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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2018
Originalcopyright © 2016 by Jeff Zentner
Originalverlag: Crown Books for Young Readers, an imprint of Random House Children’s Books, a division of Penguin Random House LLC, New York
Originaltitel: The Serpent King
Umschlagfotografien: Trevillion Images © Peter Jamus Holme; shutterstock © aceshot1
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Lektorat: Franziska Leuchtenberger
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-646-92953-9
Für Tennessee Luke Zentner, meinen wunderschönen Jungen.
Mein Herz.
Es gab Dinge, die Dillard Wayne Early junior noch mehr fürchtete als den Schulanfang an der Forrestville Highschool. Nicht viele, aber ein paar. Zum Beispiel über die Zukunft nachzudenken. Auch auf Gespräche über Religion mit seiner Mutter war er nicht besonders scharf. Danach war er nie glücklich oder erlöst. Auch das Zucken im Gesicht der meisten Leute, wenn sie seinen Namen hörten und sich erinnerten, konnte er nicht ausstehen. Daraus ergab sich nur selten ein Gespräch, das er gern führte.
Und auf gar keinen Fall freute er sich auf einen Besuch bei seinem Vater, Pastor Dillard Early senior, im Riverbend Prison. An diesem Tag galt der Nashville-Trip gar nicht seinem Vater, aber die nagende, unbestimmte Angst war trotzdem da und er wusste nicht wieso. Vielleicht weil am nächsten Tag die Schule losging, aber irgendwie fühlte es sich anders an als in den letzten Jahren am Ferienende.
Es wäre noch schlimmer, wenn er sich nicht darauf freute, Lydia zu sehen. Die schlimmsten Tage mit ihr waren immer noch besser als die besten Tage ohne sie.
Dill unterbrach sein Klimpern auf der Gitarre und schrieb etwas in das billige Notizbuch, das aufgeschlagen zu seinen Füßen lag. Die altersschwache Klimaanlage über dem Fenster ächzte vergeblich gegen die stickige Luft im Wohnzimmer an.
Das trockene, unentschlossene Pochen einer Wespe, die immer wieder gegen die Scheibe flog, übertönte die Anstrengungen der Klimaanlage und lenkte ihn ab. Er stand vom fleckigen Sofa auf, ging zum Fenster und ruckelte daran, bis es quietschend aufging.
Dann scheuchte Dill die Wespe durch den Spalt. »Hier drinnen willst du sicher nicht bleiben«, murmelte er. »In diesem Haus sollte man nicht sterben. Na los. Raus mit dir.«
Sie landete auf der Fensterbank, warf noch einen letzten Blick auf das Haus und flog davon. Dillon schloss das Fenster, wofür er sich beinahe dranhängen musste.
Seine Mutter kam in ihrer Zimmermädchen-Uniform aus dem Motel herein. Sie sah müde aus wie immer, und das ließ sie viel älter wirken als ihre fünfunddreißig Jahre. »Wieso machst du das Fenster auf, wenn die Klimaanlage läuft? Strom ist nicht umsonst.«
Dill drehte sich um. »Wespe.«
»Wieso bist du denn so angezogen? Willst du irgendwohin?«
»Nashville.« Ich weiß, was du fragen wirst – bitte frag nicht.
»Deinen Vater besuchen?« Sie klang zugleich hoffnungsvoll und anklagend.
»Nein.« Dill wandte sich ab.
Seine Mutter trat auf ihn zu und schaute ihm in die Augen. »Warum nicht?«
Dill wich ihrem Blick aus. »Darum nicht. Weil wir nicht deshalb hinfahren.«
»Wer sind denn wir?«
»Lydia. Travis. Ich. Wie immer.«
Sie stemmte eine Hand in die Hüfte. »Und warum fahrt ihr hin?«
»Klamotten für die Schule kaufen.«
»Deine Sachen sind doch noch gut.«
»Sind sie nicht. Sie werden zu klein.« Dill hob die mageren Arme und das T-Shirt gab den Blick auf seinen schlanken Bauch frei.
»Und wo hast du Geld her?« Seine Mutter runzelte die Stirn, die schon mehr Falten hatte als bei den meisten Frauen ihres Alters.
»Bloß mein Trinkgeld, wenn ich Leuten den Einkauf ins Auto trage.«
»Gratisfahrt nach Nashville. Da solltest du deinen Vater besuchen.«
Du besuchst besser deinen Vater, sonst … meinst du wohl eher. Dill schob das Kinn vor und sah sie an. »Will ich aber nicht. Ich hasse das Gefängnis.«
Sie verschränkte die Arme. »Es soll ja auch nicht lustig sein da. Ist schließlich ein Gefängnis. Meinst du, er amüsiert sich da drin?«
Wahrscheinlich mehr als ich. Dill zuckte die Achseln und sah aus dem Fenster. »Bezweifle ich.«
»Ich verlange nicht viel, Dillard. Es würde mich freuen. Und es würde ihn freuen.«
Dill seufzte und antwortete nicht. Du verlangst eine ganze Menge, ohne es auszusprechen.
»Das schuldest du ihm. Du bist der Einzige, der genug freie Zeit hat.«
Das lud sie ihm immer auf. Wenn er seinen Vater nicht besuchte, würde sie ihn länger damit quälen, als wenn er nachgab. Die nagende Furcht in seinem Bauch wurde stärker. »Vielleicht. Wenn wir noch Zeit haben.«
Seine Mutter wollte ihm eine klarere Zusage abnötigen, doch da kam ein mit Stickern übersäter Toyota Prius die Straße heraufgeschossen und hielt mit quietschenden Reifen und quäkender Hupe vor seinem Haus. Danke, Gott.
»Ich muss los«, sagte Dill. »Einen schönen Arbeitstag wünsche ich.« Er umarmte seine Mutter zum Abschied.
»Dillard …«
Doch er war schon draußen, ehe sie Gelegenheit hatte, noch mehr zu sagen. Er spürte eine Last auf sich, als er in den hellen Sommermorgen hinaustrat und die Augen vor der Sonne schützte. Die Feuchtigkeit sprang einen schon morgens um zwanzig nach neun an – ein warmes, feuchtes Handtuch, das sich auf sein Gesicht legte. Er schaute die Straße hinauf, wo die Farbe von der Fassade der weißen Calvary Baptist Church blätterte. Aus Gewohnheit las er die täglich wechselnde Spruchtafel: NO JESUS, NO PEACE. KNOW JESUS, KNOW PEACE.
Und wenn man Jesus kennt, aber trotzdem keinen Frieden findet? Bedeutet das, diese Tafel liegt falsch, oder kennt man Jesus bloß nicht so gut, wie man glaubt? Dill war beigebracht worden, dass beide Möglichkeiten nicht besonders erfreulich waren.
Er öffnete die Autotür und stieg ein. In der klimatisierten Kälte zogen seine Poren sich zusammen.
»Hey, Lydia.«
Sie nahm das zerlesene Taschenbuch Die geheime Geschichte vom Beifahrersitz, ehe Dill sich daraufsetzte, und warf es auf den Rücksitz. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«
»Tut dir gar nicht leid.«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich muss doch so tun als ob. Gesellschaftliche Verpflichtung und so.«
Man konnte die Uhr danach stellen, dass Lydia zwanzig Minuten zu spät kam. Und es hatte auch keinen Zweck, sie auszutricksen, indem man sich zwanzig Minuten früher mit ihr verabredete, als man eigentlich wollte. Dann kam sie vierzig Minuten zu spät. Dafür hatte sie einen sechsten Sinn.
Lydia beugte sich zu Dill herüber und nahm ihn in den Arm. »Es ist noch frühmorgens und du bist schon verschwitzt. Jungs sind so eklig.«
Ihr schwarzes Brillengestell glitt quietschend an seinem Jochbein entlang. Ihr zerwühltes graublau gefärbtes Haar – von der Farbe eines bewölkten Novemberhimmels – roch nach Honig, Feige und Vetiver. Er sog den Duft ein, was ihn angenehm schwindlig machte. Sie hatte sich für Nashville eine rot-weiß karierte, ärmellose Vintage-Bluse, schwarze, hoch sitzende Jeans-Shorts und klassische Cowboystiefel angezogen. Er mochte es, wie sie sich anzog – jede Variation und Wendung, und davon gab es viele.
Dill schnallte sich rasch an, bevor ihr Tritt aufs Gaspedal ihn in den Sitz drückte. »Tut mir leid, mir steht keine Klimaanlage zur Verfügung, die den August in Dezember verwandelt.« Manchmal spürte er tagelang keine so kalte Luft wie in Lydias Auto – höchstens wenn er den Kühlschrank aufmachte.
Sie regelte die Klimaanlage ein paar Stufen herunter. »Ich finde, mein Auto sollte auf jede denkbare Weise gegen die Erderwärmung ankämpfen.«
Dill drehte einen der Lüftungsschlitze in Richtung seines Gesichts. »Findest du es auch manchmal seltsam, dass die Erde durch den leeren, schwarzen Weltraum rast, wo minus tausend Grad herrschen, und wir gleichzeitig hier unten schwitzen?«
»Ich finde es oft seltsam, dass die Erde durch den leeren, schwarzen Weltraum rast, während du hier unten so total schräg drauf bist.«
»Also, wieso fahren wir eigentlich nach Nashville? Shoppen in der Opry Mills Mall, oder was?«
Lydia starrte ihn an und schaute dann wieder auf die Straße. Den Blick nach vorn gerichtet, streckte sie ihm die Hand hin. »Entschuldige, ich dachte, wir seien seit der Neunten beste Freunde, aber offenbar kennen wir uns überhaupt nicht. Lydia Blankenship. Und du bist …?«
Dill ergriff die Gelegenheit und ihre Hand. »Dillard Early. Vielleicht hast du von meinem Vater gehört, der genauso hieß.«
Es war der große Skandal in Forrestville, Tennessee, gewesen, als Pastor Early von der Kirche der Jünger Christi mit den Zeichen des Glaubens ins Gefängnis wanderte – und zwar aus Gründen, mit denen niemand gerechnet hatte. Alle hatten angenommen, er würde eines Tages Ärger wegen der siebenundzwanzig Klapperschlangen und Kupferköpfe kriegen, die seine Gemeinde jeden Sonntag durch die Bankreihen reichte. Keiner wusste genau, welches Gesetz er damit brach, aber es schien jedenfalls ungesetzlich. Und die Forst- und Naturbehörde von Tennessee nahm die Schlangen nach seiner Verhaftung auch tatsächlich in Verwahrung. Oder vielleicht, dachten die Leute, hatte er auch das Gesetz gebrochen, als er seine Schäfchen dazu anhielt, verdünnte Batteriesäure und verdünntes Strychnin zu trinken – auch so eine beliebte Aktivität im Gottesdienst. Aber nein, er war wegen einer ganz anderen Art von Gift ins Riverbend Prison gekommen: dem Besitz von mehr als hundert Bildern, die Minderjährige bei sexuellen Handlungen zeigten.
Lydia legte den Kopf schräg und kniff die Augen zusammen. »Dillard Early, ja? Da klingelt was. Aber um deine Frage zu beantworten: Ja, wir fahren anderthalb Stunden nach Nashville, um in der Opry Mills Mall den gleichen Ausbeuterscheiß zu kaufen, den Tyson Reed, Logan Walker, Hunter Henry, ihre unerträglichen Freundinnen und all ihre widerlichen Freunde am ersten Schultag auch tragen werden.«
»Da stellt man eine ganz normale Frage …«
Sie hob den Zeigefinger. »Eine dumme Frage.«
»Okay, eine dumme Frage.«
»Vielen Dank.«
Dills Blick fiel auf Lydias Hände, die auf dem Lenkrad lagen. Sie waren schlank, die Finger lang und eigenartig elegant mit vielen Ringen, die Nägel zinnoberrot lackiert. Auch sonst war sie nicht unelegant, doch ihre Finger waren auf geradezu auffallende, aggressive Weise anmutig. Er sah ihr sehr gern beim Fahren zu. Und beim Tippen. Und bei allem, was sie mit den Händen tat.
»Hast du Travis angerufen und ihm gesagt, dass du verspätet bist?«
»Habe ich dich angerufen und dir gesagt, dass ich verspätet bin?« Sie bog mit quietschenden Reifen ab.
»Nein.«
»Meinst du, er ist überrascht, dass ich zu spät komme?«
»Nee.«
Die Augustluft war dunstig und schwül. Dill hörte schon die Insekten. Er wusste nicht, wie sie hießen – diese Viecher, die an einem heißen Vormittag so ein klapperndes, pulsierendes Dröhnen erzeugten und damit anzeigten, dass es nur noch heißer werden konnte. Zikaden waren es nicht, glaubte er. Klapperkäfer. Der Name passte eigentlich ganz gut.
»Womit kann ich heute arbeiten?«, fragte Lydia. Dill starrte sie verständnislos an. Sie hob die Hand und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Komm, Kumpel, denk ein bisschen mit.«
»Ach so. Fünfzig Dollar. Kannst du damit arbeiten?«
Sie schnaubte. »Klar kann ich.«
»Okay, aber zieh mich nicht komisch an.«
Lydia streckte ihm wieder die Hand hin – diesmal entschlossener, als wollte sie mit der Handkante ein Brett spalten. »Jetzt mal im Ernst: Kennen wir uns? Wie heißt du noch mal?«
Dill schnappte sich wieder ihre Hand – bloß keine Gelegenheit auslassen. »Wie bist du denn heute drauf?«
»Ich finde, dass ich ein bisschen Vertrauen verdiene. Aber nicht zu viel. Verwöhn mich nicht.«
»Würde mir nicht im Traum einfallen.«
»Wenn wir in den letzten beiden Jahren zusammen Schulklamotten gekauft haben, habe ich dich da je lächerlich aussehen lassen?«
»Nein. Ich meine, ich habe trotzdem noch eine Menge Sprüche abgekriegt, aber das wäre sowieso passiert, egal was ich anhabe.«
»Stimmt. Weil wir mit Leuten zur Schule gehen, die guten Stil nicht mal erkennen würden, wenn er ihnen in den Arsch beißt. Ich habe schon eine Vision von dir, die im ländlichen Amerika wurzelt. Westernhemden mit Perlmutt-Druckknöpfen. Jeansstoff. Klassische, männliche, ikonische Schnitte. Während alle anderen in Forrestville verzweifelt auszusehen versuchen, als wären sie nicht aus Forrestville, werden wir ganz zu unserer Herkunft als Landeier aus den Südstaaten stehen, so in der Richtung ›Townes Van Zandt Anfang der Siebzigerjahre trifft Ryan Adams in der Whiskeytown-Phase‹.«
»Du hast das ja gründlich durchdacht«, sagte Dill und genoss den Gedanken, dass Lydia über ihn nachdachte. Wenn auch nur als bessere Kleiderpuppe.
»Hast du weniger erwartet?«
Dill sog den Duft ihres Autos ein. Wunderbaum Vanille, gemischt mit Pommes, Jasmin-Ingwer-Orange-Bodylotion und warm gewordenem Make-up. Sie waren fast bei Travis’ Haus, er wohnte nicht weit von Dill. Sie hielten an einer Kreuzung, Lydia machte ein Selfie und reichte ihr Handy dann Dill.
»Mach eins aus deinem Blickwinkel.«
»Bist du sicher? Dann denken deine Fans womöglich, du hast Freunde.«
»Har, har. Mach einfach und lass das meine Sorge sein.«
Zwei Straßen weiter hielten sie vor dem Haus der Bohannons. Es war weiß und heruntergekommen, das Metalldach verwittert, Holz auf der Veranda gestapelt. Travis’ Vater transpirierte auf dem Schotter der Einfahrt, wo er die Zündkerzen des Pickups wechselte, auf dessen Seite der Name seines Holzhandels geschrieben stand – Bohannon Lumber. Er warf Dill und Lydia einen verschwitzten Blick zu, legte die Hand an den Mund und brüllte »Travis, du hast Besuch«, womit er Lydia das Hupen ersparte.
»Papa Bohannon scheint auch nicht so gut drauf zu sein heute«, sagte Lydia.
»Wenn man Travis so hört, ist Papa Bohannon nie gut drauf. Man nennt so was auch Riesenarschloch und es ist unheilbar.«
Es vergingen ein paar Sekunden, bis Travis herausgetrabt kam. Oder eher getrottet. Wie das Laufen eben bei Bären heißt. Volle eins achtundneunzig bei 115 Kilo. Seine zotteligen roten Haare und sein fusseliger Teenagerbart waren noch nass von der Dusche. Er trug die üblichen schwarzen Arbeitsschuhe, schwarze Wranglers und ein weites schwarzes Oberhemd, das er bis oben hin zugeknöpft hatte. Um seinen Hals hing eine Kette mit einem kitschigen Zinndrachen, der eine tiefrote Kristallkugel in den Klauen hielt – ein Souvenir von irgendeinem Mittelaltermarkt. Die hatte er immer um. In der Hand hielt er ein zerknittertes Taschenbuch aus der Bloodfall-Reihe – auch das ein ständiger Begleiter.
Auf halbem Weg zum Auto blieb er stehen, hob den Zeigefinger, fuhr herum und rannte ins Haus, wobei er fast über die eigenen Füße stolperte. Lydia beugte sich vor, die Hände am Steuer, und sah ihm nach.
»Oh nein. Der Stab«, murmelte sie. »Er hat den Stab vergessen.«
Dill stöhnte auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Genau. Der Stab.«
»Der eichene Stab«, sagte Lydia in pompösem, mittelalterlichem Tonfall.
»Der Zauberstab der Könige und Herrscher, der Zauberer und … Elben oder so.«
Travis kehrte mit dem Stab in der Hand zurück, in den dilettantisch Symbole und Gesichter geschnitzt waren. Sein Vater blickte auf, das Gesicht schmerzlich verzogen, schüttelte den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Travis öffnete die Autotür.
»Hey, Leute.«
»Mit Stab? Echt jetzt?«
»Ich nehme ihn immer mit auf Reisen. Außerdem – was ist, wenn wir uns verteidigen müssen? Nashville ist gefährlich.«
»Klar«, sagte Lydia, »aber nicht wegen der vielen Stäbe schwingenden Wegelagerer. Die haben jetzt Knarren. Knarre schlägt Stab bei ›Knarre, Stab, Papier‹.«
»Ich bezweifle stark, dass wir in Nashville mit dem Stab kämpfen müssen«, sagte Dill.
»Mir gefällt er. Ich fühle mich besser, wenn ich ihn dabeihabe.«
Lydia verdrehte die Augen und ließ den Wagen an. »Meinetwegen. Okay, Jungs. Los geht’s. Zum letzten Mal zusammen Schulklamotten kaufen, dem Herrn Jesus sei Dank.«
Und bei diesem Ausspruch merkte Dill, dass die formlose Furcht in seinen Eingeweiden nicht so schnell wieder verschwinden würde. Vielleicht nie. Und das Schlimmste daran? Er konnte nicht mal einen guten Song daraus machen.
Die Skyline von Nashville ragte in der Ferne auf. Lydia mochte Nashville. Die Vanderbilt University stand auf ihrer Bewerbungsliste. Nicht allzu weit oben, aber sie war dabei. Der Gedanke an Universitäten besserte ihre Laune. In einer Großstadt zu sein ebenfalls. Insgesamt war sie viel glücklicher als an jedem letzten Ferientag ihres bisherigen Lebens. Sie malte sich bereits aus, wie es ihr wohl im nächsten Jahr um diese Zeit gehen würde – vor dem ersten Tag ihres Studiums.
Als sie Nashvilles Außenbezirke erreichten, starrte Dill aus dem Fenster. Lydia hatte ihm ihre Kamera gegeben und ihn zum Expeditionsfotografen ernannt, aber er hatte vergessen, Fotos zu schießen. Er trug seine übliche abwesende Miene und deutlich melancholische Gesamtneigung zur Schau. Aber heute war es irgendwie anders. Lydia wusste, er fuhr wegen seines Vaters immer mit gemischten Gefühlen nach Nashville, weshalb sie sich bemüht hatte, eine andere Route zu nehmen als die zum Gefängnis. Sie hatte reichlich Zeit auf Google Maps verbracht, doch es hatte nichts genützt. Es gab nur eine begrenzte Zahl von Wegen, die von Forrestville nach Nashville führten.
Vielleicht betrachtete Dill die Häuser, an denen sie vorbeifuhren. So beengte und baufällige Häuser wie seines schien es nicht mal in den beengten und baufälligen Vierteln von Nashville zu geben, jedenfalls nicht an dieser Straße. Vielleicht dachte er auch an die Musik, die in den Adern dieser Stadt floss. Oder vielleicht hatte er auch ganz andere Sachen im Kopf. Das war bei ihm immer möglich.
»Hey«, sagte sie sanft.
Er zuckte zusammen und wandte sich zu ihr. »Hey was?«
»Nichts. Bloß hey. Du bist so still.«
»Hab heute nicht viel zu sagen. Ich denke nach.«
Sie überquerten den Fluss und kamen nach East Nashville, vorbei an Cafés und Restaurants, ehe sie vor einem restaurierten Bungalow anhielten. Auf einem handgemalten Schild vorn stand der Name Attic. Lydia parkte ein. Travis griff nach seinem Stab.
Lydia hob warnend den Finger. »Untersteh dich.«
Sie gingen hinein, doch zuerst musste Dill noch ein Bild von ihr neben dem Ladenschild machen, dann ein weiteres, wie sie sich an die breite Veranda lehnte.
Der Laden roch nach altem Leder, Wolle und Jeans. Eine Klimaanlage surrte und pumpte kalte Luft mit einem Hauch sauberen Schimmels herein. Aus verborgenen Lautsprechern schallte Fleetwood Mac.
Die Holzdielen knarrten unter ihren Füßen. Eine hübsche, rotblonde, alternativ aussehende Frau Mitte zwanzig saß hinter einem gläsernen Tresen, in dem handgefertigter Schmuck ausgestellt wurde, und starrte konzentriert auf den Bildschirm ihres Laptops. Als sie näher kamen, hob sie den Kopf.
»Okay, deinen Look finde ich toll. Mal ehrlich, wie scharf siehst du denn aus?«, sagte sie zu Lydia.
Lydia machte einen Knicks. »Oh, vielen Dank auch, Frau Ladenbesitzerin. Mal ehrlich, wie scharf sehen Sie denn aus?«
Lydia sah Dill an, als wollte sie sagen: Finde mal jemanden, der dich in der bescheuerten Opry Mills Mall so begrüßt.
»Sucht ihr was Bestimmtes?«
Lydia packte Dill am Arm und schob ihn nach vorn.
»Sachen. Klamotten. Fummel. Die bei dem jungen Mann hier gut sitzen und die Mädels überall auf dem Cumberland Plateau in Ohnmacht fallen lassen.«
Dill schaute zur Seite. »Vielleicht können wir uns erst mal auf den guten Sitz konzentrieren, Lydia«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Die Verkäuferin schnappte nach Luft. »Meine Eltern hätten mich beinahe Lydia genannt. Dann haben sie sich für April entschieden.«
»Dann gehen Sie voran, Miss April«, sagte Lydia. »Ich sehe schon, ihr habt eine hervorragend ausgewählte Kollektion hier.«
Dill verschwand in der Umkleidekabine, kam heraus, ging wieder hinein, während Travis sich auf einen knarzenden Holzstuhl setzte und in seinem Buch versank. Lydia war ganz in ihrem Element; kaum etwas tat sie lieber, als mit Dill Verkleiden zu spielen – ihr ganz eigenes kleines Mode-Benefizprojekt. Sie reichte Dill ein weiteres Hemd. »Wir brauchen noch Musik für die Anprobier-Montage – Let’s Hear It for the Boy oder was in der Art. Und irgendwann kommst du dann in einem Gorillakostüm oder so aus der Kabine und ich schüttele sofort den Kopf.«
Dill zog das Hemd über, knöpfte es zu und betrachtete sich im Spiegel. »Du guckst viel zu viele Achtziger-Filme.«
Irgendwann hatten sie schließlich einen Stapel Hemden, Jeans, eine mit Schaffell abgesetzte Jeansjacke und ein Paar Stiefel.
»Ich kaufe so gern Secondhand-Klamotten mit dir, Dill. Du hast eine Figur wie ein heroinsüchtiger Rockstar aus den Siebzigern. An dir sieht einfach alles gut aus.« Merken: Jeder Freund an der Uni sollte Dills Figur haben. So einen Körper anzuziehen macht einfach Spaß. Wahrscheinlich macht es auch Spaß, so einen Körper – na, bleiben wir beim Anziehen.
»Ich kann mir das alles nicht leisten«, sagte Dill leise. Lydia tätschelte ihm die Wange. »Keine Sorge.«
April gab die Ware ein. Dreißig Dollar für drei Hemden. Dreißig Dollar für die Jacke. Vierzig Dollar für die Stiefel. Zwanzig Dollar für zwei Jeans. Insgesamt hundertzwanzig Dollar.
Lydia lehnte sich auf den Tresen. »Okay, April, hier mein Vorschlag. Ich fände es toll, wenn du uns das alles für fünfzig Dollar geben könntest, und ich sorge dafür, dass es sich auch für euch rechnet.«
April legte mitfühlend den Kopf schief. »Ach, Süße. Ich wünschte, das könnte ich machen. Pass auf. Sagen wir, hundert – Freundschaftspreis, weil ich dich am liebsten als beste Freundin hätte.«
Lydia zeigte auf den Laptop. »Darf ich mal?«
»Klar.«
Lydia gab Dollywould in das Adressfeld ein und wartete, dass die Seite geladen wurde. Dann drehte sie den Bildschirm zu April.
»Kennst du die Seite?«
April kniff die Augen zusammen. »Jaa … kommt mir bekannt vor. Bin ziemlich sicher. War da nicht so ein Artikel drauf über die besten Secondhand-Läden in Tennessee?«
»Genau.«
April scrollte weiter. »Okay, ja, auf der Seite war ich schon mal. Das war ein Superartikel.«
»Vielen Dank.«
»Moment, hast du den geschrieben?«
»Den und jeden anderen Beitrag auf Dollywould. Das ist mein Blog.«
April klappte die Kinnlade herunter. »Meinst du das ernst?«
»Ja.«
»Wie alt bist du – achtzehn vielleicht?«
»Siebzehn.«
»Wo warst du bloß, als ich noch zur Highschool ging?«
»Da habe ich in Forrestville davon geträumt, du zu sein. Wie kommst du an Kunden? Anzeigen?«
»Hauptsächlich Mundpropaganda. Ich habe kein großes Werbebudget. Ab und zu schalte ich mal eine Anzeige in der Nashville Scene, wenn ein Monat gut gelaufen ist.«
»Wie wär’s, wenn ich deinen Laden ganz groß auf Dollywould bringe, im Gegenzug für deinen großzügigen Rabatt auf die Sachen?«
April trommelte mit den Fingern auf die Ladentheke und dachte einen Augenblick nach. »Ich weiß nicht.«
Lydia zog ihr Smartphone aus der Tasche und tippte darauf herum, während April noch grübelte. Dann legte sie das Telefon auf den Tresen, trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme und grinste breit. Ihr Telefon vibrierte und piepte.
»Was ist das denn? Was hast du gemacht?«, fragte April.
»Ich dachte, ich gebe dir mal einen Vorgeschmack. Bist du auf Twitter?«
»Ich habe einen Account für den Laden.«
»Ich habe meinen 102678 Followern getweetet, dass ich gerade im besten Vintage-Laden von ganz Tennessee stehe und dass sie ihn unbedingt auschecken sollen.«
»Wow. Danke, ich …«
Lydia hob den Zeigefinger und nahm ihr Handy wieder in die Hand. »Moment noch. Mal sehen, was so reinkommt. Also, ich habe schon fünfundsiebzig Likes und dreiundfünfzig Retweets. Danke für den Tipp, guck ich mir definitiv an … Deinem Geschmack vertraue ich blind … Muss sowieso nach Nashville, vielleicht können wir uns treffen und zusammen shoppen …«
»Und wenn …«
Lydia hob wieder den Finger. »Ah, hier ist eine schöne Antwort. Die ist von Sandra Chen-Liebowitz. Der Name sagt dir wahrscheinlich nichts, aber sie ist Kulturredakteurin bei der Cosmopolitan. Mal sehen, was sie sagt: Supertipp, arbeite nämlich grade am Nashville-Feature. Danke! Also, vielleicht kommt dein Laden in die Cosmopolitan. Überzeugt?«
April schaute Lydia noch einen Moment an, dann hob sie die Hände und lachte. »Okay, okay. Du hast gewonnen.«
»Wir haben gewonnen.«
»Du bist also das coolste Mädchen in der Schule, nehme ich an?«
Jetzt lachte Lydia und Dill und Travis stimmten ein. »Oje. Klar, ich bin die Coolste. Aber die Beliebteste? Sagen wir’s mal so: Internetruhm bringt bei meinen Mitschülern nicht viele Punkte.«
»Bringt sogar eher Negativpunkte«, sagte Dill.
»So ist es. Als weibliches Wesen mit eigener, laut ausgesprochener Meinung kann man da überhaupt nicht viele Punkte machen.«
»Ich bin jedenfalls beeindruckt«, sagte April.
»Fantastisch. Dann ruf du doch mal meine Freundin an und ich schaue, ob ich hier nicht dreihundert Dollar ausgeben kann.«
»Was ist mit dir?«, fragte April Travis. »Ich weiß nicht, ob wir viele Sachen in deiner Größe haben, aber es könnte sich schon was finden.«
Travis wurde rot und sah sie mit schiefem Lächeln an. »Ach nein, vielen Dank. Ich trage sowieso fast jeden Tag das Gleiche, damit ich den Kopf für andere Sachen frei habe.«
April und Lydia wechselten einen Blick. Lydia schüttelte den Kopf, April lächelte verständnisvoll.
Lydia fiel es tatsächlich überhaupt nicht schwer, ihr Kleidergeld auszugeben. Ehe sie den Laden wieder verließen, musste Dill ungefähr fünfzig Fotos von ihr in verschiedenen Kombinationen ihrer neuen Stücke schießen. Und dann ließ sie ihn noch zwanzig Bilder von ihr und April machen. Die beiden tauschten Telefonnummern aus und versprachen, in Kontakt zu bleiben.
Kaum traten sie vor die Tür, fingen sie schon an zu schwitzen. Die Nachmittagssonne knallte herab. Das Zirpen der Zikaden pulsierte wie der Herzschlag auf einer Ultraschallaufnahme.
Lydia winkte die beiden heran. »Los, wir machen ein paar Fotos von uns allen zusammen. Letzter Schulklamotteneinkauf in Nashville.«
Dill zwang sich zu einem Lächeln. »Na komm, Junge, das geht aber noch besser«, sagte Lydia. Er versuchte es noch einmal. Auch nicht besser.
»He, Lydia, könntest du ein paar Bilder von mir mit meinem Stab machen?«
Lydia war in überschwänglicher Stimmung wegen des guten Deals für Dill, den sie gelandet hatte, wegen ihrer eigenen Schnäppchen und weil sie eine modebewusste ältere Freundin gewonnen hatte. Trotzdem täuschte sie Genervtheit vor, um konsequent zu bleiben. »Oh Mann. Na gut. Hol Er seinen Stab.«
Travis sprang zum Auto und schnappte ihn sich. Er kam zurück und nahm eine düster-nachdenkliche Haltung ein. »Okay.«
Lydia machte ein paar Fotos. Travis wechselte die Posen, stützte sich auf den Stab, hielt ihn abwehrbereit. »Achte darauf, dass man meine Drachenkette sieht.«
»Mann. Ich bin doch keine Anfängerin. Meinst du, ich habe noch nie neckische kleine Accessoires aufs Bild kriegen müssen?«
Als sie fertig war, trat Travis neben sie und begutachtete ihre Arbeit mit einem breiten, kindlichen Lächeln. Er roch nach Schweiß und dem muffigen Aroma von Wäsche, die vor dem Trocknen zu lange in der Waschmaschine liegen geblieben ist.
»Auf denen sehe ich gut aus«, murmelte er. »Wie Raynar Northbrook aus Bloodfall.«
Dill reckte den Hals, um die Bilder auch zu sehen. »Oh ja, Raynar Northbrook, wie er leibt und lebt.« Sein leiser Spott entging Travis.
Lydia klatschte in die Hände. »Meine Herren. Ich habe Hunger. Gehen wir zu Panera.«
»Panera ist mir zu schick. Ich will zu Krystal’s«, sagte Travis.
»Erstens heißt es ›Krystal‹, kein Plural, kein Genitiv. Und zweitens: Nein.«
»Ach komm, du durftest auf der Fahrt schon die Musik bestimmen.«
»Es gibt auch einen Krystal in Forrestville. Aber kein Panera Bread. Wir sind doch nicht den ganzen Weg gefahren, um in einen dämlichen Krystal zu latschen und uns den gleichen Durchfall zu holen, den wir auch zu Hause kriegen könnten.«
»Dann lassen wir Dill entscheiden. Das Zünglein an der Waage.«
Dill hatte in die Ferne gestarrt. »Ich … habe keinen Hunger. Ich esse zu Hause.«
»Macht nichts«, sagte Travis. »Du kannst trotzdem mit abstimmen.«
»Und eine Stimme für Krystal bedeutet, zu Fuß nach Hause zu gehen«, sagte Lydia.
»Dann stimme ich für Panera«, sagte Dill mit deutlich echterem Lächeln.
Am Ende holten sie für Travis doch etwas von Krystal.
Dill hatte gehofft, wenn er nach dem Essen fragte, ob sie auf dem Heimweg noch kurz am Gefängnis anhalten könnten, würde Lydia antworten, dass sie aus irgendeinem Grund unbedingt bald nach Hause müsste und unmöglich warten könnte, bis er seinen Vater besucht hätte. Aber nein. Riverbend Prison lag in einem trügerisch schönen, ländlichen Teil von Nashville. Sanfte Hügel und ein üppiger Baumbestand umgaben beigefarbene Gebäudeklötze mit schmalen Fensterschlitzen.
»Wird nicht allzu lange dauern, Leute. Ihr wisst ja, ich halte es da drinnen nicht lang aus«, sagte Dill beim Aussteigen.
Lydia tippte auf ihr Telefon ein. »Keine Sorge, Mann. Ich arbeite an meinem Blogpost zum Schulanfang.«
Travis hielt nur sein Buch hoch.
»Eigentlich sollt ihr mir erzählen, dass ihr dringend so schnell wie möglich nach Hause müsst«, sagte Dill.
»Ach so, klar«, sagte Lydia, ohne aufzusehen. »Okay, Dill, beeil dich bitte, sonst kriege ich irgendwie Hausarrest oder den Hintern versohlt oder so.«
»Ja, mach bloß schnell, Dill«, sagte Travis. »Ich will unbedingt nach Hause und mit meinem coolen Dad abhängen, anstatt mein Lieblingsbuch zu lesen.«
Dill lächelte nervös und zeigte ihnen den Mittelfinger, holte tief Luft und ging auf das Hauptgebäude zu. Er durchlief die Sicherheitskontrollen und meldete sich an. Das Wachpersonal führte ihn zum Besucherbereich. Es sah überhaupt nicht aus wie die Besuchszellen im Fernsehen. Keine durchsichtigen Trennwände und Telefonhörer. Es war einfach ein großer Raum voller runder Tische, an jedem standen zwei oder drei Stühle, an den Wänden ein paar Verkaufsautomaten. Das Ganze erinnerte an seine Schulmensa und er freute sich auch ungefähr genauso, hier zu sein. Es war stickig und gerade kühl genug, dass man merkte, es gab hier eine Klimaanlage, aber Sparauflagen oder moralische Bedenken verhinderten, dass sie es den Insassen zu angenehm machten. Mehrere Wärter überwachten den Saal.
Dill war der einzige Besucher. Er saß an einem Tisch, trommelte mit den Fingern auf die Platte und konnte das Zucken seiner Beine nicht unterdrücken. Zieh die Sache einfach durch.
Er drehte sich um und stand auf, als eine Tür aufging und ein Wachmann Dillard Early senior hereinführte.
Dills Vater war groß, hager und knochig. Seine dunklen Augen lagen tief in ihren Höhlen, sein Schnurrbart hing zu beiden Seiten der Mundwinkel herab und sein langes, fettiges schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Jedes Mal, wenn Dill ihn sah, wirkte er härter. Gerissener. Wilder und schlangenhafter. Das Gefängnis schärfte ihn, feilte alles Weiche und Freundliche ab, was noch an ihm gewesen war. Er war fast genau zehn Jahre älter als Dills Mutter, sah aber zwanzig Jahre älter aus.
Er trug eine dunkelblaue Jeans und ein hellblaues Hemd mit V-Ausschnitt, auf dessen linke Brust eine Nummer gedruckt war und auf den Rücken die Buchstaben »TDOC«, das Kürzel der Strafvollzugsbehörde von Tennessee.
Sein Vater kam zu seinem Tisch. Sein Gang war wachsam wie der eines Raubtiers. »Hallo, Junior.« Dill hasste es, Junior genannt zu werden. Eine Sekunde lang standen sie sich beide gegenüber. Sie durften sich nicht umarmen oder sonst wie berühren. Dill roch ihn über den Tisch hinweg. Er roch nicht direkt schlecht, aber eindeutig menschlich. Urtümlich. Nach Haut und Haaren, die weniger oft gewaschen wurden als bei Menschen in Freiheit.
Sie setzten sich. Dills Vater legte die Hände auf den Tisch. Auf die Knöchel einer Hand hatte er die Buchstaben »MARK« tätowiert, auf die andere »16,18«. Diese Tattoos waren neu. Und kein gutes Zeichen. Nicht sehr erfreulich, dass er offenbar noch schräger wird.
Dill versuchte entspannt zu klingen. »Hi, Dad. Du hast dich ja tätowieren lassen.«
Sein Vater warf einen kurzen Blick auf seine Hände, als wäre ihm das ganz neu. »Ja, stimmt. Sie lassen mich hier drinnen nicht predigen und die Zeichen zeigen, darum trage ich meinen Glauben auf der Haut. Das können sie mir nicht wegnehmen.«
Sieht aus, als kämst du hier drinnen ganz gut klar. Als sein Vater ins Gefängnis kam, nahmen alle an, es würde ihm dort schlimm ergehen, da er wegen Kinderpornografie verurteilt worden war. Doch da hatten sie sein Charisma unterschätzt. Wenn man Menschen überzeugen kann, Klapperschlangen und Kupferköpfe in die Hand zu nehmen und Gift zu trinken, kann man offensichtlich auch Menschen überzeugen, einen vor den – wie sein Vater sie nannte – »Sodomiten« zu beschützen.
Sie setzten sich und sahen einander einige unbehagliche Sekunden lang an.
»Also … wie geht es dir?«, fragte Dill.
»Ich lebe jeden Tag, so wie er kommt, der Herr sei gelobt.«
»Bekommst du … genug zu essen?« Small Talk im Gefängnis war schwierig. Nicht mal das Wetter war von beiderseitigem Interesse.
»Meine Bedürfnisse werden gestillt. Wie geht es dir und deiner Mutter?«
»Wir kommen durch. Arbeiten hart.«
In den durchdringenden Augen seines Vaters glitzerte ein seltsames Licht, von dem Dill sich innen drin ganz dunkel fühlte. »Das höre ich gern. Arbeitet hart. Zahlt unsere Schulden ab, damit ich unsere Gemeinde wieder aufbauen kann, wenn meine Zeit hier um ist. Vielleicht kannst du mir beistehen, wenn du im Glauben stark geworden bist.«
Dill wand sich. »Ja, vielleicht. Morgen fängt übrigens die Schule wieder an.«
Sein Vater legte die Ellbogen auf den Tisch und verschränkte die Finger, als wollte er beten. »Ist es schon wieder so weit? Und wie wirst du dieses Schuljahr zubringen? Wirst du ein Soldat Christi sein, die frohe Botschaft der Erlösung und ihre Zeichen unter deinen Mitschülern verbreiten? Wirst du die Arbeit tun, die ich nicht tun kann?«
Dill rutschte wieder auf seinem Stuhl herum und schaute zur Seite. Er mied den Blickkontakt zu seinem Vater; seine Augen konnten Menschen dazu bringen, Dinge zu tun, die ihnen schadeten. »Ich … ich weiß nicht, ich glaube, meine Mitschüler interessiert das nicht so, was ich zu sagen habe.« Großartig. Jetzt habe ich in einem Satz zusammengefasst, wie unbeliebt ich bin und wie sehr ich meinen Vater enttäusche. Diese Gefängnisbesuche sind die reine Freude.
Sein Vater beugte sich vor, sein Blick bohrte sich in Dills Augen, seine Stimme senkte sich verschwörerisch. »Dann sag es nicht. Sing es. Erhebe die Stimme, die Gott dir geschenkt hat. Benutz die Hände, die Gott mit Musik gesegnet hat. Verbreite die Botschaft durch Gesang. Junge Menschen mögen Musik.«
Dill unterdrückte ein bitteres Lachen. »Sicher … aber bestimmt keine Musik über Schlangen und so was. Die Art Musik ist nicht besonders populär.«
»Der Geist wird in sie fahren, so wie er in unsere Gemeinde gefahren ist, wenn du gesungen und gespielt hast. Und wenn ich wieder draußen bin, wird unsere Gemeinde um das Zehnfache gewachsen sein.«
Wie wär’s, wenn ich erst mal versuche, das Schuljahr zu überleben? Wenn ich den Spott und Hohn nicht noch anheize? »Hör mal, Dad – wegen deiner … wegen unserer Lage ist es nicht so leicht, mit den Mitschülern über solche Sachen zu reden. Sie wollen nichts davon wissen, verstehst du?«
Sein Vater schnaubte. »Wir sollen uns also Luzifers Werkzeugen beugen und unsere Gemeinde der Zeichen zerstören? Wir sollen ihm ohne Gegenwehr den Sieg überlassen?«
»Nein, ich … ich wollte nicht …« Verwirrt von dem surrealen Gefühl, ausgerechnet von einem Häftling als unwürdig hingestellt zu werden, konnte Dill seinen Gedanken nicht zu Ende bringen.
»Weißt du noch, wie du Lieder zu Psalmen geschrieben und sie mit der Gotteslob-Band gesungen hast? Weißt du das noch?«
»Ja. Klar, weiß ich noch.«
Dills Vater lehnte sich zurück, schaute an ihm vorbei und schüttelte sacht den Kopf. »Das waren herrliche Lieder.« Wieder starrte er Dill an. »Sing eins für mich.«
»Du meinst – hier und jetzt?« Dill suchte nach einem Hinweis, dass sein Vater einen Scherz gemacht hatte. Das war zwar höchst selten, aber immerhin möglich.
»Ja. Eins, das du geschrieben hast. ›Und Christus macht uns frei‹.«
»Ich habe keine Gitarre dabei. Und wäre das nicht irgendwie … komisch?« Dill deutete mit dem Kopf auf die gelangweilt wirkenden Wachleute, die sich leise unterhielten.
Sein Vater drehte sich nach den Wärtern um. »Meinst du nicht, dass die uns ohnehin komisch finden?«
Da hat er nicht unrecht. Dill wurde rot. Also besser Augen zu und durch, wie beim Pflasterabreißen. Schnell und leise sang er das gewünschte Stück a cappella. Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Wärter ihr Gespräch unterbrachen und zuhörten.
»Mehr«, sagte sein Vater und applaudierte. »Ein neues.«
»Ich … ich habe seit einiger Zeit keine neuen mehr geschrieben.«
»Hast du die Musik aufgegeben?«
»Nicht direkt. Ich schreibe jetzt bloß … andere Sachen.«
Die Miene seines Vaters verdüsterte sich. »Andere Sachen. Gott hat dir die Musik nicht verliehen, damit du das Lob der sündigen Menschen und der Hurerei singst.«
»Ich schreibe keine Lieder über Hurerei. Ich habe kein einziges Lied über Hurerei geschrieben.«
Sein Vater deutete mit dem Finger auf ihn. »Vergiss nie: Christus ist der Weg. Der einzige Weg. Dein Weg zur Erlösung. Und deine Musik ist dein Weg zu Christus. Mein Weg zu Christus waren die sichtbar gewordenen Glaubenszeichen. Wenn wir unseren Zugang zu Christus verlieren, verlieren wir unseren Weg zur Erlösung und unseren ewigen Lohn. Verstanden?«
»Ja. Verstanden.« Im Gespräch kam ihm sein Vater vor wie eine Backsteinwand, die hören und sehen konnte und über Jesus Bescheid wusste. »Okay, also, ich muss wieder los.«
Die Miene seines Vaters verfinsterte sich weiter. »Du bist doch gerade erst gekommen. Du bist doch sicher nicht den ganzen Weg gefahren, um bloß ein paar Minuten hierzubleiben.«
»Nein. Ich habe mich von ein paar Schulfreunden mitnehmen lassen, die noch Sachen für die Schule kaufen mussten. Die warten draußen auf dem Parkplatz und da ist es echt heiß. Sie waren so nett, mir ein paar Minuten für den Besuch zu geben.«
Dills Vater atmete hörbar durch die Nase aus und stand auf. »Na, dann solltest du wohl besser zu ihnen gehen. Auf Wiedersehen, Junior. Richte deiner Mutter Grüße aus und sag ihr, dass ich bald schreibe.«
Dill stand ebenfalls auf. »Mache ich.«
»Sag ihr, dass ich ihre Briefe bekommen habe.«
»Okay.«
»Wann sehe ich dich wieder?«
»Das weiß ich noch nicht genau.«
»Dann sehe ich dich, wenn Gott will. Geh mit Jesus, mein Sohn.« Dills Vater hob beide Fäuste und hielt sie nebeneinander. Markus 16, Vers 18. Dann drehte er sich um und ging.
Dill atmete lange aus, als er das Gebäude verließ, so als hätte er drinnen die ganze Zeit die Luft angehalten. Ohne die Furcht vor dem Besuch bei seinem Vater fühlte er sich dennoch nicht viel besser. Jetzt spürte er nur noch den ursprünglichen Druck vom Morgen in seinem Magen.
Als er zum Auto kam, erklärte Lydia Travis gerade, wie viele Kalorien ein Drache pro Tag zu sich nehmen müsste, um Feuer speien zu können. Doch ihre Argumente schienen ihn nicht zu überzeugen.
Als Dill ans Fenster trat, blickte sie auf. »Gott sei Dank.« Sie ließ den Wagen an. »Und, wie geht’s deinem Vater?«
»Er ist seltsam«, sagte Dill. »Richtig seltsam.«
»Ist er …«, fing Travis an.
»Ich will nicht drüber reden.«
»Okay, ist ja gut.«
»Tut mir leid, ich wollte nicht unfreundlich sein«, sagte Dill. »Es ist bloß … lasst uns einfach nach Hause fahren.«
Auf der Heimfahrt schwiegen sie die meiste Zeit. Travis las sein Buch. Lydia schob einen Mix aus Nick Cave & the Bad Seeds und Gun Club in den Player, tappte im Takt mit den Fingern aufs Lenkrad und strahlte weiter gute Laune aus. Und warum auch nicht. Sie hat einen tollen Tag hinter sich.
Dill starrte aus dem Fenster auf die Bäume, die den Highway säumten; gelegentlich markierten selbst gemachte Kreuze am Straßenrand die Stelle, wo jemand sein Leben verloren hatte, und strukturierten die durchgehende grüne Wand. Drei Geier umkreisten irgendetwas in der Ferne und stiegen mit den Aufwinden in die Höhe. Er versuchte die letzten Augenblicke der Fahrt auszukosten.
Der letzte gemeinsame Schulklamotteneinkauf. Der Tod eines kleinen Abschnitts meines Lebens. Und ich konnte ihn nicht mal richtig genießen, wegen meines verrückten Vaters. Der allmählich immer verrückter wird.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er Lydia beim Fahren. Ihre Mundwinkel. Wie sie fast ständig zu einem leichten Grinsen nach oben gezogen waren. Wie sich ihre Lippen fast unmerklich bewegten, wenn sie die Songs mitsang.
Vergiss das hier nicht. Schreib es auf ein selbst gemachtes Kreuz und steck es dir ins Herz, um dieses Ende zu markieren.
Als sie nach Forrestville hineinfuhren, waren die Schatten schon lang und das Licht wie durch eine Kanne Eistee gefiltert. Zuerst setzten sie Travis ab.
Er sprang aus dem Auto und beugte sich noch einmal zum Seitenfenster, die Hand auf dem Dach. »Noch ein Jahr, Leute. Bis morgen, ja?«
»Leider«, sagte Dill.
Travis schlenderte seine Einfahrt hinauf. An der Veranda drehte er sich noch einmal um und winkte, hob den Stab.
Lydia raste davon.
»Ich habe es nicht eilig, nach Hause zu kommen«, sagte Dill.
»Reine Gewohnheit.«
»Wollen wir noch zum Bertram Park und Züge angucken, bis es dunkel wird?«
»Würde ich gern. Aber ich muss in den nächsten Monaten echt ein bisschen mehr Zeit in mein Blog investieren. Das wird der wichtigste Aktivposten auf meinen Uni-Bewerbungen, darum muss der Content stimmen.«
»Ach komm.«
»Klar, das wäre bestimmt auf die übliche irgendwie langweilige Art nett, aber – nein.«
Sie hielten vor Dills Haus. Er blieb einen Augenblick reglos sitzen und wandte sich dann zu Lydia. »Wirst du dieses Jahr zu beschäftigt sein, um Zeit für uns zu haben?«
Lydias Züge verhärteten sich. Ihr Blick wurde trotzig, ihre Ausgelassenheit verpuffte. »Entschuldige, ich habe wohl eben nicht aufgepasst. Was haben wir die letzten Stunden noch mal gemacht? Ach ja, richtig.«
»Das meine ich doch nicht. Nicht heute. Ich meine, im Allgemeinen. Wird es dieses Schuljahr so laufen?«
»Ähm, nein, Mann. Gegenfrage. Wird es dieses Schuljahr so laufen? Dass du es nicht verstehst und komisch wirst, wenn ich tun muss, was ich nun mal tun muss?«
»Nein.«
»Na, das geht ja nicht gerade gut los.«
»Ich habe schon verstanden. Du wirst ziemlich viel zu tun haben. Egal.«
»Und du wirst einfach schweigsam und verstockt sein und vielleicht auch ein bisschen arschig.«
»Ich habe den Kopf grad ziemlich voll.«
»Ich meine es ernst, Dill. Bitte, nerv nicht rum, wenn ich was zu tun habe.«
»Ich nerve nicht.«
»Doch, ein bisschen schon.«
»Tut mir leid.«
Sie schauten einander noch einen Augenblick an, als wollten sie sich gegenseitig die Chance geben, weitere Bitten oder Beschwerden zu äußern. Lydias Miene wurde sanfter. »Mal was ganz anderes: Die Hälfte von meinem Panera-Salat ist kein richtiges Abendessen.«
»Mir reicht es.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Okay. Ich muss weiter. Freunde?« Sie umarmte ihn zum Abschied.
Dill sog noch einmal ihren Duft ein, nahm ihn wie seine neuen Sachen mit. »Vielen Dank dafür. Ich wollte absolut nicht undankbar wirken.«
»Gut. Ich habe nämlich was für dich gemacht.« Aus der Mittelkonsole zog sie eine CD, auf der mit schwarzem Filzstift »Joy Division/New Order« geschrieben stand. »Das haben wir auf der Hinfahrt gehört. Ich wusste, du würdest sie haben wollen.
Dill tippte mit dem Finger auf die CD. »Da hattest du recht. Danke.«
»Und du solltest wissen, dass ›Love Will Tear Us Apart‹ mein absolutes Lieblingslied aller Zeiten ist.«
»Merke ich mir.«
»Morgen, Viertel nach sieben.«
Er streckte den Daumen hoch. »Ich bin da.«
Dill stieg aus und ging auf sein Haus zu. Er stieg die rissigen, bröckelnden Betonstufen zur Haustür hinauf und hatte schon die Hand am Türknauf, als er es sich anders überlegte. Hatte ja keinen Sinn, in einem trübseligen und stickigen Haus herumzusitzen, bis es dunkel wurde. Er legte seine Kleidertüten und die CD auf die Stufen, setzte sich hin und starrte zur Anzeigetafel der Kirche hinauf.
No peace, no peace. No peace, no peace.