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Klaus Püschel
Bettina Mittelacher

TOTE
LÜGEN
NICHT

Faszinierende Fälle
aus der Rechtsmedizin

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Inhalt

Es gibt nichts, was es nicht gibt

Voodoo – vollkommen entzaubert

Voodoo

Die Angst vorm schwarzen Mann

Operative Fallanalyse, Täterprofil

„Lebenslang“ und besondere Schwere der Schuld

Leben mit dem Tod

Forensische Entomologie

Alles Käse!

Asphyxiophilie, Hypoxyphilie

Im Keller und am Ende der Welt

Späte Leichenveränderungen

Alkoholintoxikation

Mord im Gerichtssaal

Mord oder Totschlag?

Sie wollte nur leben

Ehrenmord

Hände ab – Geld her!

Selbstverletzung – rechtlicher Vorteil, materieller Gewinn

Die zerstückelte Tote

Ärzte als Mörder

Tod im Kinderbett

Somatogramme, Perzentilen

Verhungern und Trichotillomanie

Endstation Schredder

Suizidpräventionsprogramm

Forensische Molekulargenetik

Der Todesfahrer

Fahreignung, Fahrtüchtigkeit

Mord in Santa Fu

Blutspurenmuster-Analyse

Ein Schock fürs Leben

Histologie, Mikroskopie

Der 1000-Jahre-Irrtum

Daktyloskopie

Virtuelle Autopsie (Virtopsie)

Nachwort und Danksagung

Impressum

Es gibt nichts, was es nicht gibt

„Der Tod lächelt uns alle an. Das Einzige, was man machen kann, ist zurücklächeln.“ Es war der römische Kaiser Marc Aurel, der dem Tod ein Lächeln zuschrieb, eine menschliche und erstaunlich positive Charakterisierung. Einmal ist er nicht der finstere Sensenmann, das skelettierte Gesicht verborgen unter einer Kapuze. Kein Tod, der uns unerwartet und gnadenlos trifft, zugefügt in allen nur denkbaren Facetten, mit Messer, Schusswaffe, Gift, per Beil, Strom oder Armbrust oder durch die bloßen Hände, die sich um den Hals legen und zudrücken, immer fester. Mit solchen Schicksalen werden wir immer wieder in der Rechtsmedizin konfrontiert: Tötungsdelikte in den ungewöhnlichsten Varianten.

Einige davon schildern wir in diesem Krimi-Sachbuch. Eingestreut werden aber auch einzelne Suizide und Unglücksfälle, die vom Ablauf und Befundmuster her weit aus dem Rahmen fallen. Frei nach unserem Kernsatz: Es gibt schlichtweg nichts, was sich nicht auch im mehr oder weniger kranken Gehirn eines (Selbst-)Mörders abspielen oder was einer kaum vorstellbaren Konstellation von zeitlichen und örtlichen Zufällen entspringen kann.

Dies gehört zur besonderen Faszination des Fachs Rechtsmedizin: Wenn man morgens zur Arbeit geht, gibt es zwar einen vorgezeichneten Plan für den „normalen“ Tagesablauf. Es kommt aber recht häufig vor, dass alles ganz anders kommt … Gleiches gilt für das Ende des Arbeitstags. Nicht selten kommt ein unerwarteter Einsatz dazwischen, der alle Pläne über den Haufen wirft.

Manchmal heißt es verwundert über uns: Warum müssen Sie denn nachts oder am Wochenende tätig werden? Wenn die Rechtsmediziner kommen, sind doch alle schon tot. Es geht nicht mehr um die Gesundheit oder das (Über-)Leben. Tot ist tot. Der tote Körper läuft nicht mehr weg, er kann warten. Lass die Toten ruhen, denen kann man sowieso nicht mehr helfen.

Am Turm des neuen Rathauses in Leipzig prangt um die Rathausuhr herum der weise Spruch, auf Lateinisch: „Der Tod ist sicher. Der Zeitpunkt nicht.“ Mors certa, hora incerta. Darüber thront die Statue einer schönen Frau in einem wallenden Gewand – die Wahrheit. Als Sinnbild hält sie in ihrer rechten Hand einen Spiegel als Symbol der Wahrhaftigkeit, der eindeutigen Wiedergabe allen Seins, der Wiedergabe dessen, was wirklich da ist. Der Spiegel sieht alles, er vergisst nichts, man kann ihn nicht täuschen. Es geht nichts verloren.

Doch der Spiegel sieht nicht, was sich hinter der Stirn dessen abspielt, der in den Spiegel hineinblickt. Unser Gehirn und unsere Gedanken entziehen sich (noch) jeglicher enthüllenden Aufzeichnung und der eindeutigen Festlegung und Speicherung. Wir können nicht erkennen, welche Vorstellungen, Ideen, Gedanken und Wünsche sich in einem anderen Menschen abspielen.

Was empfand der Maskenmann, als er Kinder in seine Gewalt gebracht hatte, sie entführte, missbrauchte und schließlich tötete? Abseits seiner furchtbaren Verbrechen gab er den besonders freundlichen, positiven, gegenüber den Kindern fürsorglichen Erzieher, der nahezu zwei Jahrzehnte unentdeckt sein Unwesen trieb, ohne dass seine Umgebung auch nur den Hauch eines Verdachts schöpfte.

Was ging in den Eltern eines kleinen Mädchens vor, die ihr Kind in einem dunklen, kalten und zum Verlies umfunktionierten Zimmer vor sich hinvegetieren ließen, bis es schließlich verdurstete und verhungerte?

Wie erträgt es ein Mensch, jahrelang mit einer Leiche in der Wohnung zu leben?

Wir erinnern uns an den sogenannten Säurefassmörder, dessen Taten wir in unserem ersten Buch „Tote schweigen nicht“ dargestellt haben. Die geschickt vertuschte Entführung zweier Frauen, die in wochenlanger Gefangenschaft sexueller Sklaverei, Quälereien, Fesselungen und verbalen Torturen in einem Bunker mit undurchdringlich dicken Betonwänden ausgesetzt waren. Und die schließlich ermordet und in einem Salzsäurefass vergraben wurden. Tatsächlich gab es von diesem sadistisch brutalen Schwerverbrecher eine Verbindung zu einem weiteren Mörder: einem Mann, der im Hamburger Gefängnis einen Mithäftling tötete. Beide Täter lernten sich auf dem Hofgang im Knast kennen, wobei der eine dem anderen Details seiner wahrlich monströsen Verbrechen anvertraute. Unvorstellbar? Nein, Realität.

Verkehrte Welt auch im Fall der schwedischen Ärzte, die ihre medizinischen Kenntnisse genutzt haben sollen, um Verbrechen zu begehen, nicht nur beim Töten, sondern auch beim Zerstückeln eines Opfers. Dazu passt auch die Geschichte des Voodoo-Zauberers, der seinem betäubten Klienten das Herz herausschneidet und den Penis abtrennt, um dessen Lebensenergie und Kraft in sich aufzunehmen.

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Unser Wissen ist enorm gewachsen, und doch bleibt das menschliche Gehirn ein ziemlich unbekanntes Wesen …

Der amerikanische Serienmörder Ted Bundy sagte einmal, als er, zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt, in der Todeszelle auf die Vollstreckung der Strafe wartete: Ihr könnt mir alles nehmen, die Freiheit, die Gesellschaft, das Leben – nur an meine Fantasie, an die kommt ihr niemals heran.

Die Fantasie ist unbezähmbar, das trifft nicht nur auf Mörder zu. Das Gleiche gilt ebenso für Selbstmörder. Dabei kann der Entschluss, dem eigenen Leben ein Ende zu bereiten, zu nahezu unfassbaren Szenarien führen. Was geht etwa in dem Todessehnsüchtigen vor, der sich an seinem Arbeitsplatz über einen komplizierten Zugang in eine Schreddermaschine fallen lässt, sodass sein Körper in abertausend kleinste Gewebestücke zerfetzt wird?

Die Arbeit der Rechtsmedizin und ihr Beitrag zur Aufklärung schwerster Kapitalverbrechen beginnt normalerweise mit einer sorgfältigen Spurensuche und Dokumentation am Leichenfundort sowie am Körper des Toten. Sie setzt sich fort bei der äußeren und inneren Leichenschau und der Feststellung der Todesursache. Schließlich erfolgt die Rekonstruktion der Umstände des Todes unter Berücksichtigung des Verletzungsmusters, der vorher bestehenden inneren Erkrankungen und einer etwaigen Substanzbeeinflussung.

Vor allem im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit gibt es geradezu unglaubliche Abläufe. Es gibt das Laufen mit gebrochenen Beinen sowie Menschen, die sich bis zu 120 Mal in die eigene Brust stechen, viele dieser Verletzungen bis tief in die Lunge hinein. Rechtsmediziner sehen Opfer von Verbrechen, denen mehrfach ins Herz gestochen wurde und die danach noch 300 Meter zu Fuß gehen, und solche, denen wiederholt in den Kopf geschossen wurde und die auch anschließend noch zu rationalen Handlungen fähig waren.

Wir Rechtsmediziner stellen bei der Untersuchung von Toten auch Suizid mit mehreren Methoden gleichzeitig fest, durch Erhängen, Erstechen, Erschießen und Absturz ins Wasser, um ganz sicherzugehen, und das alles noch unter Medikamenteneinwirkung.

Und wir untersuchen Opfer, die sich so massiv die Luft abschnüren, dass sie statt des erhofften ultimativen sexuellen Höhepunkts den Tod finden.

Wir erleben im psychischen Wahn durchgeführte Selbstkastration, das Abschneiden der eigenen Ohren, Skalpierung durch selbst beigebrachte Verletzung, schließlich das Durchsägen des eigenen Unterschenkels und Verblutungstod. Wir untersuchen Menschen, die sich selber Finger, ganze Hände oder auch Beine absägen oder abhacken, weil sie sich hohe Versicherungszahlungen erhoffen. Wir erleben die Tötung des geliebten Intimpartners im ausgeflippten Drogenrausch, als totalen Overkill mit Gewaltexzess: ein Nebeneinander von scharfer Gewalt, stumpfer Gewalt, Strangulation, Fesselung und Schuss.

Bei der Aufklärung von Verbrechen muss man sagen: Nichts ist unmöglich.

Der wissenschaftliche Fortschritt hat uns in völlig neue, bisher unvorstellbare Sphären der Beweisführung vorangebracht:

– Spurenkundlich reichen für den DNA-Nachweis zur eindeutigen Identifizierung des Täters/der Täterin kleinste Blutspritzer, einzelne Haare, Spermien, Speichel oder Ähnliches. Dabei kann durch die Ausdehnung der eingesetzten Systeme in der DNA-Datei die Sicherheit auf beliebig viele Stellen hinter dem Komma erhöht werden.

– Bei der chemisch-toxikologischen Untersuchung erreichen wir mittels der hochsensiblen Massenspektrometrie in Kombination mit weiteren Untersuchungsverfahren die Nachweisgrenze für wenige Moleküle an Medikamenten, Drogen oder Gift. Die Substanzen können zu hundert Prozent sicher in allerkleinsten Konzentrationen nachgewiesen werden. Jeder Giftmörder ist damit zu überführen.

– Die postmortale Bildgebung mittels Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Angiographie, Endoskopie und weiteren bildgebenden Verfahren wird in nicht allzu ferner Zukunft virtuelle Autopsien ermöglichen, bei denen alle geweblichen Veränderungen im Körper nachzuweisen sind, ohne einen einzigen realen Schnitt mit dem Messer zu legen. Man kann dann sogar auf dem Richtertisch am Bildschirm den Gang einer virtuellen Autopsie demonstrieren, ohne dass es einen einzigen Blutstropfen oder eine Geruchsbelästigung gibt.

– Durch immer weiter verfeinerte mikroskopische, histologische und elektronenmikroskopische Untersuchungen erreichen Wissenschaftler heutzutage Vergrößerungen, die einzelne Zellen und Zellorganellen sicher nachweisbar machen. Durch zusätzliche immunologische und DNA-technologische Nachweismethoden im Gewebe kann man Krankheitsdiagnosen einschließlich Krebserkrankungen in jede Richtung verfeinern.

Die Faszination des Fachs Rechtsmedizin lässt niemals nach, weil die Fantasie des kranken Gehirns oder des Genies oder schlicht auch der Zufall stets neue Fallkonstellationen hervorbringt, für die uns zuvor die Vorstellungskraft fehlte. Zur falschen Zeit am falschen Ort – oder einmal nur eine Sekunde nicht aufmerksam genug: Es genügt ein kleiner Fehltritt, und schon ereignet sich ein tödlicher Absturz. Oder man wird erfasst von einem in diesem Moment vorbeifahrenden Lastwagen und überrollt. Strom fließt, gerade als man den stromführenden Leiter berührt. Ein Blitz trifft die Schutzhütte, in der sich der vor einem Gewitter Fliehende untergestellt hat. Ein explosives Gasgemisch zündet, wenn einer das Licht anmacht. Giftgas tritt aus, wenn man überhaupt nicht daran denkt, zum Beispiel Schwefelwasserstoff in der Biogasanlage. Und der Exponierte stirbt nach wenigen Atemzügen. Sekundenschlaf am Steuer, und der Übermüdete rast in den Gegenverkehr. Oder ein vermeintlich sicherer Standort zum falschen Zeitpunkt kann das Schicksal besiegeln. So geschehen für vier Hamburger, die bei schönstem Wetter auf einem Fußweg von einem anfallskranken Unfallfahrer mit seinem Pkw förmlich niedergewalzt wurden.

Damit kommen wir zum naturgesetzlichen Denken und der rationalen Beweisführung. Hier kommt dem Rechtsmediziner in einem Ermittlungsverfahren und später im Prozess eine wichtige Rolle zu. Es geht darum, Polizei und Judikative unter Berücksichtigung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse die Möglichkeiten und Grenzen der Beweisführung aus rechtsmedizinischer Sicht überzeugend darzulegen. Dabei wissen wir dann zwar nicht, was sich in der Fantasie des Täters abgespielt hat. Wir können aber eindeutig die körperlichen Auswirkungen beim toten Opfer registrieren und damit rekonstruieren, was der Täter getan hat. Und ebenfalls, was er unter Umständen nicht unbedingt hätte tun müssen. Warum begibt sich einer der Reemtsma-Entführer bis ans „Ende der Welt“, um sich dort von den Klippen zu stürzen?

Wie tickt die Fantasie des Mörders beim Töten eines Menschen – speziell auch beim Serienmörder? Warum tut er es gerade so, schnell oder langsam, mit Waffe oder mit eigener Hand, mit Gift, mit viel Blut oder klinisch sauber, ist völlig nüchtern, cool oder angespannt unter einer Höchstdosis Adrenalin, hinterrücks und heimlich oder spektakulär, mit speziellen Opfern im Fokus: seien es Kinder, Frauen, alte Menschen? Wie ist die Motivlage: Raub beziehungsweise Bereicherung, pathologische Psyche, sexuelle Perversion, die Lust am Töten?

Polizei, Staatsanwaltschaft, Rechtsmedizin und Gerichte müssen all dies, was Worte und Beschreibungen nur schwer ausdrücken können, übersetzen in die Sprache des Gesetzes. Die Strafverfolger müssen ihr Vorstellungsvermögen zurückstellen, um einen rational unter Umständen nicht erklärlichen Sachverhalt in einen Gesetzesparagraphen zu zwängen, bei dem die ausgesprochene Strafe unserem Gerechtigkeitsempfinden möglichst nahe kommt.

Und dann gibt es da noch eine Dimension, die immer wieder viel zu kurz kommt: Wir untersuchen hochprofessionell die toten Opfer, um alle Spuren zu sichern, die zum Täter führen, und wir setzen alles daran, um den Täter zu identifizieren und zu überführen. Die Hinterbliebenen als weitere Betroffene stehen im Schatten – und wir sehen sie leider sehr häufig gar nicht, höchstens einmal noch als Zeugen vor Gericht. Es geht um die vielen weiteren Betroffenen nach Tötungsdelikten: die Kinder, Eltern, Verwandten, Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen. Wenn ein Mensch getötet wird, leiden häufig sehr viele andere mehr oder weniger stark mit. Sie leiden emotional, psychisch, körperlich und sozial. Auch sie sind Opfer, traurig, verängstigt, aus der Bahn geworfen, unter Umständen ihres Lebensmittelpunkts beraubt, vielleicht auch wirtschaftlich ruiniert. Selbstverständlich gibt es vorgesehene Unterstützungsmaßnahmen: Rente, Schmerzensgeld, Hilfe durch die Opferschutzorganisation Weißer Ring, Opferentschädigungsgesetz, Opferhilfeeinrichtungen. Diesen Menschen, die ebenso Opfer sind, möglichst umfassende Unterstützung zukommen zu lassen, ist eine unverzichtbare Zielsetzung.

Gerade nahe Angehörige des Opfers einer brutalen Tat werden nicht selten psychisch krank. Sie stehen unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom. Eltern verfallen in tiefste Depressionen, wenn ihr Kind getötet wurde. Der Tod eines Menschen reißt viele Wunden auf, er trennt vieles. Manchmal kann er allerdings auch sehr unterschiedliche Menschen zusammenführen. Und manchmal mündet das persönliche Leid der Angehörigen in inakzeptable Selbstjustiz. So wie bei dem Mann im Hamburger Landgericht, der im Gerichtssaal den Gewalttäter ersticht, der wegen der Tötung seiner Lebenspartnerin soeben verurteilt worden ist.

Die Betroffenheit anderer endet nie. Das gilt auch noch Jahre nach dem eigentlichen Geschehen, wenn in kriminalistischer Hinsicht von den sogenannten Cold Cases gesprochen wird. Für die Angehörigen allerdings sind diese alles andere als abgekühlt und vergessen.

In diesem Buch ist alles wahr. Wir haben nichts hinzugefügt, nur einiges weggelassen, für das es keine angemessenen Worte gibt. Denn wir wollen unseren Lesern vermitteln: Wissen, was wirklich wa(h)r. Dies ist unser Credo. Nichts hinzugefügt, nichts ausgedacht. Nichts beschönigt. Es gibt noch so viel mehr Fälle. Es bleibt unglaublich spannend.

Voodoo – vollkommen entzaubert

Der Weg zur Erlösung führt manchmal über Gräser, Wurzeln und Hühnerblut. Oder auch über Rattenfelle und Hundeschädel. Mitunter hilft eine Paste aus Mais, Palmöl und geheimen Kräutern, um sich in die Gewalt der Geister zu begeben: Das Übernatürliche kennt viele Möglichkeiten, sich zu zeigen, die Methoden sind ebenso machtvoll wie unergründlich. Voodoo heißt dieser geheimnisumwitterte Kult. Voodoo, das bedeutet so viel wie „Gott“ oder „Geist“. Es sind die unsichtbaren Mächte, die der Mensch sich nicht erklären kann, die als gewaltige Kraft aber sein tägliches Dasein bestimmen können. Da ist es ratsam, sich möglichst gut mit ihnen zu stellen, will man ein glückliches Leben führen.

Die Welt der Geister und Rituale, der Opferkulte und Orakel ist uns hierzulande fremd und unheimlich. Voodoo ist für manche nicht mehr als Hollywoodfantasie, angereichert mit gesichtslosen Gestalten, mit Zombies oder Nadelpüppchen. Doch weltweit glauben 60 Millionen Menschen an Magie und an die Kraft der Geister. Und im westafrikanischen Benin, wo dessen Wiege liegt, ist Voodoo eine offiziell anerkannte Religion. Wenn sich hier Menschen in Trance begeben, wenn sie zusammenbrechen, erstarren und die Augen verdrehen, wissen die anderen: Jetzt gerade sprechen die Götter aus ihnen. Benin ist das Land, wo kaum jemand ein wichtiges Geschäft abschließt und kein Fußballspiel beginnt, ohne dass vorher ein Orakel angerufen wird oder Hühnerblut fließt. Hier ist im Gesetz verankert, dass sich strafbar macht, wer die Regenzeit manipuliert. Und hier glaubt man an Auserwählte, die ganz ohne Gewalt oder Gift töten können – sondern allein durch Magie. Professor Püschel:

Fremde Gebräuche, fremde Religion: Für einen Menschen wie mich, der immer gern seinen Horizont erweitert, ist Benin eine wahre Schatzgrube an besonderen Erfahrungen. Ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was auf mich zukommen könnte, als ich vor Jahren unerwartet in das schwarzafrikanische Land reiste, wo viele an ein Schicksal von Geisterhand glauben. Ich würde Ungewöhnliches, Ungewohntes, Überraschendes erleben. Vielleicht auch im Hinblick auf den Tod. Ich sollte einen Kriminalfall lösen, der von höchster politischer Brisanz war – und bei dem angeblich Voodoo-Zauber eine Rolle spielte. Als Rechtsmediziner weiß ich: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Aber ich weiß natürlich genauso gut, dass das Ableben eines Menschen immer Ursachen hat, die wissenschaftlich erklärbar sind. Mord durch pure Magie? Das ist unmöglich.

Wir schreiben das Jahr 2010. In Benin, einem bitterarmen Land, stehen Wahlen an, und eine Regierungskrise droht. Der amtierende Premierminister hat eine besonders schlechte Presse. Von der Opposition wird ihm Korruption vorgeworfen, unter anderem in Zusammenhang mit dem Verkauf attraktiver Grundstücke mit Meerblick. Ein hoher Finanzbeamter mit Insiderkenntnissen befeuert besonders intensiv die mediale Kampagne gegen die Regierung. Als dieser Mann am 17. August des Jahres plötzlich verschwindet, wird der Fall zunächst von den Ermittlungsbehörden als Vermisstensache geführt. Parallel dazu blühen wilde Spekulationen, welches Schicksal den Mann ereilt haben könnte. Ist er freiwillig abgetaucht? Oder hat man ihn entführt und versteckt, vielleicht getötet?

Viele vermuten, die Regierung habe den lästigen Kritiker loswerden wollen, um die anstehenden Wahlen zu gewinnen. Mundtot gemacht also, in seiner ultimativen Variante? Der Machthaber ist bemüht, alle Verdächtigungen auszuräumen und sich eine weiße Weste zu verschaffen. Die Polizei wird personell aufgestockt, um den Fall zu klären. Die Regierung drängt, die Ermittlungsbehörden stehen unter Erfolgsdruck. Doch zunächst gibt es von dem Vermissten keine Spur. Eine Rekonstruktion des letzten Tages, an dem er lebend gesehen worden ist, ergibt, dass er seinerzeit normal seiner Arbeit nachgegangen ist und dann offenbar nach Hause fahren wollte. Dort ist er nie angekommen.

Mithilfe moderner Technik gelingt es, seine Handydaten zu verfolgen und seine Bewegungen zu rekonstruieren. Sein Weg führt direkt in die Hütte eines Voodoo-Zauberers. Dieser lebt im Randbereich von Cotonou, der größten Stadt Benins und dessen ökonomisches Zentrum. Die Polizei verfolgt die Spur des Vermissten weiter und findet heraus, dass sich der Finanzbeamte regelmäßig in die Hände eines Zauberers begeben hat. In Benin nennt man einen solchen Magier Féticheur. Er soll die Geister milde stimmen. Der Beamte hat sich Hilfe wegen medizinischer Probleme versprochen, aber auch Erfolg und Wohlstand. Zudem hat er neben seiner Familie eine Geliebte, die von ihm schwanger ist. Offenbar hoffte er, dass der Féticheur mittels seines Zaubers eine Abtreibung bewirken kann.

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Die Hütte des Féticheurs (Zauberers) am Rande von Cotonou in Benin. In dem Zauberraum darin wurde mit dem Hilfesuchenden eine Voodoo-Sitzung abgehalten.

Die Polizei sucht das Haus des Magiers auf, trifft ihn aber nicht an. Der Grund: Der Mann sitzt bereits im Gefängnis, weil er mit seinem Motorrad einen Unfall verschuldet hat.

In seiner Zelle wird der Féticheur vernommen, er erzählt den Beamten folgende Geschichte: Er hat mit seinem Kunden eine Voodoo-Sitzung in seinem Zauberraum abgehalten. Dort verabreicht er ihm auch einen Zaubertrank, durch den der Finanzbeamte in Trance fällt. Ein böser Geist hat ihn heimgesucht. Er erleidet einen Kollaps und stirbt. Um den Leichnam loszuwerden, vergräbt der Féticheur ihn auf seinem Grundstück hinter einem Gebüsch. Der Tod, nach seiner Darstellung übernatürlich und rätselhaft: ein bedauerliches Unglück.

Ein Verdächtiger kann viel behaupten, und natürlich bezichtigt sich niemand ohne Not eines Mordes. Polizei und vor allem die Regierung wollen es genau wissen. Sie lassen den Leichnam obduzieren. An der genannten Stelle im Garten des Féticheurs finden Ermittler den Toten. Rund sechs Wochen hat der Körper dort gelegen, nur unzureichend begraben, tagsüber der gleißenden Sonne und Temperaturen von bis zu vierzig Grad ausgesetzt. Für Maden, Käfer und andere Insekten ein gefundenes Fressen: Der Körper befindet sich in einem hochgradigen Zersetzungszustand. Neben dem Leichnam, im selben Gebüsch, entdecken die Ermittler ein Plastikgefäß, in dem in einer Konservierungsflüssigkeit mehrere Gewebeteile schwimmen. Sind es menschliche Körperteile? Der erste Anschein bestätigt sich. Ein ortsansässiger Rechtsmediziner, der in Frankreich ausgebildet wurde, stellt fest: Es sind Herz, Penis, Ohr und Zunge eines Menschen. Bei der Obduktion des Leichnams findet er heraus, dass es Veränderungen im Kehlkopfbereich des Toten gibt, und schreibt in seinem Sektionsbericht, er gehe davon aus, dass der Mann stranguliert wurde. Ungewöhnlich sind auch Frakturen im Gesichtsschädel. Dieser wurde regelrecht zerhämmert, diverse Knochen sind weggebrochen. Der Kiefer ist in mehrere Fragmente zerteilt. Alle diese Verletzungen sind durch massive äußere Gewalt verursacht – offensichtlich in der Absicht, die Identität des Opfers zu verschleiern.

Die Polizei kommt zu dem Ergebnis, dass es der Zauberer war, der den Regimekritiker getötet hat. Damit wäre die Regierung eigentlich rehabilitiert. Eine entsprechende Meldung wird in den Medien gebracht, doch dies führt nicht dazu, die Gemüter zu beruhigen, im Gegenteil. Die Öffentlichkeit wittert weiter Unheil. Die Folge ist ein Sturm der Entrüstung, denn die Familie des Opfers glaubt nicht, dass der Voodoo-Mann allein gehandelt hat. Die Angehörigen vermuten einen Komplott der Regierung. Es wird auch angezweifelt, dass es sich bei dem Leichnam um den Vermissten handelt. Die Geister können viel anstellen. Alles fauler Zauber? Überall Misstrauen.

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Im Gebüsch hinter der Hütte war der Tote verscharrt. Daneben fanden sich in einem Plastikbehältnis mit Konservierungsflüssigkeit Teile des Leichnams.

Die Regierung handelt. Sie zieht nunmehr für die Aufklärung des Falls internationale Kompetenz hinzu. Sie kontaktiert in Frankreich „Ärzte ohne Grenzen“ und deutsche Behörden, weil bekannt ist, dass Deutschland im rechtsmedizinischen Bereich international mit führend ist und auch kriminaltechnisch über besonders ausgefeilte Methoden verfügt. Der Fall wird also an das Auswärtige Amt und die dort tätigen Ärzte herangetragen.

Der Koordinator ist ein ehemaliger Studienkollege von mir, Enno Winkler. Er fragte bei mir an, ob ich die Untersuchung des Leichnams übernehmen möchte und kurzfristig nach Benin reisen könnte. Ich war von dem Fall elektrisiert. Also habe ich mir trotz vieler Termine eine freie Woche organisiert und bin schon zwei Tage später nach Westafrika geflogen. Ich war ohne weitere wissenschaftliche und technische Begleitung unterwegs, hatte aber meine mobile Ausrüstung zum Sezieren, zur Spurensicherung und für Asservate dabei. Ich flog über Paris nach Cotonou, wo ich in der französischen Botschaft meine französische Kollegin traf. Anschließend ging es in die deutsche Botschaft.

Am nächsten Tag habe ich mit meiner Arbeit begonnen. Jedes Detail musste mit der Untersuchungsrichterin abgestimmt werden. Begleitet wurde ich von Geheimdienstpolizisten aus Benin und einem Dolmetscher der deutschen Botschaft. Die gesamte Entourage kam nun zu einem verabredeten Termin zur Leichenhalle – um dort vor verschlossenen Toren zu stehen. Der Mitarbeiter, der Herr über die Schlüssel war, machte gerade Mittagspause. So mussten wir zwei Stunden warten, bis ich endlich tätig werden konnte. Da war es schon 15 Uhr.

Der Leichnam ist in desolatem Zustand. Er ist verfault und stinkt furchtbar. Zudem ist der Tote bereits zweimal seziert worden, von dem Rechtsmediziner aus Benin und der französischen Kollegin. Beide Obduktionen haben ihre Spuren hinterlassen. Die französische Rechtsmedizinerin hat die Befunde des Fachmanns aus Benin bezüglich der Strangulation und der Gesichtsverletzung bestätigt. Nun will die Regierung eine dritte Expertise und erhofft sich insbesondere Ergebnisse bezüglich der Identität des Toten. Dazu haben die anderen beiden Experten keine Erkenntnisse gewinnen können.

Die Obduktion musste ich unter freiem Himmel vornehmen, bei 35 bis 40 Grad im Schatten, den es allerdings nicht gab, sondern nur stechenden Sonnenschein von oben. Um mich herum standen Männer von der Geheimpolizei mit grimmigen Gesichtern und gezückten Waffen, um mich zu schützen. Denn die Regierung befürchtete Störaktionen von kriminellen Kräften. Und nun stand ich vor diesem Plastiksack, in dem die sterblichen Überreste des Toten lagen: breiiges Gewebe, Fett und Haut. Organe waren nicht zu unterscheiden, einige Hautareale waren jedoch abzugrenzen. Muskel- und Fettgewebe ließen sich bei dem Verwesungszustand nur durch ihre Farbe unterscheiden. Eine schwammartige Struktur, die auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit einer verwesten Lunge hatte, entpuppte sich bei näherem Hinsehen und insbesondere der späteren Untersuchung als ein verschmutztes Stück Schaumstoff. In dem Plastiksack befand sich noch eine Art Reisetasche, in der der Rechtsmediziner aus Benin diverse große Knochen gesammelt hatte. Auch diese habe ich gründlich untersucht. Dabei konnte ich feststellen, dass alle Knochen vermutlich zu einer Person gehörten. Bei keinem der Knochen – außerhalb des Kopfes – waren frische Frakturen erkennbar. Im Bereich eines Hüftgelenks konnte ich noch einen gewissen Gelenkverschleiß im Sinne einer Arthrose feststellen. Die Muskulatur des Mannes schien kräftig ausgebildet zu sein. Im Bereich der vorgefundenen Hautpartien waren keine frischen Verletzungen oder gröberen Narben zu finden.

Wir haben einiges für spätere Untersuchungen in Hamburg asserviert, unter anderem einen Oberschenkelknochen, Mittelhand- und Fingerknochen sowie Kopfhaare. Vor allem aber gelang es mir, zwischen den diversen Weichteilen zwei Finger der rechten Hand abzugrenzen. An ihnen hafteten noch Hornhautstücke, die sich für Fingerabdrücke eignen würden. Sollte dies der Durchbruch zur Feststellung der Identität des Toten werden? In Benin werden in den Pässen routinemäßig die Fingerabdrücke des jeweiligen Bewohners erfasst, sodass wir Vergleichsmaterial hatten.

Der Kopf des Leichnams ist nicht in dem Plastiksack dabei. Den Schädel hatte der afrikanische Kollege, zusammen mit etlichen weiteren Asservaten, ins Institut für Rechtsmedizin nach Cotonou gebracht und dort sorgfältig verpackt im Kühlschrank gelagert.

Auch den Kopf sowie den Hals habe ich rechtsmedizinisch untersucht. Außen am Schädel gab es einige Reste von Weichteilen. Dort Einzelheiten abzugrenzen, war aber nicht möglich. Anhand meiner Befunde konnte ich jedoch die Diagnosen meiner Kollegen bestätigen: Das Opfer hatte Verletzungen am Kehlkopf und am Zungenbein, was für eine Strangulation sprach. Die Gesichtsknochen waren derart heftig zertrümmert, dass eine Rekonstruktion nicht möglich war. Für die Zerstörung der Gesichtsknochen waren zweierlei Erklärungen denkbar: Entweder sollte damit die Feststellung der Identität erschwert oder auch der „böse Blick“ zerstört werden. Ein wenig wusste ich Bescheid, da ich mich früher schon für Voodoo interessiert und Bücher darüber gelesen hatte.

Da der Leichnam sehr stark verwest ist, kann keine übliche Messung der Körperlänge erfolgen. Also wird eine sogenannte „Körperhöhenschätzung“ vorgenommen. Dafür werden die Maße mehrerer Langknochen wie der Oberschenkel-, Schienbein- und Oberarmknochen sowie von Elle und Speiche genommen. Diese werden anhand einer bestimmten Formel ausgewertet und dadurch eine Körpergröße ermittelt. Bei dem Opfer ergibt dies einen Wert von etwa 170 Zentimetern. Die Knochen werden später in Hamburg geröntgt und computertopografisch untersucht. Außer dem Schädel sind auch die Einzelteile wie Herz und Zunge, die bei dem Zauberer in der Konservierungslösung aufbewahrt worden waren, im biochemischen Labor der Rechtsmedizin in Cotonou asserviert sowie weitere Teile des Körpers. Unter anderem handelt es sich um die Unterkieferfragmente rechts und links, jeweils mit sieben beziehungsweise sechs Zähnen, sowie einen Oberarmknochen.

Um das Alter des Mannes einzuschätzen, wird der Unterkiefer mit den erhaltenen Zähnen untersucht. Hierbei wird insbesondere in einer chemischen Analyse der Mineralgehalt ermittelt, zudem werden die Struktur und der Abrieb genau unter die Lupe genommen. Dies ermöglicht eine ungefähre Bestimmung des Sterbealters, die im Fall des Toten bei 40 bis 60 liegt. Das gibt einen Hinweis darauf, dass es sich um den Vermissten handeln könnte. Dieser ist zum Zeitpunkt seines Verschwindens 50 Jahre alt.

Mein besonderes Interesse gilt natürlich den ab- beziehungsweise herausgeschnittenen und vom Zauberer in Formalin aufbewahrten Körperteilen. Das rechte Ohr ist offensichtlich scharf abgetrennt. Der Penis und ein Hoden sind unverletzt. Auch das Herz ist nahezu vollständig. Bei der Zunge ist ein unregelmäßiger Defekt festzustellen. Ich komme zu dem Schluss, dass die Körperteile post mortem herausgeschnitten beziehungsweise abgetrennt wurden. Weitere Verletzungsmuster sind nicht zu erkennen. Hinter der Abtrennung dieser speziellen Körperteile stehen Besonderheiten des Voodoo-Glaubens, wonach die Kräfte eines Getöteten übergehen auf denjenigen, der die Teile verwahrt. Dabei steht das Herz für langes Leben, das Gehör für Sinnesschärfe, der Penis für gesteigerte Manneskraft und die Zunge für Beredtheit und Erfolg.

Doch die Voodoo-Anhänger vertrauen für ihr Glück vor allem auf die Unterstützung der Geister. Fast 400 dieser „Loa“ genannten übernatürlichen Wesen kümmern sich um die Geschicke der Voodoosi. Erzulie ist beispielsweise die Fruchtbarkeitsgöttin, Mami Wata die Herrin des Wassers. Ogun ist der Eisengott. Wer von den Geistern Hilfe erhofft, muss dafür Opfer bringen, darunter Tiere, Schnaps, Zigarren oder Parfüms. Und wer Antwort auf Fragen etwa nach Krankheitsursachen erhofft, wer Unterstützung bei der Lösung von Beziehungsproblemen oder Schuldfragen braucht, wer eine Vorhersage der Fußballergebnisse möchte, der lässt die Priester das Fa-Orakel befragen. Zwei Ketten mit insgesamt 16 Nussschalen oder Muscheln werden dabei ausgeworfen. Aus dem Muster, wie sie zum Liegen kommen, ergeben sich für den Kundigen wertvolle Hinweise. Wertvoll nicht nur für den Fragenden, sondern gewinnbringend auch für den Priester, der die Zeremonie abhält. Der lässt sich sein Werk sehr gut bezahlen. Viele Priester in Benin haben es zu einigem Vermögen gebracht.

Wie sehr in dem schwarzafrikanischen Staat Voodoo zum Leben gehört, spürte ich auch, als wir den Tatort besichtigten und die Stelle, an der der Leichnam begraben war. Die Werkstatt des Zauberers wirkte auf den ersten Blick chaotisch, war aber tatsächlich ein Sammelsurium eigenartiger Gegenstände: Knochen, Federn, Figuren mit leuchtend roten Augen. Aber selbstverständlich waren keine Geister und übernatürlichen Kräfte am Werk. Die nähere Betrachtung ergab, dass hier eine Glühbirne versteckt war, die zwei rote Verschlüsse von Cola-Flaschen durchstrahlte. Die Fratze des schaurigen Gesichts wurde durch bunt bemalte Stofflappen und Stoffknäuel figuriert. Überall im Raum standen Schüsseln mit bunten Flaschen, Scherben, Knochen, Steinen, Farbbeuteln, Haaren herum, zum Teil von Kerzen beleuchtet. Andere Schüsseln enthielten vorzugsweise Asche, Steinschutt und Knochen, wiederum vermischt mit Farbtupfern. Von der Decke herab hingen zahlreiche Schnüre, an denen unterschiedliche Tierknochen befestigt waren – ein grausiges Mobile, das scheppernde und knirschende Geräusche erzeugte. Dazwischen der Behandlungsstuhl, geformt aus teilweise zerfetzten Strohmatratzen, und überall noch diverse Püppchen aus Stoff und Stroh mit eingepiekten Nadeln.

Es war eine gespenstische Szene.

Wie wohltuend waren da die Abende. Übernachtet habe ich in der Botschaft, doch die Stunden davor verbrachte ich privat als Gast bei der Stellvertretenden Botschafterin des Landes, Birgit Maaß. Direkt hinter dem Eingang des Hauses, in der Diele, stand ein riesiger Kühlschrank, gefüllt mit Königs Pilsener. Ein Genuss! Und dann saßen wir zusammen an ihrem Swimmingpool und unterhielten uns über viele Dinge, über Politik und Medizin, über Gott und die Welt.

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Voodoo-Utensilien aus dem Behandlungszimmer des Féticheurs: menschliche und tierische Knochen, allerlei beunruhigende Fratzen und Figuren, etwa ein gespenstisches Gesicht mit roten Augen aus Plastikverschlüssen von Cola-Flaschen.

Kurz vor meiner Abreise wollte ich noch von den Verwandten des getöteten Mannes DNA entnehmen. Wir wollten sie in Hamburg mit der DNA aus den Knochen des Toten vergleichen, damit wir verifizieren konnten, ob es sich bei dem Opfer tatsächlich um den vermissten Finanzbeamten handelt. Doch die Familie lehnte es ab, Abstriche abzugeben. Sie fürchteten, ich könnte dabei einen bösen Voodoo-Zauber auf sie ausüben. Ein Hamburger Rechtsmediziner im Bund mit den Geistern? Wie absurd! Der Justizminister verhandelte daraufhin höchstpersönlich den gesamten nächsten Tag mit der Familie, aber auch er konnte sie nicht überzeugen, eine Speichelprobe abzugeben. Die Angst vor meinen angeblichen Voodoo-Künsten war übermächtig.

Also musste ich die Heimreise ohne die DNA-Vergleichsproben antreten. Der Abflug sollte aus dem Nachbarland Togo erfolgen. Der Präsident von Benin, in dessen Auftrag ich ja unterwegs war, bot mir ein Flugzeug an, um zum Airport von Togos Hauptstadt Lomé zu kommen. Doch als die deutsche Botschaft Erkundigungen einzog, erfuhren sie, dass die Maschine kurz vorher auf einem Inlandsflug eine Notlandung machen musste, und mir wurde dringend geraten, nicht in das Flugzeug zu steigen. Stattdessen bekam ich einen Dienstwagen mit Chauffeur von der deutschen Botschaft, der von zwei Polizeibeamten mit ihren BMW-Motorrädern eskortiert wurde. Da sie mit Blaulicht vor uns herfuhren, schafften wir trotz der schlechten Straßenverhältnisse Tempo 80.

Nach Passieren der Grenze zu Togo blieb der Begleitschutz zurück. Jetzt rauschte ein Platzregen nieder, sodass wir im Schritttempo fahren mussten. Auf den letzten Drücker erreichten wir den Airport. Die asservierten Leichenteile hatte ich bei mir, dank eines Passierscheins der Botschaft konnte ich sie problemlos mitnehmen. Bei der Zwischenlandung in Paris begleiteten mich Verbindungsbeamte des Bundeskriminalamts.

In Hamburg werden schließlich mehrere Untersuchungen vorgenommen, eine davon von der Daktyloskopie-Abteilung des Landeskriminalamts. Die Analyse der Fingerabdrücke ergibt zweifelsfrei: Es handelt sich bei dem Toten um den Finanzbeamten.

Die Asservate landen in den entsprechenden Laboren des Instituts für Rechtsmedizin. Die Beurteilung von Gewebeproben unter dem Mikroskop, also die histologischen Befunderhebung, ergibt keinen Hinweis auf Erkrankungen oder Verletzungen. Bei der toxikologischen Untersuchung werden keinerlei Hinweise auf Drogen oder Narkosemittel gefunden. Da aber die Asservate mehr als zwei Monate nach dem Tod des Opfers nicht mehr im Idealzustand sind, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Mann Betäubungsmittel genommen hat oder ihm welche verabreicht wurden. Zudem werden diverse Leichenteile, unter anderem Oberschenkelknochen, Herzmuskel und Zunge, auf DNA untersucht. Das Ergebnis: Bei allen Proben wird dieselbe DNA nachgewiesen, die statistisch gesehen bei einer von vier Billiarden Personen vorkommt. Damit steht eindeutig fest, dass alle untersuchten Proben von dem Vermissten stammen. Und die toxikologische und feingewebliche Untersuchung bestätigt: Die Abtrennung der Körperteile und auch das Zerstören des Gesichts des Opfers geschah, als dieses bereits tot war. Der gesamte mittlere Bereich des Gesichts ist nach dem Tod mit einem scharfen Gegenstand zertrümmert worden. Ein großes Messer beziehungsweise eine Machete könnten diese Verletzungen herbeigeführt haben.

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Die sichere Identifizierung des hochgradig zersetzten Mordopfers gelang mithilfe seiner Fingerabdrücke, die aus Hornhautfetzen eindeutig daktyloskopisch identifiziert werden konnten.

Doch ich konnte noch weitere Erkenntnisse erzielen: Der Regimekritiker wurde bereits am Tag seines Verschwindens getötet. Das Opfer war ein gesunder Mann von kräftiger Statur, bei dem es für einen Täter nicht einfach gewesen sein kann, ihn allein mit körperlicher Gewalt zu töten. Auch wenn die chemisch-toxikologischen Untersuchungen am Knochenmark des Oberschenkels negativ verliefen, ist es keineswegs ausgeschlossen, dass das Opfer durch Drogen oder Gift außer Gefecht gesetzt wurde. Aufgrund der in der Behausung des Verdächtigen vorgefundenen Chemikalien und angesichts der Tatsache, dass dieser rituelle Behandlungen vornahm, war es denkbar, dass das Opfer durch Drogen in einen hilflosen oder sogar bewusstlosen Zustand versetzt wurde. Auch als Todesursache war Gift nicht auszuschließen. Vieles aber sprach, wie schon erwähnt, für eine Strangulation.

Für den Zauberer bedeutet dieser nun aufgedeckte Mord viele Jahre Gefängnis. Gleichwohl will die Familie des Opfers nach wie vor nicht glauben, dass der Finanzbeamte von dem Féticheur getötet worden ist, sie glaubt, dass er noch irgendwo lebt, in der Gewalt des Präsidenten und seiner Helfer, und dass er deren Manipulationen ausgesetzt ist. Und nicht wenige halten ihn für verehrungswürdig, für sie ist er ein Held. Eine Zeitung des Landes wählt ihn zum wichtigsten Mann des Jahres. Und auch sehr viel später ist der Fall für viele nicht abgeschlossen. Fünf Jahre nach dem Verschwinden des Mannes schreibt eine Zeitung noch von einem „Mysterium“ und stellt die Frage: „Was ist wirklich passiert? Lebt der Vermisste noch? Oder ist er wirklich tot?“

Doch die Zweifler haben sich nicht durchgesetzt. Nachdem das Ergebnis der rechtsmedizinischen Untersuchung bewiesen hat, dass die obersten Politiker nichts mit dem Tod ihres engagiertesten Kritikers zu tun haben, ist der Präsident rehabilitiert und gewinnt die nächsten Wahlen mit überwältigender Mehrheit.

Wenn ich durch meine Expertise nicht den Verdacht gegen die Regierung ausgeräumt hätte, wären die Wahlen womöglich ganz anders ausgegangen. Für mich war mein Einsatz selbstverständlich nicht politisch motiviert. Es ging mir allein um die Aufklärung eines spektakulären Mordfalls. Das genaue Schicksal von Getöteten ergründen und helfen, den Schuldigen zu ermitteln: Das ist es, was mich bei Kapitalverbrechen immer wieder antreibt. Und deshalb konnte ich auch diesen Fall zufrieden abschließen.

Und trotzdem fühlte ich mich nicht wohl in meiner Haut: Wegen der besonderen Umstände, unter denen ich den schon stark fäulnisveränderten Leichnam obduzieren musste, roch alles an mir nach Verwesung. Körper und Kleidung waren schnell wieder sauber, doch in meinem Koffer hing der Gestank so nachhaltig, dass ich ihn entsorgen musste. Und vor meinem geistigen Auge (und mit meiner Nase) vollziehe ich diese unvergessliche Obduktion in Benin noch manchmal nach.

Ein besonderes Erlebnis, passend zu dem Geisterglauben des afrikanischen Landes, verschaffte mir die Taxifahrt vom Hamburger Flughafen nach Hause. Mein Fahrer kam aus Ghana, mit dem ich ein Gespräch über Voodoo anfing. Ich fragte ihn, ob er viel darüber wisse. Selbstverständlich kenne er sich damit aus, antwortete er. Es gebe Zauberer und Priester, die sich magische Kräfte verschafften. Einer von ihnen sei sein Großvater, der sei 150 Jahre alt. Es werde erzählt, dass er alle zehn bis zwanzig Jahre eine junge Frau zu sich hole, die dann dauerhaft verschwindet. In der Familie gehe man davon aus, dass er sie tötet und ihre Kräfte auf sich überträgt. Der Taxifahrer erzählte auch noch von einem anderen Mann, der mittlerweile 800 geworden sei. Dieser habe das Geheimnis für das ewige Leben gelöst.

Ewiges Leben war dem Mörder des toten Regimekritikers jedenfalls nicht beschert. Der Zauberer starb nicht lange nach seiner Verurteilung im Gefängnis. Das löste Spekulationen aus, ob er getötet wurde oder seine Kräfte sich hinter Gittern abgenutzt oder aufgelöst hätten. Ihm zumindest hat das herausgeschnittene Herz nichts genützt.