Geschichtsauffassung von Marx ist die Beschäftigung mit Kunst derjenigen mit dem Klassenkampf klar untergeordnet.
Dennoch, und damit beschäftigt sich Lifschitz im Folgenden wie viele andere auch, gibt es bei Marx eine intensive Beschäftigung mit Ästhetik, Kultur und auch mit Kunst im engeren Sinne. Die Frage, wie die Kunst in Bezug auf die materiellen Verhältnisse, die Kontrolle über die Arbeit und hinsichtlich Ausbeutung und Entfremdung zu begreifen ist, versteht sich auch dann nicht von selbst, wenn man, wie Lifschitz, das unbezweifelbare Primat der Ökonomie ausruft. Auch wenn die kapitalistische Arbeitsteilung die materiellen Grundlagen jeder, auch der künstlerischen Produktion bestimmt, ist absolut erklärungsbedürftig, inwiefern die konkrete Form dieser künstlerischen Arbeit davon betroffen, beeinflusst und geprägt ist. Und schließlich folgten selbst viele MarxistInnen dieser vermeintlich logischen Festlegung auf eine ökonomische Letztinstanz nicht immer und klagten eine relative Autonomie des Kulturellen ein, wie sich im Verlaufe dieses Textes zeigen wird.
[25][26]menschlichenSinne[27]