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Der neue Sonnenwinkel
– 35 –

Kinderlachen im Doktorhaus

Der kleine Philip macht Roberta glücklich

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-112-4

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Noch sah Inge nichts, doch sie spürte es, vor allem roch sie es. Sie kannte diesen unvergleichlichen Duft nach Holz und wilden Gräsern, der zu Werner gehörte wie eine zweite Haut.

Das bedeutete …

Inge war so aufgeregt, dass sie diesen Gedanken kaum zu Ende bringen konnte.

Das bedeutete, dass Werner wieder daheim war. Aber wieso jetzt schon? Er hatte ihr geschrieben, dass er mit der letzten Maschine nach Hause käme.

Und sofort musste sie auch wieder an die junge Frau denken. Sie hatte sich nicht getäuscht, sie hatte sie in Hohenborn auf dem Marktplatz gesehen. Es war keine Geisterscheinung gewesen, ihr Gehirn hatte ihr da nichts vorgegaukelt.

Sofort ratterten ihre Gedanken.

Vielleicht hatte sie ja vorzeitig nach Hause gemusst, und da war ihm ebenfalls keine andere Wahl geblieben.

Verflixt noch mal, warum war sie wie vom Leibhaftigen gejagt davongelaufen? Es wäre die Gelegenheit für ein Gespräch gewesen. So war wieder alles offen, nach einer Unterredung mit der jungen Frau hätte sie jetzt für das Gespräch mit Werner viel bessere Karten.

Und das Gespräch war fällig, jetzt oder nie. Und ganz egal, was dabei herauskommen würde.

Inge atmete tief durch, und sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, als Werner aus seinem Arbeitszimmer herauskam.

Sie kannte Werner nun schon so viele Jahre, doch sie bekam immer wieder Herzklopfen, wenn sie ihn sah. Er sah fantastisch aus mit seinen grauen Schläfen, seiner randlosen Brille, die seinem schmalen Gesicht genau das Aussehen verlieh, dass das bestätigte, was Werner war, eines Intellektuellen. Er trug noch immer seinen anthrazitfarbenen Businessanzug, in dem er dennoch lässig aussah und der vor allem seine große, schlanke Gestalt betonte.

Als er seine Frau entdeckte, begann er zu strahlen.

»Da bist du ja endlich, mein Liebes. Wo hast du gesteckt? Ich bekam schon richtige Einsamkeitsgefühle, als ich nach Hause kam und niemanden antraf, nicht einmal Luna.«

Es war unglaublich!

Werner tat, als sei nichts geschehen.

Er kam auf sie zu, wollte sie in seine Arme nehmen. Sie konnte das nicht, sie wich aus, was prompt zur Folge hatte, dass er sich ganz irritiert erkundigte: »Inge, mein Schatz, was ist los?«

Sie standen in der Diele. Das war nun wirklich nicht der richtige Ort für ein Gespräch, bei dem es um alles ging und das irgendwann vermutlich in einem handfesten Krach enden würde, bei dem die Fetzen flogen.

Sie ging an ihm vorbei, rannte beinahe in die Küche, die ihr augenblicklich als der richtige Zufluchtsort erschien. Zumindest war es der Raum, der noch immer irgendwie der Lebensmittelpunkt der Auerbachs war. Hier traf man sich, hier wurden, abgesehen einmal von besonderen Anlässen, die Mahlzeiten eingenommen. Hier hatte die Kinder meistens ihre Schulaufgaben gemacht, hier hatten sie ihre Mutter, die war es gewesen, die den Großteil der Erziehung übernommen hatte, in ihre kleinen Geheimnisse eingeweiht, ihr das Herz ausgeschüttet, und hier hatten sie ihr gestanden, wenn sie eine Arbeit daneben geschrieben oder aber mit Bravour gemeistert hatten.

Es lag gefühlte Ewigkeiten zurück, doch es waren Zeiten, die Inge niemals vergessen würde.

Sie waren wirklich eine Bilderbuchfamilie gewesen, die Auerbachs, abgesehen von Turbulenzen, wie sie in jeder Familie vorkamen. Und sie hatten auch zusammengehalten, als ihre Jüngste dummerweise durch Fremde erfahren hatte, dass sie keine Auerbach war, sondern dass man sie adoptiert hatte.

Das war schrecklich gewesen, der tiefste Punkt in ihrem Leben.

Nicht einmal die Scheidung von Jörg und auch nicht das mit Hannes, der sein Leben neu ausrichten musste, war so schlimm gewesen.

Schlimmer gehts nimmer …

Doch, das ging, und das war genau das, was sie derzeit durchmachte.

Werner hatte eine andere, eine attraktive junge Frau, und sie war das Auslaufmodell.

Hoffentlich hatte sie gleich die Kraft, souverän zu sein, hoffentlich weinte sie nicht.

Werner kam zu ihr in die Küche. Er hatte sich Zeit gelassen, weil er erst einmal verdauen musste, dass Inge sich höchst merkwürdig verhielt. Was hatte sie bloß?

Sie saß wie erloschen auf einem Stuhl, starrte blicklos vor sich hin.

War sie krank?

War es doch mehr als eine Allergie?

Sie hatte sich in der letzten Zeit bereits ziemlich merkwürdig benommen.

»Inge, was ist los?«, erkundigte er sich, dann setzte er sich ebenfalls an den großen Familientisch, an dem jeder seinen eigen Platz hatte.

Jetzt musste es sein, jetzt durfte sie es nicht länger hinauszögern, auch wenn sie ziemlich durcheinander war, weil Werner so gut gelaunt war, so vollkommen unbefangen tat.

Konnte ein Mensch sich so verstellen?

Vielleicht …

Nein, sie hatte doch Augen im Kopf, und es waren wirklich mehr als merkwürdige Umstände, da konnte man sich nicht einfach etwas zusammenreimen. Da musste man die Tatsachen akzeptieren.

»Wie soll es jetzt deiner Meinung nach weitergehen?«, erkundigte sie sich mit tonloser Stimme. »Willst du ein Doppelleben führen?«

Professor Auerbach war so irritiert, dass er zunächst einmal nichts sagen konnte. Er starrte seine Frau voller Nichtbegreifen an.

»Inge, was redest du da?«, brachte er schließlich hervor.

Feige war er auch noch!

Das machte Inge wütend, und das ließ bei ihr den Knoten platzen, es sprudelte nur so aus ihr heraus. Sie erzählte alles, was sie gesehen hatte. Werner und diese Frau im Wiener Cafè, die beiden auf der Straße. Seine plötzliche Reise, vor allem die Verlängerung.

»Werner, ich bin doch nicht blöd, doch es schmerzt mich, dass du mich offensichtlich dafür hältst. Warum spielst du nicht mit offenen Karten, und wenn …«

Professor Auerbach begann sich von seiner Überraschung zu erholen. Er unterbrach seine Frau.

»Inge, stopp, hör auf, ehe du noch weiteren Unsinn redest.«

Unsinn nannte er das?

Klar, die Wahrheit konnte man nur schlecht vertragen, vor allem, wenn sie mit Konsequenzen verbunden war, die er jetzt ziehen musste, nachdem er wusste, dass sie es wusste.

»Werner, ich …«

Wieder ließ er sie nicht ausreden.

»Verflixt noch mal, Inge, ich weiß nicht, was du dir da zusammengereimt hast. Statt dich in einen solchen Blödsinn zu verstricken, hättest du mit mir reden sollen. Schade, dass du dich jetzt um die Überraschung bringst. Diese Frau, die du für meine Geliebte hältst, ist eine Mitarbeiterin des Hohenborner Reisebüros, eine unglaublich kompetente und vor allem tüchtige Frau, die das Unmögliche möglich gemacht hat.«

Inge wusste nicht, was sie jetzt sagen sollte, und weil sie innerlich noch auf Krawall gebürstet war, wollte sie ihm nicht glauben. Das waren doch bloß Ausreden.

»Ach, und dazu musst du sie privat treffen? Das konntest du nicht mit ihr im Reisebüro besprechen, was immer es auch ist?«

Werner blickte seine Frau an, am liebsten wäre er jetzt aufgestanden, hätte sie in seine Arme genommen. Sie sah reizend aus in ihrem Zorn, und er liebte sie über alles, und bei ihr schien es nicht anders zu sein, sonst wäre sie nicht so eifersüchtig.

»Inge, Inge, auch dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung, das, was Frau Beckmann, so heißt die Dame übrigens und sie ist, und das nur ganz nebenbei bemerkt, glücklich verheiratet, also, das hat nichts mit dem Reisebüro zu tun. Sie hat lange in Griechenland, genau gesagt, auf Mykonos, gelebt.«

Mykonos …

Sofort kamen in Inge alte Erinnerungen hoch. Dort hatte sie mit Werner eine wunderbare Zeit verbracht, eine der glücklichsten und unbeschwertesten ihres Lebens.

Aber warum erzählte Werner das jetzt? Es war nicht gerade klug, an die schönsten Zeiten in ihrem Leben zu erinnern, wo gerade alles auseinanderbrach.

Inge sollte es gleich erfahren.

»Inge, kannst du dich an das kleine weiße Haus am Meer erinnern?«

Und ob sie das konnte. Sie hatten hinterher versucht, es noch einmal zu mieten und hatten zu ihrem größten Bedauern erfahren müssen, dass es verkauft worden war und dass der neue Besitzer nicht mehr an Touristen vermietete, überhaupt nicht mehr.

»Ich habe Frau Beckmann davon erzählt, und die hat, was ich vorher nicht wusste, lange auf Mykonos gelebt, und nicht nur das, sie ist mit der Cousine des Besitzers befreundet, der das Haus nur als Feriendomizil nutzt und nicht mehr so oft auf die Insel kommt. Lange Rede kurzer Sinn, Frau Beckmann hat es geschafft, dass er uns das Haus vermieten wird. Wir können also alte Erinnerungen aufleben lassen. Auch wenn nach all den Jahren auf der Insel vieles verändert sein wird, dort nicht, denn da darf nicht gebaut werden.«

Er blickte sie an.

»Damit wollte ich dich überraschen, ich wollte mit dir nach Athen fliegen, in Piräus übernachten, und dann mit dem Schiff nach Mykonos fahren. Ganz so wie früher, als wir uns inmitten der Rucksacktouristen befanden, die heute Backpacker genannt werden. Und heute nimmt man sich auch nicht mehr die Zeit für einen Zwischenstopp, da steuert man Mykonos direkt an.«

Inge wusste nicht, was sie jetzt sagen sollte.

Sie war vollkommen umsonst ausgeflippt, sie hatte sich in etwas hineingesteigert, sie hatte Werner etwas unterstellt, sie schämte sich. Und deswegen wagte sie auch nicht, ihren Mann anzusehen.

Es war still.

Werner ließ ihr Zeit.

Irgendwann blickte sie vorsichtig zu ihm, und sie atmete insgeheim erleichtert auf, weil er nicht den Eindruck machte, jetzt sauer auf sie zu sein.

»Werner, es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren ist, dir das alles zu unterstellen.« Sie war wenigstens ehrlich, und sie bereute zutiefst, in was sie sich hineingesteigert hatte.

Er hatte alles drangesetzt, etwas Schönes für sie zu arrangieren, sie hatte ihm eine Affäre unterstellt. Und diese junge Frau hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, und sie hatte ihr …

Nein!

Inge konnte das einfach nicht zu Ende denken, weil das zu peinlich war.

»Vergiss es, mein Herz«, sagte er großzügig, »es zeigt mir doch nur, dass du eifersüchtig warst, und wenn man eifersüchtig ist, dann liebt man. Und dass ich länger in London geblieben bin, dafür gibt es übrigens auch eine ganz einfach Erklärung. Ich habe dich nicht angerufen, weil ich dich kenne, du hättest mich vor lauter Neugier ausgequetscht wie eine Zitrone, doch es gibt manches, was sich einfach nicht am Telefon, sondern nur persönlich besprechen lässt. Und das wollte ich nach meiner Rückkehr. Das will ich übrigens immer noch.«

Er machte eine kleine Pause.

Und das war auch gut so, Inge hatte noch immer damit zu tun, das zu verdauen, was sie bereits erfahren hatte.

Inge nutzte die Pause, rasch aufzustehen, den Kaffee, den sie geistesgegenwärtig gekocht hatte, in die Kaffeebecher einzuschenken. Die stellte sie, zusammen mit ein paar Keksen, nach denen Werner auch direkt griff, auf den Tisch.

Sie brauchte jetzt ihren Kaffee!

Als Inge sich wieder hinsetzte, merkte sie, dass sie ziemlich weiche Knie hatte und dass ihr ganz flau zumute war.

Das alles überforderte sie, und auch wenn sich alle Wolken verzogen hatten, die schwarz und schwer auf ihr gelastet hatten, war es eine Situation, mit der sie erst fertig werden musste.

Welch ein Glück, dass Werner ihr kein Theater gemacht hatte, Grund genug dazu hätte er.

Inge hing ihren Gedanken nach, und sie zuckte zusammen, als Werner zu sprechen begann.

»Inge, kannst du dich an Berthold von Ahnefeld erinnern?«, fragte er.

Inge nickte sofort.

»Klar, deinen alten Schulfreund Bert und dessen reizende Frau und die nicht minder reizenden Kinder. Bert hatte ja erst recht spät die Frau seines Lebens gefunden, doch dann die Richtige. Manchmal lohnt es sich halt zu warten. Wie kommst du ausgerechnet jetzt auf Bert?«

»Weil ich ihn zufällig in London im Hotel getroffen habe. Wir sind uns im Aufzug begegnet.«

»Was für ein schöner Zufall, Werner. Deswegen bist du vermutlich auch länger in London geblieben. War die Familie ebenfalls dabei?«

Warum zögerte Werner mit der Antwort. Sie hatte doch nur eine ganz einfache Frage gestellt.

»Nein, Berthold war allein.«

Ihr kam ein Verdacht.

»Ist er etwa geschieden?«, vermutete sie, das war etwas, was auch den Auerbachs nicht fremd war. Ihr Sohn Jörg hatte das hinter sich und die bittere Erfahrung machen müssen, dass Stella, seine geschiedene Frau, mit den Kindern und einem anderen Mann nach Brasilien gegangen war. So etwas konnte jedem widerfahren.

Wieder zögerte Werner.

Inge griff nach ihrem Kaffeebecher, wollte gerade trinken, als Werner sagte: »Seine Frau und die Kinder sind tot.«

Das war ungeheuerlich.

Inge setzte ihren Kaffeebecher so abrupt ab, dass der Kaffee überschwappte, sich eine hässliche braune Pfütze auf dem Holz des schönen alten Tisches breitmachte. Inge bemerkte es nicht einmal.

Was hatte Werner da gesagt?

Das konnte doch nicht wahr sein.

»Werner, du …«

Sie war so erschüttert, dass Inge es einfach nicht fertigbrachte, ihren Satz zu beenden. Werners Gesicht war anzusehen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Mit so etwas machte man auch keine Scherze.

Jetzt entdeckte sie den verschütteten Kaffee, stand automatisch auf, holte ein Tuch, um ihn wegzuwischen, dann ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen.

Sie sah das Bild einer glücklichen Familie vor sich.

Vater, Mutter, zwei Kinder!

Nein!

Das konnte, das durfte nicht sein. Eine derartige Grausamkeit konnte der liebe Gott nicht zulassen!

Sie blickte Werner an, sah sein kreidebleiches Gesicht. Obwohl er es bereits wusste, nahm es ihn noch immer sehr mit, wenn er es erzählte.

»Werner, wie schrecklich. Was ist passiert?«

Er spielte mit seinem Kaffeelöffel, ohne dass ihm das bewusst war, und er antwortete auch nicht sofort.

Schließlich sagte er mit leiser Stimme: »Sie haben Urlaub in Kenia gemacht, einen Safariurlaub, den sie lange geplant und von dem sie alle total begeistert gewesen waren. Als ein Highlight stand an, einen der Nationalparks, mit einem kleinen Flugzeug zu überfliegen. Sie waren alle aufgeregt, konnten es kaum erwarten, in die kleine Maschine einzusteigen, als für Bert ein dringender Anruf kam. In der Firma hatte es Probleme gegeben, die sofort geklärt werden mussten. Also wollte er den Rundflug verschieben, doch er hatte nicht mit seiner Frau und den Kindern gerechnet. Die hatten sich gefreut, und sie wollten seinetwegen nicht auf dieses Vergnügen verzichten.

Sie einigten sich darauf, es ohne Berthold zu tun. Sie lachten, sie freuten sich, winkten ihm zu.«

Er machte eine kleine Pause, die seine nächsten Worte umso schwer erscheinen ließen.

»Das war das letzte Mal, dass er seine Familie lebend gesehen hatte …, die Maschine stürzte ab, niemand hat überlebt.«

Inge merkte, wie sie eine Gänsehaut nach der anderen bekam.

Entsetzen kroch in ihr hoch wie ein giftiges Reptil, das ihr gleich den tödlichen Stich versetzen würde.

Sie fand keine Worte dafür, weil es auch keine gab.

Welche Grausamkeit des Schicksals!