Kurzbeschreibung: Job weg, Geld weg, Freund weg: Nana sieht schwarz - dabei ist ihr Kopf voller Farben. Schon immer hatte sie eine besondere Beziehung zur Kunst, doch bei all den Problemen lässt ihre Kreativität sie immer mehr im Stich. Als dann auch noch die geplante Schottland Reise zu ihrer Großmutter ins Wasser zu fallen droht, greift Nana zu drastischen Mitteln: Mit dem völlig fremden Lutz, den sie auf ihrer Suche nach einer neuen Wohnung kennenlernt, begibt sie sich auf einen Roadtrip durch England - und kämpft sich mit viel Humor zurück ins Leben.
Nanas Reise
Und zwischen uns all die Farben
Roman
Edel Elements
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Covergestaltung: Designomicon, München unter Verwendung des Werks "Nana" von Matze Brandt @yamakasino
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ISBN: 978-3-96215-422-6
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„Man kann sich die Abenteuer, für die man gemacht ist, nicht immer aussuchen.“
Mariana Leky - Was man von hier aus sehen kann
Elsa saß auf ihrer geliebten Holzbank im Garten und hielt die kleine, dunkelrote Schatulle in den Händen. Der Wind pfiff durch die Blätter des alten Apfelbaumes. Sie liebte dieses Geräusch, es war so gemütlich, so tröstlich. Es klang nach Heimat.
Elsa zählte die Tage, bis sie die Schatulle endlich ihrer Enkelin überreichen konnte. Ihre Farbe war mit den Jahren verblasst, die Ecken waren abgenutzt. Aber der Inhalt funkelte wie eh und je. Sie dachte über die richtigen Worte nach, die sie an ihre Enkelin beim Überreichen richten wollte. Der Ring, der im weichen Kissen im Inneren der Schatulle steckte, sollte sie von nun an begleiten. Um ihre Enkelin jeden Tag daran zu erinnern, worauf es im Leben ankam.
Es gibt keine richtigen oder falschen Entscheidungen. Du fällst sie – oder eben nicht. Nana hatte sich entschieden. Und war nun ihren Job los. Sie setzte sich auf den Bürgersteig vor das Gebäude, das sie nie wieder betreten würde. Das fühlte sich irgendwie gut an und irgendwie schrecklich beängstigend. „Frank, jetzt sei kein Arsch.“ Das war ihr so herausgerutscht. Arsch hätte sie nicht sagen dürfen, das wusste sie selbst. Aber sie war erschöpft, die Hitze lähmte sie und schon am Morgen hatte der Kunde sie unfassbar genervt. Nana befeuchtete ihre trockenen Lippen und hob einen kleinen Stein hoch, den sie neben ihrer Sandale entdeckte. Langsam fuhr sie mit dem Zeigefinger an seinen Ecken und Kanten entlang.
Mittags hatte ihr Vorgesetzter Frank sie ins Büro gebeten und Nana mitgeteilt, dass sie ihren Urlaub leider um einige Monate verschieben musste. Frank fragte nicht, er teilte mit. Die Firma hatte einen Neukunden gewonnen, Nana sollte das Projekt ans Laufen bringen. Sie schloss für einen Augenblick die Augen, sammelte sich und entgegnete: „Frank, du weißt, ich bin immer flexibel, aber ich brauche diesen Urlaub dringend. Er ist mir wirklich wichtig.“ Sie hatte das Wirklich wirklich betont.
„Ich hätte letztes Jahr auch Jasper befördern können, aber du hast mir deutlich zu verstehen gegeben, dass du unbedingt die Grafikabteilung leiten willst, Nana“, antwortete Frank und hob dabei die linke Augenbraue.
Nana nickte. „Ja, ich bin dir auch sehr dankbar dafür, aber …“
Er hob den Zeigefinger an den Mund und gab ihr zu verstehen, dass nun er an der Reihe war. „Dann füll deine Position jetzt bitte auch verantwortungsvoll aus.“
„Frank, jetzt sei kein Arsch.“
Nach diesem Satz lauschte Nana einen Moment lang fasziniert der Stille, die sich in Franks Büro breitmachte. Sie waren wohl beide gleichermaßen erstaunt über diesen Satz. Binnen Sekunden wurde ihr klar, dass es nun kein Zurück mehr gab. „Entschuldige die Wortwahl, das war nicht okay“, presste sie hervor. Dann räusperte sie sich und sagte in einem ruhigen Tonfall: „Ich kündige.“
„Du … was? Moment mal, Nana. So geht das nicht. Was ist denn mit dir los? Also erst mal …“
Doch nun war es Nana, die Frank mit einem Kopfschütteln zu verstehen gab, dass sie an der Reihe war. „Ich kündige, Frank. Hätte ich schon längst tun sollen. Danke für alles.“ Sie erhob sich, schloss Franks Bürotür leise von außen und blieb für einige Sekunden mit dem Rücken zur verschlossenen Tür stehen. Dann gab sie sich einen Ruck, packte die privaten Habseligkeiten von ihrem Platz zusammen und ging zum Aufzug. Auf die Nachrufe ihrer Kolleginnen und Kollegen reagierte sie nicht.
Ihre Beine wurden steif, sie stand vom Bürgersteig auf. Erst die Sache mit Phillip und Alina, jetzt der Job. Ganz schön viele Abschiede in verdammt kurzer Zeit. Nana seufzte. Erstmal einen Kaffee, dachte sie und ging in Richtung ihres Lieblingsbäckers. Eine gute Tasse Kaffee war flüssiger Trost.
Nachdem sie den Umriss auf den kleinen Stein gezeichnet hatte, malte Nana die Füße immer zuerst. Dann ging sie von hinten nach vorne vor: Erst die Schwanzfedern, dann der Rumpf, schließlich die Flügel und zuletzt der Kopf. Mit den Augen erwachte der Vogel zum Leben. Je komplizierter das Bild war, desto besser. Sie musste sich dann sehr konzentrieren, setzte Pünktchen für Pünktchen, malte kleine Flächen sorgsam aus und hielt immer wieder inne, um mit etwas Abstand das werdende Bild zu betrachten.
Die Flügel des Eichelhähers, bei denen sie nun angekommen war, erforderten eine besonders ruhige Hand. Seine hellblau und schwarz gebänderten Flügeldecken erinnerten sie an die Kacheln im Becken eines Freibades. Bei diesem Eichelhäher würde sie jedoch ein bisschen mogeln. Statt Blau wollte sie Türkis verwenden. Sie liebte den Farbton, weil er besonders leuchtete und interessanterweise erschien das Wort vor ihren inneren Augen in demselben Farbton, den es beschrieb. Die Form des Wortes war außerdem wunderschön geschwungen, eine sanfte Welle mit einem Hauch Glitzer an der höchsten Stelle. So sah in ihrer Welt das Wort Türkis aus. Sie hatte länger gebraucht, um zu verstehen, dass nicht alle Menschen Worte als Bilder sahen.
Nana mischte gerade das Türkis zusammen, als ihre eingestellte Erinnerung im Handy klingelte. 16 Uhr. Genervt schloss sie die Augen. Sie wollte jetzt nicht unter Menschen gehen. Nana wollte Türkis. Sie seufzte. Aber sie brauchte ein neues Zuhause. Ihre Wohnung war für eine Person zu groß, erst recht, seit sie ihren Job los war. Schöne Scheiße. Widerwillig stellte sie den Pinsel in das Wasserglas, drehte Deckel auf die Farbtöpfchen, zog ihre Sandalen an, die sie unter dem Schreibtisch abgestreift hatte, und verließ ihre vier Wände.
Nana hatte die Anzeige im Netz gefunden. Die Wohnung lag nicht weit entfernt, sie konnte zu Fuß dorthin gehen. Der Mieter, mit dem sie kurze Nachrichten ausgetauscht hatte, klang freundlich. Er hieß Lutz, wollte in zwei Monaten ausziehen und suchte einen Nachmieter. Für weitere acht Wochen in der alten Wohnung bleiben zu müssen, erschien ihr schrecklich lang, alles erinnerte an das Wir. Aber, wie hätte Elsa so schön gesagt: Nützt ja nix. Dabei hätte sie kurz mit den Schultern gezuckt und damit das Thema ad acta gelegt. Nana lächelte. Sie dachte in diesen Tagen häufig an Elsa und ihre Weisheiten. Sie hatte ihr noch nichts von der Trennung erzählt. Sie wollte nicht, dass Elsa sich Sorgen um sie machte.
Nana blickte auf die Hausnummern. Sie war zu weit gegangen. Das passierte ihr oft, denn sie konnte sich wunderbar in Gedanken verlieren. Sie lief ein Stück zurück und blickte an der Fassade hoch. Beige, braun, hier und da blätterte Farbe ab. Nana schaute die Straße zu beiden Seiten hinunter. In einer Richtung befand sich der Nordpark, gar nicht weit entfernt der Siegfriedplatz. Gegenüber im Haus gab es einen Kiosk. Es war ein gutes Viertel. Es war das einzige, in dem sie wohnen wollte.
Nana atmete tief durch und klingelte. Der Summer brummte, ohne dass jemand etwas durch die Gegensprechanlage gesagt hätte. Sie betrat den Hausflur, er war angenehm kühl. Vielleicht würde sie einfach den Rest des Sommers hier auf diesen Stufen sitzen, Steine bemalen und sich gelegentlich Weingummi und Wasser im Kiosk besorgen. Sie stieg die Treppe hinauf, denn sie musste in den dritten Stock, so hatte es in der Anzeige gestanden: 3-Zimmer-Wohnung, Einbauküche, 3.OG., 700 Euro kalt.
In der Tür stand Lutz, zumindest ging Nana davon aus, dass es Lutz war. Er trug trotz der Hitze schwarze Lederschuhe, eine schwarze Anzughose und ein weißes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Das Wort Schwarz mochte sie nicht so sehr. Es erschien ihr dreckig rot und in einem schnöden Rechteck. Weiß hingegen war ein richtig schönes Wort. Es strahlte in Gelb und ein blauer Schweif zog sich hindurch.
Der Mann hob zur Begrüßung die Hand, während sie die letzten Stufen erklomm. „Lutz“, sagte er, und seine Stimme klang angenehm ruhig.
„Nana“, gab sie zurück, setzte ein „Hallo“ hinterher und versuchte dabei zu lächeln.
„Komm rein und schau dich gerne um.“ Lutz vollführte eine einladende Geste. Sie hatten sich bereits in den Nachrichten, die sie geschrieben hatten, geduzt.
Sie folgte ihm durch den Flur. Seine Schuhsohlen klackerten auf den Fliesen, und Nana fragte sich, was die Mieter unter ihm davon hielten, dass er diese Schuhe trug. Sie verliebte sich sofort in diese Wohnung. Die Wände waren allesamt weiß gestrichen. Im Flur und in der Küche, in die sie beim Vorbeigehen einen ersten Blick erhaschte, waren dunkle Fliesen verlegt, im Wohnzimmer Parkett. Sie fühlte sich wohl in dieser Schlichtheit. Und obwohl durch die großen Fenster die Sonne hereinschien, war es in den Räumen erträglich warm.
„Wow“, entfuhr es ihr, als sie sich schließlich im Wohnzimmer gegenüberstanden. „Schöne Wohnung. Und ein grandioses Licht. Das wäre ein perfekter Raum für ein Atelier.“
Lutz blickte auf die Sonnenstrahlen, die auf das Parkett fielen, als sähe er sie zum ersten Mal. „Mag sein. Bist du Künstlerin?“
„Ich weiß nicht“, sagte sie und wusste, dass die Antwort seltsam klang. „Ich schaue mir mal die anderen Räume an, ja?“, schob sie schnell hinterher.
„Ja, bitte. Guck dir alles in Ruhe an. Wenn du fertig bist oder Fragen hast, findest du mich hier.“ Lutz setzte sich an den Schreibtisch, schob seine Brille auf den Kopf und vertiefte sich sogleich in Unterlagen.
„Du hast ja schon fast alles geschafft“, sagte Nana laut, als sie ins Schlafzimmer blickte. Dort stand nur noch ein Bett, neben dem sich ein wackliger Turm aus Büchern emporhob. An der Wand stapelten sich bereits gepackte Kartons, aus denen hier und da noch ein Kleidungsstück herauslugte. Sie ging ins Badezimmer, das ausschließlich vom Schlafzimmer aus zugänglich war. Es war klein, jedoch mit einem Fenster ausgestattet, was Nana als einen großen Pluspunkt empfand.
„Geschafft?“, kam es aus dem Wohnzimmer irritiert zurück.
„Mit dem Packen. Du bist schon fast fertig. Dabei hast du noch zwei Monate Zeit. Respekt.“ Nana schlenderte weiter durch die Wohnung, die bei genauer Betrachtung sehr kahl, fast traurig wirkte, weil kein einziges Bild an den Wänden hing und nichts Persönliches mehr zu entdecken war. Die Einbauküche hatte offensichtlich schon einige Jahre auf dem Buckel, würde aber ihre Dienste leisten. Nana war ohnehin keine große Köchin.
„Nimmst du den Kühlschrank mit?“, fragte sie Lutz, als sie das Wohnzimmer wieder betrat.
„Hm?“ Er machte sich noch eine letzte Notiz, legte den Stift dann zur Seite und schaute sich suchend um. „Wo habe ich denn jetzt schon wieder meine Brille …“
„Auf dem Kopf“, half Nana und schmunzelte. So erging es ihr auch häufig. Wahrscheinlich empfand sie deshalb Zerstreutheit bei Menschen als vertrauenserweckend sympathisch.
„Oh, natürlich. Danke.“ Peinlich berührt setzte er die Brille auf und schaute Nana fragend an.
„Der Kühlschrank“, wiederholte sie. „Gehört er zur Küche oder ist er dein Eigentum?“
Er antwortete nicht sofort, sondern musterte sie stattdessen eindringlich. Sein Blick blieb lange an ihrem Tuch haften, das Nana sich um den Pagenkopf gebunden hatte. Sie ertastete mit ihren Händen, ob es noch so saß, wie es sollte.
Lutz schüttelte sich kurz. „Entschuldigung. Ich war noch in Gedanken bei meiner Arbeit.“ Er drehte die Papiere auf seinem Schreibtisch um und räusperte sich. „Der Kühlschrank gehört zur Küche. Darf ich dir etwas zu trinken anbieten? Ein Wasser vielleicht? Cola habe ich auch noch da.“
„Ein Wasser wäre nett.“
Er verschwand in der Küche, und Nana ließ ihren Blick durch das Wohnzimmer streifen. Schreibtisch aus dunklem Holz, altes graues Sofa, kleiner Glastisch. Neben dem Sofa befand sich ein Terrarium auf dem Boden. Vom Bewohner keine Spur. Das Holzhäuschen, die Kletterangebote und die Knabberstange ließen auf einen Nager schließen. Dort also, in der hintersten Ecke des Wohnzimmers, hatte sie doch etwas Persönliches entdeckt. Sie erschrak ein wenig, als plötzlich eine Hand mit einem vollen Wasserglas in ihrem Blickfeld auftauchte. Im Wasser schwammen Eiswürfel. Nana hasste Eiswürfel. Das Eis schmerzte an ihren Zähnen. Doch wenn sie ehrlich war, lag ihre Abneigung vor allem am Benidorm-Urlaub, den ersten Flugurlaub in den Süden, den sie als Kind mit ihren Eltern unternommen hatte.
Nanas Lippen schmeckten nach Salz, und ihre Füße in den pinkfarbenen Flip-Flops waren sandig. Zwischen dem kleinen und dem vierten Zeh hatte sich besonders viel Sand angesammelt. Die winzigen Körner funkelten in der Sonne, als seien sie kostbar. Nanas Hände spielten mit den kleinen bunten Perlen, die an den Enden der Fransen ihres neuen Shirts hingen. Das hatte ihr Papa für sie am Tag zuvor auf einem Markt gekauft. Nana wusste schon jetzt, dass es sehr lange ihr Lieblingshirt bleiben würde.
Sie schaute auf das Meer, das ihr türkis entgegenleuchtete. Ihr metallener Stuhl wackelte, und die Armlehnen waren von der Sonne ganz schön heiß geworden. Der Kellner kam, nannte sie Señorita, das klang lila, schön und irgendwie wichtig. Sie bestellte eine Fanta. Papa wählte einen Espresso und Mama einen Eiskaffee. Sie freute sich darauf, gleich am Strand Muscheln sammeln zu gehen. Ihre Mutter hatte versprochen, mitzumachen, und sie fand immer die schönsten Muscheln. Zuhause wollte Nana damit einen Holzkasten bekleben und ihn Mama als Überraschung zum Geburtstag schenken.
Als der Kellner die Fanta auf den Tisch stellte, winkte ihr Papa hektisch mit dem Zeigefinger. „No, no! Fanta sin hielo“, stammelte er. Der Kellner nickte und nahm das Glas wieder mit. „Bestell dir niemals ein Getränk mit Eiswürfeln im Ausland, Nana. Die sind aus Leitungswasser gemacht und voller Chlor und Bakterien. Davon kriegst du Bauchschmerzen. Oder Durchfall. Oder Schlimmeres! Und dann musst du den Rest des Urlaubes auf dem Hotelzimmer verbringen.“ Er nickte dabei immer wieder, wichtige Worte unterstreichend.
Mama lachte nur und sagte: „Entspann dich, Christoph.“
Das sagte sie häufig zu ihm: „Entspann dich.“
Natürlich war Nana aus dieser Geschichte herausgewachsen und konnte selbst entscheiden, ob sie den Eiswürfeln vertrauen wollte. Und obwohl ihre Mutter damals über die Vorsicht ihres Vaters gelächelt hatte, gehörte diese Lektion zu jenen Episoden aus der Kindheit, von denen ein Rest auf immer in ihr verbleiben würde. Dieses Überbleibsel, so stellte sich Nana vor, hauste zusammen mit einigen weiteren in ihrem Bauch, wahrscheinlich in der Leber. Sie trugen allesamt lustige Mützen mit kleinen Glöckchen an den Enden, die ordentlich Krach machten und sich diebisch freuten, wenn sie gehört wurden. Nana war sich sicher, dass jeder Erwachsene solch kleinen, schelmischen Überbleibsel in sich trug und sie zu jener Person machten, die sie nun einmal waren.
„Danke“, sagte Nana und stellte das Glas auf dem Wohnzimmertisch ab, ohne einen Schluck davon zu nehmen. „Mir gefällt die Wohnung, und ich könnte mir sehr gut vorstellen, hier einzuziehen. Ich habe meine Schufa-Auskunft und meine letzten drei Gehaltsabrechnungen mitgebracht.“ Nana reichte ihm die Papiere. Dass sie vor einigen Tagen ihren Chef als Arsch bezeichnet und gekündigt hatte, verschwieg sie geflissentlich. „Brauchst du sonst noch etwas?“
Lutz nahm die Blätter in seine Hand und schaute sie durch. „Du arbeitest als Grafikdesignerin?“
„Ja.“ Als Nana sah, dass er den Mund erneut öffnete, fragte sie schnell: „Dürfte ich mal deine Toilette benutzen?“ Sie wollte sich nicht über ihre verhasste Arbeit oder strenggenommen Nicht-Arbeit unterhalten.
Er nickte. „Natürlich, du weißt ja, wo sie ist.“
Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Badewannenrand. Nana nutzte fremde Toiletten nur im äußersten Notfall. „Nana, die Heimscheißerin“, hatte Phillip sie mit ihrem Spleen lächelnd aufgezogen.
Phillip, der Außerhausvögler.
Sie fragte sich, ob sie wegen Phillip und Alina irgendwann heulen würde. Nana hatte schon häufig in schlaflosen Nächten darüber gegrübelt, welcher Betrug sie mehr traf. Seiner oder ihrer. Sie wusste es nicht, und es war müßig, darüber nachzudenken. Nana hatte beide verloren. Sie schüttelte den Kopf. Nein, nein, nein, dachte sie trotzig. Ihr habt mich verloren!
Etwas Warmes lief an ihrem Daumen herunter. Schnell riss sie ein Blatt Toilettenpapier von der Rolle und drückte es auf die blutende Stelle neben ihrem Daumennagel. Sie hatte wieder an der Haut geknibbelt, ohne es wirklich zu merken. Auf dem weißen Papier bildete sich ein kleiner roter Punkt. Nana nahm das Blatt kurz hoch, damit es nicht festklebte, und drückte es wieder auf den Finger. Tja.
Und jetzt hatte sie auch keinen Job und keine bezahlbare Wohnung mehr. Aber, nein, die Tränen wollten einfach nicht kommen. Die Hälfte des Tages bemalte sie Steine, und die andere Hälfte lag sie auf dem Bett. Sie ging nicht ans Telefon, und wenn jemand klingelte, öffnete sie die Tür nicht.
Nana atmete so vor sich hin.
Sie blickte aus dem Fenster. Ihr Anker, an dem sie sich festhielt, war die große Reise. In einer guten Woche wollte – nein, musste sie! – ihren Urlaub antreten. Die große Fahrt, die sie eigentlich mit Phillip hatte machen wollen und die sie ein halbes Jahr lang geplant hatte. Das langersehnte Wiedersehen mit Elsa! Wenigstens in diesem Fall hatte sie Glück gehabt. Allein hätte sie unmöglich fahren können. Nana reiste seit ihrem 18. Lebensjahr nicht mehr ohne Begleitung. Himmel, was hatte sie sich damals erwachsen gefühlt! Endlich Abi, endlich volljährig, nix wie weg. Ganz alleine mit dem Zug quer durch Europa. In ihrem ganzen Körper hatte es vor Aufregung gekribbelt. In der zweiten Woche kam der Anruf und mit ihm die schlimmste Nachricht ihres Lebens. Dieser Moment hatte sich eingebrannt: Unter Nanas Füßen der warme Sand, vor ihren Augen ein Sonnenuntergang an der Atlantikküste, in ihrem Ohr Elsas Worte, die keinen Sinn ergaben. Und dann stand sie da. Ganz allein. Seitdem ging das nicht mehr mit dem Alleinsein in der Fremde. Aber sie hatte ja Glück und Anke, ihre Freundin aus Kindertagen. Nana hatte ihr am Telefon erzählt, wie ihr Leben gerade auseinanderfiel. Nicht heulend, nicht schreiend, sie hatte es leise erzählt, denn für alles andere hatte ihr die Energie gefehlt. „Was für eine Riesenscheiße“, hatte Anke entgegnet und hinterhergeschoben: „Dann komme ich eben mit.“ Anke arbeitete als Life-Coach, wenn sie Lust dazu hatte. Ihr Mann und sie lebten in Hamburg, waren steinreich und als Paar auch nach Jahren immer noch glücklich. Es gab diese Menschen, bei denen es einfach immer gut lief. Anke gehörte dazu. Wer weiß, vielleicht würde ja ein wenig von Ankes Frohsinn und Glück auf der Fahrt auf sie abfärben.
Nans Blick schweifte durch das Badezimmer. Lutz hatte ein Faible für Duschgels mit frischem Ozeanduft und rasierte sich nass. Er putzte sich elektrisch die Zähne mit einer Zahnpasta, die Extra-Frische versprach. Das Haargel hatte er offenbar länger nicht in die Hand genommen, die Tube war staubig. Auf einem Schränkchen, das neben der Toilette stand, lagen Zeitschriften und einige Papiere. Nana fand es unhygienisch, Zeitschriften oder das Handy mit aufs Klo zu nehmen. „Wieso?“, hatte Phillip sie gefragt. „Ich wische mir mit dem Kicker doch nicht den Hintern ab.“
Sie warf einen Blick auf die Papiere, die auf der WirtschaftsWoche lagen. Das war unhöflich, eine Grenzüberschreitung, doch ihre Neugierde besiegte ihren Anstand. Es waren drei Blätter. Jedes trug als Überschrift einen Namen. Detlef, Anna, Jörg. Auf letzterem war der Abdruck einer Kaffeetasse. Annas Blatt sah aus, als wäre das Papier einmal zerknüllt und wieder glattgestrichen worden. Detlefs kam ohne nennenswerte Kleckse und Verletzungen davon. Sie überflog das Geschriebene. Alter, Größe, ungefähres Gewicht war bei allen festgehalten. Äußerlichkeiten wie Haarfarbe und Augenfarbe.
Bilderbuch-Ostwestfale, war bei Detlef notiert, wortkarg, ein bisschen stoffelig, Single, Sonnenbrille oben in Shirt eingehängt, fährt sich häufig durch die Haare, geht ‚nachm‘ Siegfriedplatz, nicht ‚zum‘. Leichter Bierbauch, kurze Socken in neuen Sportschuhen, kurze braune Hose mit Taschen an den Seiten, dazu grünes Shirt.
Anna war Studentin, las Nana, Soziologie und Anglistik, 3. Semester. Leichtes Sommerkleid mit großen Blumenmotiven, dazu rote Schnürsandaletten mit Absatz. Süßes Parfüm, verursacht Kopfschmerzen.
Das Klopfen an der Tür ließ Nana zusammenzucken.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“, hörte sie Lutz’ freundliche Stimme.
Hastig legte sie die Blätter zurück und stellte den Wasserhahn an. „Ja, alles okay, sorry, hat etwas länger gedauert.“ Peinlich berührt kniff sie ihre Augen zusammen. Hat etwas länger gedauert? Das klang wie: War halt ein Riesenschiss, den ich in deine Schüssel abgeseilt hab.
Sie trocknete die Hände ab und verließ das Badezimmer.
Lutz war mittlerweile ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Ihr Glas, das noch immer auf dem Tisch stand, trank sie in einem Zug leer. „Du hast bestimmt viele Bewerber für die Wohnung.“ Nana versuchte, einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren, obwohl ihr das kalte Wasser Schmerzen hinter der Stirn verursachte.
„Ein paar sind es schon“, bestätigte er.
„Wann in etwa darf ich denn mit einer Nachricht rechnen, für wen du dich entscheidest?“
„Musst du schnell aus deiner Wohnung raus?“
Sie zögerte kurz. „Spätestens in drei Monaten. Aber ich würde gerne so bald wie möglich umziehen.“
„Wieso? Hast du ein Schimmelproblem?“
„Höchstens im Kühlschrank.“
Er lächelte.
„Ich muss jetzt los, ich habe noch einen dringenden Termin“, log Nana. Sie hatte keine Lust, weitere Fragen zu beantworten, sondern sehnte sich nach Stille und Türkis. „Ich würde mich freuen, wenn du mich baldmöglichst wissen lässt, ob es mit der Wohnung etwas werden könnte.“
„Das mache ich.“ Lutz begleitete sie zur Tür.
„Danke für deine Zeit.“ Sie hob die Hand zum Abschied, er winkte zurück und schloss die Tür. Sie fiel leise ins Schloss. Phillip ließ Türen immer knallen, und jedes Mal zuckte Nana zusammen, weil das Geräusch in ihren Ohren schmerzte. Mit ihrer Hand glitt sie beim Heruntergehen am rauen Putz des Treppenhauses entlang. Ihre Fingernägel waren aus alter Gewohnheit kurz geschnitten, obwohl das schon seit einiger Zeit nicht mehr wichtig war. Phillip hatte das mehr als einmal kritisiert. „Nana, deine Fingernägel sehen aus wie die von einem Kerl, der auf dem Bau arbeitet.“ Als ob Phillip was von echter Arbeit wüsste. Und die Tatsache, dass ihm die Optik ihrer Fingernägel wichtiger war als … ach, lass es, Nana, schalt sie sich innerlich. Lass es los. Sie schüttelte den Kopf, versuchte, die Gedanken an Phillip abzuschütteln.
Zurück im Freien blickte sie zunächst stur auf den Boden und blinzelte mehrfach, damit sich ihre Augen möglichst schmerzfrei an die Helligkeit gewöhnen konnten.
Lutz war ihr ein wenig seltsam erschienen. Und die Papiere, die sie im Bad gefunden hatte, höchstseltsam. Aber im Prinzip konnte ihr das alles egal sein. Sie wollte seine Nachmieterin werden, und nicht ihn heiraten. Nana hoffte, dass sie einen guten Eindruck hinterlassen hatte. Sie brauchte die Wohnung. Ohne neue Gehaltsabrechnungen würde es fast unmöglich werden, eine neue Bleibe zu finden. Die Vermieter konnten sich vor Nachfragen kaum retten und sich deshalb die Rosinen herauspicken.
Nana erblickte den Kiosk und überquerte spontan die Straße. Eine gemischte Tüte Weingummi und eine Flasche Wasser würden ihr den Nachhauseweg versüßen, würden in ihrem Bauch eine riesige, klebrige Masse ergeben. Sie würde sich voll fühlen und ihr Magen leise gluckern. Wenn Weingummi und Wasser all den Raum in ihrem Inneren einnahmen, war kein Platz mehr übrig für Phillip und Alina oder die Sorge, dass sie nicht rechtzeitig eine bezahlbare Wohnung finden würde. Sie konnte sich so lange mit ihrem Gluckerbauch beschäftigen, bis sie wieder an ihrem Schreibtisch bei den Steinen saß.
„Yasemins Kiosk“ stand in weißen halbkreisförmig angeordneten Buchstaben auf dem Schaufenster des kleinen Geschäfts geschrieben und als Nana es betrat, wurde sie sogleich von einer jungen, sympathisch wirkenden Frau hinter dem Tresen begrüßt.
„Guten Abend! Ja, ja, ja, du kleine süße Maus, du kriegst ja deine Hirsestange!“
Als sie Nanas Blick sah, brach die Kioskbesitzerin in lautes Gelächter aus. „Sorry, ich meinte nicht Sie. Und keine Sorge, Sie müssen keine Hirsestange essen. Die schmeckt nach Pappe. Echt eklig.“
Nun musste Nana auch lachen.
Die Frau bückte sich und hob ein kleines Kind hinter dem Tresen hoch. „Das ist Ela. Sie hat bis gerade geschlafen und hält Hirsestangen für eine der leckersten Dinge der Welt. Kleine Kinder sind ja so unwissend.“ Die Kioskbesitzerin zauberte eine der Pappstangen aus einer Schublade und reichte sie ihrer Tochter. „Womit kann ich Sie glücklich machen? Zeitschrift? Zigaretten? Eis?“
„Weingummi“, entgegnete Nana.
„Da hab ich so viel von, dass ich es verkaufen muss. Vorne sind die Kästchen, daneben liegen Tüten. Tun Sie mir einen Gefallen und stellen sich die selbst zusammen? Meine Kleine braucht gerade eine Kuscheleinheit. Sie rufen mir einfach zu, wie viel Sie von was nehmen, und ich tippe es hier ein, ja? Dafür reicht eine Hand.“ Ihre kleine Tochter schlang die Arme um sie und vergrub den Kopf in ihrem Hals.
Nana nickte lächelnd und nahm eine Papiertüte. „Vier Frösche. Drei Kirschen“, fing sie an aufzuzählen und sichtete die weiteren Angebote. „Zwei Mäuse. Drei Colaflaschen. Vier Schlümpfe. Eine Lakritzschnecke. Und … zwei von diesen roten langen Dingern.“
„Pasta heißen die. Sind sauer.“
„Na, das passt doch.“
„Hm?“
„Ach nichts. Das war’s, vielen Dank.“ Nana legte die Tüte auf den Tresen. „Dann hätte ich gerne noch eine Flasche Wasser, aber keine kalte, wenn’s geht.“
„Geht.“ Die Kioskbesitzerin deutete auf eine Kiste rechts von ihr und tippte in die Kasse, während das Kind auf ihrem Arm mittlerweile fröhlich brabbelte.
„Wie alt ist denn Ihr Nachwuchs?“
Die junge Mutter strich sich mit einer Hand eine lockige Haarsträhne hinter das Ohr. „Ela ist zehn Monate alt.“ Liebevoll gab sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange. „Das macht 2,80 Euro, bitte.“
Nana reichte ihr drei Euro. „Stimmt so, danke. Vielleicht komme ich demnächst häufiger vorbei. Ich hatte gerade eine Wohnungsbesichtigung und hoffe sehr, dass ich hier bald einziehen darf.“
„Na, dann drücke ich Ihnen mal die Daumen. Wo wird denn was frei?“
„Direkt gegenüber. Der jetzige Mieter heißt Lutz.“
„Lutz?“, entgegnete die Kioskbesitzerin erstaunt. „Wieso zieht der denn aus? Der ist doch erst vor drei Monaten eingezogen! Er trinkt jeden Morgen seinen Kaffee hier. Guter Typ. Hat wegen dem Auszug gar nichts zu mir gesagt.“ Sie setzte ihre kleine Tochter auf dem Tresen ab. „Gut, er ist jetzt auch nicht so der große Redner. Aber wer ist das hier in Ostwestfalen schon? Allerdings meinte er erst vor kurzem zu mir, dass er froh ist, hier zu wohnen und langsam das Gefühl hätte, es ginge wieder bergauf.“
„Bergauf?“
„Ja, mit seinem Schreiben. Sein letztes Buch hat er vor einigen Jahren rausgebracht und seitdem läufts irgendwie nicht mehr. Aber er erzählte letzte Woche, dass ihm unter der Dusche ne super Idee gekommen wäre. Halt, hiergeblieben. Nicht wegkrabbeln.“ Sie nahm ihre Tochter wieder hoch.
Nana wurde heiß und kalt. Sie öffnete ihre Wasserflasche, nahm einen großen Schluck und stopfte die Frösche in ihren Mund. „Seltsam.“ In ihrem Kopf ratterte es. Die Kartons, die sie in Lutz’ Wohnung gesehen hatte … sie waren nicht schon gepackt worden. Wahrscheinlich waren sie noch nicht ausgepackt worden!
„Aber vielleicht hat sich seine tolle Idee ja auch als großer Mist herausgestellt oder es ist sonstwas passiert“, spekulierte die junge Mutter.
Nana zuckte mit den Schultern. „Ja, wer weiß.“ Verwirrt schnappte sie sich die Einkäufe und verabschiedete sich.
„Viel Glück“, rief ihr Yasemin noch hinterher, bevor die Kiosktür zufiel.
Erst vor dem Geschäft spürte sie, wie angestrengt sie atmete und wie heiß ihre Wangen waren. Suchte Lutz nun eine Nachmieterin oder nicht? Hatte er sie angelogen oder der Kioskbesitzerin Quatsch erzählt? Nana starrte auf das Haus gegenüber. Da oben in der dritten Etage saß er wahrscheinlich gerade an seinem Schreibtisch. Ihr schossen die Notizen, die sie im Badezimmer gefunden hatte, in den Kopf. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Typen.
Sie drückte die Tüte in ihrer linken Hand fest zu, klemmte die Flasche unter den Arm und überquerte die Straße. Nana wollte ihn zur Rede stellen. Sie würde nicht zulassen, dass sie schon wieder jemand betrog. Sollte Lutz sie wirklich angelogen haben, konnte er sich warm anziehen!