Die Autoren

John-Dylan Haynes, geboren 1971, ist Psychologe und Neurowissenschaftler sowie Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN) und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er gilt als Pionier des neurowissenschaftlichen Gedankenlesens. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Entschlüsselung mentaler Zustände anhand von Gehirnsignalen sowie Aufmerksamkeit, Bewusstsein, freier Wille und Entscheidungsfindung.
Matthias Eckoldt, geboren 1964, studierte Philosophie, Germanistik und Medientheorie. Neben über fünfhundert Radiosendungen veröffentlichte er zwei Romane und mehrere Sachbücher. Sein Buch „Eine kurze Geschichte von Gehirn und Geist“ wurde für das Wissensbuch des Jahres 2017 von "Bild der Wissenschaft" nominiert. Mit dem Neurowissenschaftler Randolf Menzel veröffentlichte er 2016 „Die Intelligenz der Bienen“ . Für seine Arbeit wurde er u. a. mit dem idw-Preis für Wissenschaftsjournalismus ausgezeichnet.

Das Buch

Zu wissen, was im Kopf eines anderen vor sich geht, gehört zu den ältesten Sehnsüchten der Menschheit. Längst ist die Forschung dabei, Gedanken anhand der Hirnaktivität zu erschließen. Der renommierte Neurowissenschaftler und Psychologe John-Dylan Haynes hat es geschafft, verborgene Absichten, unterschwellige Wahrnehmungen, Willensimpulse, romantische Gefühle und Lügen in den Köpfen seiner Probanden zu entschlüsseln. Seine Forschungen zeigen: Zurzeit kann man noch nicht die ganze Vielfalt unserer Gedankenwelt auslesen. Aber Ansätze dazu gibt es, und wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob wir das überhaupt wollen. Was wäre der Nutzen, wo lägen die Gefahren? Zusammen mit dem Wissenschaftsautor Matthias Eckoldt zeigt Haynes, wie Gedanken entstehen und wie man sie auslesen kann. Zugleich wirft das Buch einen neuen Blick auf die brisanten Themen Willensfreiheit und Privatsphäre.

John-Dylan Haynes und Matthias Eckoldt

Fenster ins Gehirn

Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann

Naturwissenschaften/Popular Science

Ullstein

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Lektorat: Uta Rüenauver
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagmotiv: njekaterina, Andriy Onufriyenko, beide Getty Images
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ISBN: 978-3-8437-2391-6

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Widmung

Für
Margarete Haynes
&
Julia Eckoldt

Vorwort

Die Weltöffentlichkeit wurde hellhörig, als Facebook im Frühsommer 2017 auf der hauseigenen Entwicklerkonferenz ankündigte, Mark Zuckerbergs Unternehmen werde sich künftig dem Gedankenlesen widmen. Die Arbeit daran begann in einem Geheimlabor. Inzwischen hat Facebook für mehrere Hundert Millionen Dollar das Start-up CTRL-Labs aufgekauft, das mit Gedankenkraft Geräte steuern will. Auch der umtriebige Tech-Milliardär und Tesla-Gründer Elon Musk hat angekündigt, Gedanken zu lesen. Dazu will er ein Netz aus künstlicher Intelligenz direkt mit der menschlichen Großhirnrinde verbinden. Im August 2020 präsentierte er mit viel Wirbel die erste Entwicklungsstufe: Ein Operationsroboter hatte Schweinen eine raffinierte Messtechnik ins Gehirn implantiert. Damit konnten Hirnsignale sichtbar gemacht werden, die auftreten, wenn die Tiere mit ihren Schnauzen die Welt ertasten.

Doch das soll noch lange nicht alles sein – Musks Visionen überschlagen sich geradezu. Demnächst könne man den gesamten Geist des Menschen digital verfügbar machen, meint er; man könne mit Gedankenkraft Computerspiele spielen und sogar seine Erinnerungen herunterladen.

Doch ist das überhaupt möglich? Kann man mithilfe von Messungen der Hirnaktivität das quirlige menschliche Bewusstsein einfangen? All die Reflexionen und Erinnerungen, die flüchtigen Träume, die spontanen Ideen und die vielen Facetten unserer reichen Wahrnehmungswelt, die uns doch so sicher im geheimen Kämmerlein unserer Gedanken verschlossen zu sein scheinen?

Zu wissen, was im Kopf des Gegenübers vor sich geht, ist eine tiefe Sehnsucht der Menschheit. Bereits im alten China soll es erste Lügendetektoren gegeben haben. Mutmaßliche Verbrecher mussten beim Verhör ein Reiskorn unter die Zunge legen. Blieb es trocken, galt als erwiesen, dass der Verdächtige log. Denn Lügen, so die damalige Vorstellung, trocknet den Mund aus.

Trotz des immensen wissenschaftlich-technologischen Fortschritts basierten die Versuche, in die menschliche Gedankenwelt einzudringen, bis ins 20. Jahrhundert hinein auf ähnlich kruden Vorstellungen. Erst zu Beginn der 2000er-Jahre rückte das Thema Gedankenlesen durch neue Entwicklungssprünge in der Hirnforschung in den Machbarkeitshorizont. Nachdem es durch moderne Hirnscanner möglich geworden war, dem Gehirn beim Denken zuzuschauen, rückte der alte Menschheitstraum langsam näher an die Realität. Man konnte nun zum ersten Mal mithilfe von Computern die bunte Erlebniswelt unseres Bewusstseins aus Hirnaktivitätsmustern auslesen – zumindest bis zu einem gewissen Grad.

In diesem Buch werden Sie auf einige trickreiche Experimente und überraschende Ergebnisse auf dem Gebiet des sogenannten Gehirnlesens (Brain-Reading) stoßen. Vielleicht kennen Sie aus Science-Fiction-Filmen wie Matrix oder Total Recall die fiktiven Schnittstellen, die unsere Gehirne mit Computern verbinden und uns erlauben, in virtuelle Welten einzutauchen. Wir werden zeigen, welche Techniken tatsächlich dafür infrage kommen, eine solche Verbindung herzustellen. Wir werden uns auch auf die Suche begeben nach der Sprache des Gehirns, jenem geheimnisvollen Code, der unsere ganze Erlebniswelt codiert – unsere romantischen Gefühle ebenso wie die Lügen, die wir erzählen, oder die geheimen Konsumwünsche, die wir hegen. Wir werden auch sehen, ob durch das Brain-Reading der freie Wille wirklich infrage gestellt ist, wie oft behauptet wird.

Bei Themen von solch großem öffentlichen Interesse wie dem Brain-Reading besteht immer die Gefahr, dass die Erwartungen in den Himmel schießen und die gewonnenen Fakten zu sehr aufgebauscht werden. Wir wollen darstellen, was heute wirklich und konkret möglich ist und wo die Herausforderungen, die Stolpersteine und vielleicht sogar die prinzipiellen Grenzen der Hirnforschung liegen. So kann sich jeder ein Bild davon machen, was realistisch ist.

Heute ist der Einbruch in die menschliche Gedankenwelt noch weitgehend auf das Labor beschränkt. Aber wann wird die revolutionäre Technik des maschinellen Gedankenlesens unsere Alltagswelt erreichen? Und welche Hindernisse stehen noch im Weg?

Die Wissenschaft, die durch ihre Erkenntnisse so vieles machbar erscheinen lässt, muss aber immer auch das Wünschenswerte in den Blick nehmen. Was dürfen wir mit solchen neuen Techniken anstreben? Das sind ethische Fragen, denen solch ein Buch nicht aus dem Weg gehen kann.

Eine abschließende Anmerkung: Da wir uns auf die zentralen Aspekte konzentrieren, werden natürlich einige wissenschaftliche Detailfragen nur im Überblick dargestellt. Dem fachnahen Leser mögen dann vielleicht detaillierte Abhandlungen etwa über die Spielarten des Dualismus, über philosophische Diskussionen (zum Beispiel über Kategorienfehler) sowie über moderne Entwicklungen im maschinellen Lernen fehlen. Wir haben das im Sinne des Buchthemas ausgespart.

Kapitel 1
Das geheime Kämmerlein
der Gedanken

Wäre es nicht großartig, immer genau zu wissen, wann unser Gegenspieler beim Pokern blufft (Abbildung 1)? Oder ob der Angeklagte wirklich den Mord begangen hat? Oder was der Partner tatsächlich über das selbst gemachte Batikhemd denkt? Im Alltag müssen wir uns darauf verlassen, dass Menschen ehrlich sind, wenn sie uns sagen, was sie denken. Denn sie sind die Torwächter in die Welt ihrer eigenen Gedanken. Wollen sie etwas nicht mitteilen, können sie ihre Gedankenwelt weitgehend verborgen halten.


Abb. 1 Beim Pokern könnte es sehr hilfreich sein, die verborgenen Gedanken und Gefühle eines Gegenspielers einschätzen zu können. Hinter mancher Unschuldsmiene kann sich der schlimmste Bluff verstecken.
Abb. 1 Beim Pokern könnte es sehr hilfreich sein, die verborgenen Gedanken und Gefühle eines Gegenspielers einschätzen zu können. Hinter mancher Unschuldsmiene kann sich der schlimmste Bluff verstecken.

Aber vielleicht nicht mehr lange. Die moderne Hirnforschung hat in den letzten Jahren massive Fortschritte gemacht. Ist es damit bald möglich, im Gehirn nachzuschauen, was jemand gerade denkt?

Wir müssen schon an dieser Stelle eines deutlich machen: Unter Gedanken versteht die Hirnforschung nicht nur innere Sprache, wie etwa »Meine Güte, glaubt der Verkäufer wirklich, dass mir diese Hosenträger stehen?«. Vielmehr wird in unserer Forschung der Begriff »Gedanke« ganz bewusst weiter gefasst: Er meint letztlich alles, was in irgendeiner Weise in unser Bewusstsein dringt, also alles, was wir erleben – egal ob wir wach sind oder träumen. Da kommt eine Reihe unterschiedlichster Elemente zusammen: das Sehen von Gegenständen (auch diese schwarzen Zeichen auf weißem Grund, die Sie gerade lesen) ebenso wie die Wahrnehmung von Geräuschen und Tönen und allem, was man riechen und tasten kann. Zu diesen bewussten Wahrnehmungen kommen noch alle Arten von Gefühlen sowie Erinnerungen und Absichten, Handlungspläne und natürlich die oben erwähnten sprachlichen Gedanken, Träume sowie Belohnungsmomente, die das Leben im wahrsten Sinne des Wortes versüßen. All diese verschiedenen geistigen Zustände meinen wir, wenn wir in der Forschung und auch in diesem Buch von Gedanken reden.

Selten findet man die Idee des maschinellen Gedankenlesens so schön umgesetzt wie in dem Film Futureworld aus dem Jahr 1976. Zwei Journalisten, Chuck und Tracy, besuchen eine Zukunftsstadt, in der Roboter Menschen mit Rollenspielen unterhalten. Der Betreiber dieser Stadt, Dr. Duffy, führt den beiden Journalisten seine neueste Erfindung vor: eine Maschine, die Gedanken lesen kann. Tracy erklärt sich spontan bereit, die Maschine auszuprobieren. Ganz sicher ist sie sich nicht, ob das eine gute Idee ist, schließlich möchte sie ja nicht, dass ihr Kollege (und gelegentlicher Liebhaber) Chuck zu tiefe Einblicke in ihre private Gedankenwelt erhält. Doch die journalistische Neugier siegt.

Tracy wird in eine abgeschirmte Kammer geführt. Dort legt sie sich auf ein bequemes großes Luftkissen, bekommt eine technische Apparatur über den Kopf gestülpt und soll sich ihren Gedanken und Träumen hingeben.

In der Kommandozentrale außerhalb der Kammer befindet sich das technische Herz der Maschine. Die Hirnaktivität von Tracy wird dort aufgezeichnet und in einen Großcomputer eingespeist, der aus den Hirndaten ihre Gedanken errechnet. Gerade ist sie in Gedanken bei ihrem neunten Geburtstag: Man sieht die Torte, den Vater, einen Kinderfreund und den Hund, der sich an Tracy schmiegt. Dann aber kommt es, wie es kommen muss. Ein anderer Mann, ein Liebhaber, taucht in den Gedanken von Tracy auf. Chuck ist alarmiert.

Ist so etwas prinzipiell vorstellbar? Kann eine Maschine unsere Gedankenwelt auslesen und für andere sichtbar machen – vielleicht noch nicht heute, aber irgendwann in der Zukunft? Oder fühlt es sich vielmehr so an, als befänden sich unsere Gedanken in einem gut versiegelten Kämmerlein, das nur uns selbst zugänglich ist – in einem privaten Gedankensafe, in dem alle unsere Ideen, Einsichten, Sorgen, Empfindungen, Schmerzen, Pläne, Absichten, Gefühle und Erinnerungen verborgen sind und für den nur wir selbst den Zugangscode kennen?

Zwar erzählen wir hin und wieder darüber, was sich in diesem Kämmerlein befindet, aber direkt hineinschauen lassen wir niemanden. Wir wollen nicht, dass jemand unseren Neid sieht, den wir gegenüber einem Kollegen empfinden, der eine Beförderung bekommt, die wir selber gerne hätten. Wir wollen auch nicht, dass jemand unseren Bluff erkennt, wenn wir beim Pokern auf unser Blatt setzen, obwohl wir schlechte Karten haben. Wir wollen auch nicht, dass unser Ehepartner mitbekommt, wenn wir gerade eine Affäre haben. Solche Gedanken sollen im geheimen Kämmerlein unserer Gedankenwelt verborgen bleiben.

Für andere Menschen ist es meistens schwer zu erraten, was wir gerade denken. Völlig sicher vor Zugriff sind unsere Gedanken dennoch nicht. Unser Neid auf den beförderten Kollegen kann herauskommen, wenn wir uns verplappern. Wir merken dann, wie uns die Schamesröte ins Gesicht steigt und dass jeder um uns herum nun sehen kann, wie wir uns ertappt fühlen. Auch beim Pokern verrät uns vielleicht unsere Körpersprache und macht uns einen Strich durch die Rechnung. Ein nervöses Zucken in den Augenlidern kann einem geübten Poker-Ass den Bluff schon verraten. In der Partnerschaft gestaltet es sich auf lange Sicht noch schwieriger, bestimmte Dinge geheim zu halten. Wir können unsere Gedanken nicht völlig verbergen, schon gar nicht gegenüber einer Person, die mit unseren Denk- und Handlungsgewohnheiten eng vertraut ist und daher selbst kleinste Abweichungen spüren kann.

Eine perfekte Abschottung der Gedanken ist sozial auch gar nicht gewünscht. Menschen, die mit ihrem Denken hinter dem Berg halten, gelten als »verschlossen«, machen einen mitunter sogar misstrauisch.

Mit den Techniken der modernen Hirnforschung erlebt die uralte Idee von einer Gedankenlesemaschine einen neuen Höhenflug. Man kann kaum mehr eine Zeitschrift aufschlagen, ohne auf ein Bild von der menschlichen Hirnaktivität zu stoßen. Die entsprechenden Titel ähneln sich: »Wo die Liebe wohnt«1 oder »Das gläserne Gehirn«2. Wenn sich unsere Gedanken in den Mustern der Hirnaktivität tatsächlich widerspiegeln, sollte es dann nicht nur noch ein kleiner Schritt sein bis zum Bau einer Maschine, die unsere privaten Gedanken zu lesen vermag? Eine Maschine, die in dieses private Kämmerlein eindringen kann? Kann die Gedankenwelt, die von Natur aus eine Privatsache ist, mit trickreichen Methoden erschlossen und verstanden werden, so wie die körperlichen Vorgänge in Niere, Herz und Lunge auch?

Um dies zu beantworten, wenden wir uns zunächst einer Kernfrage der menschlichen Existenz zu: Wie hängen Gedanken und Hirnprozesse genau zusammen? Diese Frage ist als das »Leib-Seele«- oder »Geist-Gehirn«-Problem bekannt und beschäftigt Philosophen seit mindestens 2500 Jahren.3

Ist unsere geistige Welt vom Gehirn abhängig oder besitzt sie eine (gewisse) Eigenständigkeit? Gibt es in unserem geheimen Kämmerlein auch Gedanken, die sich nicht im Gehirn abspielen und deshalb zwangsläufig auch nicht aus Hirnprozessen ausgelesen werden können? Man kann die Frage auch noch prinzipieller stellen: Gibt es einen Geist, der unabhängig von unserem Körper existiert? Wenn ja: Kann unser Geist auch nach dem Tod des Körpers weiterexistieren? Wer diese und ähnliche Fragen eher mit Ja als mit Nein beantwortet, für den sind die Welt unserer Gedanken und die Welt unserer Hirnprozesse vermutlich zwei von Grund auf verschiedene Dinge. Diese Teilung in zwei Sphären (oder Existenzbereiche) nennt man Dualismus (etwa: »Lehre von der Zweiheit«). Wenn Sie Dualist sind, würden Sie es für vergebliche Liebesmüh halten, den Geist in unserem Gehirn zu suchen, weil dort lediglich Neurone schalten. Unsere Empfindungen und unser Denken gehen für Sie aber über das hinaus, was die Naturwissenschaft und insbesondere die Hirnforschung erfassen kann.

Der Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist hat die Menschen seit jeher fasziniert, sowohl Experten als auch Laien. Ein Goethe-Vers aus dem zweiten Teil des Faust drückt die Herausforderung aus: »Noch niemand konnt es fassen, wie Seel und Leib so schön zusammenpassen, so fest sich halten, als um nie zu scheiden, und doch den Tag sich immerfort verleiden.«4 Es gibt inzwischen eine Reihe von Hirnforschern, die mit wissenschaftlichen Verfahren versuchen, dieses Menschheitsrätsel zu lösen und den Zusammenhang von »Seel und Leib« genau zu fassen. Aber es ist nicht nur interessant, was Profis über diese zentrale Frage der menschlichen Existenz denken, sondern auch, wie die breite Bevölkerung den Zusammenhang sieht. Denn unsere Vorstellungen von Leib und Seele durchziehen viele Bereiche unserer Existenz und prägen unsere Einstellung zu wichtigen Fragen wie Schuld, Willensfreiheit oder dem Leben nach dem Tod.

Diese und ähnliche Fragen haben mich bereits zum Ende meiner Schulzeit umgetrieben. Ich tat mich damals allerdings schwer, ein Studienfach zu finden, das meinen Erkenntnishunger stillen konnte. Sollte ich Biologie wählen, um etwas über das menschliche Gehirn zu lernen? Oder Informatik, um dann künstliche intelligente Systeme zu programmieren? Oder Philosophie, um die Grundfragen menschlicher Erkenntnis zu verstehen? Zum Schluss landete ich bei der Psychologie, weil ich mir von ihr versprach, die Methoden zu erlernen, mit denen man geistige Prozesse beobachten kann. So begann ich Anfang der 1990er-Jahre an der Universität Bremen, Psychologie zu studieren. Bremen hatte ich gewählt, weil ich gehört hatte, dass dort in besonderem Maße interdisziplinär gearbeitet wurde – Philosophen, Psychologen, Hirnforscher, Physiker, Informatiker und Mathematiker standen dort in engem Austausch, um eine neue Wissenschaft der Kognition zu begründen.

In der Bremer Psychologie lernte ich unglaublich viel über das menschliche Verhalten und die Möglichkeiten seiner Erforschung. Zugleich war ich erstaunt, wie wenige sich für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Geist und Gehirn interessierten, anders in anderen Fächern, etwa der Neurobiologie und der Philosophie.

Zum Glück holte der Hirnforscher Gerhard Roth vom Hanse-Wissenschaftskolleg damals die besten Nachwuchsphilosophen, die sich mit dem Problem des Bewusstseins beschäftigten, in die Region. Da sie an der Uni Bremen Seminare anboten, bekam ich endlich die Gelegenheit, das Problem des Bewusstseins mit anderen Interessierten zu diskutieren. Darunter war auch der international renommierte Philosoph Thomas Metzinger. Er bot ein Seminar über die Philosophie des Geistes an, das ich unbedingt belegen wollte. Ich ging davon aus, dass bekannt sei, wie berühmt Thomas Metzinger im Feld der Bewusstseinsforschung ist, und daher unzählige Studenten die Veranstaltung besuchen würden. Bei der ersten Sitzung war ich deshalb eine halbe Stunde vor Beginn im Seminarraum, um noch einen Platz zu ergattern. Bis zum Beginn der Veranstaltung fanden sich neben mir als Psychologen allerdings nur wenige weitere Teilnehmer ein, darunter ein Biologe, ein Physiker und ein paar wenige Philosophen. Offensichtlich war das Problem des Bewusstseins nicht nur in meinem Fach noch nicht richtig angekommen, sondern auch im Kernfach der Philosophie. Doch diese kleine Gruppe bot natürlich gute Bedingungen, um mit Gleichgesinnten zu diskutieren und dabei in die Tiefe zu gehen. Bereits kurze Zeit später platzten die Seminare zur Philosophie des Bewusstseins aus allen Nähten.

In Bremen lernte ich auch den Philosophen Michael Pauen kennen, der sich für die Neurowissenschaften interessierte. Einige Jahre später trafen wir uns in Berlin wieder, als er an die Humboldt-Universität zur Berlin School of Mind and Brain kam. Immer wieder diskutierten wir tage- und nächtelang über das Gehirn und den Geist, über Willensfreiheit und Verantwortung. Es stellte sich heraus: Pauen war als Philosoph viel optimistischer als ich, dass wir irgendwann herausfinden würden, wie Geist und Gehirn zusammenhängen.

So kamen wir eines Tages auf die Idee, zu erforschen, was eigentlich Laien über den Zusammenhang von Gehirn und Geist dachten. »Laien« meint dabei, dass die Personen, die wir befragen wollten, weder Neurowissenschaftler noch Psychologen noch Philosophen waren. In Bezug auf die eigene Gedankenwelt sind natürlich alle Experten, denn alle Menschen erleben tagtäglich ihr eigenes Denken und haben auch genaue Vorstellungen davon, wie ihre Erlebnisse mit ihrem Körper zusammenhängen. Wenn uns zum Beispiel eine Wespe sticht, spüren wir einen Schmerz und wissen, dass die Verletzung der Haut und das Gift des Insekts die Ursache dafür sind. Wenn wir Lust auf ein Glas Wein haben und sich unsere Hand daraufhin in Bewegung setzt, gehen wir davon aus, dass unser Wunsch die Ursache dafür ist, dass unser Körper aktiv wird. Wenn wir Sport treiben, sind wir hinterher erschöpft und glücklich, und wir wissen, dass die körperliche Anstrengung uns Glücksgefühle bescheren kann. Wenn jemand einen Schlaganfall erleidet, wissen wir, dass die Verletzung des Gehirns dazu führen kann, dass er seine Sprachfähigkeit verliert oder sich seine Gefühlswelt verändert. Und manchmal fühlt es sich so an, als sei der ganze Körper am Denken beteiligt. Beim Gedanken an die Geliebte etwa fühlt man die legendären Schmetterlinge im Bauch. So gesehen ist also jeder Mensch eine Art Kronzeuge für den Zusammenhang zwischen Körper und Geist.

Wir starteten also eine Umfrage, was die Menschen über das Verhältnis von Geist und Gehirn denken. Sie war zu einem gewissen Grad sogar repräsentativ: Es kamen beide Geschlechter sowie alle Altersgruppen der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland zu Wort – dafür sorgte eine professionelle Befragungsagentur. Bei der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Gehirn waren sich die Deutschen bemerkenswert einig: Über 90 Prozent der Befragten meinten, unsere Gedankenwelt ließe sich nicht allein auf Hirnprozesse reduzieren. Für sie gab es also eine prinzipielle Trennung zwischen Gehirn und Geist.5 Sie waren somit Dualisten.

Wenn Sie selbst gerne herausfinden möchten, welche Position Sie einnehmen, können Sie gleich einen Selbsttest durchführen. In Abbildung 2 stehen fünf Fragen. Notieren Sie sich bitte jeweils einen Punkt, wenn Sie mit »Ja« antworten, null Punkte bei »Unentschieden« und minus einen Punkt, wenn Ihre Antwort »Nein« lautet. Dann addieren Sie bitte die fünf Zahlen.


Abb. 2 Ein Selbsttest Was denken Sie über das Verhältnis von Gehirn und Geist
Abb. 2 Ein Selbsttest Was denken Sie über das Verhältnis von Gehirn und Geist

Wenn mehr als null Punkte auf Ihrem Zettel stehen, gehören Sie zu der großen Mehrheit der Menschen, die glauben, das Gehirn allein könne unsere Gedanken nicht erklären. Für Sie stellt die geistige Welt bis zu einem bestimmten Punkt etwas Rätselhaftes dar, das naturwissenschaftlich nicht erfasst werden kann. Sie glauben an eine prinzipielle Trennung von Gehirn und Gedankenwelt. Wenn Ihr Punktestand unter null liegt, dann glauben Sie hingegen eher, dass eine Vermessung der Hirnaktivität tatsächlich weitgehend oder sogar vollständig Aufschluss über unsere Gedanken geben kann. Diese Position nennt man Monismus (etwa »Lehre von der Einheit«).6

Es dürfte nicht überraschen, dass Neurowissenschaftler zum Monismus neigen. Bei der Berufswahl liegt das nahe. Auch wenn es beim Verständnis des menschlichen Gehirns noch viele offene Fragen gibt, ändert das für Hirnforscher nichts an der Grundannahme, dass Geist und Materie prinzipiell untrennbar miteinander verbunden sind. Doch die breite Bevölkerung hat darüber offensichtlich andere Ansichten. Übrigens nicht nur die Deutschen; auch in Amerika und Singapur, wo wir ähnliche Umfragen durchgeführt haben, erwiesen sich die meisten Menschen als Dualisten.

Als Hirnforscher rieb ich mir bei diesen Ergebnissen verwundert die Augen: Wie konnte das sein? Die Öffentlichkeit hat doch offensichtlich höchste Erwartungen an die Neurowissenschaft und erhofft sich von meinem Fach Antworten auf die großen Rätsel des menschlichen Daseins. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein Kollege in einer Talkshow auftritt. Ich bin schon zu allen erdenklichen Themen befragt worden. Als Hirnforscher soll ich dann erklären, wie man seine Kinder erziehen, mit seinem Partner glücklich und im Beruf erfolgreich werden kann. Oder ich soll dazu Stellung nehmen, ob Kriminelle überhaupt für ihre Taten verantwortlich zu machen sind. Ständig bekomme ich solche Fragen gestellt, und immer steht die Hoffnung dahinter, die Hirnforschung könne eindeutige Erklärungen für die Mysterien des menschlichen Geistes liefern. In allen denkbaren Bereichen sind Hirnforscher in den letzten Jahren als Experten gefragt worden – als habe jedwedes Problem eine neurowissenschaftliche Grundlage, sei es in Wirtschaftsunternehmen oder in der Schule, in der Philosophie oder anderen Geisteswissenschaften. Es ist schick, einem Fachgebiet ein »Neuro« voranzustellen. So ist jüngst gar von Neurosoziologie und Neurotheologie die Rede, an Neurodidaktik und Neuromarketing hat man sich schon gewöhnt. Hinter all diesen Kreationen verbirgt sich die Hoffnung, die Neurowissenschaft könne Mittel und Wege aufzeigen, wie menschliches Verhalten zu verstehen und zu verändern ist – auf welche Weise etwa Schüler endlich effektiv ihren Lehrstoff pauken können oder Konsumenten zum Kauf eines bestimmten Produkts zu bringen sind.

Wie aber ist eine derartige Erwartungshaltung vereinbar mit dem weit verbreiteten Zweifel an der Erklärungsmacht der Neurowissenschaft? Offenbaren solche Hoffnungen nicht den Glauben daran, dass sich der Geist entschlüsseln lässt, wenn man die Mechanismen des Gehirns erst einmal richtig verstanden hat? Und wie passt das zu den Ergebnissen unserer Umfrage, wonach die meisten unserer Zeitgenossen Dualisten sind und den Geist für etwas Nichtkörperliches halten, das die Naturwissenschaft gar nicht oder kaum erfassen kann?

Vielleicht legt die Intuition uns erst einmal einen Riss zwischen Leib und Seele nahe, weil sich geistige und körperliche Aspekte unserer Welt so stark voneinander unterscheiden. Gedanken scheinen etwas ganz anderes zu sein als Prozesse in unserem Körper, sie scheinen völlig verschiedenen Sphären anzugehören. Ein Schmerz fühlt sich auf eine bestimmte Art und Weise an: Er ist unangenehm, stechend oder bohrend, wir wollen etwas gegen ihn unternehmen. Aber an der Aktivität von Nervenzellen in unserem Gehirn ist nichts Unangenehmes, Stechendes, Bohrendes. Sie sind einfach körperliche Vorgänge, wieso sollten sie sich also auf eine bestimmte Weise »anfühlen«?

Außerdem bekommen wir von vielen körperlichen Vorgängen gar nichts mit. Wir spüren nicht, wie die Leber ihre Entgiftungsarbeit leistet. Wir haben kein Gefühl dafür, ob sie heute gute Dienste verrichtet. Und wenn sie mal schlecht arbeitet, entsteht in uns kein dringendes Bedürfnis, etwas dagegen zu tun, anders als beim Schmerz. Wir brauchen in der Regel einen Arzt, damit wir von den schlechten Leberwerten in unserem Blutbild erfahren. Erst die Konsequenzen einer Fehlfunktion, wie etwa die Vergiftungserscheinungen, bemerken wir. Die Vorgänge in der Leber selbst bleiben uns aber verborgen.

Die Prozesse in unserer Leber sind stofflicher Natur. Sie bestehen aus Materie, letztlich aus Zellen und noch kleineren Grundbausteinen, die wie bei einer Maschine ineinandergreifen. Eine solche Sichtweise akzeptieren wir, ohne zu zögern. Gedanken jedoch für stoffliche Vorgänge zu halten fällt uns schwer. Sie scheinen nicht materiell, man kann sie nicht wie etwas Körperliches in ihre Einzelteile zerlegen. Man kann sich Gedanken auch nicht wie eine Maschine vorstellen, deren Bauteile mechanisch ineinandergreifen. Es scheint uns unmöglich, einen stechenden Schulterschmerz oder ein euphorisierendes Frühlingsgefühl zu vermessen, ganz einfach, weil diese Erlebnisse in der materiellen Welt nicht greifbar sind.

Aber vielleicht glauben wir nicht nur deswegen an eine Trennung von Körper und Geist, weil beide Sphären so unterschiedlich erscheinen. Es könnte noch einen weiteren gewichtigen Grund geben: Dieser Glaube kann uns nämlich über die Endlichkeit der eigenen Existenz hinwegtrösten. Denn wäre unsere Seele vollständig durch das Gehirn erklärbar, würde dann nicht der Tod, der das Ende unserer Hirnprozesse herbeiführt, auch das Ende unserer ganzen Gedankenwelt bedeuten? Wie soll man sich eine posthume Weiterexistenz unseres Geistes vorstellen, wenn die Monisten recht haben und er untrennbar mit dem Körper verbunden ist? Der Glaube an eine Trennung von Gehirn und Geist kann hingegen ein wenig Trost spenden – und das tut er, wie wir gleich sehen werden, bereits seit der Antike.

Kapitel 2
Geist und Gehirn:
Ein Rätsel seit der Antike

Die Idee einer Trennung von Gedanken- und Körperwelt durchzieht das abendländische Denken wie kaum eine andere. Ihren Ursprung kann man zumindest bis zum griechischen Philosophen Platon ins vierte vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen. In einem seiner großen Dialoge lässt er den Philosophen Phaidon, wie er selbst Schüler von Sokrates, von Gesprächen mit dem Lehrmeister berichten, die er unmittelbar vor der Vollstreckung von dessen Todesurteil führte. Im Angesicht des Todes diskutiert Sokrates mit Freunden und Schülern über das Verhältnis von Leib und Seele. Sokrates sieht dem Tod gelassen entgegen, er begreift ihn als Befreiung. Denn für ihn gibt es – wie für die Teilnehmer unserer Umfrage – eine prinzipielle Trennung zwischen der sterblichen körperlichen Hülle und dem – wie er glaubt – unsterblichen Geist. Leib und Seele existieren nach Sokrates zwar getrennt voneinander, können sich aber immerhin für eine gewisse Zeit – so lange nämlich, wie ein Mensch lebt – ineinander verschlingen und voneinander abhängig werden; vor allem dann, wenn der Geist körperlichen Lastern frönt.

Sokrates hat keine Angst vor dem unmittelbar bevorstehenden Tod, denn sein tugendhaftes Leben habe seinen Geist davon abgehalten, sich allzu eng mit seiner körperlichen Hülle zu verbinden. Tugendhaft ist ein Leben nach Sokrates dann, wenn man seine Erdentage dem Philosophieren und nicht etwa der Völlerei widmet. Denn durch die Philosophie lerne die Seele, »in sich selbst gesammelt«7 zu bleiben und sich nicht zu sehr von den körperlichen Bedürfnissen abhängig zu machen. Sokrates erwartet denn auch, dass sich nach seinem Tod seine Seele leicht von seinem Körper ablösen werde und ihre Reise ins Jenseits antreten könne. Da ihm so gesehen mit der Seele das Wichtigste bleibt, wenn der Tod seinen Leib erfasst, zeigt er keinerlei Angst oder Zweifel.

Anders allerdings wird es Sokrates zufolge jenen ergehen, die sich zu Lebzeiten nicht der Tugend und Wahrheitsliebe verpflichtet fühlten, sondern ihrer Seele freimütig Umgang mit dem Leib erlaubten und sich »ohne alle Scheu der Völlerei und des Übermuts und Trunkes befleißigten«.8 Nach dem Tod werden diese Seelen für ihre Verdorbenheit bezahlen, da der Geist sich so eng mit der niederen Körperwelt verschlungen hat, wird ihm die Ablösung nicht gelingen. Er wird immer wieder zurückgezogen in die materielle Welt und muss, statt in Freiheit fortzufliegen, in der Nähe der Gebeine auf dem Friedhof herumschleichen, wo »daher auch allerlei dunkle Erscheinungen von Seelen gesehen worden sind«.9

Diese dualistische, körperfeindliche Philosophie Platons, die er seinem Lehrmeister Sokrates in den Mund legt, wird später bestens mit der christlichen Lehre von dem ohne körperliche Befleckung gezeugten Gottessohn harmonieren, nach der die Seele nach ihrer irdischen Existenz – zumindest im Volksglauben – auch in eine parallele Welt entschwindet.10 So wurde der Dualismus zu einer Grundüberzeugung der abendländischen Kultur, und diese scheint, wie unsere Umfrageergebnisse nahelegen, bis in die Gegenwart fortzuwirken.

Bereits viele Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung, im Neolithikum, scheinen die Menschen an eine Trennung von Körper und Geist geglaubt zu haben. Gräber aus dieser Zeit weisen oft in Stein gehauene runde Öffnungen auf. Sie werden vielfach als »Seelenlöcher« interpretiert, die angebracht wurden, damit die Seele des Verstorbenen aus dem Grab entweichen konnte. Da die damaligen Kulturen über keine Schrift verfügten, sind solche retrospektiven Deutungen natürlich spekulativ. Aber ähnliche Funde von Löchern, die für die Seelen vorgesehen wurden, sind in vielen Regionen der Welt gemacht worden, und zwar in verschiedenen historischen Epochen. Alte Holzhäuser im Alpenraum haben oft eine verschließbare Öffnung in der Wand, das sogenannte Seelenfenster (auch Seelenbalken, Seelenglotz oder Seelabalgga). Kurz vor dem Tod eines Menschen wurde es geöffnet, damit die Seele des Sterbenden fortfliegen konnte. Wenn man die kleinen flachen Öffnungen sieht, kann man froh sein, dass nur die Seele da hindurch musste. Einem menschlichen Körper würde das nicht gelingen. Noch heute wird in zahlreichen Kulturen und bisweilen auch in Krankenhäusern nach dem Tod eines Patienten ein Fenster geöffnet, damit dessen Seele entweichen kann. Gemäß einer gängigen Vorstellung von Exorzisten können sich womöglich sogar mehrere Seelen in einem Körper befinden, wenn etwa ein Geist von einem Dämon besessen ist.

Das macht deutlich: Sokrates war mit seinen dualistischen Vorstellungen nicht allein. Der Glaube an eine prinzipielle Trennung von Leib und Seele durchzieht weite Teile der Menschheitsgeschichte. Was nun sagt die Wissenschaft dazu? Gibt es Belege für eine Unabhängigkeit von Leib und Seele? Und wenn sie trennbar sind, wie funktioniert dann der Austausch zwischen Geist und Körper? Was passiert, wenn wir zögernd auf dem Zehnmeterbrett im Schwimmbad stehen? Wir haben den Eindruck, dass wir im Kämmerlein unserer Gedanken zunächst den Entschluss fassen und uns dann in einem zweiten Schritt bewegen und springen. Aber wie kann eine solche Entscheidung im Geist die tatsächliche Bewegung des Körpers verursachen, wenn es sich um verschiedene Seinssphären handelt? Wie kann etwas Nichtstoffliches wie der Gedanke auf etwas Stoffliches wie den Körper einwirken? Wenn man die Verhältnisse umkehrt, wird es nicht weniger paradox: Wie können materielle, also stoffliche Ursachen geistige, also nichtstoffliche Wirkungen hervorrufen? Wenn Geist und Körper prinzipiell getrennt sind, wie kann es dann passieren, dass man einen Wespenstich, also einen körperlichen Vorgang, überhaupt bemerkt? Dazu müsste etwas, das im Körper – genauer: auf der Haut – registriert wird, in die Gedankenwelt weitergeleitet werden. Aber wie soll dieser Austausch zwischen den beiden scheinbar getrennten Sphären vonstattengehen?

Der Naturforscher und Philosoph René Descartes versuchte im 17. Jahrhundert als einer der Ersten, dieses Rätsel mit wissenschaftlichen Methoden zu lösen.11 Descartes behauptete – ähnlich wie Platon 2000 Jahre zuvor –, im Universum gäbe es nicht eine einzige, sondern zwei grundsätzlich verschiedene Substanzen. Auf der einen Seite sah er die Welt der materiellen Dinge, die sich allesamt durch ihre körperliche Ausdehnung auszeichneten. Deswegen nannte er sie auch Res extensa (ausgedehnte Substanz). Im Gegensatz dazu stand die geistige Welt, die nicht ausgedehnt ist. Ein Gedanke hat keinen Ort, man kann ihn nicht festnageln wie ein Brett auf dem Dach, er ist überall und nirgends. So trennte Descartes das Geistige vom Materiellen und gab ihm die Bezeichnung Res cogitans (denkende Substanz).

Die denkende Substanz war für den Katholiken Descartes göttlichen Ursprungs, weswegen wir Menschen sie auch nicht in ihrer Komplexität erfassen könnten. Anders die dingliche, ausgedehnte Welt; diese sei in all ihren Facetten erkennbar – zumindest prinzipiell. Descartes stellte sie sich wie eine Maschine vor: gewaltig in ihren Dimensionen und hochkomplex in ihren Funktionen, aber letztlich durchschaubar wie jene trickreichen Mechanismen, die in den Gärten der Fürsten seiner Zeit die Wasserspiele virtuos sprudeln ließen. Selbst der von Gott ertüftelte menschliche Körper, also auch die oben erwähnte Leber, machte für Descartes da keine Ausnahme: »Ich stelle mir vor, dass der Körper nichts anderes sei als eine Maschine aus Erde.«12

Dann aber kam Prinzessin Elisabeth von der Pfalz. Als eifrige Schülerin von Descartes führte sie ihren Meister mutmaßlich an seine emotionalen, in jedem Fall aber an seine intellektuellen Grenzen. Wie könne es eigentlich sein, so ihre Frage, dass jene beiden von ihm beschriebenen Substanzen miteinander in Wechselwirkung treten? Diese Frage zielte direkt ins Herz von Descartes’ Lehre. Sei es denn nicht gerade das Wesen von Substanzen, getrennt und unabhängig voneinander zu existieren? Wie aber soll es dann möglich sein, dass sie im Menschen doch offensichtlich tagein, tagaus interagieren?

Tja, wie war das möglich? Descartes hatte auf diesen Einwand der Prinzessin spontan »keine saubere Lösung parat«13. Das konnte der renommierte Gelehrte natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Auf der Suche nach einer Erklärung nahm er an mehreren Obduktionen menschlicher Körper teil. Besonders das Gehirn interessierte ihn, denn bereits viele Denker der Antike hatten vermutetet, dieses Organ sei für unsere Seele entscheidend (Aristoteles zählte da zu den wenigen Ausnahmen). Doch die meisten Strukturen in diesem komplizierten Gebilde gab es zweimal, da das Gehirn aus zwei Hälften besteht. Die göttliche Seele aber war ungeteilt und musste deshalb einen exklusiven, nur einmal vorhandenen Sitz haben.

In der Tat fand Descartes schließlich eine Struktur, die seine Suchkriterien erfüllte und bereits seit der Antike als Schnittstelle zwischen Gehirn und Seele im Gespräch war: die Zirbeldrüse, eine kleine Struktur, tief verborgen auf der Mittellinie des Gehirns. Sie sieht aus wie ein kleiner Pinienzapfen (deshalb heißt sie lateinisch glandula pinealis) und kommt nur in einfacher Ausgabe vor, das heißt, sie wird von beiden Hirnhälften gemeinsam genutzt. Descartes sah in ihr die Schnittstelle zwischen Seele und Körper.14 Getreu seiner Konzeption des Menschen als Maschine erklärte Descartes die Wirkungsweise der Zirbeldrüse streng mechanisch. Sie spielt bei ihm die Rolle eines Portals oder einer Schnittstelle, an der sich geistige und körperliche Welt begegnen können. Die Seele sei mit der kleinen Hirndrüse eng verbunden und könne sie in geeigneter Weise bewegen. Wie der Puppenspieler an den Fäden seiner Marionette ziehe die Zirbeldrüse am Geflecht der Nerven und erziele so jede erwünschte Wirkung: »Umgekehrt ist auch die Maschine unseres Körpers so konstruiert, dass allein daraus, dass diese Drüse unterschiedlich durch die Seele oder eine andere Ursache bewegt ist, sie die umgebenden Lebensgeister in die Poren des Hirns schickt, die sie durch die Nerven in die Muskeln weiterleiten, mittels deren sie dann die Glieder bewegen.«15

Elisabeth von der Pfalz scheint sich mit Descartes’ Theorie vom Zusammenwirken der Seele mit dem Körper zufrieden gegeben zu haben. Jedenfalls blieb sie ihrem Lehrer bis an sein Lebensende verbunden, und dieser widmete ihr seine Schrift mit dem beredten Titel Die Leidenschaften der Seele.

Viele andere Gelehrte konnten schon zu Descartes’ Lebzeiten nicht fassen, warum es dem großen Denker ausgerechnet die kleine Zirbeldrüse angetan hatte. Sie äußerten ihren Spott recht unverhohlen. Descartes’ Vorstellungen vom Gehirn galten bald als überholt, auch seine Zirbeldrüsentheorie war schnell ausgemustert.16 Bei anatomischen Untersuchungen wurde die zapfenförmige Hirndrüse auch in den Gehirnen verschiedener anderer Säugetiere nachgewiesen. Da stellte sich natürlich die Frage, wie die Zirbeldrüse die Schnittstelle zur göttlichen Seele sein könne, wenn sie auch bei Tieren vorkommt, die nach damaliger Ansicht keine göttliche Seele ihr Eigen nennen durften. Dieses Argument spielt heute keine Rolle mehr, weil man auch Tieren wenn nicht eine Seele, so doch zumindest Bewusstsein und, unter Umständen, sogar einfachere Formen des Denkens zubilligt.