Aus dem Amerikanischen von Klaus Schmitz

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Dark Hollow

erschien zuerst 2006 unter dem Titel

The Rutting Season im Verlag Bloodletting Press.

Copyright © 2006, 2012 by Brian Keene

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Kirendra Bagchee – www.kirenindigital.com

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-628-1

www.Festa-Verlag.de

Danksagung

Für die neue Auflage 2012 von Dark Hollow gilt mein Dank allen bei Deadite Press; Alex McVey; Mary SanGiovanni und meinen Söhnen. Dank auch an Larry Roberts, Cassandra, Sam, die Feuerwehr von Shrewsbury, Elizabeth, Lindsey, Don, Uta, Mike, Doug, Jason, Paul, Shannon, Toni, Michael und Steve Pattee.

Anmerkung des Autors: Auch wenn viele Orte des zentralen Pennsylvania in diesem Roman authentisch sind, habe ich mir mit ihnen gewisse erzählerische Freiheiten herausgenommen. Wenn Sie also dort leben, suchen Sie nicht Ihren Wald oder Ihre Senke. Sie würden sie nicht erkennen – und wenn Sie sich auf die Suche danach begeben, hören Sie am Ende noch die Hirtenflöte und enden bei einem Tanz im Feuerschein …

Für Tim Lebbon,

du bringst den Bourbon

und ich halte dir einen Gartenstuhl frei.

Cheers and chairs, logger and lager.

Deine Lüsternheit zu betrachten, wie sie nässt durch

Verschlungenen Hain, den Stamm, so feist,

Des lebenden Baums, der ist Seele und Geist.

Ich bin dein Gatte, ich bin dein Mann,

Bock deiner Herde, ich bin Gold, ich bin Gott.

Über Fels zieht mein stählerner Huf seine Spur,

Durch Sonnenwend’ zum Äquinox, störrisch und stur.

Und ich tobe, ich rase, ich reiße und schände,

Für immerdar, Welt ohne Ende …

– Aleister Crowley

»Hymne an Pan«

1

Am ersten Tag des Frühlings wurden Big Steve und ich Zeuge, wie Shelly Carpenter dem haarigen Mann einen blies.

Es war ein anstrengender Winter gewesen. Ich hatte zwei Bücher in fünf Monaten schreiben müssen. Das möchte ich niemandem unbedingt weiterempfehlen, der auch anders über die Runden kommt. Eine Menge Druck war daran schuld gewesen. Die Verkaufszahlen meines ersten Romans, Heart of the Matter, hatten meine Kritiker, meinen Verleger und sogar mich kalt erwischt. Es verkaufte sich nämlich ziemlich gut – was für ein Buch dieser Art eigentlich gar nicht normal ist, jedenfalls für ein Krimi-Taschenbuch aus der Midlist, dem mittleren Verkaufssegment, dazu noch ohne dass irgendeine Werbekampagne dafür gelaufen war, abgesehen von einer einzigen viertelseitigen Anzeige in einem Branchenmagazin. Verlage schalten nicht viele Anzeigen für Midlist-Autoren.

Sagen wir einfach, dass ich entgegen allen Wahrscheinlichkeiten den Durchbruch schaffte. Voller Erfolgszuversicht kündigte ich meinen festen Job – nur um herauszufinden, dass der Verlag die ersten Tantiemen frühestens in einem Jahr auszahlen würde.

Den Vorschuss hatten wir bereits verprasst; Abschläge auf die Hypothek, Kreditkarten, Ratenzahlungen für das Auto und den Truck, neue Wohnzimmermöbel für meine Frau Tara und ein neuer Laptop für mich. Außerdem hatte ich eine ganze Stange meines eigenen Geldes für die Anfahrt zu Signierstunden ausgegeben. Auch zu einer Lesetour für ein Midlist-Buch gibt es keine Zuschüsse vom Verlag.

Hätte ich einen Agenten besessen, dann hätten sie mir vielleicht ihren Zahlungsplan erläutert. Vielleicht aber auch nicht. Ich persönlich bin froh, keinen Agenten zu haben. Agenten bekommen 15 Prozent der Einkünfte und ich war pleite. 15 Prozent von Scheiße ist immer noch Scheiße.

Ich hätte wieder als Teilzeitkraft bei der Papierfabrik in Spring Grove anfangen können, aber ich hatte mir ausgerechnet, dass ich aufs Jahr bezogen ungefähr genauso viel verdienen würde wie in der Fabrik, wenn ich mich aufs Schreiben konzentrierte, also beschloss ich, von der Arbeit zu leben, die ich gerne machte.

Tara ging immer noch arbeiten und bestand darauf, unsere Rechnungen zu bezahlen, während ich daheimblieb und schrieb. Wir waren auf die Krankenversicherung angewiesen, die mit ihrem Job einherging, aber von einem einzigen Gehalt konnten wir nicht leben. Also – zwei weitere Bücher für zwei verschiedene Verlage innerhalb von fünf Monaten, einzig und allein für den Vorschuss geschrieben, der uns durch den Winter bringen würde. Bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch. Das Schreiben in Vollzeit war eine nette Abwechslung, aber wenn man die Stunden aufrechnete, die ich damit verbrachte, belief sich der Vorschuss auf etwa 1,80 die Stunde. Und um das Ganze noch schlimmer zu machen, das war nicht wirklich die Art Geschichten, die ich schreiben wollte. Sie sprachen mich nicht an. Ich empfand keine Leidenschaft für sie und während ich sie schrieb, ging mir völlig der Sinn für das Wundersame ab.

Aber wir brauchten das Geld. Einige Leute nennen so jemanden einen Lohnschreiber. Ich nenne es Notwendigkeit.

Der Druck ging mir ziemlich an die Nieren. Ich begann wieder zu rauchen – zwei Schachteln am Tag – und trank pausenlos Kaffee. Ich stand um fünf Uhr auf, unternahm meine tägliche Pendlertour vom Bett zur Kaffeekanne zum Computer und begann zu schreiben. Ich arbeitete bis zum Mittag an dem einen Roman, legte eine Essenspause ein und saß dann am zweiten Roman bis spät am Abend. Nach einem so weit schon ausgefüllten Arbeitstag kümmerte ich mich um das übrige Geschäft: Verträge durchlesen, Fanpost beantworten, mein Forum abchecken, Interviews geben – all das andere Drumherum, das zum Schreiben gehört, ohne dass man im eigentlichen Sinn Worte zu Papier bringt – und endlich gegen Mitternacht ging’s ab ins Bett. Dann stand ich am nächsten Morgen auf und das Ganze fing wieder von vorn an. Sieben Tage die Woche. Das glamouröse Leben eines Schriftstellers.

Während dieser heftigen Monate wäre ich ohne Big Steve irrsinnig geworden. Tara brachte ihn aus dem Tierheim mit nach Hause, damit ich tagsüber Gesellschaft hatte. Big Steve war eine echte Mischlingstöle – teils Beagle, teils Rottweiler, teils schwarzer Labrador und dazu 100 Prozent Pussy. Trotz seiner beeindruckenden Größe und Stimme fürchtete sich Big Steve vor seinem eigenen Schatten. Er lief vor Schmetterlingen und Eichhörnchen davon, flüchtete vor Vögeln und Blättern im Wind und duckte sich in die Ecke, wenn der Briefträger an die Tür kam. Als Tara ihn zu uns brachte, versteckte er sich erst einmal einen halben Tag in einer Ecke der Küche, zitternd und mit eingezogenem Schwanz. An uns gewöhnte er sich recht schnell, aber alles andere versetzte ihn trotzdem in Angst und Schrecken. Nicht dass er es sich anmerken ließ. Wenn irgendetwas – egal was, ein Murmeltier oder Seth Ferguson, der Junge von gegenüber – unser Grundstück betrat, brach der Rottweiler in ihm durch. Er hatte eine große Klappe und nichts dahinter, ein Einbrecher jedoch würde das nur schwerlich glauben.

Big Steve wurde mein bester Freund. Er hörte zu, während ich ihm meine Manuskripte laut vorlas. Er lag auf dem Sofa und schaute mit mir Fernsehen, wenn ich eine Pause vom Schreiben einlegte. Wir mochten dasselbe Bier und dasselbe Essen (weil Hundefutter einfach nichts für Big Steve war; er zog ein schön saftiges Steak oder eine Pizza vor, die vor Käse nur so troff). Am wichtigsten war, dass Big Steve wusste, wann es Zeit wurde, meinen Hintern vom Computer fortzuzerren. Auf diese Weise begannen wir unsere täglichen Spaziergänge und nun waren sie eine feste Routine geworden. Zwei pro Tag – einer bei Tagesanbruch, kurz nachdem Tara sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte, und den zweiten bei Sonnenuntergang, bevor ich anfing, das Abendessen vorzubereiten, wenn sie auf ihrem Heimweg war. Tara pendelte jeden Tag nach Baltimore, und es waren diese Zeiten – wenn sie losfuhr und kurz bevor sie wieder heimkam –, in denen das Haus besonders verlassen schien. Big Steve besaß ein unfehlbares Timing. Er kümmerte sich darum, dass ich vor die Tür kam, und damit munterte er mich immer wieder auf.

Was uns zurück zu Shelly Carpenter und dem haarigen Mann bringt.

Als Tara an jenem Montag zur Arbeit aufbrach, diesem ersten Tag des Frühlings, stand Big Steve an der Tür und bellte; einmal – kurz und auf den Punkt.

Sehet, ich stehe an der Tür und belle; folglich muss ich pinkeln.

»Bist du bereit, Gassi zu gehen?«, fragte ich.

Er klopfte einmal bestätigend mit dem Schwanz und seine Ohren richteten sich auf. Seine großen, braunen Augen glänzten vor Erregung. Es war nicht viel nötig, um Big Steve glücklich zu machen.

Ich klemmte die Leine an sein Halsband (trotz seiner Furcht vor allem, was sich bewegt, steckt genug Beagle in Big Steve, um in ihm eine Lust darauf zu entfachen, mit der Nase am Boden in den Wald zu flitzen und bis zum Einbruch der Nacht nicht mehr nach Hause zu kommen). Wir traten vor die Tür. Die Sonne schien und es fühlte sich herrlich auf meinem Gesicht an. Es war für die Jahreszeit unverhältnismäßig warm, beinahe wie Sommer. Tara und ich hatten im Jahr zuvor einen Fliederbusch gepflanzt und seine Blüten hatten sich geöffnet, ihr Duft angenehm und süß. Vögel zwitscherten und sangen einander auf der großen Eiche hinter dem Haus etwas vor. Ein Eichhörnchen lief über das Dach meiner Garage und keckerte Big Steve an. Erschrocken wich der Hund vor ihm zurück.

Der lange, kalte Winter war gekommen und wieder verschwunden und irgendwie hatte ich es durchgestanden und beide Manuskripte fertiggestellt, Kalt wie Eis und Wenn der Regen kommt. Nun konnte ich mich endlich auf den Roman konzentrieren, den ich schreiben wollte, etwas anderes als einen Midlist-Krimi. Etwas Großes, mit genügend grenzüberschreitendem Potenzial, um wirklich Aufmerksamkeit zu erregen, vielleicht ein Roman über den Bürgerkrieg. Ich fühlte mich gut. So gut wie seit Monaten nicht mehr. Das Wetter hatte damit vermutlich etwas zu tun. Es war jetzt Frühling, die Jahreszeit von Wiedergeburt und Erneuerung und all dem Zeugs. Die Zeit, wenn die Natur das Reich der Tiere wissen lässt, dass es Zeit wird, jede Menge Babys zu zeugen. Frühling, die Jahreszeit von Sex und Glückseligkeit.

Big Steve feierte den ersten Frühlingstag, indem er an den Fliederbusch, gegen die Garage, auf den Bürgersteig und zweimal an die große Eiche pisste – womit er das Eichhörnchen noch mehr erzürnte. Die Äste des Baumes erzitterten, während es sein Missvergnügen zum Ausdruck brachte. Big Steve bellte den Aggressor an, aber erst nachdem er sich hinter mir in Sicherheit gebracht hatte.

Unser Haus wird eingefasst von der Main Street und einer schmalen Gasse, die uns von der Feuerwache der Gemeinde trennt. Die Feuerwache grenzt an ein unbebautes Wiesengrundstück und eine Grünanlage unseres Viertels, ausgestattet mit Schaukeln und Kletterstangen und tiefen Gruben voller Mulch, damit die Kinder sich beim Rutschen nicht die Knie aufschürfen. Jenseits der Parkanlage kommt der Wald – knapp 80 Quadratkilometer geschützter pennsylvanischer Forst, vom Bebauungsplan als solcher ausgewiesen, um zu verhindern, dass er von Farmern und Grundstücksmaklern abgeholzt und stattdessen als Ackerland genutzt oder in Baugrundstücke aufgeteilt wird. Der Wald ist an allen Seiten von unserer Stadt sowie den Ortschaften Seven Valleys, New Freedom, Spring Grove und New Salem umgeben. In jeder von ihnen gibt es Videotheken, Gemüsehändler und Pizzabuden (unsere Stadt besitzt sogar einen Wal-Mart), aber wenn man mitten im Wald steht, käme man niemals auf diese Idee. Sobald man den Waldrand hinter sich lässt, scheint es, als hätte man eine Zeitreise in das Pennsylvania unternommen, in dem die Susquehannock-Indianer noch immer frei umherstreifen und die Deutschen, die Quäker und die Amish erst noch eintreffen werden. Im Zentrum, dem dunklen Herzen des Waldes, befand sich LeHorn’s Hollow, die Quelle aller Geistergeschichten und Legenden im zentralen Pennsylvania. In jeder Gegend gibt es einen solchen Ort und LeHorn’s Hollow war unser verwunschener Ort.

Einmal besuchte mich ein Freund aus Kalifornien, ein Künstler. Tara und ich unternahmen mit ihm eine Wanderung durch ebenjenen Wald, vielleicht einen knappen Kilometer tief hinein, und er sagte etwas, an das ich mich immer erinnerte. Er sagte, unsere Wälder fühlten sich anders an. Damals spottete ich nur darüber und erinnerte ihn daran, dass sein eigener Staat die majestätischen Mammutbaum-Wälder besaß (Tara und ich hatten einen Teil unserer Flitterwochen mit einer Wanderung durch die Redwoods an der Küste zugebracht und seither habe ich immer dort leben wollen). Aber er bestand darauf, dass unser kleiner Flecken Wald anders war.

Er sagte, er fühle sich ursprünglich an.

Nachdem Big Steve damit fertig war, den Garten zu bewässern, zerrte er mich in Richtung der Gasse, seine Ohren aufgestellt und seine Zunge in hoffnungsvoller Erwartung heraushängend.

»Hast du Lust auf einen Spaziergang im Wald? Möchtest du ein paar Häschen aufspüren?«

Er wedelte in begeisterter Zustimmung mit dem Schwanz und neigte den Kopf zur Seite.

»Dann komm halt.« Ich grinste. Seine Stimmung war ansteckend. Es war unmöglich, an diesem Morgen etwas anderes als gute Laune zu verspüren.

Er hielt die Nase dicht über den Boden und lief mir voran. Shelly Carpenter kam auf ihrer morgendlichen Joggingrunde vorbeigelaufen, gerade als wir das Ende der Gasse erreichten. Ihr rotes Haar erbebte bei jedem Schritt. Genau wie der ganze Rest von ihr. Ich kannte Shelly nicht besonders gut, aber normalerweise unterhielten wir uns jeden Morgen ein wenig, wenn wir uns begegneten.

»Hey, Adam«, keuchte sie und lief auf der Stelle. »Hi, Stevie!«

Big Steve wackelte mit der Schwanzspitze und schoss zwischen meinen Beinen hindurch hinter mich.

»Ach, komm schon, Stevie.« Sie schaltete ihren iPod aus und zog die Stöpsel aus den Ohren. »Sei nicht so scheu! Du kennst mich doch.«

Big Steves Schwanz wedelte kräftiger, womit er bestätigte, ja, er kannte sie wirklich, aber er wich weiter vor ihr zurück.

Shelly lachte. »Gott, was für ein ängstliches Miezekätzchen.«

»Ja, das ist er. Läuft vor seinem eigenen Schatten davon. Wir haben ihn aus dem Heim und wir glauben, dass ihn sein Vorbesitzer vielleicht geschlagen hat oder so.«

Ihre Stirn legte sich in Falten. »Das ist so traurig. Was stimmt bloß mit manchen Menschen nicht?«

Ich nickte. »Ja, so Leute sollte man erschießen. Bist du bei deiner Morgenrunde?«

»Du hast es erfasst. Endlich ist der Frühling gekommen.«

Sie sah zur Sonne empor und blinzelte. »Der Frühling ist meine liebste Jahreszeit.«

Ihr dünnes T-Shirt war feucht vor Schweiß und es klebte an ihren wippenden Brüsten, wobei sie Vollkommenheit offenbarten. Ihre kecken, groschengroßen Brustwarzen pressten sich gegen den Stoff und deuteten die dunklen Warzenhöfe darunter an. Bevor sie meinen lüsternen Blick auffangen konnte, blickte ich tiefer. Großer Fehler. Ihre graue Jogginghose war hochgerutscht und liebkoste ihren Schritt wie eine zweite Haut. Auch die Hose war nass vor Schweiß.

Ich sah schnell wieder hoch. Shelly blickte mich mit einem komischen Gesichtsausdruck an.

»Alles in Ordnung, Adam?« Sie hob dabei die Augenbrauen an.

Ich räusperte mich. »Ja. Sicher. Ich dachte nur an meinen Abgabetermin.«

»Scheint, als würdest du unablässig vor dich hin träumen.«

»So ist das eben bei Schriftstellern.«

»Wie geht’s mit dem nächsten Buch voran?«

»Gut.« Ich lächelte und beugte mich zu Big Steve hinab. Fehler Nummer zwei. Mein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrer Leiste entfernt. Ich bildete mir ein, ihren Schweiß riechen zu können – und etwas anderes. Etwas Berauschendes. Den Duft einer Frau.

Was zum Teufel war denn nur mit mir los? Es war, als hätten mich meine Frühlingsgefühle in einen läufigen Köter verwandelt. Meine Reaktionen waren völlig untypisch für mich und ich schämte mich dafür.

Shelly legte eine Hand auf ihre Hüfte und drückte den Rücken durch. »Was soll’s also sein?«

Ich zuckte zusammen. »W-was?«

»Das Buch.« Ihre Brüste hüpften auf und ab, als sie begann, wieder auf der Stelle zu laufen. »Worum wird’s darin gehen? Noch ein Krimi?«

»Eigentlich bin ich mir da noch gar nicht sicher. Vielleicht ein Roman über den Bürgerkrieg, aber ich weiß es nicht. Ich muss es mir noch ein wenig durch den Kopf gehen lassen. Was immer auch rauskommt, es wird etwas Größeres sein.«

»Groß ist gut.« Sie leckte sich über die Lippen. Ihre glitzernde Zunge sah so einladend aus.

Ich begann mich zu fragen, ob sie sich dessen bewusst war, was sie da tat. Ihre Augen schienen glasig zu werden und sie rückte näher an mich heran. Big Steve regte sich nervös zwischen meinen Beinen.

Ich räusperte mich noch einmal und brach den Bann.

»Na«, sagte Shelly, »dann lass ich dich besser wieder zurück an die Arbeit. Richte Tara einen schönen Gruß von mir aus.«

»Okay. Mach ich. Wir sehen uns.«

Shelly steckte die Kopfhörer wieder in die Ohren, hob die Hand, winkte mir zum Abschied und pustete Big Steve einen Kuss zu. Wir starrten ihr hinterher, als sie die Gasse hinabjoggte und dann rüber zur Grünanlage lief. Ich sah, wie sich ihr vollkommener Hintern unter ihrer Jogginghose bewegte. Dann verschwand sie aus meinem Blickfeld. Als ich das nächste Mal jenen Hintern zu Gesicht bekam, war sie vor dem haarigen Mann auf die Knie gegangen.

Big Steve keuchte schwer, dann drehte er sich um und leckte sich die Eier.

Ich wusste, wie er sich fühlte. Meine eigene Erektion drängte sich unangenehm gegen meine Jeans. Von einem Bein aufs andere tretend vergewisserte ich mich, dass niemand zusah. Dann griff ich hinab in meine Hose und richtete alles neu.

Ich nahm einen tiefen Atemzug, während ich versuchte, das Schuldgefühl zu unterdrücken, das in mir aufstieg. Ich hatte Tara noch nie betrogen, aber die Gelegenheiten waren vorhanden. Je mehr es mit meiner Karriere voranging, desto mehr von ihnen schien es zu geben. Nicht Dutzende Gelegenheiten, zumindest noch nicht. Aber es hatte verschiedene Frauen gegeben, die mit Bourbon und im Schritt offenen Schlüpfern zu meinen Autogrammstunden gekommen waren oder mich gebeten hatten, mit Filzstift auf ihren Brüsten zu signieren. Sie schickten mir E-Mails, in denen sie mir mitteilten, wie sehr meine Arbeit sie anmachte. Genre-Groupies. Es war schmeichlerisch und verführerisch und es half beim Verkauf der Bücher. Aber es war auch überraschend, besonders wenn man meinen bescheidenen Erfolg in Betracht zog. Ich fragte mich oft, ob es mit wachsendem Erfolg schlimmer werden würde.

Das, wovor ich am meisten Angst hatte, war ich selbst – meine eigene Libido. Taras Moratorium den Sex betreffend machte mir mehr zu schaffen, als ich mir anmerken ließ. Ja, ich liebte sie, aber diese Phase der Enthaltsamkeit war trotzdem ein gewichtiger Faktor in unserem gemeinsamen Leben. Ich sorgte mich manchmal, dass ich sie betrügen würde, fürchtete mich, dass meine unkontrollierbare Libido mich einfach dazu treiben würde.

Aber ich hatte nie etwas dergleichen getan. Und meine erotische Überreaktion auf Shellys Sportoutfit hatte Verwirrung und Schuldgefühle bei mir ausgelöst, so wie auch ihr uncharakteristisches Flirten – wenn es denn das gewesen war. Hatte sie wirklich geflirtet oder war das nur meine Fantasie gewesen?

Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Situation richtig gedeutet hatte.

Zu jenem Zeitpunkt hatte ich das alles als belanglos abgetan. Es war eben einfach etwas, das in der Luft lag. Frühlingsgefühle vielleicht.

Aber jetzt weiß ich, wie richtig ich lag. Es lag etwas in der Luft – Musik und Magie – und es übte auf uns beide einen Einfluss aus.

Big Steve zog an seiner Leine und drängte mich weiter. Wir überquerten die Gasse und betraten das Feld, halbwegs in derselben Richtung, die auch Shelly eingeschlagen hatte. Das Gras war feucht vom Tau. Steve drückte die Nase auf den Boden, als er einen Geruch aufnahm. Er begann, einer Fährte nachzuspüren.

In den Ästen der Eiche begannen zwei Eichhörnchen zu rammeln, zelebrierten die Paarungszeit, indem sie Nachkommen zeugten.

Ich fragte mich, ob Tara und ich jemals ein Baby haben würden. Dann dachte ich an die letzte Fehlgeburt. Traurigkeit stieg in mir auf und ich kämpfte gegen plötzliche und überraschende Tränen an.

Steve zerrte an der Leine, verjagte die schlimmen Erinnerungen wie der gute Hund, der er war.

Wir marschierten weiter. Das feuchte Gras durchnässte meine Schuhe und seine Pfoten. Ich schlug einen Bogen um den Spielplatz. Es wäre nicht gut, wenn die Kinder aus der Nachbarschaft die Rutsche herabsausen und in einem Haufen Hundescheiße landen würden. Als hätte er meine Gedanken gelesen, ließ Big Steve pflichtbewusst einen Haufen ins Gras fallen. Ich verzog das Gesicht bei dem Geruch und drehte meine Nase fort. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und es schien, als würde er grinsen. Dann gingen wir weiter.

Die Nachbarschaft erwachte um uns herum zum Leben. Paul Legerskis schwarzer Chevy Suburban fuhr röhrend die Gasse herunter, während Liquid Noose von Flotsam and Jetsam aus seinen Lautsprechern dröhnte. Schon älter, aber klasse. Paul hatte die Bässe voll hochgedreht, so wie die Kids aus der High School mit ihrem Hip-Hop. Er hupte und winkte und ich winkte zurück. Paul und seine Frau Shannon waren nette Leute. Einer meiner direkten Nachbarn, Merle, versuchte seinen Rasenmäher anzuwerfen. Der Mäher stotterte, blieb stehen, stotterte erneut. Merles Flüche waren laut und deutlich zu verstehen und ich kicherte vor mich hin. Dann vernahm ich das Zischen fließenden Wassers, als ein weiterer Nachbar, Dale Haubner, ein Rentner, seinen Gartenschlauch aufdrehte. Ein Schwarm Gänse zog über uns hinweg, mit lautem Geschnatter ihre Rückkehr aus südlichen Gefilden verkündend. Bienen summten im Klee, der neben der Wippe wuchs.

Aber inmitten all dieser vertrauten Laute war noch ein anderes Geräusch. Zunächst dachte ich, ich hätte es mir nur eingebildet. Aber Big Steves Ohren waren gespitzt und sein Kopf schief gelegt. Er hatte es auch gehört.

Als wir dort standen, kam es von Neuem – ein hohes, melodisches Pfeifen. Es klang wie eine Flöte. Nur ein paar kurze, zufällige Noten und dann verebbten sie in der Brise und wurden nicht mehr wiederholt. Ich sah mich um, wollte mich vergewissern, ob Shelly das auch gehört hatte, aber sie war verschwunden, als ob der Wald sie verschluckt hätte.

Ich schätze, genau das ist gewissermaßen auch geschehen.

Das musikalische Pfeifen wehte abermals heran, schwach, aber klar. Ich wurde erneut von Erregung übermannt und fragte mich unbewusst, warum. Shelly war verschwunden, und sonst war niemand zu sehen. Ich hatte überhaupt nicht an Sex gedacht. Es war unheimlich.

Big Steve stemmte seine Füße in den Boden, sein Fell sträubte sich und er knurrte. Ich zog an der Leine, aber er rührte sich kein bisschen. Sein Knurren wurde lauter, eindringlicher. Ich bemerkte, dass er ebenfalls einen Ständer bekommen hatte.

»Komm schon«, sagte ich. »Da ist nichts. Nur ein Kind, das für die Schulkapelle übt.«

Big Steve warf mir einen raschen Blick zu, dann wandte er sich wieder zum Wald hin und knurrte erneut.

Die Musik brach abrupt ab. Sie verstummte nicht allmählich – es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

Mir kam in den Sinn, dass es ja Montagmorgen war und alle Kinder in der Schule waren, also konnte hier auch keines sein Instrument geübt haben. Dann verließ die Anspannung Steves Hinterbeine und er benahm sich wieder vollkommen normal, seine Nase am Boden und sein Schwanz vor Aufregung über jeden neuen Geruch wedelnd.

Der schmale Pfad, der in den Wald führte, war zwischen zwei großen Ahornbäumen verborgen. Ich weiß nicht, wer den Pfad angelegt hatte, Kinder oder Rehwild, aber Big Steve und ich benutzten ihn jeden Tag. Totes Laub zerbröselte unter unseren Füßen, als wir in den Wald hineinhuschten, während neue Blätter an den Ästen über uns zu knospen begannen. Blumen brachen aus dem dunklen Erdboden heraus und säumten den Pfad mit verschiedenen Farben und Düften.

Ich blieb stehen, um mir eine Zigarette anzuzünden, während Big Steve an einem moosigen Baumstumpf herumschnüffelte. Ich inhalierte, starrte zu dem Blätterdach über unseren Köpfen empor und stellte fest, wie viel dunkler es hier doch war, sogar unmittelbar am Rande des Waldes.

Ursprünglich, dachte ich.

Ich erschauderte. Die Sonnenstrahlen gelangten nicht bis hierher. Es gab keine Wärme innerhalb des Waldes – nur Schatten.

Die Wälder waren zunächst noch still, aber schrittweise erwachten sie zum Leben. Vögel zwitscherten und Eichhörnchen spielten in den Ästen über uns. Ein Flugzeug flog hoch am Himmel, unsichtbar jenseits der Baumwipfel. Wahrscheinlich unterwegs zum Flughafen von Baltimore oder Harrisburg. Die Sonne kehrte zurück und spähte durch die Baumkronen hindurch. Aber ich konnte ihre Wärme nicht spüren und die Strahlen schienen mir recht spärlich.

Big Steve zog an der Leine und wir setzten unseren Weg fort. Der gewundene Pfad neigte sich beständig abwärts. Wir suchten uns unseren Weg zwischen Ranken und Dornen und ich entdeckte einige Himbeersträucher, was mir einen Grund gab, mich auf den Sommer zu freuen. Wenn ich sie pflücken würde, dann würde Tara mir einen Kuchen daraus backen. Blaues und grünes Moos klammerte sich an gedrungene, graue Steine, die aus dem Waldboden ragten wie halb freigelegte Dinosaurierskelette. Und dann gab es noch die Bäume, die hoch und streng um uns herumstanden.

Ich erschauderte erneut. Die Luft wurde immer kühler, näherte sich der üblichen Temperatur für diese Jahreszeit an. Ich trat über einen umgestürzten Baumstamm und fragte mich ein weiteres Mal, wer diesen Pfad angelegt hatte und wer außer Big Steve und mir ihn sonst noch benutzte. Tiefer als anderthalb Kilometer waren wir nie in den Wald vorgedrungen, aber der Pfad führte unbeirrt von da aus weiter. Wie weit ging er? Den ganzen Weg bis zur anderen Seite? Kreuzte er andere, noch weniger genutzte Pfade? Führte er bis zu LeHorn’s Hollow?

Ich habe die Senke, von der die Bezeichnung Hollow kommt, vorher schon einmal erwähnt. Ich war nur einmal dort gewesen, als ich noch in der High School war und einen abgelegenen Ort suchte, an dem ich in Becky Schrums Schlüpfer vordringen konnte. 1987 – meine Abschlussklasse. Wir hatten uns einen Freitag der 13.-Streifen angesehen (ich kann mich nicht mehr erinnern, welchen) und als er vorbei war, kurvten wir etwas in meinem ’81er Mustang mit Fließheck herum, hörten Out of the Cellar von Ratt und redeten über die Schule und alles Mögliche.

Schließlich waren wir auf den Feldweg geraten, der zur LeHorn-Farm führte. Das Farmhaus und die Nebengebäude hatten drei Jahre lang leer gestanden. Nelson LeHorn hatte 1985 seine Frau Patricia umgebracht und war dann verschwunden. Seitdem war er nicht mehr gesehen worden und seine Kinder lebten im ganzen Land verstreut. Sein Sohn Matty saß wegen bewaffneten Raubs im Staatsgefängnis von Cresson, oben im Norden. Seine Tochter Claudia war verheiratet und wohnte in Idaho. Und seine jüngste Tochter, Gina, arbeitete als Lehrerin in New York. Soweit ich weiß, war niemand von ihnen jemals nach Hause zurückgekehrt. Da der alte Herr per Gesetz noch nicht für tot erklärt worden war, konnten die Kinder das Grundstück nicht verkaufen und die Gesetze von Pennsylvania verhinderten, dass das County oder der Staat es in Besitz nahm. Also lag die Farm dort, mit Brettern zugenagelt und verlassen, und war nichts weiter als eine Zuflucht für Ratten und Murmeltiere.

Der LeHorn-Besitz lag in der Mitte eines meilenweiten Waldgebiets, unberührt von der explosiven Erschließung, die andere Teile des Staates verschandelt hatte, und umgeben von einer ausgedehnten Weite öder Kornfelder, denn auf den sanften Hügeln hatte niemand mehr seit dem Mord und LeHorns Verschwinden gearbeitet. Im Zentrum der Felder lag die Senke wie eine Insel.

Ich hatte den Wagen in der Nähe des Hauses abgestellt und Becky und ich hatten darüber diskutiert, ob es nun verwunschen war oder nicht. Und wie ein Uhrwerk hatte sie sich da an mich gekuschelt, voller Furcht vor der Dunkelheit.

Ich erinnere mich, gelegentlich zur Senke hinübergeblickt zu haben, während wir miteinander herummachten. Selbst in der Dunkelheit konnte ich die hellen, gelben Schilder mit KEIN ZUTRITT und PRIVAT erkennen, die an einigen der Bäume im Außenbereich befestigt waren.

Becky ließ mich die Hand in ihre Jeans schieben und ihr Atem beschleunigte sich, als ich mit den Fingern ihre Feuchte erkundete und mit meinen Handflächen über ihre harten Nippel strich. Dann aber stoppte sie mich. Da ich meinen Ärger und meine Enttäuschung nicht zeigen wollte, schlug ich vor, zur Senke hinüberzuspazieren. Ich hoffte, dass ihre Keuschheit nachgab, wenn der Grad ihrer Furcht zunahm.

Die Senke war ein ausgedehnter dunkler Fleck am tiefsten Punkt der Abhänge vierer großer, steiler Hügel. Sie quoll über mit einem Altbestand von Bäumen, die nie eine Kettensäge oder eine Axt gesehen hatten. Ein flacher, gewundener Bach schlängelte sich mitten durch sie hindurch. Wir hörten das plätschernde Wasser, kamen aber nicht weit genug heran, um das Bachbett zu sehen.

Denn irgendetwas bewegte sich in der schwarzen Leere zwischen den Bäumen …

Irgendetwas Großes. Es kam krachend auf uns zu, Äste zerbrachen wie Gewehrschüsse unter seinen Füßen. Becky schrie auf und ihr Griff verkrampfte sich mit schmerzhaftem Druck um meine Hand. Hals über Kopf verschwanden wir von dort. Wir bekamen das Etwas nicht zu Gesicht, was immer es auch war, aber wir hörten es schnauben – ein urweltliches Geräusch, das mir heute noch in den Ohren klingt. Ein Hirsch wahrscheinlich oder vielleicht ein Schwarzbär. Ich weiß jedenfalls nur, dass es mir eine Höllenangst einjagte, und seit jenem Tag war ich nicht mehr in der Senke gewesen.

Big Steve brachte mich wieder in die Gegenwart zurück, indem er plötzlich mitten auf dem Pfad stehen blieb. Er versteifte sich wie ein Brett, die Beine starr und die Rute zwischen ihnen eingeklemmt. Das Knurren begann wie ein leises Brummen tief in seinem Inneren und es wurde lauter und lauter, als es herausdrang. Ich hatte ihn noch nie solch ein Geräusch von sich geben hören, und ich fragte mich, ob ich versehentlich etwa den Hund von jemand anderem an der Leine befestigt hatte. Er hatte sich noch nie wegen irgendetwas derart aufgeregt. Er klang gefährlich. Tapfer.

Oder verängstigt.

Plötzlich, wie von meinen Erinnerungen heraufbeschworen, krachte etwas durch die Büsche in unsere Richtung. Big Steves Haare stellten sich auf und sein Knurren verwandelte sich in ein polterndes Bellen.

»Komm schon, Steve. Verschwinden wir!« Das Herz raste mir in der Brust. Ich zerrte an der Leine, aber er rührte sich kein Stück. Er bellte erneut.

Der Lärm kam näher. Zweige brachen. Blätter raschelten.

Die Äste teilten sich.

Ich schrie.

Das Reh, ein geflecktes Kitz, sprang über einen umgestürzten Baum, huschte über den Pfad und verschwand wieder im Unterholz, sein weißer Schwanz aufblitzend. Es sah genauso erschrocken aus wie wir.

»Gottverdammt!« Ich schnappte keuchend nach Luft und versuchte, meinen rasenden Puls unter Kontrolle zu bekommen.

Big Steve hatte sich derweil hinter mich geduckt, sobald das Reh herausgekommen war. Ich blickte zu ihm hinunter. Er erwiderte den Blick mit diesen sanften, braunen Augen, und dann klopfte er einmal mit der Schwanzspitze, als würde er sich schämen.

»Du solltest dich schämen«, tadelte ich ihn und er senkte seine Ohren und sah zur Seite.

Mein Herz hämmerte noch immer in meiner Brust und meine Schläfen pochten. Mir war beinahe übel von dem plötzlichen Adrenalinstoß.

Big Steve winselte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Okay, vielleicht sollten wir uns beide schämen. Ist das besser?«

Big Steve bewegte zustimmend den Schwanz hin und her und schob sich dann zwischen meinen Beinen hervor. Er schnüffelte dort herum, wo das Reh entlanggelaufen war. Dann begann er von Neuem beständig zu wedeln, als er seinen Mut wiederfand. Er beschloss, dass es in Ordnung war weiterzugehen, und zog mich weiter den Weg entlang.

Ich lachte. Der tapfere Autor von Midlist-Krimis und sein treuer Hundegefährte, die sich vor einem Reh zu Tode fürchteten. Nicht einfach irgendein Reh, sondern dazu noch ein Babyreh.

Ein Baby …

Ungewollt kam die Erinnerung an Taras letzte Fehlgeburt in mir hoch, und ich blinzelte die Tränen fort.

Die Wälder erschienen mir noch etwas kälter.

2

Zu dem Zeitpunkt, als Tara ihre erste Fehlgeburt hatte, waren wir uns nicht einmal sicher, dass es sich darum handelte. Es passierte ein Jahr nach unserer Hochzeit. Wir hatten seit den Flitterwochen versucht, ein Baby zu bekommen. Aber wir hatten nicht viel Glück dabei. Ich kann Ihnen sagen, dass es nicht an Versuchen gemangelt hatte. Kennen Sie den alten Spruch von den Karnickeln? Das traf voll und ganz auf uns zu – morgens, mittags und abends und das Dreifache, wenn sie gerade den Eisprung hatte. Vielleicht versuchten wir es einfach zu sehr, denn trotz unserer hohen Schlagzahl endete es nicht mit einer Empfängnis.

Eines Monats dann hatte ihre Periode ein paar Tage Verspätung. Tara war damit normalerweise so pünktlich wie ein Uhrwerk, daher dachten wir uns beide, dass sie endlich schwanger war. Bevor wir aber einen dieser Schwangerschaftstests für zu Hause vornehmen konnten, bekam Tara stechende Schmerzen, Krämpfe und einen starken Blutfluss. Stärker als gewöhnlich. Es war eine Menge Blut, aber dann war alles vorbei und wir hakten das alles einfach als eine ungewöhnlich heftige Periode ab. Erst bei Taras zweiter Fehlgeburt fanden wir heraus, was die erste Erfahrung höchstwahrscheinlich gewesen war.

Die zweite Fehlgeburt war viel schlimmer. Das war vor etwas mehr als einem Jahr. Dieses Mal wussten wir, dass sie schwanger war. Es gab keinen Zweifel. Tara machte den ersten Test etwa eine Woche, bevor ihre Periode fällig war. Er war positiv, aber der Streifen, der das Ergebnis anzeigte, war nur sehr schwach, also warteten wir noch etwas. Nachdem wir es so lange probiert hatten, versuchten wir, uns keine große Hoffnung zu machen, versprachen einander, dass wir das auch nicht tun würden, und taten es dann trotzdem. Schließlich machten wir einen zweiten Test und der war auch positiv und die darauf folgende Untersuchung bei einer Frauenärztin bestätigte unsere Gebete. Wir bekamen endlich ein Baby.

Tara fing an, sich Gedanken zu machen, in welcher Farbe das Kinderzimmer gestrichen werden sollte, und ich überlegte, wie ich meinen Verleger um mehr Geld bitten konnte, damit ich nicht wieder einen Vollzeitjob übernehmen musste, nur um unsere Rechnungen zu bezahlen. (Damals arbeitete ich in Teilzeit in der Papierfabrik und schrieb den Rest des Tages.) Zu wissen, dass wir nun werdende Eltern waren, war sonderbar und unheimlich und aufregend, und zwar alles gleichzeitig. Wir begannen, uns Namen zu überlegen. Wenn es ein Junge würde, wollte Tara ihn John oder Paul nennen. Das war ihr latentes katholisches Erbe, das da durchschimmerte. Ich war nicht ganz so begeistert. Ich war Hunter sehr zugetan, nach Hunter S. Thompson, meinem literarischen Helden. Davon hielt sie nicht viel. Bei einem Mädchen waren wir uns ziemlich einig und hatten die Auswahl auf Abigail, Amanda oder Emily eingegrenzt. Wir kauften einen Kindersitz für unser Auto und ein familientaugliches neues Auto direkt dazu. Wir besorgten uns außerdem ein Kinderbett, eine Babyschaukel, einen Hochstuhl sowie eine Kommode voller Babykleidung. Tara entschied sich schließlich für ein helles Lila im Kinderzimmer und dazu eine Bordüre mit dem Esel I-Aah aus Pu der Bär. Ich verbrachte ein langes, anstrengendes Wochenende damit, es alleine anzustreichen, damit sie nicht die Farbdämpfe einatmen musste.

Tara besuchte das erste Mal eine Schwangerenvorsorgeklasse und begann, sich im Internet über die Mutterschaft zu informieren. Wir diskutierten die Vorteile des Stillens gegenüber der Flasche. Ich ertappte sie dabei, wie sie sich im Wandspiegel in unserem Schlafzimmer betrachtete, um festzustellen, ob man schon etwas erkennen konnte. Sie fragte mich, ob ich glaubte, dass sie eine gute Mutter abgeben würde. Ich erklärte ihr, sie würde die allerbeste sein. Wir hielten uns oft an den Händen und führten öfter lange Gespräche, wir verbrachten grundsätzlich viel mehr Zeit zusammen. In vielerlei Hinsicht war es, als würden wir uns von Neuem ineinander verlieben. Ich weiß nicht, ob einer von uns beiden in seinem ganzen Leben schon einmal glücklicher war.

Dann, sechs Wochen später, begann Tara zu bluten.

Wir hatten natürlich Angst. Keiner von uns wusste, was es damit auf sich hatte. Es geschah so plötzlich. Eines Morgens setzte sie sich aufs Klo, um zu pinkeln, und als sie sich abwischte, war Blut am Toilettenpapier. Nicht viel Blut, so wie beim ersten Mal. Nur ein Streifen. Aber es war ein hellroter Streifen.

Ich erinnere mich, wie sie das sagte, die erschrockene Ungläubigkeit in ihrer Stimme. »Es ist so hell. So sollte es nicht aussehen.«

Sofort reckte das Phantom der Fehlgeburt seinen hässlichen Schädel, zusammen mit der Möglichkeit, es könne sich um Krebs oder irgendetwas anderes Furchtbares handeln. Wir vereinbarten einen Termin beim Arzt und die Fahrt dorthin verbrachten wir in entsetztem Schweigen. Ich fuhr sehr langsam.

Die Ärztin erklärte uns, es könne eine Fehlgeburt sein, aber genauso gut nur eine Schmierblutung. Ihr zufolge machte ein Viertel aller schwangeren Frauen im frühen Stadium der Schwangerschaft Schmierblutungen durch. Taras eigene Mutter hatte so sehr geblutet, als sie mit Tara schwanger war, dass sie glaubte, ihre normale Periode zu haben. Taras hCG-Wert wurde untersucht, und auch wenn er nicht anstieg, so war er auch nicht gefallen. Ich verstand nicht viel von dem, was dabei gesagt wurde, aber ich verstand zumindest so viel, dass es schlecht war, wenn der Wert fiel.

Also warteten wir, während das Blut weiterhin floss und unsere Ängste sich vervielfachten. Die Krämpfe begannen früh am nächsten Morgen – zunächst milde und sporadisch, aber dann stärker und nachhaltiger. Ich sagte Tara, sie solle wieder zu Bett gehen, und legte mich neben sie. Wir blieben den ganzen Tag so liegen. Wir sprachen nicht viel miteinander, aber wir beide weinten oft. Ich hielt sie fest, während sie von furchtsamem Zittern geschüttelt wurde, und sie tat dasselbe für mich. Ab und zu ging sie zur Toilette, um zu pinkeln oder ihre Binde zu überprüfen, und jedes Mal war noch mehr von dem hellen, glänzenden Blut da. Tara versuchte, hoffnungsvoll zu klingen, aber ich sah die Furcht in ihren Augen. Sie sagte, vielleicht sammelte sich das Blut in ihr an, weil sie die ganze Zeit lag, und deswegen schien es mehr zu sein, wann immer sie die Toilette aufsuchte. Ich lächelte und nickte und stimmte ihr zu, dass es vermutlich daran lag. Sie lächelte zurück.

Dann begannen wir beide wieder zu weinen.

Ich versuchte, sie abzulenken. Wir spielten Scrabble und Uno im Bett, aber keiner von uns beiden konnte sich konzentrieren. Ich rief wieder bei der Ärztin an und die Sprechstundenhilfe erklärte mir in sehr mitfühlendem Tonfall, wir sollten noch länger warten. Ich wollte sie anbrüllen und ihr sagen, dass wir es satthatten zu warten, aber stattdessen biss ich mir auf die Zunge. Wir versuchten es mit Fernsehen, aber auf jedem Sender wurden wir an unsere Lage erinnert; die Figuren in den Seifenopern und Serien waren schwanger oder glaubten, es zu sein. Ich schaltete einen Nachrichtensender ein. Dort gab es Berichte von entführten Kindern, die ermordet aufgefunden wurden, und verlassenen Babys, die man in Müllcontainern abgelegt hatte. Ich glaubte, die ganze Welt habe sich gegen uns verschworen.

Schließlich weinte sich Tara in den Schlaf. Ich lag dort und hatte einfach nur Angst. Ich überlegte, aufzustehen und zu versuchen, etwas zu schreiben, aber zu jener Zeit besaß ich noch keinen Laptop und mein Computer war unten in meinem Arbeitszimmer. Ich wollte Tara nicht von der Seite weichen. Tatsächlich hätte ich vermutlich sowieso nichts schreiben können. Ich war wie betäubt.

Das Schlimmste daran war die Warterei, die Gewissheit, zu ahnen, was geschah: dass wir gerade unser Baby verloren; und die Erkenntnis, dass ich machtlos war, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Ich fühlte mich so beschissen hilflos. Tara war meine Frau und das war unser Kind. Ich sollte dazu fähig sein, alles in Ordnung zu bringen. Das war es, was gute Ehemänner taten. Diesen Eid leisten wir bei unserer Hochzeit. Das ist unser Job. Wir bringen alles in Ordnung; beschützen unsere geliebten Menschen vor all den schlimmen Aspekten des Lebens. Aber ich konnte sie nicht beschützen. Einen Scheißdreck konnte ich.

Die Stunden verrannen. Ich nahm den neuen Handyman Jack-Roman von meinem Nachttisch und versuchte, mich in der Geschichte zu verlieren, gab aber schließlich auf, als ich mich dabei ertappte, wie ich denselben Satz zum sechsten Mal las und immer noch nicht verstand. Die Worte verschwammen ineinander. Ich konnte meiner Familie nicht helfen, konnte nicht schreiben, konnte nicht lesen und konnte nicht schlafen. Alles, was ich tun konnte, war, mich neben Tara zusammenzurollen und sie festzuhalten, während sie schlief, und zu versuchen, nicht zu weinen. Zu versuchen, sie nicht aufzuwecken. Ich lauschte auf ihren Atem, spürte, wie sich ihre Brust hob und senkte.

Ich hörte zu, wie sie im Schlaf noch weinte.

Sie weinte und blutete und schlief, während ich mich fragte, was ich als Nächstes tun konnte.

Ich war verzweifelt und griff nach metaphorischen Strohhalmen. Ich betete zum ersten Mal seit sehr langer Zeit zu Gott. Ich war nicht besonders religiös. Tara besuchte manchmal am Sonntag die Messe, während ich zu Hause blieb und schrieb. Meine Eltern nahmen mich als Kind mit in die Kirche – sie waren Methodisten. Es gab mir nie viel. Ich spürte Gott nicht dort in der Kirche. Empfand überhaupt nicht viel außer Langeweile. Jede Woche sangen wir einen Choral, lasen gemeinsam etwas aus dem Pfarrbrief, hörten uns die Predigt an (während der ich beobachtete, wie die alten Männer um mich herum langsam einnickten), legten die Umschläge mit unserer Kollekte auf den Opferteller und mischten uns nach dem Gottesdienst unter die Leute, tranken Kaffee und diskutierten über Football. Nichts davon erweckte in mir das Bedürfnis, mit Gott zu sprechen, aber ich sprach zu ihm in dieser Nacht, als ich ihn am meisten benötigte. Ich schätze, so ergeht es jedem, ob er nun an ihn glaubt oder nicht. Wenn man sich nirgendwo sonst mehr hinwenden kann, dann wendet man sich Gott zu. Ich flehte ihn an, bat ihn, uns zu helfen, alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich bettelte ihn an, meine Frau und mein ungeborenes Kind vor Schaden zu bewahren, und versprach ihm die Welt, wenn er mir nur beistehen würde.

Ich betete eine ganze Weile stumm vor mich hin. Schließlich schlief ich ein. Meine Träume waren düster und ich wälzte mich ziemlich viel herum.

In der Mitte der Nacht weckte ein besonders starker Krampf Tara aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie stand zum Pinkeln auf, und da geschah es. Ihre Schreie weckten mich auf. Ich lief ins Badezimmer. Tara krümmte sich über der Toilette zusammen und schluchzte hemmungslos. Ich half ihr auf und brachte sie ins Bett zurück. Sie rollte sich kreischend zu einer Kugel zusammen. Ich rief bei der Ärztin an. Während ich dem Rufdienst die Lage schilderte, ging ich zurück ins Badezimmer und warf einen Blick in die Toilette.

Das Wasser in der Schüssel war dunkelblau von einer dieser Reinigungstabletten, und dadurch sah das Blut wie grüner Schleim aus. Es war eine Menge Blut – viel zu viel. Und dort, inmitten des dunkelblauen Wassers und Klumpen von Toilettenpapier, lag unser Kind. Geschlechtslos, noch nicht ausgebildet. Es hatte in etwa die Größe einer Münze, wirklich nicht viel mehr als ein Klümpchen.

Als wir mit der Mutterschaftsvorsorge begonnen hatten, hatte uns die Ärztin einen Kalender mit kleinen Infos gegeben, anhand derer man der Entwicklung des Kindes mit fortschreitender Schwangerschaft folgen konnte. Diesem Kalender zufolge begannen sich zwischen der sechsten und siebten Woche die Augen, Ohren und der Mund des Embryos gerade erst zu bilden, so wie auch die wichtigsten Organe wie Herz, Leber und Lunge.

Ein Embryo. So wurde es genannt. Kein Baby; nur ein Embryo.

Aber das Klümpchen, das dort in der Toilette trieb, war nicht unser Embryo. Es war unser Kind. Unser Baby. Unsere Hoffnungen und Träume.

Und es war tot.

Damals, als ich über der Toilette stand, glaubte ich, und das glaube ich bis zum heutigen Tag, dass ich Augen sah, die zu mir hinaufblickten. Bittend.

Zwei kleine Augen, die mich anflehten, alles in Ordnung zu bringen – das nicht geschehen zu lassen.

Vor meinen Augen rutschte es von der kleinen Insel aus blutigem Toilettenpapier und sank auf den Grund der Schüssel.

Und ich schrie.

Ich umklammerte das Telefon, meine Finger verkrampften sich so sehr, dass ich die Knöchel knacken hörte. Die Frau vom ärztlichen Rufdienst war immer noch in der Leitung, fragte mich, ob alles in Ordnung sei, ob ich überhaupt noch am Apparat sei. Über meinen eigenen Schreien konnte ich sie kaum verstehen. Meine Gebete waren unnütz gewesen oder ignoriert worden. Ich verfluchte Gott, und wäre er in diesem Augenblick dort gewesen, hätte ich ihm mit Freude eine Kugel zwischen seine beschissenen Augen gejagt.

Danach, nun – wir waren beide in den nächsten Wochen die reinsten Nervenbündel. Ich war wütend und Tara quasi komatös. Sie ging nicht arbeiten, ich konnte ums Verrecken nichts schreiben und in der Papierfabrik schlafwandelte ich durch meine Schicht und kam mir wie ein Zombie vor. Keiner von uns beiden aß besonders viel. Wir weinten sehr oft. Ich versuchte mich für uns beide zusammenzureißen und war nicht besonders erfolgreich dabei. Wir hatten allen möglichen Leuten erzählt, dass sie schwanger war; Taras Eltern, ihren Arbeitskollegen und einigen mit mir befreundeten Autoren. Als wir jedem von ihnen erklären mussten, was geschehen war, kam es uns so vor, als durchlebten wir die Fehlgeburt von Neuem.

Ich schätze, irgendwann ließen wir es hinter uns – falls man sich von so etwas überhaupt erholen kann. Eine lange Zeit herrschte zwischen uns eine tiefe, unausgesprochene Traurigkeit. Wir sprachen niemals darüber, noch einmal zu versuchen, ein anderes Kind zu bekommen. Nicht dass wir zuvor besonders viel Glück gehabt hatten. Taras sexuelles Verlangen ging nach der Fehlgeburt auf null zurück und seitdem hatte es sich nicht viel gebessert. Ich schätze, ich kann es verstehen. Miteinander zu schlafen war jetzt nur eine weitere düstere Erinnerung an das Geschehene, denn so wurden schließlich Kinder gezeugt. Und Kinder können einem das Herz auf so viele Arten brechen wie nichts anderes.

Aber einige Monate später kam sie mit Big Steve nach Hause und er brachte etwas Licht in unser beider Leben. Und tatsächlich, ihn um uns herum zu haben, war genauso, als hätte man ein Kind.

Irgendwie jedenfalls …

Manchmal, wenn ich nachts die Augen schließe, sehe ich immer noch unser Kind vor mir, wie es aus der Toilettenschüssel zu mir hochblickt. Ich sehe das Baby in diesem blutigen Wasser herumtreiben. Ich spüre die stumme Anklage in diesen winzigen Augen und den Griff der Spülung unter meinen Fingerspitzen. Ich höre das Geräusch der Toilettenspülung – das Geräusch, mit dem unser Baby, unsere Hoffnungen und Träume im Abfluss verschwinden.

In diesen Augenblicken hasse ich Gott noch immer und möchte immer noch schreien. Aber ich befürchte, dass ich, wenn ich einmal damit anfange, nicht wieder aufhören kann. Ein jedes Mal bricht mein Herz erneut.

Wir hatten ziemlich spät geheiratet. Tara ist 35 Jahre alt und ich bin beinahe 40. Nein, wir sind noch nicht alt, aber wir werden auch nicht jünger. Unsere Chancen auf ein Baby verringern sich mit jedem vergehenden Jahr. Ich werde vermutlich niemals einen glücklichen Vatertag feiern. Ich finde auch nicht, dass man Gott einen solchen zugestehen sollte.