Identitätspolitiken
Konzepte und Kritiken in Geschichte
und Gegenwart der Linken
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Lea Susemichel & Jens Kastner
Identitätspolitiken
2. Auflage, März 2020
ebook UNRAST Verlag, April 2020
ISBN 978-3-95405-057-4
© UNRAST Verlag, Münster
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Satz: Andreas Hollender, Köln
Umschlag: kv, Berlin
»Identitätspolitik ist erst der Anfang«
Einleitung
2. »Alles war miteinander verbunden«
Identitätspolitiken und Klassenkampf
3. »Bedingung der Freiheit« & »Prinzip des Determinismus«
Zur Genese des Begriffs der (kollektiven) Identität
4. »… konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst.«
Identitätspolitiken in der ArbeiterInnenbewegung
5. Exkurs: »… den Sklaven ein Gewand geben«
Identität & Sichtbarkeit
6. »… eine neue Artikulation von Schwarzsein«
Identitätspolitik und Black Liberation
7. »Kein Wesen, sondern eine Positionierung«
Von den Postcolonial und Cultural Studies zur Kritik an kultureller Aneignung
8. Exkurs: »Die Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr«
Linker Nationalismus als Identitätspolitik
9. »Bin ich etwa keine Frau?!«
Das fragile feministische Wir
10. »Die Begierde, nicht dermaßen identifiziert zu werden«
Die Identitätskritik der Queer Theorie
11. »… und die Absage an Dominanz«
Gegen Individualisierung, für Solidarität
Literatur
Lea Susemichel ist leitende Redakteurin von an.schläge. Das feministische Magazin. Jens Kastner ist Soziologe und Kunsthistoriker und unterrichtet an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Auch wenn es Identitätspolitik freilich vorher schon gegeben hat: Den Begriff ›Identitätspolitik‹ hat erst das Combahee River Collective 1977 geprägt. In einem programmatischen Statement hat dieses Kollektiv Schwarzer, lesbischer Frauen verkündet: »Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potenziell radikalste Politik direkt aus unserer eigenen Identität kommt«.[1] Damit war gemeint, dass sich die spezifische Unterdrückungserfahrung, die sie als Schwarze Lesben konkret erfuhren, auch gemeinsam aus ihrer konkreten Situation als Schwarze Lesben heraus am besten bekämpfen ließ.
Das Combahee River Collective demonstriert in mehrerlei Hinsicht beispielhaft, was emanzipatorische Identitätspolitik ausmacht – und wo ihre Probleme und Fallstricke liegen.
In einer linken Politik, die sich vornehmlich auf den männlichen Industriearbeiter als Modellfigur des Proletariats bezieht, erkannten sich die Schwarzen lesbischen Frauen nicht wieder, sie entsprach nicht ihrer Lebenssituation und nicht ihren Ausbeutungserfahrungen. So erging es vielen. Das wurde in der Abkehr vom Proletariat und mit dem Erstarken der Zweiten Frauenbewegung auch im Kontext der Neuen Linken ab den 1960er Jahren reflektiert. Daher wird der Aufstieg linker Identitätspolitik – die nun auch Identitätspolitik genannt wurde – gemeinhin mit 1968 und mit dem Aufkommen der Neuen Linken verbunden. Für diese Identitätspolitiken war ein Wort, das auch das Combahee River Collective schon im Namen trägt, besonders zentral: Kollektiv.
Dieses Buch beschäftigt sich dezidiert mit linker Identitätspolitik. Linke Identitätspolitik ist (in der Regel) eine Reaktion auf Diskriminierung. Sie reagiert darauf, dass einem vermeintlichen Kollektiv bestimmte (nicht unweigerlich ausschließlich negative) Eigenschaften zugeschrieben werden. Dabei werden Menschen zu einer Gruppe zusammengefasst, die eine eigene ›Einheit‹ bilden soll: Identität kommt vom lateinischen idem: derselbe, dasselbe. Diese Einheit ist eine soziale Setzung; die Menschen, die sich in ihr wiederfinden, sind nicht wirklich ›dieselben‹. So hat der Rassismus erst das Konstrukt ›Rasse‹ hervorgebracht – nicht umgekehrt, wie der Schriftsteller Ta-Nehisi Coates es auf den Punkt bringt.[2] Menschen werden also als Kollektive adressiert, ohne über diese Zugehörigkeit selbst entschieden zu haben. Diese kollektive Zuschreibung hat enorme Konsequenzen, die zwar der einzelne Mensch zu tragen hat, die aber nur aufgrund der zugeschriebenen Zugehörigkeit entstehen: Die ›gläserne Decke‹ erfährt zwar eine einzelne Frau, aber nicht deshalb, weil sie bei ihrer individuellen Karriereplanung etwas falsch gemacht hat, sondern weil sie als Teil des Kollektivs ›Frauen‹ struktureller Diskriminierung ausgesetzt ist. Von Faschos verprügelt werden zwar einzelne konkrete Menschen, aber sie erfahren diese Gewalt deshalb, weil sie zuvor rassistisch kollektiviert wurden. Homo-feindlich attackiert werden sie deshalb, weil ihre Sexualität kollektiv als ›widernatürlich‹ und/oder nicht der Norm entsprechend klassifiziert wird.
Wenn also Diskriminierung und Unterdrückung immer und ausschließlich kollektiv funktionieren, liegt es nahe, sich auch kollektiv dagegen zur Wehr zu setzen. Doch als Kollektiv auf die gemeinsam erlebte Unterdrückung zu reagieren, setzt zunächst die Akzeptanz dieser fremdbestimmten Zuordnung und Zugehörigkeit voraus. Dieses notgedrungene Akzeptieren wird von einer Eigen- und Neudefinition der zugewiesenen kollektiven Identität begleitet. Die erfahrene Unterordnung samt der abwertenden Attribute sollen zu einer nun selbstgewählten und selbstermächtigenden, positiv konnotierten Kollektividentität werden: Frauen sind nun nicht mehr das ›schwache Geschlecht‹, sondern stark und selbstbestimmt, Schwarz ist nicht mehr schlechter als weiß, sondern »Black is beautiful«, ›Gay Pride‹ ersetzt ›schwul‹ als Schimpfwort usw.
Identitätspolitik ist also von einer grundlegenden Ambivalenz zwischen Ablehnung und Affirmation von Identität gekennzeichnet. Mit der Affirmation einher geht eine große Gefahr von Identitätspolitik: die der Essenzialisierung. Denn auch die bspw. sexistischen und rassistischen Zuschreibungen sind oft ambivalent und nicht ausnahmslos pejorativ, Frauen gelten etwa als empathisch und fürsorglich, Schwarze Männer als stark und potent. Deshalb ist die Versuchung groß, solche kontingenten Fremdzuschreibungen in den identitären Eigenentwurf aufzunehmen und sie zu essenzialisieren, also zu notwendigen Wesensmerkmalen zu erklären. Der selbstbewusst getragene Afro gehört dann ebenso unauflöslich zu Blackness wie die gefeierte Gebärmutter zum Frausein. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer nicht über die nötige Haarstruktur oder wie trans Frauen nicht über das geforderte Organ verfügt, bleibt ausgeschlossen. Die angenommene kollektive Identität ist dann auch kein letztlich aus Notwehr entstandenes Hilfskonstrukt mehr. Sondern sie postuliert und manifestiert erneut Wesensunterschiede, wo eigentlich keine sind.
Es ist allerdings keineswegs selbstverständlich, dass die Herausbildung solch einer positiv gewendeten kollektiven Identität überhaupt gelingt, dafür sind einige Voraussetzungen nötig. Sie muss erzeugt werden und zwar unter und von Leuten, denen bestimmte gemeinsame Merkmale zugeschrieben werden, die spezifische Interessen teilen und die konkrete Situationen ähnlich erleben, die also als Serialität (aber noch nicht als Gruppe) existieren, wie dieser Unterschied soziologisch ausgedrückt wird. Der französische Soziologe Didier Eribon fragt sich in Grundlagen eines kritischen Denkens, ob »sich bestimmte ›serielle Kollektive‹ leichter als Gruppen konstituieren als andere«.[3] Wieso konnte ein Wir unter ArbeiterInnen[4] entstehen und wieso eines zwischen Frauen, wieso aber ist das bei ›Bastards‹ oder bei Alten (Eribons Beispiele) viel schwieriger? Es gehe, sagt Eribon, bei jeder Identitätspolitik u.a. darum, »eine Vergangenheit auszugraben, die nur durch eine konstituierende – performative – Kraft an der Wirklichkeit teilhaben kann«.[5] So wie es erst durchgesetzt werden musste, dass eine gemeinsame Unterdrückung von Frauen als Frauen überhaupt wahrgenommen wurde, müssen sich auch die differenten Positionen innerhalb dieses Kollektivs erst ihre gemeinsame Vergangenheit schaffen. Es geht dabei um eine Vergangenheit, die in der hegemonialen Historie zuvor nicht vorkam. Solidarische Zugehörigkeit wird über diesen geteilten Erfahrungshorizont hergestellt. Auch dies geschieht beim Combahee River Collective geradezu idealtypisch, indem es sich nach einer erfolgreichen Befreiungsaktion der Abolitionistin Harriet Tubman am Combahee River benennt – Tubman hatte im Jahr 1863 knapp 750 versklavte Menschen befreit – und damit revolutionäre Schwarze Frauengeschichte würdigt.
In einer Hinsicht jedoch ist das Combahee River Collective keineswegs typisch für jede Identitätspolitik – nämlich in seinem ausgeprägten Bewusstsein für die Differenzen und Hierarchien, die es auch innerhalb jeder vermeintlich homogenen identitätspolitischen Bewegung gibt. Die Frauen des Kollektivs waren für diese Differenzen sensibilisiert, denn sie hatten sich sowohl mit dem Sexismus in der Black-Liberation-Bewegung wie mit dem Rassismus in der Frauenbewegung herumschlagen müssen. Diesen Mehrfrontenkampf betont auch Linda M. Alcoff, als sie sich in ihrem Text »Who’s Afraid of Identity Politics«[6] aus dem Jahr 2000 rückblickend positiv auf das Combahee River Collective bezieht. In ihrem Manifest schreiben die Frauen des Kollektivs: »Gemeinsam mit Schwarzen Männern kämpfen wir gegen Rassismus, während wir gleichzeitig wegen Sexismus gegen Schwarze Männer kämpfen.«[7] Als Proletarierinnen und Lesben kämen für sie sogar noch weitere Marginalisierungserfahrungen hinzu. Zudem ließen sich die einzelnen Kämpfe kaum voneinander trennen: »Wir finden es oft schwer, rassistische, klassistische und sexistische Unterdrückung zu unterscheiden, weil wir sie in unseren Leben oft gleichzeitig erleben.«[8] Die größte Schwierigkeit ihrer politischen Arbeit bestünde deshalb darin, »dass wir nicht nur an einer oder zwei Fronten gegen Unterdrückung kämpfen, sondern dass wir stattdessen die ganze Bandbreite von Unterdrückungsformen adressieren müssen. Wir haben weder ethnische, geschlechtliche, heterosexuelle oder klassenbezogene Privilegien, auf die wir uns verlassen können, noch auch nur den allerkleinsten Zugang zu Macht und Ressourcen, die Menschen besitzen, die zumindest über eines dieser Privilegien verfügen.«[9]
Das Combahee River Collective leistete also nicht nur mit der Begriffsprägung Pionierarbeit, sondern auch durch sein Bewusstsein für die intersektionale und letztlich unauflösbare Verflochtenheit der vielen verschiedenen Formen erlebter Diskriminierung. Intersektionalität, vom Englischen intersection, Kreuzung, beschreibt die Verwobenheit – Überkreuzung – der verschiedenen Formen von Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung.
Doch eigentlich geht es Identitätspolitik ja gerade darum, diese Unterschiede – zumindest strategisch – zurückzustellen und die Gemeinsamkeiten, eben die vermeintlich identischen Aspekte des Frauseins, Schwarzseins, ArbeiterInnenseins in den Vordergrund zu rücken und dabei Differenzen zu negieren. Auch wegen dieser Homogenisierung sind Identitätspolitiken innerhalb linker Diskurse umstritten gewesen und sind es bis heute. Neben der Essenzialisierung von Identität liegt in dieser Vereinheitlichung eine große Gefahr, die den grundsätzlich emanzipatorischen Impetus linker Identitätspolitik zu konterkarieren droht.
Die Konflikte um linke Identitätspolitiken nachzuvollziehen, eröffnet also nicht nur eine vielleicht ungewohnte Perspektive auf die Geschichte linker Auseinandersetzungen. Es hilft auch dabei, die Frage zu klären, wie und inwiefern sich linke von rechten Identitätspolitiken abgrenzen lassen (und wo diese Abgrenzungen möglicherweise nicht sauber gelingen).
Das scheint insbesondere auch deshalb notwendig, weil die Auseinandersetzungen um Identitätspolitiken gerade in den letzten Jahren noch einmal eskaliert sind: Angesichts der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und der erstarkenden Ultrarechten auch in Europa, wurde von vielen Linken der (ohnehin seit Langem bestehende) Vorwurf erneuert, Politiken der kulturellen Differenz hätten den Aufstieg der Rechten und den Niedergang der Linken zu verantworten. Der auch in der innerlinken Debatte erhobene Vorwurf lautet, Hillary Clinton hätte die Wahl gegen Trump deshalb verloren, weil sie mit Frauen- und Homosexuellenrechten Punkte hätte sammeln wollen, also auf Identitätspolitik gesetzt hätte. Die soziale Frage, als weit größeres Problem, hätten stattdessen die Rechten besetzt – und das hätte sich bitter gerächt.
Kulturelle Differenzen werden dabei nicht nur auf Ethnizität bezogen, mit Kultur sind vielmehr die unterschiedlichen Lebensweisen insgesamt gemeint sowie die Frage, wie diese gesellschaftlich bewertet werden. Kulturelle Differenzen umfassen dann etwa auch geschlechtliche und sexuelle Unterschiede. Die Betonung dieser kulturellen Kämpfe, so lautet der Vorwurf, hätte die soziale Ungleichheit vernachlässigt und damit viele von Armut betroffene Menschen, die sich nicht mehr von linken Parteien repräsentiert fühlen, den Rechten in die Arme getrieben. Die ständige Diskussion um inkludierende Sprachregelungen, um Transgender-Toiletten und die richtige Adressierung von People of Color hätten dazu geführt, die Klassenfrage nicht mehr zu stellen. Linke Politik solle sich, fordert etwa der Politologe Mark Lilla, Autor des vielbeachteten Buches The Once and Future Liberal: After Identity Politcs (2017), wieder Anliegen widmen, die »einem Großteil der Bevölkerung am Herzen liegen«, sie müsse an »die Nation im Geiste gemeinsamen Bürgersinns und gegenseitiger Hilfsbereitschaft appellieren«.[10] Doch dieser Vorwurf ist nicht neu, die linke Kritik an der Identitätspolitik ist letztlich so alt wie die linke Identitätspolitik selbst. Denn am berühmten ›Hauptwiderspruch‹, also der kapitalistischen Ausbeutung, mit dessen Beseitigung sich auch alle anderen Unterdrückungsformen ganz von selbst in Wohlgefallen auflösen würden, arbeitet sich insbesondere die feministische Identitätspolitik sogar seit bald 150 Jahren ab. Und seit den 1990er Jahren tobt auch die Debatte um Political Correctness (PC) in verschieden starken Wellen. In diesem hartnäckigen Anti-PC-Diskurs treffen sich liberale Linke und Rechte in ihrer Kritik an den Politiken von (ethnischen, geschlechtlichen, sexuellen) Minderheiten. Dabei richtet sich die Empörung gegen Political Correctness nicht nur gegen vermeintlich übertriebene Sprachregulierungen und Verhaltensgebote. Zusätzlich wird genau wie nun auch bei der aktuellen Kritik an Identitätspolitik geleugnet, dass es sich dabei um einen Kampf um mehr soziale Gleichheit handelt. Dabei hatte beispielsweise der Künstler Hans Haacke schon in einem 1991 (!) mit dem Soziologen Pierre Bourdieu geführten Gespräch – die Debatte hatte kaum begonnen – klar gemacht, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Er hatte trocken konstatiert, es sei die »konservative Propaganda, die ›p.c.‹ zur Diskreditierung der Bemühungen benutzt, gesellschaftliche Ungleichheiten zu beseitigen«.[11]
Diese Entgegensetzung von kultureller Differenz und sozialer Ungleichheit wird also bewusst geschürt und mit diesem falschen Gegensatz wird implizit ausgeschlossen, dass soziale Ungleichheit auch durch identitäre Politiken bekämpft wurde und wird. Völlig zu Unrecht. Denn bei dieser ausschließenden Gegenüberstellung des Kampfes um soziale Anerkennung versus den Kampf gegen soziale Ungleichheit werden die vielen – praktischen wie theoretischen – Verknüpfungen von Politiken der Anerkennung kultureller Differenzen mit jenen gegen soziale Ungleichheit übersehen, wie wir im nächsten Kapitel zeigen werden. Darüber hinaus wird mit dem Vorwurf, die Identitätspolitiken hätten die Thematisierung von Klassengesellschaft und Ausbeutung verdrängt, auch so getan, als ginge es bei Identitätspolitiken nicht auch um ernsthafte linke Anliegen wie Gleichberechtigung, Partizipation, Umverteilung und Befreiung.
Zudem war und ist auch die ArbeiterInnenbewegung, also die wichtigste Akteurin im Kampf gegen soziale Ungleichheit, eindeutig eine identitätspolitische Bewegung, wie wir in den beiden folgenden Kapitel zeigen werden. Denn auch all jene praktischen wie theoretischen Versuche, unter den Lohnabhängigen (und über sie hinaus) ein Klassenbewusstsein zu formieren, sind Formen von Identitätspolitik: Schließlich ging es nicht zuletzt darum, dass die Einzelnen sich kollektiv über die Arbeit und über ihre Klassenposition identifizierten – anstatt dies über den Nationalstaat, in dem sie lebten, und/oder ihre religiöse Zugehörigkeit zu tun. Mit dem Sozialphilosophen Axel Honneth ist also davon auszugehen, dass linke Identitätspolitik nicht erst mit den 1960er oder gar den 1990er Jahren anzusetzen ist und dass sie sich eben nicht nur auf ethnische, geschlechtliche und sexuelle Minderheiten bezieht. Auch früheren Emanzipationsbewegungen, allen voran der ArbeiterInnenbewegung, sei daran gelegen gewesen, betont Honneth, »für die eigenen Wertorientierungen und Lebensformen soziale Anerkennung einzufordern«.[12] Identifizierung und die (oft gar nicht explizit gemachte) Forderung nach Anerkennung gehen also miteinander einher. Wenn ich mich als Teil einer Gruppe wahrnehme, will ich, dass diese Gruppe auch von anderen als existenzberechtigt und wertvoll anerkannt wird. Dieser Kampf um Anerkennung schließt im Übrigen den Kampf um gesellschaftliche Transformation nicht aus. Die ArbeiterInnen, die für Respekt (und damit gegen Klassismus) gekämpft haben, taten dies als Etappe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft, es war nicht als Alternative zu diesem Weg gedacht.
Nicht nur die linke ArbeiterInnenbewegung betrieb Identitätspolitik. Auch im Wahlkampf von Trump wurde von ArbeiterInnen Identitätspolitik gemacht – allerdings rechte. Gemeinsam mit dem jamaikanischen Philosophen Charles W. Mills kommt Patricia Purtschert in ihrem aufschlussreichen Aufsatz »Es gibt kein Jenseits der Identitätspolitik: Lernen vom Combahee River Collective«[13] süffisant zu dem Schluss, dass es also tatsächlich Identitätspolitik war, die Trump zum Sieg verholfen hat – allerdings eine weiße, rassistische Identitätspolitik. Im Unterschied zu linker Identitätspolitik kennzeichne diese Politik gerade nicht der kollektive Kampf gegen Entrechtung. Stattdessen steht dabei die gemeinsame Verteidigung von Privilegien im Zentrum. Auch diese Politik ist partikularistisch, insofern sie nur den Interessen einer bestimmten Gruppe folgt – eben jenen der weißen Arbeiterschaft. Doch deren männliche, weiße Identität bildete die Norm und blieb damit ›unmarkiert‹. Deshalb konnte sie diesen Partikularismus besser als allgemeines, also universales Interesse bemänteln, schließlich war die Definition von Universalismus immer ein weißes, männliches Privileg – und ist das offenbar bis heute. Darum ist die Inszenierung der Trump-WählerInnen als Opfer – wie die rechte Opferstilisierung insgesamt – auch so besonders perfide. Damit soll natürlich nicht gesagt werden, dass die weiße ArbeiterInnenschaft kein Recht hätte, sich als Opfer neoliberaler Verhältnisse zu sehen und gegen diese aufzubegehren (was mit der Wahl eines Großkapitalisten de facto jedoch nicht geschehen ist). Doch sie in Analogie zu den großen Emanzipationsbewegungen als diskriminierte Minderheit zu inszenieren, ist definitiv verfehlt.
Das konstatiert auch die Schwarze Kulturwissenschaftlerin Peggy Piesche in ihrer Analyse der US-Präsidentschaftswahl, in der sie sich der nach dieser Wahl vielstrapazierten rhetorischen Figur einer vermeintlichen ›Rache des weißen Mannes‹ widmet. Der Begriff ›Rache‹ impliziert, so Piesche, dass der Wahlsieg von Trump ein Backlash gegen Political-Correctness-Terror sei, der von diesem selbst provoziert sei.[14] In letzter Konsequenz wird also behauptet, dass der Widerstand gegen Rassismus die Ursache für diesen ist. Rassismus sei eine bloße Reaktion und kein gewaltiges, strukturelles Problem, das so alt ist wie die USA selbst. Nur durch die Ausblendung dieser historisch gewachsenen, brutalen Unterdrückung lässt sich behaupten, Identitätspolitik sei keine Politik sondern »nur kulturelles Theater!«,[15] wie es auch Mark Lilla tut.
Doch zum Proletariat, das hier angeblich Rache übt, gehört nicht nur der weiße Rust-Belt-Arbeiter, sondern auch die afroamerikanische Uber-Fahrerin, die lateinamerikanische Pflegerin sowie die Asian-American im Call-Center. Angesichts des immer noch gewaltigen Gender und Racial Pay Gap müssten AfroamerikanerInnen eigentlich sogar die allerersten AdressatInnen für Arbeitskampfrhetorik sein. Doch die von Trump hat bei ihnen nicht verfangen, 94 Prozent der Schwarzen Frauen wählten Clinton. »Niemand vermochte je zu begründen, warum gerade jene, die die New Economy am gründlichsten abgehängt hatte – nämlich die schwarze und die hispanischstämmige Arbeiterschaft –, sich nie zu Trumps Anhängern gesellten«, schreibt Ta-Nehisi Coates über die KritikerInnen der Identitätspolitik.[16] Das dürfte damit zu tun haben, dass diese Abgehängten ein besonders ausgeprägtes Bewusstsein dafür haben, dass verschiedene Kämpfe zwar sehr viel miteinander zu tun haben, aber trotzdem nicht ineinander aufgehen – und mitunter sogar antagonistisch sind. Hillary Clinton sei viel für ihren »elitären weißen Feminismus« gescholten worden sowie dafür, die Frauen aus der ArbeiterInnenklasse nicht angesprochen zu haben, schreibt Angela McRobbie.[17] Dass sie so viele Women of Color trotzdem gewählt haben, hätte nicht nur mit Trumps Rassismus zu tun, sondern auch damit, dass das von Trump vertretene, präfeministische Frauenbild einer vom männlichen Ernährer versorgten Ehefrau bei ihnen auf keinerlei Resonanz stieß. Denn der rassialisierte Arbeitsmarkt, auf dem People of Color weiterhin massiv diskriminiert sind, lässt solch eine Phantasie für sie vollkommen abwegig erscheinen. Amerika wieder ›great‹ zu machen, also zu diesem fordistisch-keynesianischen Klassenkompromiss zurückzukehren (mal ganz abgesehen davon, dass Trump das freilich nie vorhatte), hatte für Women of Color also nicht den geringsten Reiz.[18] Für weiße Frauen hingegen durchaus, sie wählten immerhin zu 53 Prozent Trump.
Diese Stimmenverteilung macht auch die Gefahr deutlich, die darin besteht, Identitätspolitik einfach als essenzialisierende Repräsentationspolitik – und losgelöst von politischen Inhalten – zu betreiben. Denn wer als ›einer von uns‹ betrachtet wird, sollte tunlichst nicht nur aufgrund bestimmter identitätsstiftender Gemeinsamkeiten im Stil (der Rede, der Essgewohnheiten oder der Frisur) entschieden werden, sondern in erster Linie aufgrund der politischen Positionierung. Trump mag mit seiner Vorliebe für Hamburger und einfache Sätze dem proletarischen Klassenhabitus besser entsprechen als Obama, der am Anfang seiner Amtszeit einmal den Fauxpas begangen und nach Dijon-Senf für seinen Burger verlangt hat. Ein kulinarischer Snobismus, der ihm viel Hohn und Spott einbrachte. Dennoch steht Obama wohl unbestritten für die arbeiternehmerInnenfreundlichere Politik. Auch der zum linken Flügel der Demokraten gehörende New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio musste ein ›Pizzagate‹ über sich ergehen lassen, nachdem er beim Italiener mit Messer und Gabel gesehen wurde, was ihm prompt als Elitismus ausgelegt wurde. Solche ›kulturellen Differenzen‹ sind also unbestritten bedeutsam und symbolträchtig, entsprechend existieren durchaus auch linke Pendants zu Dirndl und Lederhose, mit deren Hilfe rechte Identitätspolitik sich traditionell volksnah gibt. Schließlich wurde sogar De Blasios Wahlsieg mit dem eindrucksvollen Afro seines Sohnes Dante begründet, der bei der afroamerikanischen Community gepunktet hätte. Aber wie bei der afroamerikanischen Absage an Trump dürfte neben der coolen symbolträchtigen Frisur eben auch von Bedeutung gewesen sein, für welche Politik de Blasio steht.
Doch wodurch unterscheidet sich nun linke, emanzipatorische Identitätspolitik von rechter, die auch Trumps WählerInnenschaft motiviert hat? Von nationalistischen Identitätspolitiken also, die nationalstaatliche Zugehörigkeit konstituieren und sich in gesteigerter Form bei rechtsextremistischen Gruppen wie der ›Identitären Bewegung‹ finden? Auch diese in mehreren europäischen Ländern aktive, migrationsfeindliche und kulturrassistische Bewegung betreibt aktive Identitätspolitik, indem sie für die »Bewahrung unserer ethnokulturellen Identität«[19] eintritt und diese gesetzlich verankert und geschützt sehen will. Die Bewegung setzt sich für eine ›Remigration‹ – also die Rückführung von MigrantInnen – ein und greift bei der ›Verteidigung europäischer Identität‹ zu brachialen Mitteln: Im vergangenen Sommer charterte sie gar ein Schiff im Mittelmeer, um NGOs davon abzuhalten, Flüchtlinge zu retten.
In diesen Aktionen sind die Prinzipien jeder rechten Identitätspolitik allerdings bloß auf die Spitze getrieben: Sie verteidigt (historisch durchgesetzte) Privilegien der als ›die eigene‹ betrachteten Gruppe und zieht dafür rigide Grenzen zu anderen Menschen – Grenzen, die heute meist kulturell und nicht mehr biologisch begründet werden. Rechte Identitätspolitik sichert und verteidigt privilegierte Positionen, anstatt, wie linke Identitätspolitik, möglichst breite Partizipation zu erkämpfen. Rechte Identitätspolitiken zielen auf Exklusion anstatt, wie linke Identitätspolitik, darauf, Diskriminierung abzubauen und Gerechtigkeit und soziale Gleichheit herzustellen.
Allerdings sind die Abgrenzungen nicht immer klar zu ziehen. Denn auch linke Identitätspolitik definiert Zugehörigkeit und setzt dabei notgedrungen Grenzen. Wie durchlässig und verschiebbar diese sind, ist aber ein guter Indikator dafür, wie emanzipatorisch diese Politik ist. Sprich: Ist die Definition von ›Weiblichkeit‹ in Stein gemeißelt oder lässt sich der Begriff Frau erweitern, sodass er auch trans Frauen umfasst? Wird Blackness afrozentristisch definiert oder dürfen sich alle People of Color dem antirassistischen Kampf anschließen? Solidarisiert sich das revolutionäre Arbeitersubjekt auch mit der migrantischen Reinigungskraft oder nur branchenintern mit ›seinesgleichen‹? Wie kritikfähig ist die Bewegung? Und wie bewusst ist ihr der – mitunter fragile – Konstruktionscharakter der eigenen Identität?
Davon unmittelbar berührt ist das schwierige Thema Allianzenbildung. Denn ein gewichtiger aktivistischer Einwand gegen Identitätspolitik – wenn nicht der wichtigste – lautet, dass sie schlagkräftige Bündnisse verunmöglichen würde, die angesichts des globalen Rechtsrucks so dringend nötig sind. Der ungeheure Erfolg der Women’s Marches in den USA, die größten Demonstrationen der US-Geschichte, verdankt sich der ungewöhnlich breiten Bündnispolitik, bei der die anarchafeministische Black-Lives-Matter-Aktivistin mit der Trump-kritischen konservativen Bankerin auf die Straße ging. Eine keineswegs einheitliche Bewegung also, aber angesichts des gemeinsamen Gegners war sie doch kurzzeitig ziemlich einträchtig. Das änderte sich schnell, nachdem z.B. der Auftritt der Hijab-tragenden Aktivistin Linda Sarsour als islamistisch bzw. antisemitisch kritisiert wurde oder die omnipräsenten rosa Pussyhats als Symbol für ein cisnormatives und transfeindliches White-Washing der Bewegung unter Beschuss gerieten (weil sie nur die Genitalien weißer Frauen repräsentieren würden). Hier wiederholte sich zum unzähligsten Male, was seit eh und je als das größte Hindernis für linke Erfolge gilt – die fehlende Geschlossenheit. Denn auch die vielversprechendsten sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte wie Occupy Wallstreet konnten sich zwar recht problemlos auf einen gemeinsamen Feind einigen, aber aufgrund der großen inneren Diversität eben schwer auf gemeinsame Forderungen.
Entsprechend groß sind Unverständnis und Häme nicht nur in der gemäßigten und liberalen Linken darüber, dass in linken Szenen derzeit vor allem darüber gestritten wird, ob das Tragen von Dreadlocks oder das Servieren von vietnamesischen Banh Mi in der Uni-Mensa unter Cultural Appropriation fällt und ob Vagina Cupcakes die Gefühle von Frauen ohne Vulva verletzen – während drumherum der politische und ökologische Weltuntergang tobt. Die Angriffe gegen Identitätspolitik kommen also mittlerweile sowohl aus dem gesamten linken wie auch aus dem rechten Spektrum – wenngleich freilich mit unterschiedlicher Stoßrichtung.
Die Kritik ist auch nicht völlig unberechtigt. Denn BefürworterInnen von Identitätspolitik tendieren heute nicht selten dazu, den bereits erwähnten gewaltförmigen Konstruktionscharakter von kollektiver Identität zu übersehen oder zu leugnen. Das bringt neue Essenzialisierungen mit sich, auf die wir z.B. im Kapitel zu kultureller Aneignung näher eingehen. Eine ebenfalls nicht unproblematische Dynamik ist das Feiern einer immer individualistischeren Identität, wie sie insbesondere im Queerfeminismus zu beobachten ist. Damit werden die solidarischen Politiken kollektiver Identität letztlich ebenfalls konterkariert. Auch dieser Entwicklung widmen wir uns u.a. im letzten Kapitel ausführlicher.
GegnerInnen wie auch BefürworterInnen von Identitätspolitiken finden sich allerdings in jeweils durchaus heterogenen Spektren wieder. An den Extrempolen beider Spektren bilden sich politische Querfronten, also Allianzen zwischen rechten und linken Positionen. Entsprechend besteht die große Herausforderung emanzipatorischer linker Identitätspolitik darin, genau den ›Sweet Spot‹ zwischen zwei verschiedenen Querfronten zu finden. Die eine Querfront, an der rechte und linke Positionen gegenwärtig zusammenfinden, steht in der antiimperialistischen Tradition, pocht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker – ohne den Konstruktionscharakter von Begriffen wie Volk zu reflektieren – und hat daher auch kein Problem mit Nationalismen wie etwa dem der Schwarzen islamistischen Organisation Nation of Islam (NOI) in den USA. Sie vertritt eine israelfeindliche und zuweilen offen antisemitische Politik. Die Forderung nach Anerkennung von Minderheitenpositionen wird hier nicht selten essenzialistisch als eine Immunisierungsstrategie gegen Kritik gewendet: Wer beispielsweise den Islamismus und den Antisemitismus der NOI kritisiert, gilt als rassistisch. Linda Sarsour wird dieser Strömung zugerechnet, auch Angela Davis hat sich mit ihrem Engagement für die antizionistische Kampagne Boycott, Divestment, and Sanctions (BDS) zumindest als durchaus anschlussfähig für rechten Antisemitismus erwiesen.
Die andere Querfront ist vor allem im deutschsprachigen Raum anzutreffen und hat sich als Reaktion auf diesen Antiimperialismus in der Linken gebildet. Hier wird der Multikulturalismus – und mit ihm gleich die poststrukturalistischen und postkolonialistischen Theorieansätze – als ›kulturalistisch‹ bzw. ›kulturrelativistisch‹ verworfen und ein Universalismus vertreten, dem jede Identitätspolitik suspekt bis gefährlich erscheinen muss. Diese Strömung setzt Begriffe wie ›antimuslimischer Rassismus‹ in Anführungszeichen, als handle es sich dabei nicht um reale Diskriminierungsformen, sondern bloß um minoritäre Anerkennungsstrategien. Zwar wird dabei die wichtige Kritik am Antisemitismus formuliert und – vor dem Hintergrund einer Analyse der historischen Singularität des Holocausts – das Existenzrecht Israels verteidigt. Diese Position ist allerdings häufig gekoppelt an eine ausgeprägte Haltung gegen den Islam schlechthin und für einen westlichen Universalismus. Diese Haltung lässt sich von rechten Positionierungen ebenfalls oft kaum mehr unterscheiden. Im Dezember 2017 demonstrierten Redaktionsmitglieder der Zeitschrift Bahamas – die den völlig jenseitigen Extrempol dieses ›antideutsch‹ genannten Spek-trums innerhalb der Linken markiert – gemeinsam mit der rechtsextremen AfD ›gegen Islamismus‹.
Zwischen diesen beiden Querfronten positioniert sich dieses Buch über linke Identitätspolitiken. Es versucht zu klären, wo die jeweilige Kritik tatsächlich berechtigt ist und wo definitiv nicht. Es soll die identitätspolitischen Errungenschaften der großen Emanzipationsbewegungen würdigen, ohne dabei in nostalgische und essenzialisierende Muster zu verfallen. Dabei geht es letzten Endes immer um die Frage, ob und wie Identitätspolitik für eine solidarische linke Praxis zu gebrauchen ist. Ob also mit ihrer Hilfe tatsächlich die »tiefgreifendste und potenziell radikalste Politik« zu machen ist, wie das Combahee River Collective schrieb.
Die niederländische Feministin Anja Meulenbelt nahm schon 1986 auf das Combahee River Collective Bezug. In ihrem Buch Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus[20]