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BEREITS ERSCHIENEN:

WORLD OF WARCRAFT: Kriegsverbrechen
Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2858-2

WORLD OF WARCRAFT: Der Untergang der Aspekte
Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2859-9

WORLD OF WARCRAFT: Vol’jin – Schatten der Horde
Michael Stackpole – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2617-5

WORLD OF WARCRAFT: Jaina Prachtmeer – Gezeiten des Krieges
Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2523-9

WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz
Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7

WORLD OF WARCRAFT Band 9: Thrall – Drachendämmerung
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2439-3

WORLD OF WARCRAFT Band 8: Weltenbeben – Die Vorgeschichte zu Cataclysm
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2234-4

WORLD OF WARCRAFT Band 7: Sturmgrimm
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-2051-7

WORLD OF WARCRAFT Band 6: Arthas – Aufstieg des Lichkönigs
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2050-0

WORLD OF WARCRAFT Band 5: Die Nacht des Drachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1792-0

WORLD OF WARCRAFT Band 4: Jenseits des Dunklen Portals
Aaron Rosenberg, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1791-3

WORLD OF WARCRAFT Band 3: Im Strom der Dunkelheit
Aaron Rosenberg – ISBN 978-3-8332-1640-4

WORLD OF WARCRAFT Band 2: Aufstieg der Horde
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1574-2

WORLD OF WARCRAFT Band 1: Teufelskreis
Keith R. A. DeCandido – ISBN 978-3-8332-1465-3

WARCRAFT Band 1: Der Tag des Drachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1266-6

WARCRAFT Band 2: Der Lord der Clans
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1337-3

WARCRAFT Band 3: Der letzte Wächter
Jeff Grubb – ISBN 978-3-8332-1338-0

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 1: Die Quelle der Ewigkeit
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1092-1

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 2: Die Dämonenseele
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1205-5

WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 3: Das Erwachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1202-4

Weitere Infos und Titel unter:
www.paninicomics.de

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Arthas
Aufstieg des Lichkönigs

von Christie Golden

Ins Deutsche übertragen von
Mick Schnelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Amerikanische Originalausgabe: “WORLD OF WARCRAFT: Arthas – Rise of the Lich King” von Christie Golden, erschienen bei Pocket Books/Simon and Schuster, Inc., January 2010.

Deutsche Übersetzung © 2010, 2016 Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © 2016 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten. “WORLD OF WARCRAFT: Arthas”, WORLD OF WARCRAFT, Blizzard Entertainment sind Marken und/oder eingetragene Marken von Blizzard Entertainment, Inc. in den USA und/oder anderen Ländern.

Übersetzung: Mick Schnelle

Lektorat: Manfred Weinland, Dr. Sabine Jansen, Andreas Kasprzak

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Coverabbildung von Glenn Rane

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

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ISBN 978-3-8332-3410-1

Gedruckte Ausgabe:

ISBN 978-3-8332-2050-0

3. Auflage, Novembger 2014

www.paninibooks.de

Dieses Buch ist all denen gewidmet, die Warcraft-Geschichten lieben. Ich hoffe, ihr habt beim Lesen ebenso viel Spaß wie ich beim Schreiben.

PROLOG

Der Traum

Der Wind jammerte und heulte wie ein Kind mit starken Schmerzen.

Die Schaufelhauerherde drängte sich dichter zusammen, um sich zu wärmen. Das dicke, zottige Fell schützte die Tiere vor den schlimmsten Begleiterscheinungen des Sturms. Sie bildeten einen Kreis, in dessen Mitte die jungen Kälber zitterten und blökten. Die Köpfe, allesamt von schwerem Geweih gekrönt, senkten sie der schneebedeckten Erde entgegen. Ihre Augen hielten die Tiere zum Schutz vor den wirbelnden Schneeflocken geschlossen. Zu Eis gefrorener Atem bedeckte die Mäuler, als sie sich hinlegten, um den Sturm duldsam zu ertragen.

In ihren Höhlen warteten die Wölfe und Bären auf das Ende des Wettertobens. Die einen im Schutz ihres Rudels, die anderen allein und schicksalsergeben. So groß ihr Hunger auch sein mochte, nichts würde sie aus den Höhlen hinaustreiben, solange schneidender Wind wütete und dichter Schnee fiel.

Der Wind, der von der See her auf das Dorf Kamagua traf, zerrte an den Fellen, die an Gerüsten befestigt waren, welche man aus den Knochen großer Seewesen geformt hatte. Sobald der Sturm vorbei war, so wussten die Tuskarr, die hier schon seit unzähligen Jahren lebten, würden sie die Netze und Fallen reparieren oder ersetzen müssen. Mochten ihre Hütten auch noch so robust sein, machtvolle Stürme wie dieser beschädigten sie jedes Mal aufs Neue.

Die Tuskarr hatten sich ausnahmslos in der großen Gemeinschaftshütte versammelt, die tief in den Boden eingegraben war. Die Zeltplanen waren fest verzurrt und die Öllampen brannten qualmend.

Atuik, der Älteste, wartete mit stoischer Ruhe. Er hatte in den vergangenen sieben Jahre schon viele dieser Stürme erlebt und es waren beileibe keine gewöhnlichen.

Er war schon sehr alt, wovon sowohl die Länge und Gelbfärbung der Hauer, als auch die Runzeln seiner braunen Haut zeugten.

Er blickte auf die Kinder, die ringsum zitterten. Aber nicht vor Kälte. So etwas taten Turkarr nicht. Es war die nackte Angst, die sie dazu brachte.

„Er … träumt“, murmelte eines der Kleinen. Seine Augen leuchteten, der Bart sträubte sich.

„Still!“, zischte Atuik barscher, als beabsichtigt. Das Kind verstummte erschrocken und fortan war nur noch das Heulen der draußen tobenden Gewalten zu hören.

Wie aus Rauch bildete sich ein tiefer, dröhnender Hall. Er war wortlos, doch voller Bedeutung, ein Gesang, von einem Dutzend Stimmen getragen. Der Klang von Trommeln, Rasseln und klackernden Knochen bildete die wilde Untermalung für das getragene Rufen.

Der größte Teil des Windes wurde durch einen Wall aus Pfosten und Fellen von dem Taunkadorf abgehalten. Und die Hütten, deren gewölbte Dächer den Innenraum, wie um die Elemente herauszufordern, hoch überragten, waren stabil gebaut.

Man konnte den Wind noch über das tiefe, uralte Ritual hinweg hören. Der Tänzer, ein Schamane namens Kamiku, verpatzte einen Schritt und trat ungeschickt mit dem Huf auf. Doch er glich den Patzer aus und tanzte weiter.

Konzentration. Es ging immer um die Konzentration. So machte man sich die Elemente untertan und zwang sie zum Gehorsam. So überlebten die Leute in einem Land, das hart und unversöhnlich war.

Der Schamane geriet beim Tanzen in Wallung. Schweiß verdunkelte sein Fell. Seine großen braunen Augen waren vor Konzentration geschlossen, seine Hufe fanden erneut den mächtigen Rhythmus. Er warf den Kopf zurück, seine kurzen Hörner durchstachen die Luft, der Schwanz zuckte.

Andere tanzten neben ihm. Ihre Körperwärme und die Hitze des Feuers, das trotz der Schneeflocken, die durch die Rauchöffnung im Dach eindrangen, und trotz des Windes brannte, hielten die Hütte warm und behaglich.

Sie alle wussten, was draußen geschah. Sie konnten diese Winde und den Schnee nicht kontrollieren, wie sie es sonst vermochten, denn dies war sein Werk.

Doch sie konnten diesem Angriff zum Trotz tanzen, feiern und lachen. Sie waren Taunkas – sie würden es überstehen.

Die Welt war blauweiß und es stürmte. Doch drinnen in der Großen Halle war es warm und ruhig. Dicke Scheite nährten ein mannshohes Feuer, sein Knistern war das einzige Geräusch. Über dem verzierten Kaminsims, in den Darstellungen von wundersamen Kreaturen geschnitzt waren, befand sich das riesige Geweih eines Schaufelhauers. Geschnitzte Drachenköpfe dienten als Halterungen für die hell lodernden Fackeln. Schwere Balken stützten die Festhalle, die Platz für Dutzende Menschen bot. Das warme, goldgelbe Leuchten drängte die Schatten in die Ecken. Dicke Pelze von Eisbären, Schaufelhauern und anderen Tieren bedeckten den kalten Steinboden.

Ein Tisch, lang, schwer und reich verziert, beanspruchte den meisten Platz im Raum. Drei Dutzend Menschen hätten leicht daran sitzen können. Doch momentan hockten dort nur drei Personen: ein Mann, ein Orc und ein Junge.

Natürlich war diese Szenerie nicht real. Der Mann, der am Ehrenplatz des Tisches auf einem riesigen, erhöhten Stuhl saß, wusste das. Er träumte; er träumte schon seit einer sehr langen Zeit. Die Halle, die Schaufelhauer-Trophäen, das Feuer, der Tisch … der Orc und der Junge … Das alles war nur Teil seines Traums.

Der Orc zu seiner Linken war alt, doch er wirkte immer noch kraftvoll. Das goldgelbe Licht des Feuers und der Fackeln ließ das gespenstische Zeichen flackern, das auf seinem kantigen Gesicht prangte – ein aufgemalter Totenkopf. Er war Schamane gewesen, hatte über gewaltige Kräfte geboten, und selbst jetzt noch, in der Vorstellung des Mannes, wirkte er beeindruckend.

Der Junge war das nicht. Einst mochte er ein hübsches Kind gewesen sein, mit tiefgrünen Augen, heller Haut und goldenem Haar. Aber das war Vergangenheit.

Der Junge war krank. Er war dünn, so abgemagert, dass die Knochen seine Haut zu durchbohren drohten. Die ehemals leuchtenden Augen waren stumpf und lagen tief in den Höhlen. Eine dünne Schicht bedeckte sie. Pusteln überzogen seine Haut, eine grünliche Flüssigkeit sickerte daraus hervor. Das Atmen schien ihm schwerzufallen, und die Brust des Kindes hob und senkte sich unter kleinen keuchenden Atemzügen.

Der Mann glaubte das mühsam arbeitende Herz zu sehen, das eigentlich schon vor langer Zeit versagt haben sollte, doch stetig weiterschlug.

„Er ist immer noch hier“, sagte der Orc und wies mit dem Finger auf den Jungen.

„Er wird nicht bleiben“, sagte der Mann.

Wie um seine Worte zu bestätigen, begann der Junge zu husten. Er spie Blut und Schleim auf den Tisch und wischte sich mit seinem dünnen Arm, der in einem einst edlen, inzwischen aber zerschlissenen Ärmel steckte, über den bleichen Mund. Er lehnte sich zurück und sprach mit stockender Stimme. Offenbar strengte ihn das Reden an.

„Du hast ihn – noch nicht ganz. Und ich werde – dir das beweisen.“

„Du bist genauso närrisch, wie übergeschnappt“, knurrte der Orc. „Diese Schlacht wurde schon vor langer Zeit gewonnen.“

Die Hände des Mannes schlossen sich um die Lehnen des Stuhls, während er den beiden zuhörte. Diesen Traum hatte er während der letzten Jahre immer wieder durchlebt, und mittlerweile war es eher ermüdend, als unterhaltsam. „Ich bin dieses Kampfes überdrüssig. Lasst ihn uns ein für alle Mal beenden.“

Der Orc lächelte den Jungen an; sein Totenschädelgesicht wirkte abscheulich. Der Junge hustete erneut, hielt dem Blick des Orcs aber stand. Langsam und würdevoll richtete er sich auf. Seine milchigen Augen blickten von dem Orc zu dem Mann.

„Ja“, sagte der Orc. „Er führt zu nichts. Bald schon ist die Zeit des Erwachens gekommen. Die Zeit, um erneut in diese Welt vorzudringen.“ Er wandte sich an den Mann und seine Augen leuchteten. „Geh den Weg weiter, den du eingeschlagen hast.“

Der Totenschädel schien sich von seinem Gesicht zu lösen; er schwebte fast darüber, als wäre er ein eigenständiges Wesen. Mit dieser Bewegung veränderte sich der Raum. Die geschnitzten Verzierungen, die einen Augenblick zuvor noch einfache hölzerne Drachen gewesen waren, veränderten sich und erwachten zum Leben. Die Fackeln in ihren Mäulern leuchteten und warfen groteske Schatten, während sich die Häupter schüttelten. Draußen heulte der Wind, als das Tor zur Halle aufflog. Schnee umwehte die drei Gestalten. Der Mann breitete die Arme aus, auf dass der eisige Wind ihn wie einen Mantel umhüllte. Der Orc lachte; der Totenschädel schwebte über seinem von wahnsinniger Freude verzerrten Gesicht.

„Lass dir zeigen, dass deine Bestimmung in mir liegt und du die wahre Macht nur bekommst, wenn du ihn tötest.“

Der zerbrechlich dünne Junge war von einer kalten Windbö aus seinem Stuhl geworfen worden. Jetzt mühte er sich wieder auf die Beine. Er zitterte und sein Atem ging in kurzen Stößen, als er auf den Stuhl zurückkletterte. Er warf dem Mann einen Blick zu – voll von Hoffnung, Angst und … merkwürdiger Entschlossenheit.

„Noch ist nicht alles verloren“, flüsterte er. Und trotz des Gelächters des Orcs und des Totenschädels, trotz des heulenden Windes vermochte der Mann ihn dennoch zu verstehen.

1. TEIL

Der Goldjunge

KAPITEL EINS

„Halt ihren Kopf, so geht das, Junge!“

Die Stute, deren weißes Fell mit Schweiß bedeckt war, verdrehte die Augen und wieherte. Prinz Arthas Menethil, der einzige Sohn von König Terenas Menethil II. und künftiger Herrscher über das Königreich Lordaeron, hielt die Zügel fest umklammert und redete beruhigend auf das Pferd ein.

Das Tier warf wild den Kopf herum und traf dabei beinahe den neunjährigen Prinzen. „Ho, Lichtmähne!“, sagte Arthas. „Ganz ruhig, Mädchen, es ist ja alles gut. Du brauchst keine Angst zu haben.“

Jorum Balnir schnaubte vor Freude. „Ich bezweifle, dass du das noch glauben würdest, wenn etwas von der Größe eines Fohlens aus dir herauskäme, Junge.“

Sein Sohn Jarim kletterte neben seinen Vater und den Prinzen und lachte. Arthas fiel mit ein. Er kicherte ausgelassen, als der feuchtwarme Schaum aus Lichtmähnes Maul auf sein Bein tropfte.

„Nur noch ein Mal, Mädchen“, sagte Balnir und bewegte sich entlang des Pferdekörpers zu der Stelle, wo das Fohlen es bereits zur Hälfte hinaus in die Welt geschafft hatte.

Arthas hätte eigentlich nicht hier sein dürfen. Doch wenn er keinen Unterricht hatte, schlich er sich oft zu Balnirs Hof, um die Pferde, für deren Zucht Balnir bekannt war, zu bewundern und um mit seinem Freund Jarim zu spielen.

Beiden war klar, dass der Sohn eines Pferdezüchters, selbst wenn der regelmäßig Tiere für den königlichen Haushalt lieferte, für einen Prinzen nicht der „passende“ Umgang war. Doch es kümmerte sie nicht und bislang hatte kein Erwachsener ihre Freundschaft beendet.

Also war er hier. Sie hatten Forts gebaut, mit Schneebällen geworfen und Räuber und Gendarm gespielt, als Jorum sie zu sich rief, damit sie das Wunder einer Geburt miterleben konnten.

Das „Wunder der Geburt“ war eigentlich ziemlich eklig, fand Arthas. Er hatte nicht gewusst, dass derart viel … Schleim dabei im Spiel war. Lichtmähne schnaubte und presste erneut; ihre Beine waren steif und standen kerzengerade. Mit einem feuchten Geräusch kam ihr Fohlen in der glänzenden Haut auf die Welt.

Der schwere Kopf der Stute sank auf Arthas’ Schoß und sie schloss für einen Moment die Augen. Ihr Körper hob und senkte sich, während sie Atem schöpfte.

Der Junge lächelte, streichelte den feuchten Hals und die dichte, raue Mähne. Er blickte zu Jarim und seinem Vater, die sich um das Fohlen kümmerten. Zu dieser Jahreszeit war es kühl in den Ställen und nur der warme, feuchte Körper des Neugeborenen dampfte. Mit einem Handtuch und trockenem Stroh rieben Vater und Sohn die Reste der Geburtshaut von dem Fohlen ab, und Arthas merkte, wie sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzog.

Feucht, grau, fast nur aus langen Beinen und großen Augen bestehend, sah sich das Fohlen um und blinzelte im dämmrigen Licht der Laternen. Die großen braunen Augen ruhten auf Arthas. Du bist wunderschön, dachte Arthas. Sein Atem stockte und ihm wurde zum ersten Mal bewusst, dass das allseits gerühmte „Wunder der Geburt“ tatsächlich mehr als wundersam war.

Lichtmähne stellte sich auf die Füße. Arthas stand ebenfalls auf und drückte sich gegen die hölzerne Wand des Stalls, damit sich das große Tier umdrehen konnte, ohne ihn zu zerquetschen. Die Mutter und das Neugeborene beschnüffelten sich, dann schnaubte Lichtmähne und begann damit, ihr Fohlen mit der langen Zunge abzulecken und zu säubern.

„He, Junge, du siehst ein wenig mitgenommen aus“, sagte Jorum.

Arthas blickte an sich herab und sein Herz sank. Er war mit Stroh und Pferdespeichel bedeckt. Arthas zuckte mit den Achseln. „Vielleicht sollte ich in eine Schneewehe hüpfen, bevor ich zum Palast zurückgehe“, meinte er und lächelte. Während er sich säuberte, sagte er: „Keine Sorge. Ich bin schon neun, kein Baby mehr. Ich kann hingehen, wohin ich …“

Die Hühner gackerten und die dröhnende Stimme eines Mannes ertönte. Arthas entglitten die Gesichtszüge. Er straffte die schmalen Schultern, unternahm einen angestrengten, letztlich jedoch vergeblichen Versuch, das Stroh abzuklopfen, und trat aus der Scheune.

„Sire Uther“, sagte er mit seiner besten Ich bin ein Prinz und das solltest du bedenken-Stimme. „Diese Leute waren sehr freundlich zu mir. Ich beschwöre Euch, zertrampelt nicht ihr Geflügel.“

Oder ihre Löwenmaulbeete, dachte er und blickte auf die schneebedeckten Haufen aufgeworfener Erde, wo die wunderschönen Blumen, die Vara Balnirs ganzer Stolz waren, in ein paar Monaten blühen würden. Er hörte, wie ihm Jorum und Jarim nach draußen folgten, doch er sah sich nicht um. Stattdessen erblickte er den Ritter, vollständig gekleidet in eine …

„Rüstung!“, schnappte Arthas. „Was ist geschehen?“

„Das erzähle ich Euch unterwegs“, sagte Uther grimmig. „Ich schicke jemanden, der Euer Pferd holt, Prinz Arthas. Sturmfest ist schneller, selbst, wenn er uns beide tragen muss.“ Seine große Hand legte sich auf Arthas Arm und er zog den Jungen zu sich hinauf, als wöge er nichts.

Vara war beim Geräusch des herangaloppierenden Pferdes aus dem Haus gelaufen. Sie wischte die Hände an einem Handtuch ab und hatte Mehlreste an der Nase. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen, sie blickte besorgt zu ihrem Ehemann hinüber. Uther nickte ihr höflich zu.

„Wir reden später darüber“, sagte Uther. „Mylady.“ Er berührte seine Stirn mit der gepanzerten Hand zu einem höflichen Gruß, dann trieb er sein Pferd Sturmfest an – das ebenso wie sein Reiter in voller Rüstung steckte –, und das Tier preschte los.

Uthers Arm lag wie eine Stahlfessel um Arthas Hüfte. Angst stieg in dem Jungen auf, doch er unterdrückte sie, während er gegen Uthers Arm ankämpfte. „Ich weiß, wie man reitet“, sagte er, wobei seine Gereiztheit seine Besorgnis übertünchte. „Sagt mir, was los ist.“

„Ein Reiter ist von Süderstade gekommen. Er brachte schlechte Nachrichten. Vor ein paar Tagen sind Boote voll mit Flüchtlingen aus Sturmwind an unserer Küste gelandet“, sagte Uther. Er zog seinen Arm nicht zurück. Arthas gab den Kampf dagegen auf und reckte den Hals. Dabei lauschte er angestrengt. Seine meergrünen Augen waren aufgerissen, sein Blick hing an Uthers grimmigem Gesicht. „Sturmwind ist gefallen.“

„Was? Sturmwind? Wer steckt dahinter? Was …“

„Das werden wir in Kürze herausfinden. Die Überlebenden, darunter Prinz Varian, werden von einem der ehemaligen Helden Sturmwinds angeführt, Lord Anduin Lothar. Er, Prinz Varian und ein paar andere kommen in ein paar Tagen in die Hauptstadt. Lothar hat uns vorgewarnt, dass er beunruhigende Neuigkeiten überbringt – was offensichtlich ist, wenn Sturmwind zerstört wurde. Ich wurde ausgeschickt, um nach Euch zu suchen und Euch zurückzubringen. Ihr solltet Euch in dieser Situation Eure Zeit nicht mit dem gemeinen Volk vertreiben.“

Gebannt drehte sich Arthas um und blickte wieder nach vorn. Seine Hände hielten Sturmfests Mähne umschlossen.

Sturmwind! Er war noch nie dort gewesen, doch er hatte Geschichten darüber gehört. Es war ein mächtiger Ort, mit großen Steinmauern und wunderschönen Gebäuden. Er war stabil gebaut worden, um den wilden Winden standzuhalten, denen er seinen Namen verdankte. Unvorstellbar auch nur daran zu denken, dass er gefallen sein könnte. Wer oder was wäre stark genug, um solch eine Stadt einzunehmen? „Wie viele Leute waren dabei?“, fragte er, dabei hob er seine Stimme lauter an, als beabsichtigt, um über den Hufschlag gehört zu werden.

„Das weiß ich nicht. Es sind nicht wenige, so viel steht fest. Der Bote sagte, es wären alle, die überlebt haben.“

Die was überlebt hatten?

„Und Prinz Varian?“ Er hatte sein ganzes Leben lang von Varian gehört, so wie er natürlich auch alle anderen Namen der benachbarten Könige, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen kannte. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Uther hatte Varian erwähnt, doch nicht den Vater des Prinzen, König Llane …

„Er wird schon bald König Varian werden. König Llane ist mit Sturmwind gefallen.“

Diese Nachricht eines Einzelschicksals traf Arthas irgendwie härter als der Gedanke an Tausende Menschen, die plötzlich ohne Heimat waren. Arthas’ eigene Familie stand sich sehr nah – er, seine Schwester Calia, seine Mutter, Königin Lianne, und natürlich König Terenas. Er hatte schon erlebt, wie lieblos einige Herrscher mit ihren Familien umgingen, und wusste, dass seine Familie bemerkenswert engen Kontakt pflegte. Die eigene Stadt verloren zu haben, die eigene Lebensart und den eigenen Vater …

„Armer Varian“, sagte er und Tränen des Mitgefühls füllten seine Augen.

Uther klopfte ihm auf die Schulter. „Aye“, sagte er. „Es ist ein schwarzer Tag für den Jungen.“

Arthas schauderte mit einem Mal, was nichts mit der Kühle des Wintertages zu tun hatte. Der schöne Nachmittag mit dem blauen Himmel über der sanft gewellten, schneebedeckten Landschaft hatte sich plötzlich für ihn verdüstert.

Ein paar Tage später stand Arthas auf den Zinnen der Burg, leistete Falric, einer der Wachen, Gesellschaft und reichte ihm eine Tasse mit dampfend heißem Tee. Solche Besuche, wie Arthas sie Balnirs Familie, den Küchenmädchen der Burg, den Dienern, den Hufschmieden und praktisch jedem Untergebenen abstattete, waren nichts Ungewöhnliches. Terenas kommentierte es stets mit Stoßseufzern, doch Arthas wusste, dass niemand nur dafür bestraft wurde, dass er mit ihm sprach, und oft fragte er sich, ob sein Vater dieses Verhalten nicht insgeheim sogar befürwortete.

Falric lächelte dankbar und verbeugte sich tief vor aufrichtigem Respekt. Dabei zog er seine Handschuhe aus, damit er sich die kalten Hände wärmen konnte. Schnee drohte zu fallen, der Himmel war hellgrau. Dennoch war das Wetter klar. Arthas lehnte sich gegen die Mauer und legte sein Kinn auf die verschränkten Arme. Er blickte über die gewellten weißen Hügel von Tirisfal, in Richtung der Straße, die durch den Silberwald nach Süderstade führte. Die Straße, über die Anduin Lothar, der Magier Khadgar und Prinz Varian kommen würden.

„Ist schon etwas von ihnen zu sehen?“

„Nein, Eure Hoheit“, antwortete Falric und trank von dem heißen Tee. „Es könnte heute sein, morgen, oder übermorgen. Wenn Ihr hofft, einen Blick auf sie werfen zu können, Sire, müsst Ihr vielleicht noch ein Weilchen warten.“

Arthas lächelte ihn an, seine Augen blitzten vor Übermut. „Das ist besser als Unterricht“, sagte er.

„Nun, Sire, das wisst Ihr besser als ich“, sagte Falric diplomatisch, wobei er gegen den Drang zu lachen ankämpfte.

Während die Wache den Tee austrank, seufzte Arthas und spähte die Straße hinab, so wie er es schon ein Dutzend Mal zuvor getan hatte. Zuerst war das aufregend gewesen, doch nun begann er sich zu langweilen. Er wollte gehen und nachsehen, wie es Lichtmähnes Fohlen ging, und überlegte, wie schwierig es wäre, für ein paar Stunden zu entwischen, ohne dass man es bemerkte. Falric hatte recht. Lothar und Varian konnten noch ein paar Tagesreisen entfernt sein, wenn …

Arthas blinzelte. Er hob langsam sein Kinn von den Händen und verengte die Augen.

„Sie kommen!“, rief er ein paar Herzschläge später.

Falric war augenblicklich bei ihm, den Tee vergaß er. Er nickte.

„Scharfe Augen, Prinz Arthas! Marwyn!“ Ein weiterer Soldat eilte herbei. „Los, berichte dem König, dass Lothar und Varian kommen. Sie sollten binnen einer Stunde hier sein.“

„Aye, Herr Hauptmann!“ Der jüngere Mann salutierte.

„Ich mache das! Ich gehe!“, sagte Arthas und rannte bereits los, noch während er sprach. Marwyn zögerte und blickte zu seinem Vorgesetzten, doch Arthas wollte vor ihm im Thronsaal sein. Er rannte die Stufen hinab, rutschte über das Eis und legte den Rest des Weges auf ebenso verwegene Weise zurück. Er überquerte den Hof und geriet, als er den Thronsaal erreichte, ins Schlittern. Gerade noch rechtzeitig dachte er daran, dass er sich beruhigen musste. Heute war der Tag, an dem sich Terenas mit den Vertretern des Volkes traf, um sich ihre Sorgen anzuhören und ihnen, soweit es in seiner Macht stand, zu helfen.

Arthas warf die Kapuze seines schön bestickten roten Umhangs aus Runenstoff zurück. Er atmete tief ein, stieß die Luft durch die Lippen als feinen Nebel aus und nickte, als er die beiden Wachen erreichte, die ihn zackig grüßten und sich umwandten, um ihm die Tür zu öffnen.

Im Thronsaal war es deutlich wärmer als im Hof, auch, wenn es ein großer Raum aus Marmor und Stein mit einer hohen Kuppeldecke war. Selbst an einem bewölkten Tag wie heute ließ das achteckige Fenster an der Spitze der Kuppel ausreichend Tageslicht herein. Die Fackeln in den Halterungen an der Wand brannten stetig und spendeten sowohl Wärme, als auch einen goldgelben Farbton. Ein komplexes Muster aus Kreisen umgab das Siegel von Lordaeron auf dem Boden, das nun verborgen unter den versammelten Menschen lag, die allesamt respektvoll darauf warteten, vor ihren Herrscher zu treten.

Auf einem edelsteinbesetzten Thron, der auf einer Empore stand, saß König Terenas II. Sein blondes Haar war an den Schläfen von Grau durchzogen und in seinem Gesicht waren leichte Falten, die mehr vom Lächeln zeugten als von Sorgen. Sorgen, die ihre Spuren ebenso auf der Seele wie auf Gesichtern hinterließen.

Er trug ein gut geschnittenes, blauviolettes Gewand, das von glänzenden Goldstickereien durchwirkt war. Sie fingen das Licht der Fackeln ein und spiegelten sich auf der Krone. Terenas beugte sich gerade vor und unterhielt sich konzentriert mit einem vor ihm stehenden Mann – einem niederen Adeligen, an dessen Namen sich Arthas im Moment nicht erinnern konnte. Seine tiefblauen Augen waren auf den Mann gerichtet.

Wohl wissend, wessen Ankunft er verkünden würde, sah Arthas seinen Vater einen Moment lang einfach nur an. Wie Varian war er der Sohn eines Königs, ein Prinz von Geburt. Doch Varian hatte keinen Vater mehr und Arthas spürte, wie ihm ein Kloß im Hals steckte, als er an die Zeit dachte, wenn dieser Thron hier einst verwaist wäre, wenn Klagegesänge für Terenas angestimmt würden …

Beim Licht, lass diesen Tag noch weit, weit entfernt sein.

Vielleicht spürte Terenas den intensiven Blick seines Sohnes, denn er blickte zur Tür. Seine Augen funkelten vergnügt, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Bittsteller zu.

Arthas räusperte sich und trat vor. „Entschuldigt die Unterbrechung, Vater, sie kommen. Ich habe sie gesehen! Sie sollten binnen einer Stunde hier sein.“

Terenas schien ernüchtert. Er wusste, wer mit „sie“ gemeint war. Dann nickte er. „Danke, mein Sohn.“

Die versammelten Menschen sahen einander an, die meisten wussten ebenfalls, wer „sie“ waren, und die Versammlung begann sich aufzulösen, als sei die Audienz vorbei.

Terenas hob die Hand. „Nein. Das Wetter hält sich und die Straßen sind frei. Unsere Besucher sind erst da, wenn sie tatsächlich hier eintreffen, und keinen Moment früher. Bis dahin sollten wir fortfahren.“ Er lächelte reumütig. „Ich vermute, dass Zusammenkünfte wie diese danach selten sein werden. Erledigen wir so viel, wie wir können, bevor das geschieht.“

Arthas blickte seinen Vater stolz an. Deshalb liebten die Menschen Terenas so – und das war auch der Grund, warum der König normalerweise die Abenteuer seines Sohnes unter dem gemeinen Volk tolerierte. Terenas war sein Volk wirklich wichtig, und seinem Sohn hatte er dieses Gefühl anerzogen.

„Soll ich vorausreiten, um sie zu empfangen, Vater?“

Terenas sah seinen Sohn einen Augenblick lang prüfend an, dann schüttelte er den blonden Kopf. „Nein. Ich glaube, es ist das Beste, wenn du bei diesem Treffen nicht mit dabei bist.“

Arthas war wie vom Donner gerührt. Nicht daran teilnehmen? Er war schließlich neun Jahre alt! Etwas wirklich Schlimmes war einem wichtigen Verbündeten zugestoßen und ein Junge, der kaum älter war als er, hatte seinen Vater dabei verloren. Er spürte plötzliche Wut. Warum beschützte sein Vater ihn dermaßen? Warum durfte er nicht an wichtigen Besprechungen teilnehmen?

Er unterdrückte die Antwort, die ihm auf den Lippen gelegen hätte, wenn er mit Terenas allein gewesen wäre. Es wäre nicht gut, mit seinem Vater vor all diesen Leuten zu streiten. Auch, wenn Arthas wusste, dass er völlig im Recht war. Er atmete tief ein, verneigte sich und ging.

Eine Stunde später hatte es sich Arthas Menethil auf einem der vielen Balkone bequem gemacht, die über dem Thronsaal aufragten. Er lächelte in sich hinein und zappelte aufgeregt. Er war immer noch klein genug, um sich unter den Sitzen zu verstecken, falls jemand den Balkon kontrollieren sollte. In ein oder zwei Jahren würde er das nicht mehr können.

Aber in ein, zwei Jahren wird Vater auch einsehen, dass ich es verdiene, an solchen Sitzungen teilzunehmen, und ich muss mich gar nicht mehr verstecken.

Der Gedanke beruhigte ihn. Er rollte seinen Umhang zusammen und benutzte ihn als Kissen, während er wartete. Der Raum wurde von den Kohlepfannen, Fackeln und den vielen Leuten beheizt. Die Wärme und das beruhigende Murmeln der Stimmen machten ihn müde und er schlief fast ein.

„Eure Majestät.“

Die Stimme, mächtig und wohlklingend, ließ Arthas aufwachen.

„Ich bin Anduin Lothar, Ritter aus Sturmwind.“

Sie waren da! Lord Anduin Lothar, der ehemalige Held von Sturmwind …

Arthas kam unter dem Sitz hervorgekrochen und erhob sich vorsichtig. Dabei versicherte er sich, dass er von dem blauen Vorhang verdeckt wurde, der den Balkon umgab, und spähte hinaus.

Lothar war mit jedem Zoll ein Krieger, dachte Arthas, als er den Mann betrachtete. Groß und kräftig gebaut, trug er die schwere Rüstung mit einer Leichtigkeit, die zeigte, dass er an ihr Gewicht gewöhnt war. Obwohl er einen dichten Schnurrbart trug, war sein Schädel fast kahl. Die wenigen verbliebenen Haare waren zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden. Neben ihm stand ein alter Mann in einem violetten Gewand.

Arthas Blick fiel auf den Jungen, der nur Prinz Varian Wrynn sein konnte. Er war groß, schlaksig, hatte aber breite Schultern, die andeuteten, dass der schmale Körper eines Tages kräftiger werden würde. Er wirkte bleich und erschöpft. Arthas zuckte, als er den Jungen ansah, der ein paar Jahre älter war als er. Er wirkte verloren, allein und verängstigt. Als der Junge angesprochen wurde, riss er sich zusammen und gab höflich die erforderlichen Antworten. Terenas war geübt darin, anderen Menschen Selbstsicherheit zu vermitteln. Schnell entließ er alle, bis auf ein paar Höflinge und Wachen, und erhob sich von seinem Thron, um die Besucher zu begrüßen.

„Bitte, behaltet Platz“, sagte er und entschied sich, nicht auf dem beeindruckenden Thron sitzen zu bleiben, wie es sein Recht gewesen wäre. Stattdessen setzte er sich auf die oberste Stufe der Empore. In einer väterlichen Geste zog er Varian zu sich herab.

Arthas lächelte.

Versteckt beobachtete der junge Prinz von Lordaeron und hörte genau zu. Die Worte, die zu ihm heraufdrangen, klangen beinahe fantastisch. Als er diesen mächtigen Krieger aus Sturmwind betrachtete – mehr noch, als er das bleiche Gesicht des zukünftigen Königs dieses ruhmreichen Reichs betrachtete –, erkannte Arthas mit einem beklemmenden Gefühl, dass dies alles keine Einbildung war. Es war tödlicher Ernst und es war erschreckend.

Die versammelten Männer redeten von Kreaturen, die sie „Orcs“ nannten und die irgendwie in Azeroth erschienen waren. Groß, grün, mit Hauern als Zähnen und nach Blut dürstend, hatten sie eine „Horde“ gebildet, die sich wie eine unaufhaltsame Flut ausbreitete.

„Genug, um das Land von Küste zu Küste zu überziehen“, hatte Lothar düster berichtet.

Diese Monster hatten Sturmwind angegriffen und aus den Bewohnern Flüchtlinge – oder Tote, wie Arthas begriff – gemacht. Es wurde etwas lauter, als einige Höflinge Lothar nicht glauben wollten. Lothar erregte sich, doch Terenas entschärfte die Situation und schloss die Versammlung. „Ich werde die Könige der Nachbarreiche zusammenrufen“, sagte er. „Dies betrifft uns alle. Eure Majestät, ich biete Euch mein Heim und meinen Schutz, solange es nötig ist.“

Arthas lächelte. Varian würde hierbleiben, im Palast, zusammen mit ihm. Es wäre schön, einen anderen adeligen Jungen zu haben, mit dem er spielen konnte. Er kam gut mit Calia aus, die zwei Jahre älter war als er, aber sie war dennoch ein Mädchen. Und obwohl er Jarim gern hatte, wusste er doch, dass die Gelegenheiten, miteinander zu spielen, zwangsläufig begrenzt waren. Varian dagegen war ein geborener Prinz, so wie Arthas, und sie konnten miteinander trainieren, reiten und auf Erkundungen gehen …

„Ihr wollt, dass wir uns auf einen Krieg vorbereiten.“ Die Stimme seines Vaters schnitt brutal in seine Gedanken und Arthas’ Stimmung verdüsterte sich wieder.

„Ja“, antwortete Lothar. „Auf einen Krieg, bei dem es um das Überleben unserer Art geht.“

Arthas schluckte schwer, dann verließ er den Balkon so leise, wie er gekommen war.

Wie Arthas es erwartet hatte, wurde Prinz Varian kurze Zeit später das Gästequartier gezeigt. Terenas persönlich geleitete den Jungen und legte eine Hand auf dessen Schulter. Wenn es ihn überraschte, dass sein Sohn im Gästequartier wartete, dann zeigte er es nicht.

„Arthas. Das hier ist Prinz Varian Wrynn, der künftige König von Sturmwind.“

Arthas verneigte sich vor dem Gleichgestellten. „Eure Hoheit“, sagte er förmlich. „Ich heiße Euch in Lordaeron willkommen. Ich wünschte nur, die Umstände wären glücklicher.“

Varian erwiderte die Verneigung höflich. „Wie ich König Terenas bereits sagte, bin ich dankbar für Eure Hilfe und Freundschaft in solch schwierigen Zeiten.“

Seine Stimme klang steif, angespannt, müde. Arthas sah den Umhang, die Tunika und die Hose, die aus Runen- und Magierstoff bestanden und wunderschön bestickt waren. Sie wirkten, als hätte Varian sie sein halbes Leben lang getragen, so schmutzig, wie sie waren. Sein Gesicht war offensichtlich gewaschen, doch es gab Dreckspuren an den Schläfen und unter den Fingernägeln.

„Ich werde ein paar Diener mit ein wenig Essen, Handtüchern, heißem Wasser und einer Wanne schicken, damit Ihr Euch erfrischen könnt, Prinz Varian.“ Terenas verwendete weiterhin den Titel des Jungen. Das würde sich im Laufe der Zeit ändern, doch Arthas wusste, warum sein Vater sich so verhielt. Varian sollte wissen, dass man ihn immer noch respektierte, er immer noch königlich war, obwohl er alles außer seinem Leben verloren hatte.

Varian presste die Lippen zusammen und nickte. „Danke“, sagte er schließlich.

„Arthas, ich gebe ihn in deine Obhut.“ Terenas drückte tröstend Varians Schulter. Dann ging er und schloss die Tür.

Die beiden Jungen musterten sich gegenseitig. Arthas’ Geist war völlig leer. Die Stille zog sich unangenehm lange hin. Schließlich platzte Arthas heraus: „Das mit deinem Vater tut mir leid.“

Varian fuhr zusammen, wandte sich ab und ging zu den großen Fenstern, vor denen sich der Lordameresee ausbreitete. Es hatte zu schneien begonnen, die Flocken sanken langsam zu Boden und bedeckten das Land mit einem weißen Tuch. Das war schade – an einem klaren Tag konnte man bis zur Festung Fenris blicken.

„Danke.“

„Ich bin sicher, er hat mutig gekämpft und sein Bestes gegeben.“

„Er wurde ermordet.“ Varians Stimme war dumpf und emotionslos. Arthas wirbelte herum und blickte ihn schockiert an. Seine Gesichtszüge, die Arthas nun im Profil sah und die durch das kalte Licht des Wintertages erhellt wurden, waren unnatürlich ruhig. Nur seine braunen Augen, blutunterlaufen und voller Schmerz, schienen lebendig. „Eine vertraute Freundin arrangierte ein Treffen mit ihr allein. Dann tötete sie ihn. Stach ihm mitten ins Herz.“

Arthas blickte ihn an. Der Tod in einer glorreichen Schlacht war schon schwer genug zu ertragen, aber dies …

Impulsiv legte er eine Hand auf den Arm des Prinzen. „Ich habe gestern gesehen, wie ein Fohlen geboren wurde“, sagte er. Es klang verrückt, aber es war das Erste, was ihm einfiel, und er sprach mit vollem Ernst. „Wenn das Wetter besser wird, zeige ich es dir. Das ist wirklich eine tolle Sache.“

Varian drehte sich zu ihm um und blickte ihn einen Moment lang an. Gefühle verwandelten sein Gesicht – Beleidigung, Unglaube, Dankbarkeit, Sehnsucht, Verstehen.

Plötzlich füllten sich seine braunen Augen mit Tränen und Varian sah weg. Er verschränkte die Arme und schlang sie um sich, seine Schultern, zitterte. Er schluchzte und tat sein Bestes, um die Gefühlsaufwallung zu verbergen. Sie brach sich trotzdem Bahn. Es waren schroffe, abgehackte Klagelaute, die um einen Vater trauerten, ein Königreich, eine Lebensart, deren Verlust er vielleicht bis zu diesem Moment noch nicht richtig realisiert hatte. Arthas drückte seine Arme und stellte fest, dass sie sich unter seinen Händen hart wie Stein anfühlten.

„Ich hasse den Winter“, schluchzte Varian. Diese drei Worte zeigten die Tiefe seines Schmerzes – ein scheinbarer Gedankensprung, der Arthas beschämte. Unfähig, solch rohen Schmerz zu erleben, machtlos, etwas dagegen zu tun, ließ er die Hände sinken, wandte sich ab und blickte aus dem Fenster.

Draußen fiel derweil unentwegt der Schnee.