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Dipl.-Musiktherapeutin Martina Baumann, Heidelberg, Hypnotherapeutin (M. E. I.), KörperMusikerin (Liestal, CH), ist in Palliative Care, in einer psychosomatischen Klinik sowie in Seminararbeit und Weiterbildung tätig. Als professionelle Musikerin aktiv. E-Mail: martinasophiebaumann@gmx.de; www.koerpermusik-heidelberg.de

Dipl.-Psych., Dipl.-Gerontol. Dorothea Bünemann, Heidelberg, ist als Musiktherapeutin und Gestalttherapeutin (DVG) psychotherapeutisch (HP) in verschiedenen klinischen Institutionen, in eigener Praxis und in der Weiterbildung tätig. E-Mail: dbuenemann@gmx.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02955-6 (Print)

ISBN 978-3-497-61365-6 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61366-3 (EPUB)

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Covermotiv: Gustav Klimt, La musique (Ausschnitt)

Fotos im Innenteil von Martina Baumann, Heidelberg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Geleitwort von Rolf Verres

Vorwort der Autorinnen

Einleitung (Martina Baumann & Dorothea Bünemann)

1 Sterben, Tod und Trauer in der Musik (Dorothea Bünemann)

Musik als schöpferische, sinngebende Bewältigung von Trauer

2 Symptomatik und Leiden unheilbar erkrankter Menschen (Dorothea Bünemann)

Die unheilbare, lebensbedrohliche Erkrankung ein traumatisches Erleben

3 Palliative Care und Musiktherapie (Dorothea Bünemann & Martina Baumann)

Zur Geschichte von Palliative Care

Die wichtigsten Leitsätze der Hospizarbeit und Palliativmedizin

Musiktherapie in Palliative Care

Musiktherapie im Forschungsprojekt „Netzwerk achtsame Sterbekultur“ (Martina Baumann)

4 Musiktherapie im institutionellen Zusammenspiel (Martina Baumann)

Zusammenspiel braucht Zeit

Drei hilfreiche Grundhaltungen für den Anfang

Wie Zusammenarbeit gelingt

Resonanz in der Begegnung von Mensch zu Mensch

Wie Behandlungsaufträge entstehen (Dorothea Bünemann)

5 Die „Holy Seven“ – die 7 musiktherapeutischen Bausteine (Martina Baumann & Dorothea Bünemann)

Sprache und Gespräch

Lieder

Klangreisen

Improvisationen

Tonträger

Musiktherapie ohne Musik

Atmosphären im öffentlichen Raum (Martina Baumann)

6 „Besondere Menschen“ (Dorothea Bünemann)

Das kollektive Trauma der Nazizeit

Der dementiell erkrankte Mensch

Die Angehörigen

Künstler und Lebenskünstler (Martina Baumann)

7 Spiritualität und Musiktherapie (Martina Baumann)

Spirituelle Fürsorge im Palliativbereich

Musiktherapie als Bindeglied zwischen psychosozialer und spiritueller Begleitung

Spirituelles Erleben in Liedern

Singen vor, während oder nach dem Sterben

Klänge können spirituelle Ressourcen wecken

Fallen und geborgen sein

8 Hilfreiche innere Haltungen (Dorothea Bünemann & Martina Baumann)

Absichtsvolle Absichtslosigkeit

Aufsuchen

Flexibel sein in Raum und Zeit

Im Hier und Jetzt sein

Fragmentarisches Arbeiten

Freie Improvisation im Schwebezustand

Ein Geheimnis lassen

Mut zur eigenen Lebensenergie

Abschließende Gedanken (Martina Baumann & Dorothea Bünemann)

Literatur

Sachregister

Geleitwort von Rolf Verres

Das Zusammenspiel von Schönheit und Mitgefühl

In der wissenschaftlichen Medizin werden die Phänomene der geistig-seelischen Welt vor allem unter dem Aspekt betrachtet, wie man sie funktionalisieren, also unter möglichst sichere Kontrolle bringen kann. Neben dem Denken und Fühlen gibt es aber eine weitere Dimension der geistig-seelischen Welt, die mit Begriffen wie Phantasie, Kultur, Philosophie, Glaube, Musik, Theater, Malerei, Dichtung, Zauberei und Liebe beschrieben wird, vielleicht auch als Bedürfnis nach Aufgehoben sein in einem größeren Ganzen.

Man könnte auch von einer Tiefendimension der Heilkunst sprechen. Sie wird besonders deutlich spürbar, wenn Menschen ein Grundgefühl des gegenseitigen Vertrauens gewonnen haben. Gerade wenn es um das Loslassen geht, liegt die besondere Kraft der Musik darin, „Begleitschutz“ zu geben. Musik kann uns Menschen verzaubern.

Die Autorinnen Martina Baumann und Dorothea Bünemann geben in diesem Buch einen fundierten Einblick in die Möglichkeiten, im Einzelfall behutsam herauszufinden, welche Musik für welche Menschen in welcher Situation heilsam wirken könnte. Sie zeigen, dass dies nur auf der Grundlage einer guten zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung möglich ist, die ihrerseits auch durch das gemeinsame Musikerleben intensiviert werden kann.

Dabei geht es nicht nur um die jeweils einmalige Beziehung zwischen ­einem schwer kranken Menschen und einer Therapeutin. Auch von der Atmosphäre im betreffenden Haus hängt es ab, ob harmonisierende Energien vom ganzen Team mitgetragen werden. Wer in einem Hospiz oder einer anderen palliativmedizinischen Einrichtung Musiktherapie anbietet, beeinflusst die Atmosphäre als Ganzes, da jeder die Musik hören kann. Selbst wenn die Musiktherapeutin nur zeitweise kommt, lassen sich nachhaltige, wohltuende Wirkungen erzielen.

Mich persönlich beeindrucken besonders die Ausführungen der beiden Autorinnen zum „Zusammenspiel von Schönheit und Mitgefühl“. Manche Menschen glauben irrtümlich, Mitgefühl bedeute in erster Linie Mitleid. Schwer kranke Menschen haben aber auch Hoffnungen. Selbst wenn sie diese nicht mehr – wie zum Beispiel bei Demenz – ausdrücken können, brauchen sie nicht in erster Linie Mitleid, sondern eine möglichst freundliche Begleitung, die ihnen etwas mehr Sicherheit gibt. Wenn Martina Baumann und Dorothea Bünemann also von einem Zusammenspiel von Schönheit und Mitgefühl sprechen, machen sie uns bewusst, dass in einer achtsamen Begegnung tatsächlich Schönheit als solche erlebt werden kann, selbst wenn Schmerzen oder Traurigkeit dabei sind.

Man könnte sogar von seelischer Zärtlichkeit sprechen, die jeden Beteiligten in seinem innersten Kern berührt und uns immer wieder an unsere ursprüngliche Liebesfähigkeit erinnert, die wir in der Geschäftigkeit des Alltagslebens allzu oft vergessen.

Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat darauf aufmerksam gemacht, dass man die Kunst des Liebens dann am besten erlernen kann, wenn man sich von dem Wunsch frei macht, geliebt werden zu wollen, und stattdessen die eigene Fähigkeit zu lieben zur Hauptsache erklärt. Verschiedene Untersuchungen haben ergeben, dass ein Empfinden des Ausgebranntseins (Burn-Out Syndrom) in palliativmedizinischen Einrichtungen seltener vorkommt als in den meisten Kliniken der kurativen Medizin. Damit soll nicht gesagt werden, die Arbeit mit schwerstkranken Menschen in der Palliativmedizin oder im Hospiz sei einfacher als die Arbeit in sonstigen Krankenhäusern. Das Geheimnis dürfte wohl darin liegen, dass man gerade dann, wenn man sich einem Menschen in einer existenziellen Notsituation zuwendet und ihm Erleichterung zu verschaffen versucht, auch seine eigene Kraft besonders gut spüren kann. Auch die Helferin „profitiert“ von der Musik, sie ist Mitgestalterin eines wohltuenden Resonanzfeldes, in dem sie sich auch selbst gut aufgehoben fühlen kann.

Die meisten Menschen meinen, Liebe sei in erster Linie ein „gerichtetes“ Phänomen: vom Anderen zu mir oder von mir zum Anderen. Sie kann aber auch ein „ungerichtetes“ Gefühl sein, ein transpersonales Phänomen des Verbundenseins. Das Empfinden von Liebe kann durch eine Aktivität ausgelöst werden, aber eigentlich kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob hier ein gerichteter Energiefluss angenommen wird. Kommt in einer Situation von Achtsamkeit gut ausgewählte Musik hinzu, wird noch eine weitere Kraft wirksam, die nicht zuletzt auch mit der Liebesfähigkeit der Schöpfer dieser Musik zu tun hat, für die wir dankbar sein können.

Das Buch ging unter anderem aus unserem Heidelberger „Netzwerk achtsame Sterbekultur“ hervor. Wird Achtsamkeit praktiziert, entsteht ganz allmählich eine meditative Haltung im Leben. Dann können wir vielleicht da­rüber staunen, dass es möglich ist, die Gegenwart der Musen in allem was lebt zu spüren, und damit auch in uns selbst.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Rolf Verres

Ärztlicher Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin der Heidelberger Universitätsklinik

Vorwort der Autorinnen

Wie kommt es zu diesem Buch? Die Entstehung dieses Buches speist sich aus unterschiedlichen Quellen. Der Grundstein wurde durch meine, Martina Baumanns, Mitarbeit in dem von Dr. Eva Saalfrank und Prof. Dr. Rolf Verres geleiteten Forschungsprojekt „Netzwerk achtsame Sterbekultur“ an der Universität Heidelberg gelegt. Rolf Verres unterstützte mich dabei, meinen Abschlussbericht „Musiktherapie für Sterbende und ihre Begleiter“ der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und für ein Buch zu überarbeiten. Durch sein Engagement und seine Ermutigung entstand die Verbindung mit dem Ernst Reinhardt Verlag.

Seit vielen Jahren sind wir, die Autorinnen Dorothea Bünemann und Martina Baumann, im regen Austausch über unsere musiktherapeutische Arbeit mit schwerstkranken und sterbenden Menschen. Die Früchte unserer kreativen und anregenden Treffen standen unter dem Motto: „Zusammen ist man weniger alleine.“ So entstand auch vor einem Jahr die Idee, eine fortlaufende Fortbildung für „Musiktherapie in der Sterbebegleitung“ ins Leben zu rufen, die im Frühjahr 2009 in Heidelberg begonnen hat. Es bot sich an, den genannten Bericht ebenfalls nach dem obigen Motto zu überarbeiten. Unsere bewährte Zusammenarbeit erweiterte sich nun um das gemeinsame Buchprojekt.

Zum Schreiben haben wir immer wieder Inseln der Ruhe in landschaftlich schöner Umgebung aufgesucht, um in die Inselwelt der Hospizarbeit gedanklich einzutauchen. Wir haben das Festland des Alltagslebens in Heidelberg und unsere sonstigen alltäglichen Lebens- und Berufsfelder zeitweise hinter uns gelassen.

Wir blicken auf ein Jahr zurück, in dem wir uns mit den vielfältigen Facetten musiktherapeutischen Arbeitens in Palliative Care auseinandergesetzt haben. Dabei hatten wir immer wieder sehr unterschiedliche Positionen und unsere Zusammenarbeit war von kontroversen Diskussionen geprägt, wie zum Beispiel über den Begriff und die Bedeutung des Traumas einer lebensbedrohlichen Erkrankung: Ist die Sichtweise, dass eine lebensbedrohliche Erkrankung ein Trauma ist, überhaupt hilfreich für unsere Arbeit? Worauf fokussieren wir unsere Aufmerksamkeit bei schwerstkranken Menschen – auf die Krankheit oder auf die gesunden Inseln oder etwa auf beides? Oftmals stritten wir auch darüber, ob unsere Arbeit mit sterbenden Menschen als psychotherapeutische oder vielmehr als empathisch-musikalische Begleitung zu betrachten ist. Auch der heiligen Kuh „Spiritualität“ haben wir uns unterschiedlich angenähert.

Sogar unsere musikalischen Vorlieben gehen extrem weit auseinander. Wir haben es geschafft, uns mit unseren Unterschiedlichkeiten positiv zu beeinflussen. Im Ergebnis liegt nun ein Buch vor, das die Musiktherapie in der Sterbebegleitung aus vielen Blickwinkeln heraus beschreibt und vor allem durch ein illustres Spektrum an musikalischen Beispielen angereichert wird. Keine von uns beiden hätte allein solch ein Repertoire zu Verfügung stellen können. Für unsere respektvolle, freundschaftliche, kontroverse und liebevolle Zusammenarbeit sind wir einander dankbar.

Nun wollen wir auch den anderen von Herzen danken, die zum Gelingen des Buches beigetragen haben:

Uwe Loda für liebevolle Fürsorge und klaren Kopf in unklaren Augenblicken, anregende Gespräche und geduldiges Korrekturlesen, Prof. Dr. Rolf Verres für Förderung, Ermutigung und die Idee, ein Buch zu schreiben, Dr. Eva Saalfrank, der Initiatiorin des Projektes „Netzwerk achtsame Sterbekultur“, für wissenschaftliche und spirituelle Wegbereitung in die Arbeit mit sterbenden Menschen, Prof. Dr. Liz Nicolai für Anregungen zum systemisch-konstruktivistischen Denken und zum Thema Resilienz und unserer Lektorin Ulrike Landersdorfer vom Ernst Reinhardt Verlag für die ermutigenden Rückmeldungen.

Wir danken den Kollegen im Palliativbereich für Resonanz und Vertrauen, insbesondere Frank Schoeberl, Leiter des Hospizes Louise in Heidelberg, für Anregungen im Sinne integraler Zusammenarbeit. Den Betroffenen und ihren Angehörigen danken wir vor allem für ihre Bereitschaft, uns an ihrem Erleben teilhaben zu lassen.

Letztlich danken wir der Musik – unserer Schutzpatronin – mit einem Lied, das Franz Schubert, vertonte.

„An die Musik

Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden,

Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt,

Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden,

Hast mich in eine beßre Welt entrückt!

In eine beßre Welt entrückt!

Oft hat ein Seufzer, deiner Harf’entflossen,

Ein süßer, heiliger Akkord von Dir

Den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen,

Du holde Kunst, ich danke dir dafür!

(Text: Franz von Schober, 1796–1882;

Musik: Franz Schubert; 1797–1828)

Zum Schluss eine Anmerkung hinsichtlich unseres sprachlichen Umgangs mit geschlechtsspezifischen Endungen: Wir erlauben uns eine transparente Willkür zwischen beispielsweise: Ärzte, Musiktherapeutin, Patient etc. und sprechen damit grundsätzlich Interessierte beiderlei Geschlechts an.

Thülsfelder Talsperre, Ostern 2009

Martina Baumann

Dorothea Bünemann

Einleitung

Martina Baumann & Dorothea Bünemann

„Musik ist von höchster Wichtigkeit, weil Rhythmus und Harmonie machtvoll in das Innerste der Seele dringen.“ (Platon in Müller 2003, 66)

„Die Sensation war, dass es so etwas wie eine neurobiologische Resonanz gibt. Die Beobachtung einer durch einen anderen vollzogenen Handlung aktivierte im Beobachter […] ein eigenes neurobiologisches Programm, und zwar genau das Programm, das die beobachtete Handlung bei ihm selbst zur Ausführung bringen könnte.“ (Bauer 2006, 24)

Als Joachim Bauer, Internist, Psychiater und Facharzt für psychotherapeutische Medizin in dem Buch „Warum ich fühle, was du fühlst“ das Geheimnis der Spiegelneuronen und der neurobiologischen Resonanz erklärte, hätte sich Platon sicher gefreut. Musik dringt nicht nur in das „Innerste der Seele“, sondern wird sichtbar in unserem Gehirn. Wir können mit den sogenannten bildgebenden Verfahren (funktionelle Kernspintomographie und Positronen-Emissions-Tomographie, Bauer 2006, 24) beweisen, dass etwas Wunderbares geschieht, wenn wir Musik hören, vor allem dann, wenn wir etwas hören, das wir lieben, das uns erinnert, das uns zutiefst berührt. Wenn Musik erklingt, geschieht ein greifbares Feuerwerk neuronaler Vernetzung in unserem Gehirn; es geschieht Musik im Kopf (Spitzer 2014). Was wir als „dort draußen“ hören, findet als Simultangeschehen in unserem Inneren statt und gerät (vor allem wenn wir gerne und freiwillig hin-hören-wollen) mit uns in Resonanz und wird ein Teil von uns, unser Gehirn spielt mit und unser Körper schwingt mit. Resonanz ist ein musikalischer Begriff. Er kommt aus dem lateinischen und bedeutet Wiedererklingen oder Zurückerklingen. Zugleich ist Resonanz ein physikalisches Phänomen: Pythagoras untersuchte schwingende Saiten und stellte fest, dass diese andere Saiten zum Mitschwingen und zum Mitklingen bringen können (Bauer 2006, 23).

„Frau B. welche Musik wollen Sie hören?“ – „Spielen Sie einfach etwas Schönes.“ Hört ein körperlich schwerstkranker Mensch schöne Musik, und ist sie noch persönlich für ihn mit Gefühl gespielt, dann kann ein kleines Wunder geschehen – mitten im Alltag des Krankseins. Ein „Now-Moment“, so werden in der Resonanzforschung diese wundersamen Momente genannt (Gindl 2002). Dieses Zusammenspiel von Schönheit und emotionaler Resonanz kann Leiden nicht verhindern. Es kann jedoch einen Raum des Berührtseins durch Schönheit hineinbringen in das Leid und für einen Augenblick die Menschen verändern – die Betroffenen und deren Begleiter. Andererseits kann auch noch so schöne Musik erschütternde Gefühle auslösen. Diese Gefühle können – aufgehoben in einem liebevollen Kontext – als heilsame Katharsis erlebt werden, um dann auf eine Weise wieder aufzubauen.

„Musik ist die erhabenste Kunst, weil sie jede Seele zu erschüttern vermag.“ (Haydn) Musiktherapie hat sui generis neben vielen anderen Möglichkeiten das Potential, in ein Erleben von Schönheit und zugleich von Erschütterung hineinzuführen. Dieses Wechselspiel begegnet uns intensiv in unserer beruflichen Praxis.

In diesem Buch beschreiben wir musiktherapeutische Ansätze mit lebensbedrohlich irreversibel erkrankten Menschen, ihren Angehörigen und Begleitern. Wir wenden uns an Musiktherapeutinnen, (Kirchen-)Musikerinnen, Psychologinnen, Ärztinnen, Pflegepersonal, Seelsorgerinnen, sonstige Berufsgruppen in Palliative Care, ehrenamtlich Tätige und Betroffene.

Zum Aufbau des Buches

Die ersten drei Kapitel nähern sich dem Thema Sterben von verschiedenen Richtungen aus an. In Kapitel 1 wird veranschaulicht, dass es in der gesamten Musik eine Fülle von Beispielen gibt, in denen Sterben, Tod und Trauer be- und verarbeitet werden. Kapitel 2 thematisiert aus medizinischen und psychologischen Blickwinkeln die Symptomatik und das Leiden irreversibel lebensbedrohlich erkrankter Menschen. Die onkologische Erkrankung als traumatisches Erleben und ihre unterschiedlichen Auswirkungen finden dabei besondere Berücksichtigung. Kapitel 3 führt ein in die besondere Welt der Hospizarbeit und Palliativmedizin, genannt Palliative Care. Skizziert werden außerdem die musiktherapeutische Literatur und die Situation musiktherapeutisch Tätiger in diesem Bereich. Den Schluss des Kapitels bildet die ergebnisbezogene Darstellung der musiktherapeutischen Arbeit innerhalb des Forschungsprojektes „Netzwerk achtsame Sterbekultur“ an der Universität Heidelberg.

Wie Musiktherapie im institutionellen Zusammenspiel gut gelingen kann, wird anhand theoretischer Grundannahmen und zahlreicher Beispiele aus der Praxis in Kapitel 4 beschrieben. Musiktherapeutische Behandlungsaufträge als Mosaikstein des Zusammenspiels bilden den Abschluss des Kapitels.

Die folgenden zwei Kapitel behandeln methodische und praxisbezo­gene Themen. In Kapitel 5 stellen wir unsere musiktherapeutischen ­Bausteine vor – genannt „Die Holy Seven“. Eine Besonderheit stellt „Die Musik als ­Atmosphäre im öffentlichen Raum“ dar. In Kapitel 6 beschreiben wir in vielen Beispielen, wie unsere methodischen Ansätze in den Begegnungen mit alternden Menschen mit Kriegserinnerungen, dementiell Erkrankten, Angehörigen Betroffener und Künstlern Resonanz finden.

Unser Verständnis von Spiritualität in der Arbeit mit schwerstkranken und sterbenden Menschen wird in Kapitel 7 vorgestellt. Wir beschreiben anschließend Situationen, in denen Lieder und Klänge spirituelles Erleben und spirituelle Ressourcen Sterbender und auch ihrer Begleiter fördern und unterstützen.

Hinter all den methodischen, praktischen, theoretischen Überlegungen und Annahmen sind wir in unserem direkten Umgang in ganz besonderer Weise herausgefordert. Die 8 hilfreichen Haltungen, die wir in Kapitel 8 beschreiben, bilden den entscheidenden Hintergrund unserer musiktherapeutischen Arbeit in der Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen.

1 Sterben, Tod und Trauer in der Musik

Dorothea Bünemann

„Der Lindenbaum“

„Am Brunnen vor dem Tore,

Da steht ein Lindenbaum,

Ich träumt in seinem Schatten

So manchen süßen Traum.

Ich schnitt in seine Rinde

So manches liebe Wort.

Es zog in Freud und Leide

Zu ihm mich immer fort.

Ich musst auch heute wandern

Vorbei in tiefer Nacht

Da hab ich noch im Dunkel

Die Augen zugemacht.

Und seine Zweige rauschten,

Als riefen sie mir zu:

Komm her zu mir, Geselle

Hier find’st du deine Ruh’!

Die kalten Winde bliesen

Mir grad’ ins Angesicht,

Der Hut flog mir vom Kopfe,

Ich wendete mich nicht.

Nun bin ich manche Stunde

Entfernt von jenem Ort.

Und immer hör’ ich’s rauschen

Du fändest Ruhe dort.“

(Text: Wilhelm Müller, Melodie: Franz Schubert)

Herrn P. geht es sehr schlecht, er atmet ungleichmäßig, seine Augen schauen mich angstvoll an. Seine Lebensgefährtin, die ihn liebevoll begleitet, bittet mich, für ihn den Lindenbaum, eines seiner Lieblingslieder zu singen. Beim Singen der ersten Zeilen schaut Herr P. aufmerksam zu mir herüber und lehnt sich langsam zurück. „Da hab ich noch im Dunkel die Augen zugemacht.“ Herr P. schließt seine Augen und formt mit seinen Lippen den Text mit. Am Ende der dritten Strophe: „und immer hör’ ich’s rauschen du fändest Ruhe dort“ ist die Stimmung im Raum so merkwürdig und eindrücklich ruhig, als könne jederzeit sein Leben zu Ende gehen.

Der Lindenbaum ist eines der berühmtesten deutschen Volkslieder, welches Franz Schubert in seinem Liederzyklus „Die Winterreise“ nach dem Text von Wilhelm Müller am Ende seines Lebens (1827) als Kunstlied komponiert hat und das in volksliedhafter Version nach F. Silcher sehr viel Verbreitung gefunden hat. Dieses Lied, das sich thematisch auf Abschied, Sterben und Tod bezieht, wird erfahrungsgemäß im Palliativbereich insbesondere von älteren Menschen außerordentlich oft gewünscht und je nach Situation auch mitgesungen.

Von je her ist die Musik eines der künstlerischen Ausdrucksmittel schlechthin, das Zugang zu Emotionen schafft. „Unter den Emotionen ist es vor allem die Trauer, das Weinen, für das sich die Musik in besonderer Weise zuständig fühlt.“ (Leopold 2008, 3) Es gibt in der gesamten Musik eine unendliche Fülle von Beispielen, in denen Sterben, Tod und Trauer be- und verarbeitet werden. Um einige Beispiele zu nennen: die Passionen von Johann Sebastian Bach, „Ein Deutsches Requiem“ von Johannes Brahms, der Trauermarsch von Frederic Chopin, aus der Klaviersonate Op. 35 b-moll, „Der Schwan von Tuonela“ von Jean Sibelius etc. Viele – deutsche – Volkslieder haben das Thema Sterben, Tod und Trauer zum Inhalt („In einem kühlen Grunde“, „Im schönsten Wiesengrunde“, „Wahre Freundschaft soll nicht wanken“ etc.); ebenso wie Chansons (z. B. „Ne me quitte pas, Jacques Brel), Schlager (z. B. „Abschied ist ein scharfes Schwert“, Roger Whittaker), Pop / Rock (z. B. „Tears in heaven“ von Eric Clapton; „Der Weg“ von Herbert Grönemeyer) und Filmmusik (z. B. Filme wie „Spiel mir das Lied vom Tod“ oder „Schindlers Liste“). Nahezu jede Musikgattung kann Beispiele für den Ausdruck von Sterben, Tod und Trauer bereithalten.

Die Musik kann auch als Trösterin dienen, indem sie Gefühle ausdrückt, übermittelt und oftmals überhaupt erst zugänglich macht. Walter Bräutigam, der Heidelberger Psychosomatiker, beschrieb 1982 in einem Vortrag anlässlich der Einweihung der ersten Psychosomatischen Tagesklinik in der Bundesrepublik Deutschland in Bielefeld am Beispiel von Trauerbewältigungsritualen in Italien, welches der häufigste Hintergrund psychosomatischer Leiden in Deutschland sei: unverarbeitete Trauer.

„In unserer modernen Gesellschaft wird Trauer und der Ausdruck von Trauer mehr und mehr an den Rand der Wahrnehmung gedrückt, institutionalisiert und Fachleuten zur Versorgung und Betreuung übergeben.“(Jerneizig in Lang et al. 2006, 216)

Der Trend in unserer Kultur geht dahin, das Erleben der Trauer und die Trauerverarbeitung an Experten, Selbsterfahrungs- und Trauerritualgruppen zu adressieren. (Jerneizig in Lang et al. 2006) Im alltäglichen mitmenschlichen Umgang hat die Trauer wenig Platz. Hingegen kann die Musik, ob rezeptiv-empfangend oder aktiv-ausdrückend, ein Vehikel sein, Emotionen und Gedanken, die mit Trauer verbunden sind, Raum zu geben, für sich allein oder in der Gemeinschaft.

Musik als schöpferische, sinngebende Bewältigung von Trauer

Weltweit gibt es Rituale, in denen die Verarbeitung von Trauer und Verlust durch Trauergesänge praktiziert wird, wie z. B. bei den Maoris in Neuseeland, den Indios in Südamerika, bei Volksgruppen in Griechenland, Ungarn, Rumänien und Russland. Interessant ist die Tatsache, dass sich die Formen vokaler Klagelieder weltweit ähneln. (Bossinger 2006)

„Bedenklich sollte es uns meines Erachtens stimmen, dass solche Formen gemeinschaftlicher Trauer-Gesangs-Rituale in westlichen Gesellschaften weitgehend ausgestorben sind.“ (Bossinger 2006, 92)

Es gibt in der westlichen Kultur jedoch eine Fülle von Beispielen, in denen ihre „Schöpfer“ anlässlich des Todes eines ihnen nahe stehenden Menschen ihre Trauer ausgedrückt haben. Eric Clapton z. B. schrieb und sang den Song „Tears in heaven“, nachdem er seinen kleinen Sohn verloren hatte; Herbert Grönemeyer’s Lied „Der Weg“ entstand vor dem Hintergrund des Todes seiner Frau. Auch in der klassischen Musikliteratur finden sich Beispiele für Werke, die aus Verlusterfahrungen heraus komponiert wurden. Die Bachkantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“, auch Actus tragicus genannt, entstand – vermutlich – zum Gedenken an seinen Onkel, der für Johann Sebastian Bach Vaterersatz war und den er, 22-jährig, verlor. Vor allem „lässt er in der Sonatina durch ‚misstönende‘ Tonwiederholungen der Flöten die schmerzliche Wiederkehr desselben Gedankens im Sterbeprozess spürbar werden“ (Heymel 2006, 105). Leos Janacek komponierte die „Elegie“ nach dem Tod seiner Tochter.

Bekannt sind auch Musikstücke, die anlässlich des Todes berühmter Menschen komponiert oder auch neu arrangiert wurden. Paul Hindemith schrieb 1936 die Trauermusik für Bratsche und Orchester anlässlich des Todes von König Georg V von England, Witold Lutoslawski schrieb seine Trauermusik in Memoriam Bela Bartok 1958, und Krzysztof Penderecki widmete den Opfern von Hiroshima sein Werk „Threni“. Elton John sang sein (ursprünglich Marylin Monroe gewidmetes) Lied „Candle in the wind“, nunmehr als „Goodbye England’s Rose“ bekannt, im Begräbnisgottesdienst für Diana, Princess of Wales, 1997. So trivial es klingen mag: Elton Johns persönliches Abschiedslied, „in dem Millionen andere Menschen ihre Gefühle der Trauer […] wiederfanden“ (Heymel 2006, 207), steht exemplarisch für die enorme Wirkung, die Trauermusik auslösen kann – vor allem in der Erfahrung des gemeinsamen Erlebens.

Ob die Musik, die oben beschrieben wurde, Menschen in Trauer- und Abschiedsprozessen erreicht und als gar unterstützend, begleitend erlebt wird, hängt sehr von individuellen Erfahrungen und Hörgewohnheiten ab. „Trauermusik“ kann dem Hörenden, den Betroffenen ihr emotionales Erleben spiegelnd wiedergeben, in vielleicht kindlicher Weise ausgedrückt: „Die Musik versteht mich“. Sie vermag aber auch mögliche innere Starre aufzuweichen und Gefühle auszulösen. Die Umgebung, in der die Musik gehört wird, trägt ebenso zum Verarbeiten bei (z. B. auf MP3-Player in der S-Bahn, allein auf der Wohnzimmercouch, gemeinsam im Konzertsaal oder im Trauergottesdienst). Das Erleben der „Trauermusik“ kann wie das Erleben von Trauer zurückgezogen im privaten Raum oder in der Gemeinschaft vollzogen werden.

Die Musik als Trösterin birgt ein großes Potential in sich. Ob die „Trauermusik“ tröstende Wirkung hat, kann allerdings nur individuell beantwortet werden.

„Musik kann trösten, wenn in ihr etwas erklingt, was die Person des Leidenden an einen Ort außerhalb seiner selbst versetzt, wo er oder sie ein neues Verhältnis […] zu sich selbst gewinnen und wieder aufatmen kann.“ (Heymel 2004, 337)

Wann und welche Musik für Betroffene, Trauernde tröstend erlebt werden kann, lässt sich nur beantworten, „wenn verschiedene Faktoren des individuellen Musikerlebens und der individuellen Trauerverarbeitung berücksichtigt werden. Es gibt keine musikalische ‚Hausapotheke‘, aus der man Trauermusik nach Rezept verschreiben kann.“ (S. 351)

Zum Schluss ein paar Zeilen einer Betroffenen, die ihr Erleben von Musik als Trösterin eindrucksvoll formuliert:

„Es gibt keine einsamen und schwierigen Stunden ohne Musik als meinen Gefährten und Tröster.“ „Musik ist auch meine Verbindung zu ihm (ihrem Mann, Anmerkung der Verfasserin) […] die nicht wehtut.“ „Die Musik kann den Schmerz nicht zum Verschwinden bringen, aber sie lindert ihn und macht ihn erträglich.“ „Musik verlässt Dich nie, aber Du kannst Dich ganz in ihr verlieren ohne Angst, vernichtet zu werden.“ (Munro 1986, 9)

2 Symptomatik und Leiden unheilbar erkrankter Menschen

Dorothea Bünemann