Windstärke 8: stürmischer Wind, Fensterläden werden aufgeweht, Zweige brechen von Bäumen. Ziemlich hohe Wellenberge, überall Schaumstreifen. Windstärke in ca. 10 Meter Höhe über offenem, flachem Gelände: 63–76 km/h.
Beaufort-Skala
Es hilft nichts. Es ist einfach viel zu heiß, um zu schlafen, deshalb werde ich nun unsere venezianische Terrasse betreten, auch wenn ich dann durchs Wohnzimmer und mich an dem möglicherweise schlafenden Paul vorbeischleichen muss. Doch von Paul ist in dem Raum keine Spur. Deshalb wundert es mich nicht sonderlich, ihn auf der Terrasse zu treffen. Mit den Armen stützt er sich auf der Brüstung ab und beugt sich vor, den Blick auf die venezianischen Dächer gerichtet. Als er mich sieht, richtet er sich auf. „Gar nicht so übel, dieses Venedig“, sagt er lächelnd.
„Hier draußen ist es ja richtig angenehm“, sage ich überrascht. „Drinnen steht die Luft immer noch. Es ist ein Wunder, dass die Kinder schlafen können.“
„Ja“, sage ich. „Das war ein aufregender Tag für sie. So viel, wie sie gelaufen sind, würden sie jetzt wahrscheinlich überall schlafen, wo man sie ablegt.“
Die Luft hat sich verändert. Sie ist nicht direkt abgekühlt. Es ist eher etwas in der Atmosphäre. Eine Art Spannung. Ich schaue in den Himmel, der jetzt zwar dunkelgrau, aber noch nicht nachtschwarz ist. Eine laue Sommernacht. „Die haben es gut“, meint Paul, „ich bekomme kein Auge zu. Es ist so heiß und eigentlich ist es ja auch erst 23 Uhr, aber ich war so erschöpft.“
„Ging mir genauso“, stimme ich zu. „Man wird eben spießig, wenn die Nacht immer um 6 Uhr morgens vorbei ist, weil ein kleines Kind Hunger auf Frühstück hat. Sofort, Mama!“ Ich mache Mäxchens hohen Befehlston nach.
„Sonst halte ich die Luft an, Papi“, entgegnet er als weniger gelungene Kopie von Sophie. Er hat den Stimmbruch einfach schon zu lange hinter sich.
Ich lache. „Fast“, sage ich dann. „Aber ich war besser.“
„Na schön“, entgegnet Paul großzügig. „Aber trinkst du dann zum Trost einen spießigen Limoncello mit mir? Ich habe welchen gekauft – zusammen mit den Zitronen.“
Jetzt erst bemerke ich die Flasche auf dem Tisch mit dem nostalgischen Etikett und der goldfarbenen Schrift.
Ich nicke eifrig. „Gerne, gute Idee.“
„Dann hole ich uns Gläser“, sagt er.
Als er zurückkommt und mir ein Glas in die Hand drückt, hebe ich meine Augenbrauen und deute auf das Getränk. „Da fehlt aber schon etwas, hast du aus der Flasche getrunken? Zitronenlikör? Brrrr. Geht das überhaupt?“
Mit provozierendem Lächeln hebt er die Flasche an seine Lippen und nippt an der Flüssigkeit.
„Ach, gib schon her.“ Ich strecke ihm die Hand entgegen. „Eine Wohnung über den Dächern Venedigs und dann auch noch vornehm aus dem Likörglas trinken – da könnten wir ja gleich zu unseren Eltern mutieren.“
Er hält mir die Flasche hin und ich setze sie an. Die süße, klebrige Flüssigkeit schmeckt erfrischend. Gefährlich. Es verführt dazu, sie wie Limonade zu kippen. Das sollte man nicht tun. Schon gar nicht, wenn man schon Wein intus hat und mit zwei kleinen Kindern reist. Wo bliebe da das Verantwortungsbewusstsein?
Nach ein paar Schlucken reiche ich ihm deshalb die Flasche zurück und beuge mich über die Brüstung, um die Aussicht auf die venezianischen Dächer zu genießen. Ich muss an meine Mutter denken, die auf der Rialto-Brücke mit ausgebreiteten Armen gestanden hat, als wäre sie Kate Winslet in „Titanic“. In diesem Moment möchte ich es ihr gleichtun. Mache ich aber nicht, sondern betrachte ganz ruhig weiter die Dächer, als würde mich die Schönheit dieser Stadt gar nicht weiter tangieren und mir noch unzählige Nächte bleiben, sie zu ignorieren, weil sie mir immer zur Verfügung stünde. Schließlich stehe ich auf der Terrasse meines Hauses, nicht in irgendeinem sterilen Hotelzimmer.
Bei vielen Dächern fehlen ein paar Schindeln, auch der Putz bröckelt allerorts. Das zeigt aber nur die Prise Lässigkeit, die ein echter Venezianer all dem Prunk entgegenzusetzen weiß. Mir ist es in Mittelmeerländern schon häufiger aufgefallen, dass die Bewohner sich weniger an ihre Besitztümer zu klammern scheinen als wir – oder fehlt ihnen einfach das Geld, um pausenlos zu tünchen und zu sanieren? Ich rede mir gerne ein, dass sie Wichtigeres zu tun haben. Was nützt es, am Ende ein perfektes Haus zu hinterlassen, wenn man stattdessen zu Lebzeiten lieber viel mehr Pasta, Vino und Amore hätte genießen sollen? Doch auch in oder vielleicht gerade wegen diesem verblassten Zustand wirkt die Stadt strahlender als mein Heimatort an der Elbe. Das kann aber auch meinem Schwips und dem Vollmond geschuldet sein. Fehlt nur noch, dass gleich Dean Martin auftaucht, um zu singen: Buona sera, signorina, buona sera …
Die Klischees in meinem Kopf versetzen mich in eine romantische Stimmung, in der es schwer ist zu ignorieren, dass Paul neben mir steht und ich genau spüre, dass er mich immer wieder von der Seite betrachtet. Unsere Ellbogen berühren sich beinahe.
„Es wird ein Gewitter geben“, murmele ich plötzlich beinahe erleichtert. Das war die Spannung, die ich in der Luft wahrgenommen habe. Nun weht mir eine leichte Brise um die Nase, doch ein Jucken auf der Schulter – dort, wo mein Wettervorhersage-Tattoo sitzt – verrät mir, dass sie sich gleich in einen handfesten Sturm verwandeln wird. Trotzdem meide ich Pauls Blick, weil ich weiß, dass ich noch eine andere Spannung gespürt habe, die aber höchstwahrscheinlich nur in meinem Kopf existiert.
„Ich hatte auch schon so ein Gefühl“, raunt Paul.
„Du auch?“, frage ich beinahe erschrocken.
„Könnte doch ganz schön sein, oder?“, fragt er und nippt noch einmal an der Flasche.
„Vielleicht ein wenig riskant“, sage ich vorsichtig, obwohl ich eigentlich nichts lieber tun möchte, als diesem Gefühl nachzugeben.
„Wieso?“, fragt er belustigt. „Der Blitz wird schon nicht gerade hier einschlagen.“
Ich kann meine Enttäuschung darüber, dass er offensichtlich immer noch über das Gewitter gesprochen hat, während ich den Eindruck hatte, dass er meine Gedanken lesen konnte, kaum verbergen. Doch zum Glück interpretiert er sie falsch.
„Wieso schaust du so, als hättest du in deinem Weihnachtspäckchen gerade ein paar Stricksocken gefunden? Möchtest du gerne vom Blitz getroffen werden?“
Es ist der Alkohol, der mich schließlich aufs Ganze gehen lässt. Ich mache einen Schritt auf ihn zu und sehe ihn an. „Ja, ich glaube, das möchte ich.“
Er schaut mich an und ich kann sehen, wie bei ihm der Groschen fällt. „Weißt du was?“, flüstert er schließlich. „Ich glaube, das möchte ich auch.“
„Seit wann?“, frage ich beinahe überrascht.
„Länger als du.“
Als die ersten Tropfen fallen und wir das Donnergrollen hören, bekomme ich eine Gänsehaut. Vielleicht aber auch, weil Paul seinen Arm um mich gelegt hat und meinen Hals küsst. Er lässt sich Zeit und ich schließe meine Augen, während er mit seinen Lippen über mein Schlüsselbein, mein Kinn und schließlich ganz leicht über meinen Mund fährt.
Als wir uns endlich richtig küssen, spüre ich keine Regentropfen mehr. Es ist, als würde einfach ein Wasserschwall vom Himmel fallen. Als er seine Hand unter mein Schlafshirt schiebt, erscheint mir das plötzliche Blitzen und Krachen um uns herum nur folgerichtig.
Erst als er mich nach drinnen gezogen hat, merke ich, dass wir völlig durchnässt sind. Er macht Anstalten, mich von meinem Shirt und den Shorts zu befreien. Aber ich drücke ihn ein Stück weg. „Du zuerst“, sage ich grinsend. „Wir waren lange genug eure Lustobjekte.“
Lachend und sehr lässig streift er seine eigenen Shorts und sein Shirt ab. Ich schlucke, denn er sieht so gut aus, dass ich fast nicht hingucken mag, egal wie cool ich mich vorher gegeben habe. Blitzlichter und Mondschein stehen ihm gut, denke ich.
Nun bin ich wohl an der Reihe. Sein gieriger Blick nimmt mir die Scheu. Also lasse ich mir Zeit. Dann schnappt er sich ein Handtuch und wickelt mich darin ein. Als ich trocken bin, zieht er mich auf die Schlafcouch.
Für einen Moment ist meine Sorge, eines der Kinder könnte plötzlich im Türrahmen stehen, stärker als die Erregung. Was, wenn sie aufwachen und denken, sie seien allein bei dem unheimlichen Grollen? Doch Paul ist so gut, dass ich nicht lange grübeln kann.
Was verdammt dämlich ist, wie ich hinterher feststelle, als er friedlich schnorchelnd neben mir liegt. Von den Naturgewalten mitgerissen hat keiner von uns nach Kondomen gefragt. Es ist schön, so eingekuschelt neben ihm zu liegen. Aber die plötzliche Panik versetzt dem zarten Gefühl einen echten Dämpfer. Mal ehrlich, Lisa: Dafür, dass du nicht schwanger werden möchtest, lässt du echt keine Gelegenheit aus, es zu werden.
Das Gewitter ist vorbei. Vorsichtig schleiche ich mich ins Schlafzimmer zurück, damit die Kinder mich beim Aufwachen nicht vermissen. Ich schaue auf ihre friedlichen Gesichter und versuche, nicht daran zu denken, dass sich tatsächlich ein Geschwisterchen dazugesellen könnte, das beiden ähnlich sieht. Verdammt! Dass ich mit Paul geschlafen habe, ist schlimm genug – auch wenn ich es mit dem Vorschlag, gemeinsam nach Venedig zu reisen, nahezu darauf angelegt habe, egal wie sehr ich mir einreden wollte, dass wir uns nur gerne bei den Herausforderungen unseres jeweiligen Alltags unterstützen.
Aber dass wir es zu allem Überfluss ungeschützt getan haben … Gerade weil wir nun wirklich wissen, was in solchen Fällen passieren kann. Die Konsequenzen liegen direkt vor mir, auch wenn ich beide nicht missen möchte. Erst als es bereits hell wird, falle ich in einen wenig erholsamen Halbschlaf.
Am nächsten Morgen steigt Dampf aus den Pfützen in den Gassen auf. Wasser, das in der Sonne verdunstet. Es ist wieder heiß, aber etwas weniger drückend als am Tag zuvor. Überhaupt erkunden wir mit den Kindern am frühen Morgen ein ganz anderes Venedig als tags zuvor. In den Straßen ist es noch ruhig. Die Menschen, denen wir begegnen, sehen so aus, als gehörten sie in diese Stadt. Statt Koffern oder Fotoapparaten tragen sie geschäftige Mienen und gehen im Schnellschritt. Ganz anders als wir, die wir träge umherwandeln. Das heißt: Eigentlich sind nur Paul und ich träge. Die Kinder springen von einer Pfütze zur nächsten und freuen sich so sehr, dass die Passanten lächeln. Zumindest die, die nicht von schmutzigen Wasserspritzern getroffen werden.
Es ist so viel Wasser in den Straßen, dass man nicht vermeiden kann, immer wieder hineinzutreten. Doch was macht das schon, wenn es so warm ist, dass die nackten Füße in den Sandalen schnell wieder trocknen!
„So ist es wirklich viel angenehmer, oder?“, sagt Paul mit einem Seufzen.
Ich nicke lächelnd.
„Ich bin froh, dass du mich gefragt hast, ob ich mitkomme“, sagt er sehr ernsthaft und drückt kurz fest meine Hand.
Ich erwidere den Druck, damit er weiß, dass es keine Zurückweisung ist, dass ich danach schnell wieder loslasse.
Um ehrlich zu sein, bin ich ohne ausreichend Schlaf zu schwach, um jemanden zurückzuweisen, nach dem ich verrückt bin. Nur am Morgen ist es etwas seltsam gewesen. Ich konnte ihm kaum in die Augen schauen, denn plötzlich war mir so, als hätte ich ihn mit einer Einladung in eine Art Honigfalle gelockt. Natürlich wollte ich offiziell nie, dass es so weit kommt. Doch ich kann nicht abstreiten, dass ich bei seinem Kuss so was von bereit und willig war, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich ihn nicht mit irgendwelchen Signalen dazu genötigt habe, sich mir zu nähern. Ich habe mal gelesen, dass die meisten Annäherungen von unbewusst gesendeten Signalen der Frauen ausgehen. Und dass ich ihn sehr anziehend finde, war ja nicht besonders tief in meinem Unterbewusstsein vergraben, fürchte ich.
Allerdings stelle ich bei einem Seitenblick fest, dass er nicht gerade wie ein genötigter Mann aussieht. Ganz im Gegenteil, wenn man es genau nimmt. Er hat ein geradezu triumphierendes Grinsen aufgesetzt, ganz der Löwe, der sich gerade über das Löwenweibchen hergemacht hat. Ausnahmsweise ärgere ich mich nicht über die Selbstzufriedenheit vieler Männer, um die ich sie in Wahrheit beneide. Sie lenkt an diesem Tag von meiner eigenen ab.
Freut mich, wenn ich dir helfen konnte, deine Sorgen für einen Moment zu vergessen, denke ich und erwidere sein Grinsen.
Die Anspannung des Morgens ist schon nach den ersten Schritten verflogen. Die übliche Vertrautheit ist wieder eingekehrt. Sie hat nur einen neuen Begleiter mitgebracht: diese kleine Erregung, die mich im Laufe des Tages immer wieder überkommt und mich lüstern die Augen schließen lässt, wenn er mich zwischendurch wie aus Versehen berührt. Wenn er in einem Moment wie unbeabsichtigt seine Hand auf meine Hüfte legt, um meine Aufmerksamkeit auf etwas Sehenswertes zu lenken, oder mir zärtlich Croissant-Krümel aus den Mundwinkeln wischt. Immer wieder nimmt er beiläufig meine Hand, wenn keiner hinschaut. Einmal, als ich an einer Balustrade lehne, stellt er sich so dicht hinter mich, dass ich Sekunden später seine Erektion spüre.
„Ooops“, sagt er, ohne besonders verlegen zu wirken.
Und ich sehe nicht ein, warum ich vorgeben sollte, dass es mir nicht gefällt. Deswegen grinse ich immer weiter. Vermutlich genauso dümmlich, wie er es tut, auch wenn ich diesen Blick noch nicht an ihm kannte. Nur die Ausrufe der Kinder erinnern mich daran, dass wir kein frischgebackenes Liebespaar in seinem ersten echten Romantik-Urlaub sind. Diese Leichtigkeit, die zwischen uns wieder eingekehrt ist, und die Urlaubsstimmung lassen nicht zu, dass mich die Sorgen der Nacht wieder heimsuchen. Es ist schon nichts passiert, sage ich mir. Nicht bei einem einzigen Mal. Und wenn ich schon nicht versprechen kann, dass es auch das einzige Mal bleibt, nehme ich mir fest vor, dass es keine Gelegenheit mehr für ungeschützten Verkehr geben wird. Deswegen kaufe ich in einer kleinen Drogerie eine Packung Kondome, nachdem ich ihn gebeten habe, draußen auf die Kinder aufzupassen, weil ich im Laden etwas „Mädchenkram“ besorgen müsse. Kaum bin ich wieder da, fällt ihm ein, dass ihm der Rasierschaum ausgegangen ist.
Als er mit leeren Händen zurückkehrt, frage ich mich, ob er den gleichen Gedanken hatte wie ich. In seiner Jackentasche mache ich eine neue Beule in Form und Größe einer Zigarettenschachtel aus, die der Verpackung gleicht, die ich gerade erworben habe.
Ich tippe mit erhobenen Augenbrauen dagegen. „Ist moderner Rasierschaum zufällig quadratisch, praktisch und gut?“
Verlegen schaut er mich an, bis ich ihm einen kleinen Blick in meine Handtasche gewähre.
Da muss er lachen. „Zwei Doofe, ein Gedanke.“
Das ist keine besonders schmeichelhafte Umschreibung für zwei Seelen im temporären Gleichklang – dass es von Dauer ist, glaube ich immer noch nicht –, aber wo der gute Mann recht hat, hat er recht. In diesem Moment wird mir klar, dass wir uns quasi gerade zu weiterem Sex verabredet haben, und mir wird ziemlich warm – und zwar überall.