Epub-Version © 2018 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: https://ebooks.kelter.de/
E-mail: info@keltermedia.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-762-1
Über manche Telefonanrufe freute man sich, manch andere hätten besser niemals stattgefunden.
Welch ein Glück, dass dieser Anruf einer der erfreulichen Art war.
Die Anruferin war ihre Ex-Schwägerin Marion, zu der Alexandra ein herzliches Verhältnis hatte, trotz der Scheidung von Ingo, ihrem Bruder.
»Marion, wie schön, deine Stimme zu hören«, rief sie nach der Begrüßung und wünschte sich sofort ganz inbrünstig, Marion möge ihr sagen, dass sie sich entschieden hatte, nach Waldenburg zu kommen.
Alexandra wartete gar nicht ab, was ihre Schwägerin ihr sagen wollte, sondern erkundigte sich aus ihren Gedanken heraus: »Und, Marion, wie ist es? Hast du dich entschieden, mit Michelle zu mir zu kommen?«
Marions Zögern ließ sie nichts Gutes ahnen.
»Das heißt, dass du nicht kommen wirst?«, erkundigte sie sich bang.
Zunächst einmal war ein glockenhelles Lachen zu hören.
»Alexandra, was ist los? So kenne ich dich überhaupt nicht. Du lässt mich ja gar nicht zu Wort kommen.«
»Bedeutet das …«
Marion unterbrach sie.
»Bitte, Alexandra, halt die Luft an und lass mich erst mal was sagen. Es ist nämlich eine etwas längere Geschichte.«
Alexandra zwang sich zur Ruhe, es stand zwar noch alles in den Sternen, aber eine deutliche Absage war es wohl nicht, denn so was ließ sich mit zwei, drei Worten ausdrücken, da musste man keine längere Geschichte erzählen.
»Entschuldige«, murmelte Alexandra, »ich verspreche hiermit hoch und heilig, meinen Mund zu halten und dich ausreden zu lassen.«
»Das ist doch ein Wort.« Marion schien gut gelaunt zu sein, zumindest war das ihrer Stimme anzuhören.
Alexandra saß wie auf heißen Kohlen, denn Marion konnte manchmal so langsam sein wie eine Wanderschnecke. Aber sie musste sich zusammenreißen, sie durfte jetzt nicht immer dazwischenreden. Wenn das bei ihr jemand machte, dann konnte sie das auch nicht haben.
»Alexandra, erst mal vorab. Meine Situation hier in Irland hat sich leider noch verschlechtert. Diese derzeitige Wirtschaftskrise hat alle Bevölkerungsschichten erfasst … Wie du ja weißt, muss meine Freundin Mabel das kleine Cottage verkaufen, in dem ich mit Michelle wohne, sie hat sogar schon einen Käufer gefunden, zu einem Spottpreis …, dieser Mann will das Haus selber nutzen und besteht darauf, dass ich so schnell wie möglich ausziehe. Mabel hat mir zwar angeboten, dass ich zu ihr nach Dublin kommen kann, aber das möchte ich nicht. Sie und ihr Mann Sean müssen mit den veränderten Verhältnissen erst selbst fertig werden, sie haben durch den Bankencrash viel Geld verloren, die Hypothekenzinsen für das von ihnen bewohnte Haus sind drastisch gestiegen, und beide müssen mit erheblichen Einkommenseinbußen rechnen. Da kann und will ich nicht auch noch eine Belastung für sie sein. Nun, mein Auftraggeber hat, wie du weißt, alle freien Mitarbeiter entlassen. Meine Bemühungen, anderswo Aufträge als freie Übersetzerin zu bekommen, sind allesamt gescheitert. Im Augenblick braucht niemand jemanden.«
Alexandra war jetzt ein wenig irritiert.
Warum erzählte Marion ihr das alles noch einmal? Sie wusste es doch schon, und sie hatte ihr nicht nur deswegen angeboten, mit Michelle nach Waldenburg zu kommen.
»Ja, ich weiß, und ich finde es auch ganz schrecklich. Du sagtest es ja bereits bei unserem letzten Telefonat.«
Alexandra bemühte sich, ihre Stimme nicht gelangweilt klingen zu lassen.
Marion merkte nichts, zum Glück.
»Genau, ich war danach auch sofort versucht, hier die Brocken hinzuschmeißen und zu dir zu kommen, das wäre die einfachste und bequemste Lösung gewesen. Aber schon recht bald kamen mir Bedenken … Weißt du, Alexandra, nichts gegen dein großherziges Angebot, aber ich bin niemand, der sich gern in ein gemachtes Bett setzt, und das wäre es doch. Ich hätte bei dir ein Leben wie im Paradies, in dem Milch und Honig fließen.«
»Das ist nicht wahr, du könntest hier arbeiten«, widersprach Alexandra sofort.
»Als Übersetzerin? Ich kann nichts anderes, ich habe nur Sprachen studiert, wenn du so willst, die falschen. Mit Englisch, Französisch und Spanisch kann man keinen Blumenpott mehr gewinnen, das spricht jeder. Ich hätte mich besser auf Chinesisch, Russisch oder eine andere ausgefallene Sprache konzentrieren sollen.«
»Marion, in deinem Beruf gibt es, wie in jedem anderen, Gute und Schlechte, dass du zu den Allerbesten gehörst, das hast du schon mehr als einmal unter Beweis gestellt. Außerdem …, du bist eine intelligente Frau, als Quereinsteigerin traue ich dir alles zu. Das ist so typisch für uns Deutsche, wir glauben, unser Leben lang in unserem Beruf arbeiten zu müssen. Sieh dir doch mal die Amerikaner an, die wechseln, ohne mit der Wimper zu zucken in ihrem Leben mehrfach Wohnort, Haus und Job … Also, ich hätte hier wirklich Aufgaben für dich, die deinem Niveau entsprechen und in die du dich in allerkürzester Zeit eingearbeitet hättest. Du würdest mich sehr entlasten, Marion.«
Wieder antwortete Marion nicht sofort, dann kam etwas, was Alexandra total verblüffte: »Es hört sich gut an, aber im Moment kann ich eh nicht zu dir kommen …, ich werde mit Michelle in die Toscana reisen.«
Alexandra schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
»Du wirst, bitte schön, was tun?«, erkundigte sie sich vorsichtig, um dann fortzufahren: »Du weißt ja, dass Mama und Papa in der Toscana sind, in unserem Ferienhaus.«
»Ja, ich weiß, das hast du mir gesagt, aber ich hätte es auch so erfahren …, dein Vater hat mich angerufen.«
Das irritierte Alexandra so sehr, dass sie zunächst nichts sagen konnte. Das lag nicht daran, dass sie etwas dagegen hatte, dass ihre Eltern und Marion offensichtlich miteinander in Verbindung standen, im Gegenteil, sie freute sich darüber. Ihr Vater hatte Marion auch ausfindig machen lassen, damit er sie zu seinem Geburtstag einladen konnte, weil er der Meinung gewesen war, dass der Sechzigste ein bedeutsamer Geburtstag ist, an dem man einen Schnitt machen musste, weil der Zenit da weit überschritten war. Marion war nicht nur gekommen, sondern hatte als Überraschung auch die kleine Michelle mitgebracht, von der niemand etwas gewusst hatte, nicht einmal der leibliche Vater Ingo, ihr Bruder.
Dauerte Marion das Schweigen ihrer Schwägerin zu lange, oder hatte sie überhaupt keine Antwort erwartet? Auf jeden Fall fuhr sie fort: »Benno und Elisabeth rufen hin und wieder an, um zu hören, wie es Michelle und mir geht …, ich habe von meiner Misere erzählt, auch von deinem Angebot. Und da hat dein Vater …, Alexandra, sei jetzt bitte nicht sauer …, nun, er findet es nicht so gut, dass ich jetzt direkt zu dir komme, ehe ich nicht weiß, was ich wirklich will …, er kennt mich halt, der Benno.« Alexandra war sauer, zumindest angesäuert. Sie fand es nicht gut, dass ihr Vater sich da hineinhängte. Auf Schloss Waldenburg zu sein, war doch wohl die bessere Alternative, als ohne Wohnung und Job in Irland zu bleiben.
»Hat Papa deine derzeitige Situation klar vor Augen, oder ist sein Blick durch die südliche Sonne getrübt, sodass er alles ein wenig easy sieht?«
Marion seufzte.
»Bitte, sieh es nicht so, dein Vater beziehungsweise deine Eltern haben mir einen sehr vernünftigen Vorschlag gemacht …, sie haben Michelle und mich zu sich eingeladen. Ich glaube, sie wollen ein wenig Abwechslung haben, außerdem möchten sie Michelle näher kennenlernen. Und Benno meint, dass ich mir in aller Ruhe überlegen soll, wie es in meinem Leben weitergeht. Grundsätzlich findet er es gut, dass ich zu dir nach Waldenburg komme, auch er ist der Meinung, dass es für mich schon was Passendes geben wird. Nur soll ich nicht unter Druck eine Entscheidung treffen, er will mich auch ein wenig beraten, glaube ich.«
Das hörte sich doch schon ganz anders an, warum war Marion nicht gleich damit herausgekommen … Wanderschnecke, das war sie wirklich so manches Mal.
»Das ist super, Papa hat vernünftige Ideen, und Michelle wird die Beiden, ganz besonders Mama, von ihren Problemen ablenken, die doch noch immer da sind, die sie aber tapfer zu unterdrücken versuchen.«
»Dann hat Ingo also noch nicht eingelenkt?«, erkundigte Marion sich. »Aber das ist so typisch für ihn, er muss mit dem Kopf durch die Wand, auch wenn er weiß, dass das wehtut.«
»Ach, Marion, ich bin der Meinung, dass er einen solchen Zorn, vielleicht sogar Hass auf die Waldenburgs hat, dass er nur noch auf Rache sinnt, sich etwas ausdenkt, was uns verletzt. Dass er damit am meisten seine heißgeliebte Mutter trifft, das kommt ihm dabei wohl nicht in den Sinn.«
»Hat er sich schon wieder etwas Abscheuliches ausgedacht, mein Ex?«, fragte Marion.
Alexandra seufzte.
»Nein, seit die Anwälte hier waren, seit Mama denen, weil es keine Möglichkeit gab, es Ingo persönlich mitzuteilen, gesagt hat, dass Papa nicht sein leiblicher Vater ist, kommt von der Gegenseite nichts. Und das ist es, was mir große Angst macht. Ich habe Sorge, dass Ingo sich, entweder allein, oder mit seinen Anwälten, eine Abscheulichkeit ausdenkt.«
»Er kann aber auch eingesehen haben, dass seine Ansprüche nicht durchzusetzen sind. Ich mein, es war doch ohnehin ein bisschen … krank, damit überhaupt Anwälte zu beauftragen. Es gab doch überhaupt noch kein Erbe zu verteilen, und wenn dein Vater an seinem Sechzigsten verkündet hat, dass du seine Nachfolgerin werden sollst, so ist das sein Recht … Was hätte Ingo denn gemacht? Er hätte Waldenburg und alles, was dazugehört, zu Geld gemacht. Waldenburg hat ihm nie etwas bedeutet, das kann ich ja wohl am besten beurteilen. Schließlich war ich mit ihm verheiratet.«
»Und es ist auch nachweisbar, dass er bereits alles in die Wege geleitet hatte, um Waldenburg, sobald es seins gewesen wäre, so schnell wie möglich loszuwerden. Weißt du, Marion, Ingo war immer etwas schwierig hat immer versucht, sein Ding zu machen. Aber er war für mich ein ganz wundervoller großer Bruder, und das soll er auch bleiben. Sein Tun ist unverständlich und auch unverzeihlich, das sagt mir mein Verstand. Aber in meinem Herzen wird er immer einen Platz haben, und ich wünsche mir wirklich nichts mehr als eine Versöhnung. Man darf ja eins nicht vergessen, er hat durch Fremde erfahren, dass Papa nicht sein leiblicher Vater ist. Das ist doch grauenvoll.«
»Alexandra, wenn man dich so reden hört, dann könnte man glauben, um Gottes willen, was hat man diesem armen Menschen angetan. Aber so war es doch nicht. Was habt ihr nicht alles unternommen, um mit ihm sprechen zu können. Und euch vor der Tür stehen zu lassen, euch anzudrohen, gerichtlich gegen euch vorzugehen, wenn ihr nicht endlich aufhört, ihn zu belästigen …, nun, Alexandra, das ist nicht die feine englische Art. Dass es so gekommen ist, hat er sich selbst zuzuschreiben. Wie er sich immer selbst im Weg steht und sich Eigentore schießt … Ingo muss von seinem hohen Ross herunterkommen, dieses Grandiositätsdenken von sich selbst ablegen. Er muss sich von falschen Freunden trennen, die ihm immer nach dem Mund reden. Und er muss die Selbstbestätigung in sich selbst finden und nicht glauben, sich durch die dunkelhaarigen langbeinigen Models profilieren zu können.«
»Es tut dir noch immer weh, was er dir angetan hat, nicht wahr, Marion?«, erkundigte Alexandra sich äußerst behutsam. Sie hatten doch alle überhaupt nicht mitbekommen, wie sehr Ingo seine Ehefrau demütigte, wie er sie dauernd betrog und behandelte.
»Es ist vorbei«, antwortete Marion. »Ja, es war ein schmerzhafter Prozess, und ich hätte mir diese Erfahrung sehr gern erspart. Wenn es Ingo in meinem Leben nicht gegeben hätte, da wäre mir so manches erspart geblieben, vor allem hätte ich nicht ein so gestörtes Bild auf die Männerwelt … Aber, komm, Alexandra, lass uns dieses unerfreuliche Thema beenden …, ich bin sehr froh, dass ich wieder Kontakt zu euch habe.«
»Den nicht wir abgebrochen haben, sondern du«, erinnerte Alexandra ihre Schwägerin.
»Das stimmt schon. Aber du hättest in meiner Situation auch nicht anders gehandelt. Auf der einen Seite der Spross eines alten Adelsgeschlechts mit klangvollem Namen, auf der anderen Seite jemand, der nicht viel in die Waagschale zu werfen hatte. Es war davon auszugehen, dass ihr euch hinter Ingo stellen würdet, denn sagt man nicht, dass Blut dicker als Wasser ist?«
»Du hast uns gründlich verkannt, Marion. Bei den Waldenburgs zählt in erster Linie der Mensch, das war schon immer so, und so wird es auch bleiben.«
»Aber Ingo …«
Alexandra sagte es nicht gern, weil es für sie auch keinerlei Bedeutung hatte. Aber vielleicht brachte es Marion von ihren verqueren Gedanken ab.
»Ingo ist, wie du weißt, kein echter Waldenburg.«
Marion lachte.