Hartwig von Schubert

Pflugscharen
und Schwerter

Plädoyer für eine realistische Friedensethik

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© 2018 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

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Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Satz und Gestaltung: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

ISBN 978-3-374-05863-1

www.eva-leipzig.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Auf der Suche nach der politischen Vernunft

1. Was politisch vernünftig ist

2. Was das höchste Gebot fordert

3. Welche Methode die politische Theologie verwendet

4. Was den Leser jetzt erwartet

II Was Paulus sagt

1. Was in Römer 13 steht

2. Vier Grundsätze

2.1 Was die zwei Reiche bedeuten

2.2 Was das Gewissen lehrt

2.3 Was von den Ordnungsmächten zu erwarten ist

2.4 Loyalität zwischen Nächsten- und Feindesliebe

3. Zum Einfluss von Römer 13 auf die politische Ideengeschichte

III Was die politische Ideengeschichte lehrt

1. Die Bibel als Dokument bürgerlicher Freiheit

2. Platons Radikaldemokratie und Aristoteles’ Suche nach dem besten Staat

3. Republikanismus und konsequente Säkularität bei Kant

IV Die politische Vernunft und das Urteil über Gewalt

1. Der Glaube bahnt der Vernunft den Weg

2. Zur Kritik der Gewalt

3. Die ausstehende Überwindung des Krieges

4. Protestantismus und strategische Kultur: acht Thesen

Literatur

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Einleitung

Sollen sich Kirchen zur Politik äußern? Da Kirchen aus Menschen bestehen, die laut Aristoteles »politische Tiere« sind, können sie sich nicht nicht politisch äußern. Wer reden kann und zu einer bestimmten Politik schweigt, hat ihr zugestimmt. Und wer nicht reden will oder kann, bezeugt durch seinen praktischen Lebensvollzug, auf welcher Seite er steht. Wenn sich also Kirchen so oder so politisch äußern und wenn sie so oder so politisch handeln, muss die Frage beantwortet werden, wie sie in Fragen der Politik unter den Bedingungen moderner Gesellschaften sachlich qualifiziert und durch Rückhalt in den Gemeinden intern legitimiert Stellung beziehen können.

Vor dieser Frage steht erneut die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die sich vorgenommen hat, im Herbst 2019 eine der wichtigsten Fragen der Politik zu diskutieren: die Frage von Krieg und Frieden. Im Jahr 2007 hatte der Rat der EKD seine zweite Friedensdenkschrift »Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen« veröffentlicht. Die erste EKD-Friedensdenkschrift von 1981 »Frieden wahren, fördern und erneuern« war noch von der Erfahrung des Kalten Krieges geprägt. Nach dem Epochenwechsel in den 1990er Jahren wollte die EKD ihre Friedensethik auf die neue Weltlage beziehen, die durch das Scheitern des Kommunismus und den Zerfall der Sowjetunion und ihres Machtblocks entstanden war. In der Dekade seit dieser zweiten Friedensdenkschrift hat sich die Welt erneut erheblich gewandelt. Wie also ist heute die Gegenwart friedenspolitisch zu beurteilen? Ist es Zeit für eine neue Denkschrift?

Eine qualifizierte politische Positionierung zeichnet sich auf jeden Fall durch Besonnenheit und Geduld aus. Die EKD war also sicherlich gut beraten, zwischen ihrer ersten und zweiten Friedensdenkschrift einen Abstand von 25 Jahren zu wahren. In diesen zweieinhalb Jahrzehnten waren gleichwohl immer wieder friedensethische Stellungnahmen im Raum der EKD erarbeitet worden – im Kirchenamt der EKD in Hannover, in der Kammer für Öffentliche Verantwortung und 1994 im Rat der EKD selbst (vgl. Literaturverzeichnis) –, ohne dass diese Texte den Titel »Denkschrift« erhalten hätten. Insofern ist zu erwarten, dass sich die EKD-Themensynode auch im Herbst 2019 nur eine Zwischenbilanz für die Diskussion der nächsten zehn Jahre vornimmt.

Als Grund für eine solche Verständigung in der Synode nannte der Friedensbeauftragte der EKD Renke Brahms in seiner »Einbringung über den Stand der friedensethischen Diskussion und laufende Projekte der EKD« im November 2017 die folgenden Gründe: den Wandel bewaffneter Konflikte in den vergangenen Jahrzehnten von zwischenstaatlichen zu innerstaatlichen und überstaatlichen Konflikten, die Entwicklung neuer, beispielsweise teilautonomer Waffensysteme, das Zusammenfließen äußerer und innerer Sicherheit mit vermehrter Polarisierung sowie eine zunehmende Gewöhnung an den Vorrang militärischer anstelle ziviler Instrumente der Sicherheits- und Außenpolitik. Wie auch immer man den empirischen Gehalt dieser Zeitdiagnose im Einzelnen beurteilen mag – es gibt derzeit viele Stimmen, die warnen, die Welt sei aus den Fugen und wir erlebten erneut einen dramatischen Epochenwandel. Auf die Frage, wann ihm klar wurde, dass die alte Weltordnung ins Rutschen gerät, antwortete der Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger in einem Interview im Spiegel am 01. September 2018:

»[…] das war ein Jahr bevor ich den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz übernahm, im Februar 2007. Da hat Wladimir Putin in München gesprochen, und er stellte in einem sehr aggressiven Ton den Führungsanspruch der USA infrage. Es war ein Aufbäumen. Ich saß im Publikum, hinter mir sagte ein Journalist laut: Das hier verändert gerade die Welt. Es war eine Zäsur, der Beginn von etwas Neuem.« (Ischinger, 2018: »Wir erleben einen Epochenbruch«, Interview von Sandberg / von Rohr, in: Der Spiegel, 31. 08. 2018, Nr. 36)

Ischinger verwies auf das Jahr 2007, in dem die EKD-Denkschrift noch große Erwartungen an die internationale Friedensordnung als Rechtsordnung richtete. Inzwischen haben die syrische und jemenitische Tragödie, der hybride Krieg in der Ukraine und die wieder zunehmende Rüstungskonfrontation zwischen den großen Mächten solche Hoffnungen massiv infrage gestellt. In Folge dessen wird nicht nur in den Kirchen, sondern in der ganzen deutschen Gesellschaft darüber gestritten, welche Rolle Deutschland und Europa bei künftigen globalen Auseinandersetzungen spielen soll. Der konservative Politiker Peter Gauweiler hatte in der FAZ vom 25. August 2018 in einem Artikel unter der Überschrift »Die Kreuzritter der Moderne« die Forderung erhoben, Deutschland und Europa sollten sich zu einer Art großer Schweiz entwickeln: wirtschaftlich erfolgreich, aber geopolitisch abstinent. Dem widersprachen Sigmar Gabriel, Wolfgang Ischinger und Christoph von Marschall in der FAZ vom 8. September 2018 ganz entschieden – hier träfe sich die Sehnsucht der »nationalen Rechten« nach Neutralität mit einem »linkem Pazifismus«. Die drei Autoren fragten: »Was aber wird aus Europa, wenn es die liberale Ordnung, die eine Bedingung für seinen Erfolg, seinen Wohlstand und seine Lebensweise ist, nicht erhalten kann und andere es auch nicht mehr tun wollen?«

Im Zentrum der Charta der Vereinten Nationen (VN) steht das System of Collective Security: die Staaten der Erde einigen sich auf Konfliktregulierungen in Rechtsgemeinschaften nach dem Prinzip der Gemeinsamen Sicherheit. Konfliktparteien leugnen ihre Interessengegensätze nicht, sie tragen sie aber in Verhandlungen aus. Wer es stattdessen mit Gewalt versucht, muss mit der Gegengewalt der übrigen Rechtsgenossen rechnen. Diesem Ansatz »Frieden durch Recht« folgte auch die EKD-Denkschrift von 2007. In der Ziffer 98 heißt es: »Recht ist auf Durchsetzbarkeit angelegt. In der Perspektive einer auf Recht gegründeten Friedensordnung sind Grenzsituationen nicht auszuschließen, in denen sich die Frage nach einem (wenn nicht gebotenen, so doch zumindest) erlaubten Gewaltgebrauch und den ethischen Kriterien dafür stellt.« Und weiter (Ziffer 102): »Das moderne Völkerrecht hat das Konzept des gerechten Kriegs aufgehoben. Im Rahmen des Leitbilds vom gerechten Frieden hat die Lehre vom bellum iustum keinen Platz mehr. Daraus folgt aber nicht, dass auch die moralischen Prüfkriterien aufgegeben werden müssten oder dürften, die in den bellum-iustum-Lehren enthalten waren. Denn ihnen liegen Maßstäbe zugrunde, die nicht nur für den Kriegsfall Geltung beanspruchen, sondern die sich (ausgehend vom Grundgedanken individueller Notwehr oder Nothilfe) ebenso auf das Polizeirecht, die innerstaatliche Ausübung des Widerstandsrechts und einen legitimen Befreiungskampf beziehen lassen. Ihnen liegen allgemeine Kriterien einer Ethik rechtserhaltender Gewalt zugrunde.«

Soll nun an dieser Position gerüttelt werden? Sehen Kritiker der Denkschrift, insbesondere Kritiker der in ihr niedergelegten »Ethik rechtserhaltender Gewalt« die Chance, auf der Herbstsynode 2019 eine Revision herbeizuführen? Das wäre nicht verwunderlich. Für Vertreter eines bedingungslosen Pazifismus, die jeden Gewaltgebrauch ablehnen, muss es schwer erträglich sein, dass dem Begriff der Gewalt ein prominenter und positiv konnotierter Platz in einer evangelischen Friedensethik zuteil wurde. Die Vermutung wird bestätigt durch die folgenden Voten aus dem Jahr 2014:

»Gleich dem nationalen Ausstiegsgesetz aus der nuklearen Energiegewinnung, gilt es – möglicherweise in Abstimmung mit anderen EU-Mitgliedsstaaten – ein Szenario zum mittelfristigen Ausstieg aus der militärischen Friedenssicherung zu entwerfen.« (Evangelischer Oberkirchenrat Karlsruhe, 2014: Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens, 11)

Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann war im gleichen Jahr im Spiegel so interpretiert worden, Deutschland solle wie Costa Rica auf eine Armee verzichten, also die Bundeswehr abschaffen, hatte dies aber später dementiert (Margot Käßmann: »Ich bin ja keine Radikalpazifistin«, in: Westfalen-Blatt, 12. 09. 2014). Nicht ganz so pointiert wie die Badische Kirche, aber im Ansatz noch radikaler votierte 2018 die Rheinische Landeskirche. Dort ist zu lesen:

»Die Versuchung ist groß, auf diese vielgestaltige Gewalt mit physischer oder struktureller Gegengewalt zu reagieren. Die deutsche und europäische Geschichte, auch kulturelle Traditionen, führen uns in das Dilemma der Gegengewalt. Doch Jesu Tod am Kreuz setzt alle tödliche Gewalt ins Unrecht, und seine Auferstehung zeigt, dass sie nicht das letzte Wort hat. Im Licht von Kreuz und Auferstehung ist darum ein anderes Verhalten in der Nachfolge Jesu möglich. Wir sind in unseren Reaktionen nicht mehr auf Gegengewalt angewiesen, sondern aufgefordert anders zu handeln – zu allererst mit erlernbaren Überzeugungen und Haltungen der Gewaltfreiheit und vielfältigen in Gesellschaft und Politik entwickelten Fähigkeiten, Methoden und Erfahrungen (z.B. Dialog, Mediation, Schlichtung, Rechtsmittel).« (Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland, 2018: Friedenswort, 6)

Dass solche Voten sich gegen die EKD-Denkschrift von 2007 wenden, wird von einem ihrer Kommentatoren bestätigt (vgl. Weingart, Markus A., 2014: Was Frieden schafft, 121–125). Gegen eine »Ethik rechtserhaltender Gewalt« wird das partikulare Ethos der christlichen Religion zur Norm eines allgemeinpolitischen Anarchismus erhoben, in dem überdies Rechts- und Staatsgewalt – diese wirken physisch und strukturell – undifferenziert als »Gegengewalt« mit allen anderen Erscheinungen von zudem noch tödlicher Gewalt in einem Atemzug verhandelt werden. Gerade die am Ende des Zitates angehängten »Rechtsmittel« zeichnen sich jedoch durch alles andere als durch Gewaltfreiheit aus. Entweder dient der Verweis auf das Recht hier als Camouflage oder er konterkariert das gesamte Argument. Sehr viel ausgewogener votieren dagegen drei andere Landeskirchen (Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, 2016: Auf dem Weg zu einer »Kirche des gerechten Friedens«; Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, 2017: »Gerechter Frieden«; Landessynode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz, 2018: »Die Landeskirche auf dem Weg zur Kirche des gerechten Friedens«).

Die beiden zitierten Positionen, die badische und mehr noch die rheinische, sind friedensethisch inakzeptabel, denn sie legen die Axt an die Wurzeln des modernen Staates, sie schwächen das staatliche Gewaltmonopol, sie diffamieren mit dem militärischen Teil der bewaffneten Sicherheitsorgane alle Organe des staatlichen Rechtsvollzugs. Im Blick auf die internationalen Beziehungen käme ihr Erfolg einer Kündigung des Artikels 51 und des Kapitels VII der VN-Charta gleich und damit einer Absage an die bedeutendste Völkerrechtsrevolution der Neuzeit. Man riskierte damit einen Rückfall in die Machtspiele des 19. Jahrhunderts.

Jede Gesellschaft muss das Problem der Gewalt lösen. Denn jeder Mensch kann jeden Menschen jederzeit mit Gewalt bedrohen. Das klassische Mittel, die Gewalt aller gegen alle einzuschränken, ist Herrschaft: Menschen erteilen anderen Menschen sanktionsbewehrte Befehle, die diese anfangs aus Furcht, irgendwann aber aus Gewohnheit, Respekt und Einsicht befolgen. Die voll entwickelte Form von Herrschaft ist der Staat bis hin zum ausgereiften rechtsstaatlich eingehegten Gewaltmonopol. Dort wird man im Idealfall nicht beherrscht, sondern regiert. Doch auch die Selbstregierung eines Volkes begründet gegliederte »Staatsgewalt«, deren Ausübung nicht nur erlaubt, sondern – wie ich in den folgenden Kapiteln begründen werde – um der Freiheit aller Bürger willen sogar geboten ist. Der Rechtsstaat ist verpflichtet, das Gewaltmonopol und damit die Eskalationshoheit gegen jedermann, gleich welcher politischer Couleur, wirtschaftlichen Macht, religiösen Konfession oder ethnischen Herkunft nach innen und nach außen zu behaupten.

Um die Ausrichtung der EKD-Denkschrift von 2007 noch etwas deutlicher einzuordnen, mag die folgende Skizze hilfreich sein. In der politikwissenschaftlichen Disziplin der internationalen Beziehungen pflegt man, etwas vereinfacht dargestellt, zwei Denkschulen zu unterscheiden. Der Realismus lehrt, dass in einer anarchischen und instabilen Staatenwelt jeder Staat sein Überleben und seinen Bestand durch den Ausbau einer möglichst allen anderen Staaten überlegenen Macht sichere. Staatenhandeln nach außen diene grundsätzlich immer der Durchsetzung der eigenen Interessen. Und Macht sei die Summe aus loyalen Bevölkerungen, Wirtschaftskraft, militärischer Stärke, diplomatischem Geschick etc. Solange sich in einem Kreis rivalisierender Mächte keine die anderen zu unterwerfen vermöge, verharrten sie in Machtbalancen, allenfalls ergänzt durch Bündnisverträge. Alle Akteure seien permanent darauf bedacht, sich angesichts unkalkulierbarer Gefahren von allen Seiten maximal nach innen und außen mit Waffen und anderen Machtmitteln auszustatten. Vertraue eine Macht auf Treu und Glauben einer anderen Macht, so riskiere sie ihre Unterwerfung und könne damit eine gefährliche Destabilisierung des Machtgleichgewichts auslösen. Denn nun müssten die Machtpositionen wieder mit hohen Kosten für alle Beteiligten neu ausgekämpft werden. Der Liberalismus nun leugnet die Interessenbindung der Akteure keineswegs, betont aber gegen eine auf kurzfristigen Nutzen angelegte »Realpolitik« den langfristigen Nutzen von Institutionen wie der VN, der NATO, der EU, der Afrikanischen Union etc. Den Bestand solcher auf ein Freiheitspathos und auf Vertrauen gegründeten und gewiss durch Kontrollmechanismen zusätzlich stabilisierten Institutionen könne der Realismus nicht erklären.

Realisten und Liberale in diesem Sinne verwenden ihre hier nur grob angedeuteten Annahmen zum einen als Kategorien für die Analysen und Deutungen politischer Konfliktverläufe. Zugleich prägen und beeinflussen sie damit auch die politische Praxis, sodass die Theorie nicht nur die Praxis erklärt, sondern auch steuert. Jede Denkschule möchte die Welt natürlich auch gern so haben, wie sie sie sieht. Ganze Epochen wurden so in die eine oder die andere Richtung »erzogen«. Denn Menschen möchten, dass das Spiel der Mächte nach den Regeln gespielt wird, die sie glauben am besten zu beherrschen und die ihnen, ihren Prägungen und ihren Kompetenzen die größten Chancen bieten. In diesem Streit der Denkschulen steht nun der aktuelle Hauptstrom protestantischer Friedensethik mit der »Ethik rechtserhaltender Gewalt« klar auf der Seite der als liberal bezeichneten Denkschule.

Der realistische Liberalismus, dem auch ich mich verbunden fühle, setzt auf den Grundsatz »Frieden durch Recht«. Er zeichnet sich überdies dadurch aus, dass er durchaus auch radikalpazifistische, utopische, skeptische und sogar ultrarealistische Positionen erst einmal ernst nimmt und im unvermeidlichen Streit um politische Stellungnahmen zur Sprache kommen lässt. Man kann nicht verhandeln, wenn man die Gegenseite sofort moralisch disqualifiziert. Die Dissonanzen und Gabelungen in den kirchlichen Papieren verdienen Lob, nicht Klage und Tadel. Aber diese Kontroversen müssen in fairen und ordentlichen Verfahren ausgetragen werden. Das gelingt leider nicht immer, wie das ziemlich verunglückte Afghanistan-Papier der EKD (Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, 2014: »Selig sind die Friedfertigen«) zeigt. Doch die Auskunft, die Kirche könne sich zu einem öffentlichen Streit nicht äußern, weil sie selbst zerstritten sei, wäre noch viel unglücklicher und auch völlig unpassend. Denn kaum etwas ist so schöpferisch wie der gut moderierte und gut dokumentierte Streit in einer Gruppe. Nur aus dem Ringen der zunächst »einseitigen« Betrachtungsweisen kann etwas Neues entstehen. Und dass das politische Geschehen dieser Tage neuer Impulse bedarf, ist wohl kaum zu leugnen. Deshalb lobe ich den Mut, oder soll ich besser sagen, die Chuzpe sowohl der badischen und rheinischen Landeskirche, ihre Positionen zu vertreten, und nehme die Kontroverse gern auf. Denn das Wagnis, überhaupt Position zu beziehen, erscheint mir besser als das 2005 vom damaligen Bundespräsidenten diagnostizierte »freundliche Desinteresse« der Deutschen, das sich inzwischen bis in die weithin beklagte Mangelbewirtschaftung der Bundeswehr hinein auswirkt. Horst Köhler sagte wörtlich:

»Wenn die Deutschen so wenig vom Ernst des Lebens wissen, auf den die neue Bundeswehr eine Antwort ist, dann werden sie nur schwer einschätzen können, welchen Schutz die neue Sicherheitspolitik verspricht, welche Gefahren sie möglicherweise mit sich bringt, ob der Nutzen die Kosten wert ist und welche politischen Alternativen Deutschland und die Deutschen bei alledem eigentlich haben. Das müssen sie aber einschätzen können, damit sie die nötige demokratische Kontrolle ausüben können, damit sie innerlich gewappnet sind für die kommenden Herausforderungen und damit sie den Dienst ihrer Mitbürger in Uniform zu schätzen wissen und aus Überzeugung hinter ihnen stehen.« (Horst Köhler, 2005: Einsatz für Frieden und Sicherheit, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede.html, abgerufen am 9. 9. 2018)

Die Annahme, die mittelfristige Entfernung des in sich hoch ausdifferenzierten Instruments »Streitkräfte« aus dem Kräftedispositiv der Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik Deutschlands trüge international zu einer Stärkung des Friedens in der Welt bei, ist äußerst gewagt. Bei jenem Vorschlag aus der badischen Landeskirche soll es ja vermutlich nicht nur darum gehen, Fähigkeiten, die heute bei den Streitkräften liegen, der Polizei zuzuweisen und so einfach umzudeklarieren. Und die Last militärischer Operationen beispielsweise in nichtinternationalen bewaffneten Konflikten oder generell nach Kapitel VII der Charta soll vermutlich auch nicht einfach anderen Nationen aufgehalst werden. Um nur ein jüngeres Beispiel zu nennen: Bei der Vertreibung der christlichen Lords Resistance Army (LRA) konnte sich das Militär Ugandas auf Spezialkräfte der USA stützen. Andere Länder, in welche die LRA auswich, leisten einander solche Unterstützung zurzeit gegenseitig im Rahmen der Afrikanischen Union. Wenn es also nicht darum gehen soll, die derzeitigen militärischen Aufgaben der Bundeswehr samt dem deutschen Verteidigungshaushalt anderen EU-Ländern oder gar den USA zuzuschieben, bedeuten jene Vorschläge aus Düsseldorf und Karlsruhe und von der in der deutschen Öffentlichkeit bekanntesten Repräsentantin der evangelischen Kirche und nun auch die eines Peter Gauweiler nichts Geringeres als den konsequenten Ausstieg Deutschlands und aller (!) anderen Mitgliedsstaaten der EU aus allen (!) internationalen Bemühungen, in denen auch nur eine der beteiligten Nationen »militärische« Kräfte zur Friedenssicherung einsetzt. Soll das auf der Themensynode zur Friedensethik im Herbst 2019 ernsthaft die Position der EKD werden? Nein, die EKD steht hoffentlich weiterhin zu ihrem klaren Bekenntnis zum Recht auch in der internationalen Staatenordnung und damit auch zu allen zivilen und militärischen Instrumenten, die zur Erhaltung und Durchsetzung dieses Rechtes – und damit aus guten Gründen – geeignet, erforderlich und angemessen sind. Und zu diesen Instrumenten gehören je nach Charakter eines Konfliktes auch solche, die unter dem Sammelbegriff »Militär« zusammengefasst werden.

Zum Verständnis dieser Position ist eine semantische Klärung nötig. Militärisch zu operieren, heißt nicht notwendig, Kriege zu führen. Krieg wird im Deutschen mit den beiden Weltkriegen assoziiert. Die Bundesrepublik Deutschland hat in diesem Sinne keine Kriege geführt, sie führt keine Kriege und darf auch niemals wieder solche Kriege führen. Krieg ist völkerrechtlich geächtet, die Rechtswissenschaft spricht zur Differenzierung der unübersichtlichen Vielfalt von Massengewalt von diversen Klassen bewaffneter Konflikte. Die VN-Charta setzt kein ius ad bellum, sondern ein ius contra bellum. Kriege sind auch in den zurückliegenden Jahrzehnten nur selten von einer Seite »gewonnen« worden und wenn, dann auch nur zu politisch-ethisch unerträglichen Kosten. Wenn also friedensethisch nur von »militärischen Operationen« im Rahmen eines ius contra bellum die Rede sein kann, dann sind mit der Semantik auch deren Zwecke und Ziele entschlossen abzurüsten. Gewiss, die schwere Bewaffnung und das Kombattantenprivileg bilden den Kern und das Proprium des Militärischen. Aber Armeen sind wirtschaftlich extrem teuer, ihr politischer Nutzen ist begrenzt, sie dienen in erster Linie der Abschreckung, und deshalb ist ihr Einsatz nur im Rahmen gesamtpolitischer Strategien zur Bewältigung bewaffneter Konflikte verantwortbar