Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Terminal List

erschien 2018 im Verlag Atria/Emily Bestler Books.

Copyright © 2018 by Jack Carr Enterprises, LLC

Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-696-0

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für die Soldaten, Piloten und Marines,

die es nicht nach Hause geschafft haben.

Und für unsere Kinder,

die noch nicht alt genug sind,

um das hier zu lesen.

Da macht so ein Kerl die Runde und schreibt sich alle Namen auf.

– unbekannter Autor

VORBEMERKUNG

In diesem Roman geht es um Rache.

The Terminal List beschäftigt sich mit der Frage, was passieren kann, wenn ein Spitzenprädator, ein Krieger auf dem Höhepunkt seines Wirkens, mit einer Situation konfrontiert wird, aus der es kein Entkommen gibt. Es geht darum, was passiert, wenn die Normen einer Gesellschaft, ihre Gesetze, Regeln und moralischen Vorschriften samt Ethik einem Mann mit außergewöhnlichen Fähigkeiten weichen müssen, der sich gehärtet durch den Kampf auf den Pfad der Vergeltung begibt. Einem Mann, der nach allen gültigen Maßstäben bereits tot ist.

Dieses Werk würde ohne die Bemühungen meines guten Freundes und Schreibpartners Keith Wood überhaupt nicht existieren. Obwohl sein Name nicht auf dem Cover steht, ist es ebenso sein Buch. Mit einem Handschlag bei einer SHOT-Show in Las Vegas beschlossen wir, uns den gemeinsamen Lebenstraum zu erfüllen, einen Roman zu veröffentlichen. Dies ist das Ergebnis.

Aufgrund des weitreichenden Zugangs zu sicherheitsrelevanten Unterlagen, den ich durch meinen militärischen Dienst bei den Navy SEALs erlangt habe, muss ich alle in den Druck gehenden Texte, fiktive Berichte eingeschlossen, dem Verteidigungsministerium zur Freigabe vorlegen. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, wurde dieses Manuskript beim Office of Prepublication and Security Review des Ministeriums eingereicht und von dieser Stelle ›nach Abänderung freigegeben‹. Ich habe beim Schreiben große Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass keine Einsatztaktiken, Kampftechniken oder interne Prozeduren preisgegeben werden. Es wäre das Letzte, was ich will, dem Feind dadurch einen Vorteil auf dem Schlachtfeld zu verschaffen. Das Prüfverfahren wurde von der amerikanischen Regierung aus gutem Grund eingeführt. Nachdem mir die Ehre zuteilwurde, meine großartige Heimat im Krieg zu verteidigen, bin ich für meine Texte nach wie vor an diese Prozesse gebunden. Die redaktionellen Eingriffe wurden ebenso übernommen wie die Schwärzungen einzelner Textpassagen.

Obwohl es sich um ein fiktives Werk handelt, basiert jede Szene auf Emotionen, die ich im Rahmen meiner mehr als 20-jährigen Einsatzzeit beim Militär durchlebt habe. Diese Emotionen in Verbindung mit den realen Kampferfahrungen verleihen dem Roman einen Realismus, von dem wir hoffen, dass er beim Lesen für besondere Spannung sorgt.

Meine Zeit als SEAL hat unsere Ausgestaltung des Protagonisten natürlich beeinflusst. Trotzdem bin ich nicht James Reece. Er ist talentierter, cleverer und intelligenter, als ich es mir je erhoffen könnte. Obwohl ich nicht James Reece bin, verstehe ich, wie er tickt. Er bringt alle Erfahrungen, das notwendige Training und das Talent mit, um Selbstjustiz zu üben.

In diesem Buch geht es auch um das Thema Kontrolle. Die Konzentration von Befugnissen auf staatlicher Ebene unter dem Vorwand, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, ist ein klar erkennbarer Trend, dem mit Vorsicht zu begegnen ist. Die Aushöhlung von Bürgerrechten in winzigen Schritten zieht den schleichenden Verlust von Freiheit nach sich. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem der Einfluss der Regierung Ausmaße angenommen hat, die grundsätzlich jeden angreifbar machen. Jüngste Behauptungen, wonach staatliche Einrichtungen gezielt politische Gegner attackieren, sollten alle Amerikaner unabhängig von ihrer Parteipräferenz aufschrecken. Revisionistische Interpretationen der Verfassung durch opportunistisch gesinnte Politiker und nicht gewählte Richter, deren Neuinterpretation der Bill of Rights die Bürger entmachtet und die Gewalt konzentriert in die Hände des Staates legt, bedrohen die Grundprinzipien der Vereinigten Staaten. Als freies Volk geht die Kontrolle der Staatsmacht uns alle an. Die Achtung der fundamentalen Werte der Freiheit unterscheidet uns von vielen anderen Ländern dieser Welt. Wir sind Bürger, keine Subjekte, und wir sollten wachsam bleiben, damit das so bleibt.

Jack Carr

6. August 2017

Park City, Utah

PROLOG

Man muss kein taktisches Genie sein, um sich für den passenden Job zu entscheiden. Menschen sind Gewohnheitstiere, manche noch mehr als andere. Buchhalter und Verwalter klammern sich bei ihrer Arbeit fast schon sklavisch an feste Routinen.

Zwischen dem 1. Juni und dem 1. November zog es Marcus Boykin jedes Jahr zu seiner Residenz in Star Valley Ranch, Wyoming. Star Valley klang für die betuchte Immobilienklientel von der Ost- und Westküste natürlich deutlich attraktiver als die frühere Bezeichnung: Starvation Valley. Es handelte sich um eine Enklave für wohlhabende Auswärtige im ansonsten ländlich geprägten Westen von Wyoming, zwischen den Bergen eingeklemmt wie ein sauber manikürter Finger der Zivilisation. Mehrere Millionen Dollar teure Anwesen verirrten sich in einen Teil der Welt, der ansonsten Ranchern und Cowboys vorbehalten blieb.

An jedem Montag, Mittwoch und Freitag stand Boykin früh auf und stieg in seinen silbernen Mercedes G550 SUV, um die 50 Meilen zur nächstgrößeren Stadt Jackson zurückzulegen. Da sich dort im Sommer fast so viele Bankvorstände und Hedgefonds-Manager aufhielten wie in den Hamptons, war es der einzige Ort in mehreren Stunden Umkreis, in dem man ein Sterne-Menü mit einer 800-Dollar-Flasche Wein bekam. In Jackson konnte er Caffè Latte schlürfen und in Gesellschaft anderer Sommergäste aus New York, Greenwich, Boston und Los Angeles im Wall Street Journal schmökern. Drei Tage pro Woche traf er so mit echten Menschen zusammen, statt ungeduldig darauf zu warten, dass Freunde seine Facebook-Postings mit Likes versahen und kommentierten. Die Dinner im Rendezvous Bistro empfand er als wesentlich schmackhafter und die Unterhaltungen als deutlich stimulierender als seine üblichen Mahlzeiten auf der Sonnenterrasse, mochte das Panorama auch noch so spektakulär sein.

Der U. S. Highway 89 verlief in Nord-Süd-Richtung zwischen den steil aufragenden Felswänden, die an der Grenze zwischen Wyoming und Idaho kratzten. Bewässerte Heuwiesen am Straßenrand wurden von zerklüfteten Dreitausendern im Osten und etwas bescheideneren Anhöhen im Westen überschattet. Unmittelbar nördlich der 7000-Seelen-Gemeinde Alpine führte die Strecke östlich am Snake River entlang und wand sich hinauf in die Berge, die zum Bridger-Teton-Nationalforst gehören. An diesem Punkt der Route grenzten die schartigen Gipfel der Tetons direkt an die Straße, wie hoch aufragende Kreuzfahrtschiffe, die sich an einem gepflasterten Pier aneinanderreihen. Drei Meter neben der bestens in Schuss gehaltenen Asphaltdecke begann eine schroffe Einöde, bevölkert von trophäenwürdigen Großohrhirschen, Rotwild sowie jeder Menge Schwarzbären und dem gelegentlichen Elch. Weil er noch nie in seinem Leben eine Waffe in der Hand gehalten hatte oder auf die Pirsch gegangen war, entzog es sich Boykins Kenntnis, dass der 15. September, der Beginn der Jagdsaison in Wyomings Region G, in diesem Jahr auf einen Montag fiel.

James Reece war am Nachmittag über einen Pfad auf der anderen Seite der Berge zu seiner Wanderung aufgebrochen. Der Weg begann an einer Straße und führte schnurgerade davon weg, für Fahrzeuge gänzlich unpassierbar. Eine völlig andere Welt, die nichts mit der vermeintlichen ländlichen Idylle zu tun hatte, die Sommergäste wie Boykin auf dem Highway bei einem Blick aus dem Seitenfenster zu erhaschen glaubten. Obwohl sein Truck nur wenige Marschstunden entfernt parkte, hätte Reece genauso gut aus einem anderen Universum stammen können.

Er trug einen leichten Rucksack, hatte eine Gewehrhalterung aus Perlon seitlich an der Sitka-Jagdmontur mit Digicam-Muster festgeschnallt. Die Salomon-Wanderstiefel begleiteten ihn schon seit Jahren bei zahllosen Operationen in aller Welt. Mit dem traditionellen Tarnanzug aus Wolle und dem schweren Gewehr – das typische Scharfschützen-Outfit – wäre er hier im Hinterland von Wyoming aufgefallen wie ein Bergwanderer im Smoking, aber getarnt als Jäger verschmolz er ähnlich selbstverständlich mit der Umgebung wie ein Geschäftsmann im blauen Blazer in der Businessclass eines Flugzeugs. Sein anonymer telefonischer Hinweis zu Elchwilderern, die sich südlich von Jackson herumtrieben, würde die Jagdaufseher der Region fürs Erste auf Trab halten. Sollte er unerwarteterweise trotzdem kontrolliert werden, hatte er einen Jagdschein und die passende Waffe dabei, um als einer der vielen Grünröcke durchzugehen, die an einem der geschäftigsten Tage des Jahres auf die Pirsch gingen.

Er hätte bei Dunkelheit mit einer Stirnleuchte oder dem Nachtsichtgerät herkommen können, doch er wollte sein Ziel vor Einbruch der Dämmerung erreichen. Nicht dass er sich noch den Knöchel verstauchte oder ihm in dieser unwirtlichen Umgebung etwas Schlimmeres zustieß. Er hatte es eilig, endlich loszulegen. Nach einem ausgiebigen Studium des Terrains mithilfe von Karten und Satellitenbildern vor zwei Tagen hatte er es erstmals persönlich in Augenschein genommen. Nicht immer deckte sich die Realität mit den Luftaufnahmen.

Das Gebiet war steil und befand sich in einer Höhenlage. Ganz gleich, wie gut der Körper auf Normalnull funktionierte, 2400 Meter über dem Meeresspiegel herrschten völlig andere Regeln. Er blieb stehen, um zu verschnaufen und etwas Wasser aus dem am Schulterriemen festgeclippten Schlauch zu trinken. Seine Muskeln waren übersäuert und die Lunge gierte nach Sauerstoff. Das Kompressionsshirt fühlte sich klatschnass an, obwohl die Temperaturen um die Zehn-Grad-Marke pendelten. Er zog den Reißverschluss des Oberteils auf, um einen Teil der Körperhitze entweichen zu lassen. Ohne besondere Eile näherte er sich zielstrebig dem Ende seines Marschs. Definitiv nicht das erste Mal, dass er sich für den Abschuss einen Berg hinaufquälen musste.

Er fand seinen Ausguck so vor, wie er ihn zurückgelassen hatte: eine schmale, u-förmige Nische, in den Hang hineinerodiert, die sich nur von vorn betreten ließ. Das Risiko, dass sich ein Jäger oder Wildhüter unbemerkt von hinten anschlich, nachdem er auf Position war, lag bei nahezu null. Sollte jemand von vorn kommen, würde er ihn lange vor Erreichen seines Verstecks wahrnehmen. Von dieser Stelle aus ließ sich ein Sattelpunkt des Highways zwischen zwei steilen Hügeln ideal einsehen. Er selbst hielt sich ganz in der Nähe des zweiten Hügels auf, wenn man in Richtung Jackson fuhr.

Wie eine Höhle ohne Dach schirmte ihn der Ausguck vor neugierigen Blicken von Jägern ab, die das Terrain am Vorabend der Jagdsaison mit dem Fernglas sondierten, und schützte ihn vor dem kalten Wind, wenn sich die Temperaturen nachts dem Gefrierpunkt näherten. Er befreite die Waffe aus der Hülle und legte sie kurz hinter der Öffnung der Nische ab, sodass die Mündung vom Fuß des Hangs aus nicht zu sehen war. Bei dem Gewehr handelte es sich um ein Echols Legend, von einem wahren Meister in Utah gebaut, für dessen handgefertigte Flinten normalerweise mehrere Monate seines Navy-Gehalts draufgegangen wären. Ein Geschenk seines Vaters zum ersten Einsatz nach 9/11 und zugleich dessen kostbarster Besitz. Dad hatte nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst und dem Umsatteln auf den Privatsektor ursprünglich vorgehabt, selbst häufiger damit jagen zu gehen.

Das Gewehr war mit .300 Winchester Magnums geladen. Obwohl es deutlich weniger als die Scharfschützenwaffen wog, die er bei seinen Auslandseinsätzen benutzte, lag die Zielgenauigkeit sogar etwas höher. Statt eines traditionellen Zielfernrohrs für die Jagd verwendete er ein Nightforce NXS 2,5-10 × 32mm, genau wie im Job. Das Paket, auf dem er das Gewehr platziert hatte, diente als Unterbau für den Lauf. Ein kleiner Beanbag stabilisierte den Kolben. So konnte er in Bauchlage dank der Stabilität an beiden Enden das Gewehr so ruhig wie ein Schütze beim Benchrest-Schießen halten. Autos und Trucks krochen den Hügel im Westen hinauf und er visierte sie trocken an, um das Timing zu perfektionieren. Die Touristen und Stadtbewohner, die an diesem Herbstnachmittag den Highway benutzten, ahnten nicht, dass einer der tödlichsten Kämpfer des Landes sie ins Fadenkreuz nahm.

Zufrieden stellte er fest, dass seine Position ihm einen günstigen Schusswinkel auf das Ziel verschaffte. Er zog sich in den hinteren Teil seiner Enklave zurück und erhitzte Wasser mit dem Campingkocher aus dem Rucksack, um das Tiefkühlgericht fürs Abendessen aufzuwärmen. Als die Sonne hinter dem Horizont versank und die Temperatur deutlich nach unten ging, krabbelte er in den Schlafsack. Er musste an sein kleines Mädchen denken, wie sich die Tränen in den von blonden Locken eingerahmten blauen Augen sammelten, als Daddy sich zu seinem letzten Einsatz verabschiedete. Noch einmal sechs Monate, dann war endgültig Schluss. Das war fest versprochen. Er sah ihr Gesicht vor sich, wie es sich für einen letzten Gruß gegen die Scheibe auf dem Besucherdeck presste, während er ins Flugzeug einstieg. Die schwierigsten Momente bei einem Einsatz waren die ersten paar Wochen direkt nach dem Abschied und die letzten, wenn man der Rückkehr entgegenfieberte. Dass es sich um die letzte Mission handelte, ließ das Licht am Ende des Tunnels deutlich heller erstrahlen. Endlich ausbrechen aus dieser Trainieren/Ausrücken/Trainieren-Dauerschleife, die ihn und seine SEAL-Brüder seit über einem Jahrzehnt quälte.

Unter dem spektakulären Sternenhimmel, dessen Magie ein Großstädter nie begreifen würde, lag er zusammengerollt im Schlafsack und schlief tiefer als seit Wochen. Diesmal drohte er nicht mit der Erkenntnis aufzuwachen, dass der Albtraum real war. Tastete nicht quer über die Matratze nach einer Frau, die dort gar nicht lag. Hörte nicht das sanfte Schluchzen einer Tochter, die nie mehr in sein Bett kriechen würde, um sich vor dem schwarzen Mann beschützen zu lassen.

Als der Alarm seiner Uhr um 0500 losging, war er bereits wach und starrte auf das Orion-Sternbild. Ein Schluck aus der Wasserflasche und ein Energieriegel mussten als Frühstück genügen. Er bezog Posten hinter dem Gewehr und wartete geduldig auf den Sonnenaufgang.

Marcus Boykin gehörte wie die meisten Manager aus dem Finanzbereich zu den Frühaufstehern. Entweder saß man morgens zeitig am Schreibtisch im Büro oder man schlief aus und gehörte zu den Verlierern. Er verfolgte den Wetterbericht auf dem iPhone, bevor er in eine Designerjeans und italienische Halbschuhe aus hellbraunem Leder schlüpfte. Er trug einen Patagonia-Fleecepullover über dem pinken Lacoste-Polohemd und setzte ein Yankees-Cap auf, um die kahle Stelle vor der Kellnerin Mitte 20 zu verbergen, die er aktuell ins Bett bekommen wollte. Für ihn war sie nicht Sarah mit dem Abschluss in Umwelttechnik, die sich mit diesem Job Geld für ihr Master-Studium dazuverdiente, sondern nur ›die Kellnerin‹. Bisher hatte er es nicht geschafft, ihr an die Wäsche zu gehen, aber sie war chronisch pleite und er stinkreich. Früher oder später schaffte er es, sie besoffen zu machen und es auszunutzen. Das Leben in der Einöde schränkte die Zahl der potenziellen Hauptgewinne stark ein. Um seine Chancen zu steigern, musste er sich irgendwann wohl doch eine Eigentumswohnung in der Stadt leisten.

Er schnappte sich die Schlüssel vom Küchentresen aus Marmor und drückte auf den Knopf der Fernbedienung. Draußen war es schweinekalt und Boykin wollte einen kuschelig warmen SUV mit laufender Sitzheizung vorfinden, wenn er in ihm gleich mit dem To-go-Kaffeebecher einstieg. Er öffnete die massive Haustür aus Eiche und zog sein Smartphone aus der Tasche, um eine Aufnahme des malerischen Sonnenaufgangs zu posten, bevor er hinter dem Hügel kein Netz mehr hatte. Die Abdeckung wurde erst wieder besser, wenn man Jackson erreichte. Im Prinzip ließ ihn die Aussicht kalt. Was ihn betraf, wiederholte sich das Schauspiel jeden Tag aufs Neue, aber er genoss die Vorstellung, seine Freunde an den Küsten eifersüchtig zu machen. Er rollte mit dem Geländewagen die Bergstraße zum U. S. Highway 89 entlang und überlegte, mit welchem Anmachspruch er heute bei der Kellnerin landen könnte.

Kampf ist eine Überforderung aller Sinne, totales Chaos. Das gilt vor allem, wenn man das Kommando führt. Ohrenbetäubender Lärm, sowohl vom eintreffenden als auch vom abgehenden Beschuss. Der Überdruck der Gewehrmündungen und Explosionen erschüttert den Körper bis ins Mark. Männer schreien, nicht aus Furcht oder Panik, sondern um den Krach zu übertönen. Sonden schwirren durch die Luft, Raketen schießen vorbei, aufgewirbelter Staub von Detonationen und Projektileinschlägen hüllt die unmittelbare Umgebung ein. Der Funkverkehr im Ohr mischt sich darunter und verlangt bewusste Reaktionen, weshalb sich ein Großteil des Handelns ins Unterbewusstsein verlagert. Ziele identifizieren, zielen, feuern, Magazine wechseln – rein instinktive Handlungen, ähnlich fordernd wie das gleichzeitige Steuern eines Autos, Schalten, Gasgeben und Bremsen, während man parallel mit dem Handy am Ohr telefoniert. Als Anführer muss man sich noch stärker von Ablenkungen frei machen und über das eigene Überleben hinausdenken. Man muss Feuerkraft und Bewegungen des Gesamtapparats dirigieren und der Verlockung widerstehen, sich auf die eigenen Aktionen zu beschränken. Das Ganze ist eine psychisch-taktile Kette ständiger Entscheidungen.

Dies war das genaue Gegenteil von Chaos. Die Sinne von Reece registrierten nichts Ungewöhnliches, nichts als das gleichmäßige Schaukeln der Espen im Wind und die entspannende Melodie der Natur, die sich im Glanz des Sonnenaufgangs in den Bergen auf einen weiteren Tag einrichtete. Es gab keine Funkverbindung, niemanden, mit dem er kommunizieren musste, nur das gelegentliche Motorengeräusch eines Autos oder Pick-ups auf dem Asphalt des Highways. Die Entfernung zur Senke in der Straße belief sich auf exakt 571,5 Meter, was einer Absenkung von 2,18 Metern entsprach, der die Kugel von der Mündung bis zum Ziel ausgesetzt war. Das Fernrohr war auf 100 Yard justiert, weshalb er die Differenz manuell ausgleichen musste. 1,4 Mildot-Punkte im Absehen, keine Vorhaltezeit. Also konnte er das Zentrum des Fadenkreuzes direkt auf das Ziel richten. Nutz im Kampf jeden Vorteil, der sich bietet. Heute blies nur eine leichte Brise, ein klarer Vorteil. Abschüsse bei starken Böen waren vor allem in den Bergen knifflig, selbst für einen Profi. Der Kestrel wies eine Windgeschwindigkeit von zwei Meilen pro Stunde von links aus, ein sogenannter Vollwind, der 15 Zentimetern Abweichung entsprach. Da sich das jederzeit ändern konnte, entschied er sich für eine Anpassung um weitere 0,3 Mildots.

Er hörte das Reifengeräusch schon, bevor die Halogenscheinwerfer des SUVs beim Erklimmen der Anhöhe sichtbar wurden. Der silberne Mercedes gehörte eindeutig Boykin. Glücklicherweise fuhr der Kerl keinen F-150 wie jeder Zweite hier. Das Fahrzeug hielt genau auf ihn zu, was das Zielen erleichterte, aber die hohe Geschwindigkeit machte den Vorteil zunichte. Ihm blieb kaum Zeit, sich über die erfolgreiche Planung zu freuen. Er verfolgte den Geländewagen mit dem Visier, während er den Hügel hinunterrollte, genau wie bei den beiden Übungsobjekten vorher. Er holte tief Luft, hielt sie an und atmete aus, um seine natürliche Atempause nach dem Entleeren der Lunge zu ermitteln, ehe er sich voll auf die bevorstehende Aufgabe konzentrierte. Dabei geriet die Zieloptik leicht ins Wanken. Selbst mit der stabilen Unterlage bekam man es nie so ruhig hin wie im Film. Der Mercedes erreichte die flachste Stelle und schien für einen Moment fast stehen zu bleiben. Auf diese Entfernung konnte er den Fahrer nicht erkennen, schon gar nicht bei diesen Lichtverhältnissen. Er peilte einen Punkt leicht rechts vom Zentrum der Windschutzscheibe an und erhöhte langsam den Druck auf den Abzug.

Seine Ohren hörten den Schuss, doch sein Gehirn registrierte das Geräusch kaum. Die sinnliche Wahrnehmung des Rückstoßes beschränkte sich auf das leicht verwischte Sichtfeld des Fernrohrs, als das Gewehr nach oben gerissen wurde. Obwohl er unzählige Männer in den schrecklichsten Winkeln der Welt umgelegt hatte, schaltete sein Körper in den archaischen ›Kampf oder Flucht‹-Modus um. Adrenalin schoss wie eine Dosis Heroin durch seinen Körper. Er hatte in der Vergangenheit zahlreiche Opfer mit dem Segen seines Vaterlands getötet, doch diesmal kam das Abdrücken einem Verstoß gegen die heiligste Regel der Gesellschaft gleich: Er hatte soeben einen Mord begangen.

Das gewaltige Projektil war ein Barnes Triple-Shock aus solidem Kupfer, so raffiniert konstruiert, dass die Hohlspitze bei Kontakt mit dem Ziel nach vier Seiten aufpilzte wie eine tödliche Blume. Auf diese Weise richtete sie selbst bei großen Wildtieren massiven Schaden an, was dermaßen gut funktionierte, dass Special-Ops sie bald als Instrument für den globalen Krieg gegen den Terror entdeckten. Als das Geschoss die fast senkrecht eingelassene Glasscheibe des Mercedes touchierte, entfaltete sich die Spitze und formte einen fast acht Millimeter breiten Zylinder aus Kupfer. Trotzdem bewegte sie sich schneller als die meisten Pistolenkugeln direkt nach Verlassen der Mündung. Sie traf auf Boykins Nasenrücken und setzte ihre leicht nach unten geneigte Flugbahn fort, wobei sie Knorpelgewebe, Hirnmasse und Knochen in Brei verwandelte. Nach dem Durchschlagen des ersten Rückenwirbels trat sie hinten am Hals aus, bot optisch ein ähnliches Bild wie beim Eindringen, klatschte in das lederne Kopfteil der Rückenlehne und beendete ihren Flug im Hartschaum des Rücksitzes.

Der Bordcomputer des Mercedes war auf knapp 100 km/h eingestellt, als das Gehirn des Fahrers aufhörte, Befehle an den Körper zu übermitteln. Seine Gliedmaßen zuckten und bebten, wie es bei den meisten Tieren und Menschen nach Schädigung des zentralen Nervensystems der Fall ist, doch die deutsche Ingenieurskunst ließ den SUV weiter die Anhöhe hinaufrollen, als wäre nichts geschehen. Als das Fahrzeug an Reece’ Position vorbeirauschte, glaubte er zunächst an einen Fehlschuss. Doch dann erklomm das Gefährt den steilen Hügel und Boykins lebloser Körper kippte trotz Gurt nach vorn und sorgte dafür, dass das Steuerrad scharf nach links gerissen wurde. Die Kombination aus Vorwärtsimpuls, Böschung und hohem Schwerpunkt des Geländewagens führte zu einem Dominoeffekt. Der Mercedes schlitterte auf einem Vorderrad über den Straßenbelag, überschlug sich und rutschte den Abhang hinunter. Das Geräusch von Gummi und Stahl im Clinch mit Asphalt und Felsen war ohrenbetäubend laut, doch nur ein Mann hörte es.

Reece lächelte zum ersten Mal seit vielen Monaten und holte einen Ziploc-Beutel aus der Innentasche der Jacke. Darin befand sich ein gefalteter Zettel mit einer Wachsmalzeichnung auf der einen Seite und einer Liste von Namen auf der anderen. Mit einem Bleistiftstummel strich er den obersten Namen durch und verstaute ihn wieder an der Brust.

TEIL EINS: DER HINTERHALT

1

Drei Monate früher

Provinz Chost, Afghanistan

0200 Ortszeit

Keinem der Jungs von der Bodentruppe hatte der Einsatz sonderlich geschmeckt. Jetzt, weniger als einen Kilometer vom Ziel entfernt, hatten sie ihr ungutes Bauchgefühl verdrängt und konzentrierten sich ausschließlich auf die tödliche Herausforderung, die vor ihnen lag. Lieutenant Commander James Reece schaute auf das am Gewehrschaft befestigte GPS-Display und sondierte das Terrain. Er forderte seine Leute zu einer Erkundung der direkten Umgebung auf. Die Scharfschützen bezogen bereits Stellungen in erhöhter Position, während die Teamführer vor dem entscheidenden Vorstoß einen letzten kurzen Bericht bei Reece ablieferten. Trotz all der Technik, die ihnen zur Verfügung stand, konnte binnen eines Herzschlags alles scheitern. Der Feind war gerissen und enorm anpassungsfähig. Nach 16 Jahren Krieg klang das afghanische Sprichwort »Die Amerikaner haben zwar mehr Uhren, aber wir haben mehr Zeit« deutlich überzeugender als zu Beginn der Auseinandersetzung.

»Was meinst du, Reece?«, fragte ein Bär von einem Mann, der in seiner Montur mit braun-beigem AOR1-Tarnmuster, Körperpanzerung und Ops-Core-Halbschalenhelm mit fest montiertem Nachtsichtgerät wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkte.

Reece musterte seinen erfahrensten Teamleiter. Das hellgrüne Leuchten des NOD enthüllte ein leichtes Lächeln hinter dem dichten Bartwuchs, das die professionelle Zuversicht eines Special-Operations-Soldaten verriet.

»Es ist direkt hinter dem Hügel«, antwortete Reece. »Die Predator-Drohnen zeigen keine Bewegung. Keine Wachen. Nichts.«

Sein Truppenchef nickte.

»Alles klar, Jungs!«, wandte er sich an die übrigen vier Mitglieder ihres Zirkels. »Ziehen wir’s durch.«

Sie standen entschlossen auf und bewegten sich mit der Gelassenheit von Männern, die sich im Chaos wohlfühlten. Sie erklommen die schroffe Kammlinie, um ihre Teams in Position zu bringen, bevor sie zum Ziel vordrangen.

Das geht zu einfach. Ach was, denk nicht zu viel nach. Es ist eine Mission wie jede andere. Warum dann dieses komische Gefühl? Vielleicht liegt’s an den Kopfschmerzen.

Die Migräne quälte Reece schon seit Monaten. Irgendwann hatte er beschlossen, dem Balboa Naval Medical Center einen Besuch abzustatten, um sich durchchecken zu lassen. Bisher hatte er von den Ärzten keine Rückmeldung bekommen.

Möglich, dass du es dir nur einbildest. Möglich, dass mehr dahintersteckt.

Reece wusste aus Erfahrung: Wenn sich für ihn etwas nicht richtig anfühlte, bestätigte sich der Eindruck in der Regel. Dieser Instinkt hatte ihm und seinen Männern mehr als einmal das Leben gerettet.

Bei dieser Mission passte alles ein bisschen zu gut zusammen – die Aufklärungsbilder der Drohnen, die zeitversetzt eingeleitete Sondierung des Terrains, der aktuelle Zustand des Gebiets. Und warum bekamen sie so viel Druck von oben, sich ausgerechnet um dieses Ziel zu kümmern? Wann hatte sich zum letzten Mal jemand aus der höchsten Kommandoebene in ihre taktischen Planungen eingemischt? Irgendwas passte hier nicht zusammen. Kann sein, dass es gar nichts ist. Kann sein, dass es nur an deinen Kopfschmerzen liegt. Oder an deiner Paranoia. Wirst du langsam zu alt für diesen Scheiß? Konzentrier dich, Reece.

Nicht die erste Gelegenheit, bei der sie ein Ziel angriffen, das sie als potenziellen Hinterhalt einstuften. In einer ähnlich gelagerten früheren Situation, bei der sowohl menschliche als auch technische Quellen auf einen Hinterhalt hindeuteten, hatte Reece die Tür mit einem thermobarischen AT-4 zerfetzen lassen, unterstützt durch ein paar 105mm-Haubitzen eines AC-130-Kanonenboots. Diesmal wurden ihnen die taktischen Vorgaben erstmals von Vorgesetzten diktiert. Von Männern, die selbst nicht vor Ort waren. Bleib mit den Gedanken bei der Mission, Reece.

Ein weiterer Check beim Tactical Operations Center, einem vorgelagerten Kommandoposten, den sie intern ebenfalls TOC nannten, und ein kurzer Blick auf den Livefeed der Drohne. Nichts. Eine letzte Überprüfung durch die Sniper-Teams. Keine beweglichen Ziele.

Reece schielte zum militärischen Aufgebot auf dem Bergrücken. Ein kurzer Blick durchs NOD verriet ihm, dass die Angriffsteams bereit waren. Die Sniper entdeckte er nirgends, was ihm ein zufriedenes Lächeln entlockte. Die Jungs sind halt die besten.

Seine Hand wanderte zum Funkgerät. Er öffnete den Mund, um den Befehl für den Vorstoß zu geben.

Dann wurde alles dunkel.

Die Explosion schleuderte Reece fast zehn Meter nach hinten und riss ihm den Helm vom Kopf. Das komplette militärische Arsenal auf dem Hügel vor ihm verwandelte sich in eine Orgie aus Gewalt und Tod. Teamkameraden, Freunde, Ehemänner und Väter, eben noch die Krone der weltweiten Special Forces, verschwanden in Sekundenbruchteilen von der taktischen Bühne.

Reece bekam gar nicht mit, dass ihn die Wucht des Aufpralls kurzfristig ohnmächtig werden ließ. Der Schmerz in seinem Schädel holte ihn in die Schlacht zurück, bevor sich der Staub verzog und die Erschütterungen der Explosion die Hügelkuppen verließen.

Der Profi in ihm vergewisserte sich zuallererst, dass er seine Waffe noch bei sich trug. Check. Als Nächstes arbeitete er im Kopf eine Liste seiner Körperfunktionen ab. Alles schien noch an der richtigen Stelle zu sein und zu funktionieren.

Sie haben es gewusst. Woher? Später, Reece. Kümmer dich erst mal drum, in eine bessere Kampfposition zu kommen.

Sein Kopf ruckte auf der Suche nach Helm und Headset vergeblich hin und her. Langsam gewöhnten sich die Augen an die Finsternis. Die Hände wühlten hektisch herum, bis sie im aufgewirbelten Dreck fündig wurden.

Na also. Nein, Moment, zu schwer, um mein Helm zu sein. Muss dran liegen, dass es nicht mein Helm ist, sondern der von jemand anders. Allerdings steckt sein Kopf noch drin.

Selbst im Dunkeln gab es für Reece keinen Zweifel, dass er in das Gesicht seines langjährigen Freundes und Teamkameraden blickte. Das Gesicht des Bären mit dem dichten Bart und dem zuversichtlichen Lächeln. Er war bei der Explosion enthauptet worden. Reece konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen aus den Augen liefen. Rasch wischte er sie weg. Konzentrier dich. Trauern kannst du später. Nutz alle technischen und taktischen Vorteile aus. Check.

Reece löste den Kinnriemen und ließ den Skalp des Freundes auf den Boden fallen, bevor er den Helm selbst aufsetzte. Erstaunlicherweise funktionierte das Nachtsichtgerät noch. Sein Funker lag einige Meter weiter mit dem Gesicht auf dem Boden. Die unnatürliche Körperhaltung verriet ihm, dass der Mann nicht mehr lebte. Er spurtete hinüber, drehte ihn auf den Rücken und prüfte Atmung und Puls, obwohl ihm klar war, dass die Splitter, die aus dem rechten Augapfel und der Stirn ragten, ihn sofort getötet hatten.

Er riss ihm den Funkhelm mit integriertem Multiband-Inter-/Intra-Team-Empfänger und Mikro ab, um sich mit dem Support-Flugzeug und dem TOC in Verbindung zu setzen.

Auf dem Hügel rührte sich nichts. Das Schwert des Todes schien ihre komplette Streitmacht erdolcht zu haben. Reece hörte Schritte hinter sich und wirbelte mit erhobener, entsicherter Waffe und aktiviertem Infrarot-Laser herum, um nach Bedrohungen Ausschau zu halten. Er brachte den M4-Karabiner mit 5,56er-Kaliber in Anschlag, als er feststellte, dass drei seiner Operators aus den zurückgezogenen Sicherheitspositionen zu ihm gerannt kamen.

Die Versuchung, den Hügel raufzustürmen, war groß, aber ein weiterer Gedanke drängte sich bei allen Überlebenden in den Vordergrund: Gewinnt diesen Kampf!

Seine Rear-Security-Leute bezogen wortlos neue Positionen, um ihren Anführer abzuschirmen.

Reece verdrängte das Gemetzel und die Leichen aus seinen Gedanken. Es wurde Zeit, eine Reaktion zu zeigen.

»SPOOKY Four Seven, hier SPARTAN Zero One«, funkte Reece, während er ihre Position mit dem Koordinatensystem der Referenzkarte am Handgelenk abglich. »Freigabe zum Feuern auf Gebäude D3. Setzt eure 105er ein, um es plattzumachen.« Vergleichbar mit dem Wrist Coach, den ein Quarterback beim Football trug, um darauf während des Matchs taktische Spielzüge ablesen zu können, lieferte ihm das GRG eine Luftaufnahme des Zielgebiets, um Vorstöße mit den übrigen Streitkräften abzustimmen, die sich allesamt auf dasselbe Koordinatensystem stützten.

»Empfange Sie deutlich, Zero One. Bin sechs Mikes entfernt.« Das AC-130-Gunship hatte sich auf eine Distanz von sechs Kilometern – etwa zehn Flugminuten – zurückgezogen, um ihren Vorstoß in der Stille der afghanischen Nacht nicht zu verraten.

»Break. RAZOR Two Four, RAZOR Two Four. Benötige schnellen Eingreifverband und medizinische Unterstützung an meiner Position, ECHO Three. Haltet euch von den Hügeln fern. Mehrere Verwundete durch vergrabene Sprengfallen.« Todesopfer wurden im Funkverkehr generell nicht thematisiert.

»Roger, Zero One. Kommen rein für Extraktion unter Beschuss auf Planquadrat ECHO Three. Sind zehn Mikes entfernt.« Beim QRF, der schnellen Eingreiftruppe, handelte es sich um zwei CH-47-Helis, bemannt mit jeweils 15 Rangern.

»MAKO«, sprach Reece ins Mikro. »Liefert der Pred-Feed was Neues?«

»Nichts, Zero One. Keine Bewegung am Ziel.«

»Copy.«

Reece wandte sich den vier überlebenden Operators zu.

»Identifizieren.«

»Hey, Sir. Ich bin’s, Boozer. Ich hab Jonesey und Mike bei mir. Was zum Teufel war das gerade?«

»Hinterhalt. Diese Bastarde wussten, dass wir kommen. Die Luftunterstützung ist in etwa fünf Minuten hier, die QRFs brauchen etwas länger.«

»Sir, wir haben denen vorher gesagt, dass es ein Hinterhalt sein könnte. Was für eine Scheiße. Mit so was hätt ich allerdings nie gerechnet. Lebt da oben noch jemand?«

»Keine Ahnung. Finden wir’s raus.«

»Roger, Sir. Aber wir sollten aufpassen. Die könnten da Hunderte von Sprengfallen und Minen verbuddelt haben.«

»Jonesey, Sie und Mike bleiben hier, um die Vögel reinzuwinken. Boozer und ich suchen nach Überlebenden. Boozer, folgen Sie mir in etwa zehn Metern Abstand. Treten Sie genau dahin, wo ich hintrete. Wir arbeiten uns langsam vor. TOC sagt, auf der anderen Seite vom Hügel rührt sich nichts. Trotzdem sollten wir wachsam bleiben.«

»Alles klar, Reece.«

»Gehen wir.«

Gemeinsam erklommen sie den Hügel, obwohl es sich unter diesen Voraussetzungen eher um einen Berg handelte. Mit rund 20 Pfund Ausrüstung und Körperpanzerung einen steilen Felsgrat zu überwinden, ist ein hartes Stück Arbeit. Erst recht, wenn man sich durch mutmaßlich vermintes Gelände vorarbeitet.

»SPOOKY, wir rücken von GRG ECHO Three vor zu ECHO Eight. Alles auf der Nordseite des Hügels ist für euch zum Abschuss freigegeben.«

»Roger, Zero One. Da rührt sich nach wie vor nichts.«

Sehr seltsam.

»Verstanden.«

Reece und Boozer quälten sich den Hügel hinauf. Der Geruch von Kordit, Blut, Staub und Tod hing schwer in der Luft. Bewegung an der linken Flanke.

»B, da rührt sich was. Nichts überstürzen. Weiterhin langsam folgen«, flüsterte Reece ins Funkgerät. Boozer bestätigte, indem er zweimal kurz den Mikrotaster drückte und wieder losließ. Ein stummes Okay.

Reece näherte sich der Quelle der Bewegung. Ein leises Stöhnen. Donny Mitchell, eins der jüngsten Mitglieder seines Teams, lag im Sterben zwischen den Felsen des östlichen Afghanistans. Sein Körper war von der Hüfte abwärts abgetrennt. Zitternd streckte er eine Hand nach Reece aus.

»Haben wir Sie erwischt, Sir?«, fragte er mit schwacher Stimme. »Ich hab noch mein Gewehr.«

»Ja, das hast du, Kumpel. Das hast du. Die Luftunterstützung ist unterwegs. Wir werden diese Schweine kriegen.« Reece setzte sich neben Donny und wiegte seinen Kopf sanft in den Händen. Als die erste 105er in die Anlage einschlug, erhaschte Reece den Anflug eines seligen Lächelns auf Donnys Lippen, während er das Walhall erreichte.

Reece schaute hoch. Boozer arbeitete sich langsam auf der mit Geröll übersäten Hügelflanke voran. Hinter ihm hörte er zunächst nur die Rotoren der beiden CH-47, dann sah er, wie die tiefschwarz lackierten Hubschrauber tiefer gingen, eingewiesen von Jonesey und Mike.

Wir werden die Anlage aus der Luft bombardieren und dann mit den Rangers vorrücken, um eine Wirkungsaufklärung und vollständige Durchsuchung vorzunehmen.

Erst in diesem Moment wurde ihm die gesamte Tragweite der Geschehnisse bewusst.

Ich habe mein Team verloren. Ich trage die Verantwortung.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht schob sich ein Schleier vor seine Augen. Dabei ahnte er nicht, dass alles noch viel schlimmer werden würde.

2

Bagram Air Base

Bagram, Afghanistan

Reece wachte auf dem Rücken liegend mit verschwommener Sicht auf. Er blinzelte mehrmals, um besser sehen zu können und gegen das Pochen im Schädel anzukämpfen.

Wo bin ich?

Langsam drehte er den Kopf, um die Schleier zu vertreiben. Die Augen fokussierten sich auf eine Kanüle im Arm. Ihm wurde bewusst, dass etwas auf Mund und Nase drückte.

Infusion. Sauerstoffmaske. Krankenhaus.

Er wollte sich auf die Ellbogen stützen, doch ein betäubendes Ziehen hinter der Stirn ließ ihn sofort davon Abstand nehmen.

»Reece … Reece … ganz ruhig, Kumpel. Mach langsam.«

Er erkannte die Stimme sofort. Boozer.

»Doc, er will aufstehen!«, brüllte der Kamerad in den Korridor hinaus.

Mit den primitiven Feldlazaretten von früher hatte dieses Krankenhaus kaum etwas gemeinsam. Hätte man nicht gewusst, dass man sich noch in Afghanistan aufhielt, wäre man eher davon ausgegangen, in einem Klinikum der Navy in Bethesda oder Balboa gelandet zu sein. Den einzigen Hinweis, dass man sich mitten im Kriegsgebiet aufhielt, lieferte das allgegenwärtige Brummen des Dieselgenerators, der in diesen Breitengraden rund um die Uhr für das Betreiben der Klimaanlage herhalten musste.

Ich versteh dich gut, Kumpel. Ich würd auch brummen, wenn ich seit über 15 Jahren hier schuften müsste.

Reece zog die Atemmaske vom Gesicht und sah den Freund an.

Boozer trug noch Flecktarn, war dreckig und verschwitzt. Verkrustete weiße Ränder vom Schweiß der nächtlichen Mission rangen mit dem Staub Afghanistans um die Vorherrschaft. Ansonsten schien er in guter Verfassung zu sein. Boozer gehörte zu den Jungs, die in der Regel nicht mal einen Kratzer kassierten. Körperpanzerung und Waffe hatte er abgelegt, aber Reece kannte ihn. Garantiert versteckte er irgendwo griffbereit eine Pistole.

»Was ist passiert? Wie bin ich hierhergekommen?«

Boozer holte tief Luft und bemühte sich, die Traurigkeit und einen Anflug von Mitleid aus seiner Miene zu verbannen. Er scheiterte kläglich.

»Reece, NCIS ist schon vor Ort. Sie haben mich aufgefordert, dir nichts zu sagen. Scheiß drauf, ich werd dir trotzdem erzählen, was hier läuft.«

NCIS?

»Es ist übel, Reece«, fuhr Boozer fort. »Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«

Reece kniff die Augen zusammen und durchwühlte sein Kurzzeitgedächtnis.

»Wir standen oben auf dem Hügel und warteten auf den Luftangriff unserer Jungs. QRF und CASEVAC waren unterwegs …« Seine Stimme wurde wacklig. »Donnys Kopf … auf meinem Schoß.«

»Jawohl«, bestätigte Boozer. »Ganz genau. Und direkt danach flog das komplette Tal in die Luft. Sie haben uns in eine Falle gelockt, Reece. So clever sind sie bisher noch nie vorgegangen. Sie wussten ganz genau, was wir nach der Sprengung auf dem Hügel als Nächstes machen wollten. Sie wussten, dass wir die Anlage in die Luft jagen wollten und dann die Kavallerie rufen, um Tote und Verletzte zu bergen. Der komplette Untergrund dieses Tals, unsere Position auf dem Spielbrett, war vermint und mit Sprengladungen präpariert. Sie wussten sogar, wann unsere Helis landeten, und haben sie geröstet. Dash One hat die Rangers abgeladen und flog weg. Als Dash Two in den Sinkflug überging, haben sie dann alles gesprengt. Den zweiten Heli und sämtliche Rangers. Sie haben alle erwischt.«

Reece ließ Boozer keine Sekunde aus den Augen.

»Jonesey und Mike?«, fragte er, obwohl er die Antwort längst kannte.

Boozer schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Reece. Ich wollte es dir sagen, bevor die Typen vom NCIS hier reinplatzen. Ich hab ein mieses Gefühl, was diese Clowns betrifft. Das Merkwürdigste ist, dass es bei ihren Fragen nicht um die Mission ging. Sondern um dich.«

Ein verwirrter Ausdruck machte sich auf Reece’ Gesicht breit, doch er verdrängte ihn sofort. »Um mich?«

»Ich glaube, die suchen nach einem Bauernopfer. Jedenfalls war das mein Eindruck, Reece. Bleib stark. Du hast nichts Falsches getan. Die da oben haben uns diese Mission aufgedrückt. Die haben die Taktik vorgegeben. Diese abgehobenen Vögel sollte man sich vorknöpfen. Sitzen im sicheren Hauptquartier und schicken uns in den Tod. Fick dich doch ins Knie!«

Boozer besaß ein Talent, in jeder Situation die passenden Worte zu finden. Er hielt nichts davon, alles in Watte zu packen, sondern nannte die Dinge ehrlich beim Namen. Als Teamleiter erfüllte er alle Erwartungen von Reece. Er fand, das waren sie den Truppen und der Befehlskette schuldig. Die Dinge immer ehrlich beim Namen nennen. So baute man als Anführer Vertrauen auf. Ohne Vertrauen konnte man direkt einpacken.

Deine Männer haben dir vertraut, Reece. Jetzt sind sie tot. Denk nach. Hier läuft was verkehrt. Und zwar total verkehrt.