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Für Dagny

Ein Leben ohne Bier ist möglich,
aber nicht sinnvoll.

Bayerischer Sinnspruch

1

Außer einem Knurren herrschte Stille. Die Augustsonne hatte ihren Namen nicht verdient, unentschlossen schien sie durch die frisch geputzten Fenster der beiden Diensträume. Was für ein dummer Sommer, ärgerte sich der Sonderdezernatsleiter. Wieder knurrte sein Magen. Ein tiefer, grummelnder Ton, der ihm das Denken verleidete. Er schielte durch die offene Tür in den Nebenraum. Obwohl er Hunger als nichts Peinliches empfand, verspürte er Unbehagen. Er wollte das nicht. Wollte eben keinen Hunger haben, sondern satt sein, um seine Arbeit verrichten zu können. Es waren genügend Fälle auf dem Schreibtisch, die seine Aufmerksamkeit forderten. Sein Denkvermögen war jedoch auf einem Tiefpunkt. So war es nun einmal. Manchmal, sagte er sich, half es, sich abzulenken. Er stand auf und ging, die Hände in den Hosentaschen vergraben, zum Fenster. Zeki Demirbileks Blick wanderte unstet über die Bäume im Hof. Dann setzte er sich wieder, nur um abermals aufzustehen, denn völlig unvermittelt zog der dezente Duft von Kaffee herein. Er sehnte sich nach einer Tasse Espresso, dazu mindestens ein Liter Wasser. Erneut begab er sich zum Fenster. Im Hof entdeckte er Kollege Schneider von der Sitte. In der einen Hand hielt er einen Becher, vermutlich mit Kaffee gefüllt, in der anderen eine Quarktasche. Zu Zekis Glück fiel ihm eine Ungereimtheit bei einem aktuellen Fall ein. Schneider konnte da vielleicht helfen. Er beschloss, sich die Beine zu vertreten und ganz zufällig Schneider über den Weg zu laufen. Möglicherweise hatte er nützliche Hinweise zu einem Animierschuppen am Hauptbahnhof, der in einem Tötungsdelikt eine Rolle spielte.

»Ich bin mal unten im Hof«, ließ er seine zwei Mitarbeiterinnen wissen und durchquerte das Büro. Sein Sakko blieb über dem Stuhl hängen, er trug ein hellbraunes Hemd zu einer schwarzen Hose.

Isabel Vierkant und Jale Cengiz, die sich den vorderen Raum teilten, sahen verdutzt von ihren Unterlagen hoch. Beide hatten das brummende Knurren seines Magens gehört und beäugten sich besorgt. Sie wussten, wie sehr das seit drei Wochen andauernde Fasten ihm das Leben und die Arbeit schwermachte. Cengiz hatte ihrer Kollegin erklärt, dass der islamische Fastenmonat nach dem Mondkalender berechnet wurde und sich von Jahr zu Jahr um rund zehn Tage verschob. Heuer mussten die Gläubigen im Hochsommer unter Beweis stellen, wie nahe sie sich Allah fühlten. Manche – wie ihr Chef – betrachteten Ramadan auch als willkommenen Anlass, überflüssige Kilos loszuwerden.

Als das Telefon läutete, hatte sich Vierkant wieder ihrem vertrackten Bericht zugewandt. Cengiz war in den Stapel ungeklärter Fälle vertieft. Auf Anweisung Demirbileks durchstöberte sie alte Ermittlungsakten auf der Suche nach Delikten, die dem Anforderungsprofil des Sonderdezernats Migra entsprachen – Kapitalverbrechen, bei denen Opfer oder Täter einen Migrationshintergrund aufwiesen. Um beim Anrufer den Eindruck zu erwecken, die Migra ersticke in Arbeit, wartete sie ab. Drei Mal zerriss das schrille Telefonläuten die Nachmittagsstille, bevor sie zum Hörer griff.

»Polizeipräsidium München, Sonderdezernat Migra. Sie sprechen mit Jale Cengiz. Was kann ich für Sie tun?«, grüßte sie mit tiefer, lässiger Telefonstimme.

Belustigt schüttelte Vierkant den Kopf über ihre Kollegin, die immer ihre Tonlage verstellte, wenn sie in einen Hörer sprach. Sie beobachtete, wie sich Cengiz’ Miene zu einem interessierten Erstaunen änderte. Die Beamtin mit dem Kurzhaarschnitt machte sich Notizen. Währenddessen klemmte sie sich den Hörer unter das Kinn und griff mit der freien Hand nach der schwarzen Jeansjacke.

»Danke. Wir kümmern uns darum«, sagte Cengiz schließlich und reichte der Kollegin den Zettel.

»Und?« Vierkant verdrehte die Augen bei dem Versuch, die Notizen zu entziffern. War das Türkisch oder Deutsch? »Kann ich nicht lesen, Jale.«

»Ein Toter liegt im Wittelsbacher Brunnen.«

»Im Wittelsbacher?«, fragte Vierkant mit verblüffter Stimme.

»Wieso?«

Vierkant war klar, dass ihre Kollegin München noch nicht gut genug kannte.

»Der Brunnen ist mitten in der Stadt. Links und rechts mehrspurige Straßen. Da ertrinkt man nicht einfach.«

»Werde es ja gleich sehen. Jedenfalls besteht Verdacht auf Migrationshintergrund. Könnte jemand nachgeholfen haben«, fasste Cengiz das Telefonat zusammen.

»Aha«, erwiderte Isabel. »Dann hol Demirbilek auf dem Weg zum Auto ab. Ich bleibe hier, ich will endlich den Bericht fertigmachen.«

Während sich Vierkant wieder dem Dokument auf ihrem Monitor zuwandte, puderte Cengiz ihr Gesicht nach. Ihr Teint hatte eine natürliche Brauntönung. Die etwas zu groß geratene Nase war zu Schulzeiten Anlass für Hänseleien gewesen. Doch seit sie die Pubertät überstanden hatte, empfand sie das hervorstechendste Merkmal in ihrem Gesicht als Ausdruck ihrer Persönlichkeit: besonders und auffällig.

»Ruf gleich an, wenn ihr mich braucht«, gab ihr Vierkant mit auf den Weg. Es amüsierte sie, wie die Deutschtürkin vor der Tür ihre Hose etwas nach unten zog, damit ihr gutgebauter Hintern besser zur Geltung kam. Eine feminine Erscheinung war Cengiz wichtig, auch wenn sie immer eine gebührende Distanz zu den Kollegen hielt. Jales Einstellung zu Männern kannte Vierkant, obwohl die beiden erst seit einigen Wochen zusammenarbeiteten. Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden. Isabel, die aus Niederbayern stammte und als ruhige, umsichtige Beamtin geschätzt wurde, und Jale, die in Berlin geboren war und ihr türkisches Temperament mit der Berliner Schnauze gewinnbringend zu verbinden wusste.

»Du bist die Erste, die erfährt, wenn die Leiche uns gehört. Versprochen«, witzelte Cengiz, bevor sie ging.

Vierkant widmete sich wieder dem Bericht. Es fiel ihr schwer, niederzuschreiben, wie ein bosnischer Gebrauchtwagenhändler zur Strecke gebracht worden war. Sie suchte nach passenden Formulierungen, schob dabei gedankenverloren eine ihrer schokoladenbraunen Haarsträhnen aus dem Gesicht, als ihr auf dem Monitor etwas auffiel. In ihrer Konzentration ignorierte sie den mit schwarzen Härchen übersäten Zeigefinger. Erst durch die dazugehörige Stimme wurde ihr bewusst, nicht mehr allein im Büro zu sein.

»Sie haben in der zweiten Zeile ›Auto‹ mit ›Ä‹ geschrieben«, hörte sie hinter sich Demirbilek meckern.

Der Schrecken fuhr ihr durch Mark und Bein.

»Bitte machen Sie das nie wieder!«, schrie sie entsetzt auf. »Seit wann stehen Sie überhaupt hinter mir?«

»Lange genug, um festzustellen, dass der Bericht nicht fertig ist.«

»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!«, schrie sie ein weiteres Mal auf und bekreuzigte sich, um ihre Fassung wiederzuerlangen.

»Wo ist Jale?«, fragte er barsch. Er hatte beim Plausch mit Schneider weder die erhofften Informationen noch seine innere Unruhe in den Griff bekommen.

Vierkant stutzte. Offenbar war ihre Kollegin allein losgefahren, um die Leiche in Augenschein zu nehmen. »Sie wollte Sie unten abholen. Vielleicht hat sie Sie nicht gefunden.«

»Und wo ist sie jetzt, wenn sie mich nicht gefunden hat?«

Vierkant erzählte vom Anruf. Demirbilek verzichtete darauf, sich über Jale aufzuregen. Stattdessen holte er sein Sakko, steckte das Handy ein und griff nach dem Autoschlüssel.

»Kommen Sie«, sagte er und warf seiner Mitarbeiterin den Schlüsselbund zu. »Sie fahren.«

2

Pius Leipold, langgedienter Kriminalbeamter im Münchner Polizeipräsidium, war von Statur und Wirkung her das genaue Gegenteil seines Kollegen Zeki Demirbilek. Leicht rundlich wie ein Bierfass, trug er stets eine schäbige Lederjacke und zierte seinen einundvierzigjährigen Körper mit einem goldenen Ohrring, den er seit dem sechzehnten Lebensjahr in dem selbstgestochenen Loch trug.

Leipold hatte beschlossen, früher Schluss zu machen. Er hatte sich den morgigen Freitag freigenommen, um die Veranstaltung, die er am Abend besuchen wollte, in vollen Zügen genießen zu können. Seine Lust, zu arbeiten, hielt sich ohnehin in Grenzen. Die zweiundvierzig offenen Fälle mussten eben warten. Wie üblich vor Dienstende schweifte sein Blick über den Schreibtisch. Er überlegte, ob er das Chaos aufräumen sollte, vertagte das Vorhaben jedoch – wie meistens.

»Was ist? Kommt ihr zwei heute Abend jetzt mit?«, rief er seinen engsten Mitarbeitern Helmut Herkamer und Ferdinand Stern leicht ungehalten zu.

Die beiden saßen im Nebenraum vor einem Videosystem und durchforsteten Überwachungsaufnahmen, um den Tagesablauf einer Taschendiebin zu rekonstruieren. Mit der Lederjacke unter dem Arm gesellte sich Leipold zu ihnen, um selbst ein Auge auf die dreiste Diebin zu werfen, die unter Verdacht stand, ihren Ehemann getötet zu haben.

»Und?«, hakte er nach einer Weile nach. »Jetzt frage ich schon zum dritten Mal. Kommt ihr mit oder nicht? Ich habe keine Lust, allein hinzugehen.«

Herkamer schaltete mit der Fernbedienung das Videogerät aus.

»Zu dem Bierfestival?«, fragte Stern nach. In seiner Stimme lag eine abschätzige Unentschlossenheit. Er blickte hinüber zu Herkamer. Der blickte genauso skeptisch drein wie sein Freund.

»Glaubst du, man muss das Bier ausspucken wie bei einer Weinverkostung?«

»Keine Ahnung«, antwortete Leipold stirnrunzelnd. Die Frage hatte er sich nicht gestellt. Aber die Vorstellung, Bier zu trinken und es nicht die Kehle hinunterlaufen zu lassen, behagte dem Bayern nicht.

»Mir wird das jetzt zu blöd. Entweder seid ihr um acht an der alten Messe, oder ihr lasst es bleiben. Servus. Ich gehe jetzt«, entschied er entnervt und verließ das Dienstbüro.

3

Da kein offizieller Ermittlungsauftrag vorlag, sah Demirbilek davon ab, den Dienstwagen am Lenbachplatz abzustellen. Er dirigierte Vierkant in eine Seitenstraße, wo sie nach langer Suche endlich einen Parkplatz fanden. Beim Aussteigen merkte er, wie entkräftet er war. Warum nur bereitete ihm das Einhalten des Fastenmonats so viel Mühe? Die Hitze war wegen des kümmerlichen Sommers erträglich. Trotzdem spürte er, wie Energie und Konzentration nachließen. Seine Gedanken kreisten um die Frage, weshalb er die Tortur auf sich nahm. Dreißig Tage lang. Von der Morgendämmerung bis zum Einbruch der Nacht war es ihm als Moslem nicht erlaubt, zu essen und zu trinken. Nicht mal eine Breze, wie er sie liebte – mit viel Butter und reichlich Salzkörnern. Auch Sex, Rauchen und sonstige überschwengliche Vergnügungen waren tabu. Ganz zu schweigen davon, während des Fastenmonats auf üble Nachreden, Verleumdungen und Beleidigungen zu verzichten. Lügen war ebenfalls verboten. Demirbilek überlegte, ob die Aufklärungsquote in muslimischen Ländern durch diese Auflage rapide anstieg. Wenn Täter nicht logen, was gab es dann zu ermitteln? Haben Sie das Verbrechen begangen? Ja. Fall gelöst.

Aber so einfach ging es in der Welt nicht zu, auch nicht während des heiligen Fastenmonats. Dem Münchner mit türkischen Wurzeln war bewusst, dass die Enthaltsamkeit ähnlich wie bei den Christen dazu diente, die Sinne für das Wesentliche im irdischen Dasein zu schärfen. Die Nähe Gottes bei den einen, die Nähe Allahs bei den anderen an Körper und Geist zu erfahren. Demirbileks Auffassung über seinen Glauben lag aber eine besondere Auslegung zugrunde. Er nahm die religiösen Maßgaben recht locker. Er trank Alkohol, sei es Bier, Rotwein oder Rakı, aß jeden zweiten Sonntag Schweinebraten, und das vorgeschriebene fünfmalige Beten am Tag stand nicht auf seinem Programm. Manchmal ließ er sich beim Freitagsgebet blicken – wenn es Arbeit und Gemütsverfassung erlaubten. Trotz seines mannigfachen Fehlverhaltens war er überzeugt davon, in Allahs Augen ein guter Moslem zu sein – ein Menschenkind, das nicht anders konnte.

Als er und Vierkant zu Fuß die monumentale Anlage des Wittelsbacher Brunnens erreichten, entdeckte Demirbilek im angrenzenden Park abseits der neugierigen Zaungäste und Kollegen der Spurensicherung Jale Cengiz. Sie kniete mit gebeugtem Oberkörper auf der Wiese, die Jeansjacke, die ihr sein Sohn Aydin geschenkt hatte, lag neben ihr. Wenn ich mich nicht täusche, sagte er sich, übergibt sie sich gerade.

Demirbilek täuschte sich nicht. Cengiz hatte den schauerlichen Anblick der männlichen Leiche nicht ertragen. Sie hatte eine kaum verständliche Entschuldigung gestöhnt, bevor sie vor den Augen der hämisch lachenden Kollegen losgerannt war. Auf halbem Weg zu einer Böschung musste sie anhalten und sich übergeben.

»Vierkant, kümmere dich um Jale. Die ist doch sonst nicht so leicht aus der Fassung zu bringen«, wunderte sich Demirbilek. Während Vierkant zu Cengiz eilte, begab er sich zum Brunnen. Der Tote lag im als Halbkreis geformten Hauptbecken, Fontänen aus den speienden Löchern prasselten in das grünlich schimmernde Wasser. Mit Gummistiefeln standen zwei Kollegen in Plastikoveralls im Becken und hievten den Leichnam heraus, um ihn vorsichtig auf dem abgesperrten Bürgersteig abzulegen. Demirbilek wartete, bis der Polizeifotograf und der Mann an der Videokamera mit den Aufnahmen fertig waren, dann setzte er sich an den Beckenrand und forderte die beiden Männer auf, ihm nicht länger die Sicht zu versperren. Die beiden murmelten eine grantige Erwiderung, verzogen sich jedoch. Mit geschlossenen Augen sprach der Kommissar »Bismillahirrahmanirrahim«, den Vers aus dem Koran, den Muslime im Alltag in allen erdenklichen Situationen verwendeten. Ihm half er, das hektische Treiben und den Verkehrslärm um sich herum auszublenden. Dann konzentrierte er sich auf den Leichnam. Das glückliche Lächeln auf dem Gesicht des Toten verwunderte ihn. Er musste an Erleuchtung und Glückseligkeit denken. Eine eigenwillige Art, sich aus dem Leben zu verabschieden, urteilte er. Auf Anhieb konnte er keine Anzeichen von Gewalt erkennen. Der Mann lag friedlich vor ihm, er war etwa eins siebzig groß. Seine schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Demirbilek schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Auf dem Unterarm hatte er eine Tätowierung, eine abstrakte Darstellung eines tanzenden Derwischs. Der Kommissar hatte seine Fähigkeit, zielgerichtet zu assoziieren, in seiner jahrelangen Ermittlungstätigkeit so weit kultiviert, dass er aus Physiognomie und Tätowierung die Herkunft des Mannes in der Türkei mutmaßte. Er konnte Türke sein. Musste aber nicht, wies er sich zurecht. Gleichzeitig merkte er, wie in ihm eine sinnliche Vorfreude entfacht wurde. Er verspürte Lust, die Umstände, die zum Tod des Mannes geführt hatten, zu untersuchen.

Es gab, wie ihm gleich nach der Ankunft berichtet worden war, keinen Hinweis auf die Identität des Toten. Weder Geldbeutel mit Ausweispapieren oder sonstige Dokumente. Kein Handy. Kein Schlüssel. Keine Jacke. Raubmord war nicht auszuschließen. Oder hatte der Mann seine Wertgegenstände abgelegt, bevor er in das Brunnenbecken stieg? Er schüttelte den Kopf. Nein, das ergab keinen Sinn. Seine Hose hatte er angelassen. Er beugte sich ein Stück vor und zog die triefnasse Jeans ein wenig nach unten. Die Unterhose war schwarz. Mit der hätte er sich ohne weiteres in das Becken wagen können, urteilte der Kommissar. Dann hob er den Kopf und blickte sich um. Mehrspurige Straßen säumten den klassizistischen Brunnen. Das Verkehrsaufkommen in der Innenstadt war hoch. Auch nachts. In der Umgebung gab es einige Bars und Clubs. Durch den Park konnten Passanten gekommen sein. Wer wohl die Leiche gefunden hat?, fragte er sich. Schließlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf das, was ihm sofort ins Auge gestochen war. Die linke Hand des Toten umklammerte den Henkel eines zerbrochenen steinernen Bierkrugs. Er beäugte das Gefäß. Auf dem Bruchstück ließ ein geschnörkeltes Wappen in Retro-Design die gute alte Zeit hochleben. Der einzige einigermaßen entzifferbare Buchstabe schien ein M zu sein.

»Kennt jemand von euch eine Brauerei, die mit M anfängt?«, fragte der Kommissar mit erhobener Stimme.

Die Kollegen packten gerade die Arbeitsutensilien zusammen. Einer der beiden jungen Mitarbeiter, die den Toten aus dem Brunnen gehoben hatten, fühlte sich trotzdem angesprochen. Er kam näher und kniete sich zum Kommissar.

»Hab ein paarmal im Oktoberfest als Sanitäter gearbeitet. Diesen Geruch kenne ich und das Gegrinse auch. Bierleichen haben so ein Lächeln auf den Lippen. Habe mich auch schon gefragt, wie der an den Bierkrug gekommen ist«, sagte er mit kollegialer Stimme, aus der Demirbilek heraushörte, nach Meinung des jungen Mannes auf der richtigen Fährte zu sein. Er wollte ihm schon unmissverständlich klarmachen, für ein Fachgespräch nicht in Stimmung zu sein, als er mit ansehen musste, wie der Beamte allen Ernstes eine Leberkässemmel hervorzauberte.

»Hatte kein Mittagessen«, erklärte er, bevor er mit Genuss einen Bissen nahm, der für zwei gereicht hätte.

Demirbileks Magensäfte reagierten wie die Fontänen des Springbrunnens auf den Reiz des wohlduftenden Imbisses. Speichel strömte wasserfallartig in den Mundraum. Er schluckte schwer, ließ sich jedoch nicht anmerken, dass er dem Mann mit der Statur eines Zehnkampfathleten am liebsten das Essen aus der Hand gerissen hätte. Nicht um es selbst zu essen, dazu wäre er nicht in der Lage gewesen – er hatte mit Allah eine Abmachung. O nein. Aus reiner Bosheit, weil der Mann essen durfte und er nicht. Statt seine Gedanken in die Tat umzusetzen, wartete er geduldig, bis er fertiggekaut und heruntergeschluckt hatte.

»Ich glaube, ich habe das mal auf einem Fest getrunken. War nicht schlecht, wenn es das war«, sagte er schließlich und biss erneut von der Semmel ab.

Wenn Demirbilek etwas hasste, dann Informationen, die nichts wert waren.

»Habt ihr die restlichen Scherben gefunden?«

»Im Brunnen ist nichts«, schmatzte der Spurensicherer und trollte sich davon.

Demirbilek schaufelte Wasser aus dem Brunnenbecken in sein Gesicht, um sich zu erfrischen. Wie Funken einer Wunderkerze tanzten die Reflexionen der Sonnenstrahlen auf dem Wasser und beschossen seine Netzhaut. Er musste sich anstrengen, um weiter nachdenken zu können. Was war mit dem Mann passiert? Wollte er sich mit dem Bierkrug im Brunnen erfrischen, wie er gerade eben? Ist er dabei gefallen und liegen geblieben? Warum aber waren dann die fehlenden Scherben des Kruges nicht im Brunnen? War er womöglich tatsächlich betrunken gewesen? Eine Bierleiche, wie der Kollege mit der Leberkässemmel meinte?

4

Etwa fünfzig Meter entfernt vom Toten erholte sich Jale allmählich. Isabel kramte aus ihrer riesigen Umhängetasche, in der sie alles aufbewahrte, was eine Frau und Polizistin brauchen konnte, Feuchttücher hervor. Jale nahm zwei von den nach Zitrone duftenden Tüchern und wischte sich Hände sowie Mund sauber. Isabel ahnte, dass etwas nicht stimmte, als sie in Jales dankbares, aber ebenso verstörtes Gesicht blickte.

»Das hat nichts mit der Leiche zu tun, oder?«, fragte sie rundheraus.

Jale schniefte, um ihre Verwunderung zu überspielen. Dann antwortete sie mit tonloser Stimme: »Ich bin überfällig.«

»Wie lange schon?«

»Keine Ahnung, ein paar Tage.«

Isabel dachte an ihren Ehemann Peter, der sehnsüchtig darauf wartete, Vater zu werden.

»Du sagst dem Chef nichts, Isabel. Wahrscheinlich ist es falscher Alarm«, stieß die Deutschtürkin eindringlich hervor.

»Ach was! Natürlich nicht!«, erwiderte sie und erklärte sich Jales unnötige Vorsicht mit ihrer augenscheinlichen Nervosität.

Die zwei Frauen hingen einen Moment lang ihren Gedanken nach. Isabel war vierunddreißig, knapp zehn Jahre älter als Jale. Beide wussten voneinander, dass ein Kind Teil ihrer Lebensplanung war. Beide waren auch der Auffassung, dass die beruflichen Umstände derzeit dagegen sprachen, Mutter zu werden. Beinahe gleichzeitig blickten sie zu Demirbilek hinüber. Jale war am zweiten Tag bei der Migra seiner Einladung gefolgt, in das ehemalige Zimmer seiner Tochter zu ziehen, bis sie eine bezahlbare Bleibe in München gefunden hatte. Das Schicksal wollte es, dass zur selben Zeit der Sohn ihres Chefs aus Istanbul gekommen war, um für ein Jahr bei ihm zu wohnen und an der Musikakademie zu studieren. Jale und Aydin verliebten sich ineinander. Aufgrund der unvorhersehbaren Entwicklung hatte Demirbilek ihr angeboten, zu bleiben. Jales unverwüstliches Selbstbewusstsein ließ darüber hinaus die Vermutung reifen, als mögliche Schwiegertochter willkommen zu sein.

Inzwischen hatte der Kommissar eingesehen, mit seinen Spekulationen nicht weiterzukommen. Der Obduktionsbericht musste die Entscheidung herbeiführen, ob sein Sonderdezernat die Todesumstände aufklären sollte oder nicht. Er sah auf die Uhr. Noch fast vier Stunden bis zum Sonnenuntergang – bis ihn eine Butterbreze und eine Flasche Wasser von seinen Qualen erlösen würde. Wie soll ich das nur schaffen, sorgte er sich und sah zu Jale und Isabel. Während seine Mitarbeiterinnen auf ihn zuschritten, überkam ihn eine seiner spontanen Eingebungen. Eine jener Ideen, die er ausbrütete, wenn er meinte, unausgelastet zu sein.

»Hier gibt es nichts weiter zu tun«, eröffnete er den beiden, die erstaunt stehen blieben. Schließlich hatte Cengiz noch keine Gelegenheit gehabt, Informationen aus erster Hand von den Kollegen einzuholen.

»Kann ich …«, setzte sie an und bekam eine von Demirbileks verbalen Attacken zu spüren.

»Nein, kannst du nicht«, erwiderte der Chef auf eine Art, die der mögliche Schwiegervater niemals zugelassen hätte. Nach der klaren Feststellung wandte er sich an Vierkant. »Keine Überstunden heute. Du und ich machen jetzt Schluss. Nimm den Wagen und fahr nach Hause. Koch mal was Schönes für deinen Mann. Der wird sich sicher freuen.« An Cengiz gerichtet: »Geh die Vermisstenanzeigen durch. Wenn du nichts findest, mach eine Liste mit allen Brauereien, die mit M anfangen. Der Tote hat einen zerbrochenen Steinkrug in der Hand. Schieß am besten ein Foto. Der Krug muss eine Bedeutung haben, egal, ob er ertrunken ist oder Fremdverschulden vorliegt.«

Dann deutete er mit ausgestrecktem Zeigefinger zum gegenüberliegenden Gebäude – der Münchner Börse. »Da oben hängt mindestens eine Überwachungskamera. Sicher gibt es ein paar mehr in der Umgebung. Geh spazieren und sieh dich um.«

Cengiz folgte zwar mit den Augen seinem Zeigefinger, aber innerlich rotierte sie.

Kaum hatte Demirbilek seine Anweisungen gegeben, drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand.

Seine beiden Mitarbeiterinnen sahen ihm verdutzt hinterher.

»Du hättest ihm Bescheid geben müssen …« Isabel brach mitten im Satz ab. Jales giftiger Blick durchbohrte sie. Sie verzichtete lieber darauf, eine Erklärung für Demirbileks Verhalten zu geben.

»Ach was! Ich habe doch nach ihm gesucht! Unten im Hof! Und vorne auf der Straße!«, regte sich Jale auf. »Es ist ja schon schlimm genug, wenn er nicht fastet. Aber mit leerem Magen glaubt er erst recht, er sei wirklich ein Pascha und wir die Damen seines Hofstaates. Fehlt noch, dass er uns nach jeder Einsatzbesprechung einen Bauchtanz vorführen lässt.« Mit diesen Worten stakste Jale wutschnaubend davon.

Isabel brauchte nicht lange, bis sie entschieden hatte, auf dem Viktualienmarkt Leberknödel für eine Suppe einzukaufen und dazu einen Kaiserschmarrn zu machen. Sie freute sich darauf, einen schönen Abend mit ihrem Mann zu verbringen.

5

Wenigstens im Friseurgeschäft seines Landsmannes käme niemand auf die Idee, vor seinen Augen zu essen oder zu trinken, war es Zeki in den Sinn gekommen. Nun folgte er seiner Eingebung, den überfälligen Haarschnitt zu erledigen. Nachdem er mit der Trambahn vom Stachus bis zum Mariahilfplatz gefahren war, ging er mit bedächtigen Schritten den Fußweg zum Nockherberg hoch. Er verdrängte die Idee, dem Biergarten einen Besuch abzustatten. Er hatte noch sechs Tage bis zum Ende der Fastenzeit zu überstehen. Sechs Tage, bis er wieder ein Weißbier trinken durfte.

Bei seinem Friseur Hamit, den er seit vielen Jahren aufsuchte, war nicht viel Betrieb. Der nüchtern eingerichtete Laden war dreigeteilt. Im großen Raum gab es drei Sessel für den Männerbereich, weitere zwei Plätze waren für Frauen vorgesehen. Auf einer kleinen Theke standen die Kasse und ein Laptop. Ein türkischer Radiosender lief. Durch zwei Treppenstufen abgesetzt, eröffnete sich im hinteren Bereich ein weiterer Raum. Wenn der Vorhang zugezogen war, bediente Hamits Frau Hatice dort Kundinnen, die nicht bei der Behandlung gesehen werden wollten. Offenbar waren der Kundin, der Hatice gerade Härchen auf den Wangenknochen auszupfte, unziemliche Blicke gleichgültig. Zeki tippte auf Italienerin.

Hatice grüßte mit einem Nicken, da sie mit den Zähnen einen Faden festhielt, um genug Zug für die Schlaufe zu haben, mit der sie die Härchen aus der Haut riss. Hatices geschmeidige Bewegungen faszinierten den Kommissar. Die Frau mit Kopftuch und weitem Rock galt als Meisterin in der Zunft, Haaren den Garaus zu machen. Sie rasierte, zupfte mit Pinzette, wachste mit klebrigen Eigenkreationen oder benutzte dazu sogar einen Spezialfaden aus Anatolien.

»Hoş geldiniz, Komiser Bey«, begrüßte Hamit den Kommissar erfreut. Er bat ihn, auf einem freien Sessel Platz zu nehmen. Der Friseur scherte gerade mit einem surrenden Langhaarschneider einem jungen Kunden die Haare. Hässlich kurz. Mit betretener Miene verfolgte der Junge im Spiegel, wie seine schwarzen Locken auf dem Boden landeten. Möglicherweise eine Strafaktion des Vaters, schoss es Zeki durch den Kopf. Er hatte die ersten zwölf Lebensjahre in Istanbul verbracht. Als Junge musste er die demütigende Prozedur drei Mal über sich ergehen lassen. Mit Schrecken erinnerte er sich an jedes einzelne Mal. Sein Vater war mit einem Glas çay neben dem Friseur gestanden und hatte mit Argusaugen überwacht, ob er seine Arbeit ordentlich verrichtete. Vom Sessel aus beobachtete Zeki voller Mitgefühl, wie der vielleicht dreizehnjährige Junge mit den Tränen kämpfte.

»Ne oldu, oğlum?«, erkundigte er sich auf Türkisch, was passiert war. Der Junge brachte kein Wort heraus. Er schluchzte mehrmals. Da nahm Zeki das Glas auf der Ablage und stand auf. Er wusch es mit den Fingern unter dem laufenden Wasser sauber und füllte es. Dann ging er zu ihm. Hamit machte einen Schritt zur Seite, damit er ihm das Glas reichen konnte.

»Was ist passiert?«, wiederholte er auf Deutsch.

Der Junge trank das Wasser in einem Zug aus und schnappte nach Luft. »Nichts.«

»Nichts?«, fragte Zeki skeptisch nach und sah zu Hamit. Der zuckte mit den Achseln und fuhr dem Jungen mit der flachen Hand durch das übriggebliebene Haar.

»Seine Mutter hat ihn gebracht, zwei Millimeter und kein Stück länger.«

Zeki sah nach unten: Ein Berg schwarzer Locken kräuselte sich auf dem gekachelten Fußboden. Dann schälte er sich aus seinem Sakko und setzte sich wieder an seinen Platz. Der verstohlene Blick des Jungen irritierte den Kommissar. Erst allmählich dämmerte ihm, warum er sich vor ihm zu fürchten schien.

»Ich bin nicht deinetwegen hier«, sagte er dem Jungen, der spürte, dass Zeki seine Gedanken erraten hatte. »Also, was hast du angestellt?«

Hamit beendete mit einem Klick das Surren des Langhaarschneiders. Türkischsprachige Radiowerbung aus dem Laptop erfüllte leise den Raum. Zeki überkam das Gefühl, in Istanbul zu sein.

»Muss ich das sagen, weil du ein Kommissar bist?«, fragte der Junge zurück und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ein in der Türkei großgezogener Bub hätte es niemals gewagt, ihn zu duzen, dachte Zeki. Die Selbstsicherheit in der piepsigen Stimme ließ ihn zudem vermuten, dass er es faustdick hinter den Ohren hatte. Er machte sich Sorgen, den Bengel in ein paar Jahren zu seinen anderen Taugenichtsen zählen zu müssen. Aus persönlicher Erfahrung wusste er, dass im Leben eines Heranwachsenden Schlüsselerlebnisse wegweisende Bedeutung haben konnten. Er selbst hatte die Polizeilaufbahn eingeschlagen, weil er wie ein Besessener einen Mitschüler, der einer Freundin übel mitgespielt hatte, zu überführen versuchte. Er drohte durch das Abitur zu rasseln, hätte ihn sein Vater nicht vorher vom Gymnasium genommen und auf die Polizeischule geschickt.

»Du musst mir gar nichts sagen«, antwortete er. »Ich kann mich mit Hamit auch über Fenerbahçe unterhalten.«

»Ich bin FC-Bayern-Fan«, machte der Junge klar.

»Das bin ich auch«, freute sich Zeki antworten zu können. Obwohl seine beiden Lieblingsvereine nicht unterschiedlicher sein konnten, hing sein Herz an beiden.

»Das geht gar nicht! Zwei Vereine!«, spottete der Junge dagegen. Er schien sich von seiner Strafe zusehends zu erholen.

»Warum nicht?«, gab Zeki zurück. »Besser Anhänger von zwei guten Vereinen als ein …«

»Sechziger«, unterbrach der junge Fußballfan.

Hamit und Zeki schmunzelten über die verquere Feststellung, die der Kommissar mit dem Jungen gemeinsam aufgestellt hatte.

Der Friseur schaltete den Langhaarschneider wieder an und beendete wie ein Maler mit dicken Pinselstrichen seine grobe Arbeit. Als er fertig war, riss der Junge das geblümte Tuch vom Körper und sprang auf. Verunstaltet wie ein Sträfling, lief er Zeki direkt in die Arme, der sich ihm in den Weg gestellt hatte. Er zog seinen Dienstausweis hervor. Nicht grundlos hatte der Bengel mit dem frechen Gesicht die Aussage verweigert. Zeki wollte ihm verdeutlichen, dass es besser war, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Der Junge beäugte das amtliche Dokument und grinste mit spitzbübischem Lächeln, das Zeki voll und ganz vereinnahmte. Auf der Stelle verlor er die Fassung und ersetzte seinen grimmigen Gesichtsausdruck durch ein hilfloses Lächeln.

»Du kannst mir gar nichts, Herr Kommissar, weil ich nämlich gar nicht strafmündig bin«, schnauzte ihn der Junge sodann neunmalklug an und huschte flink wie ein Teejunge auf dem Bazar aus dem Geschäft.

Hamit ließ es sich nicht nehmen, ihm trotz des Ramadans ein paar türkische Flüche hinterherzuschreien, während Zeki kopfschüttelnd sein Konterfei im Spiegel betrachtete. Er sah müde aus. Er gähnte.

Der Friseur machte eine mitfühlende Geste in den Spiegel. »Ich bin heute auch müde, Zeki. Das liegt am Wetter. Wann haben wir hier den letzten guten Sommer erlebt?«

Er legte das Tuch unter das Kinn seines Kunden und band es im Nacken zusammen. Hamit hatte in Izmir sein Handwerk gelernt. Er war stolz darauf, sich kuaför nennen zu können und kein Friseur im deutschen Sinne zu sein. Mit zehn Jahren hatte er bei seinem Onkel angefangen, den Beruf zu erlernen. Er beherrschte weit mehr als das Handwerk des Haarschneidens.

Zeki verfolgte über das Spiegelbild, wie Hamit seine Haare nass spritzte und zur Schere griff. Der Langhaarschneider kam nicht in Frage.

»Weißt du, was der Junge angestellt hat?«, fragte Zeki nach einer Weile und schloss die Augen. Das gleichmäßige Klappern der Schere verhielt sich rhythmisch zur türkischen Popmusik aus dem Internetradio.

Hamit hielt inne. »Musst du das wirklich wissen?«

In seiner Stimme schwang die Hoffnung mit, dass sein Kunde nicht auf eine Antwort bestand.

Zeki fixierte den kuaför. Seinen Gesichtsausdruck interpretierte er als Respekt vor den Rechten des Jungen, gleichzeitig drückte es Sorge darüber aus, weil er etwas angestellt hatte, was der Kommissar besser nicht erfuhr. Zeki entschied sich, ihn nicht weiter zu bedrängen, stattdessen lehnte er sich zurück und schloss erneut die Augen.

Hamit war mit dem Haarschnitt zu Ende; er begann vorsichtig, seine Augenbrauen auf eine vernünftige Länge zurückzustutzen. Anschließend klopfte er ihm auf den Rücken und führte ihn zum Waschbecken. Dort massierte er beim Haarewaschen den Kopf. Länger als üblich. Zeki war Stammkunde. Als er auch damit fertig war, führte er ihn wieder zum Platz vor dem Spiegel und holte eine Art Gabel mit Wattebausch aus der Schublade. Er befeuchtete seine Finger, bevor er mit einem Feuerzeug den in Spiritus getauchten Bausch entflammte. Mit peitschenden Bewegungen schnalzte er die Flamme über Zekis Ohren und Wangen und versengte die Härchen. Bevor es auf der Haut schmerzen konnte, fuhr er mit den feuchten Fingern über die behandelten Stellen. Der vertraute Geruch von verbranntem Haar stieg in Zekis Nase. Er schloss abermals die Augen und vertraute sich weiter dem handwerklichen Geschick seines kuaförs an. Vor allem auf die Arm- und Rückenmassage am Ende freute er sich besonders.

6

Manuela Weigl hatte Fieber. Sie lag an dem frühen Abend im Bett ihrer Einzimmerwohnung und wälzte sich von der einen Seite zur anderen. Schweiß entwich aus den Poren ihres zwanzigjährigen, schönen Körpers und durchsetzte den Baumwollstoff des Nachthemdes. Manuela fühlte sich elendig und einsam. Zwei Meter vor ihr auf einem niedrigen Tisch stand der Fernseher. Grässliche Fratzen kreischten durch ihren Kopf. Verängstigt schaltete sie den Bildschirm aus und griff zum Glas mit Multivitaminsaft, in dem sie kurz zuvor zwei Aspirin aufgelöst hatte. In Erwartung des bitteren Geschmacks nahm sie einen Schluck von dem orangefarbenen Getränk. Es dauerte einen Augenblick, bis sie merkte, wie der klebrige Saft in ihrem Mund Übelkeit auslöste. Sie zog die Decke zur Seite und richtete sich langsam auf. Ihr Magen machte sich bemerkbar. Nur mit letzter Kraft bewältigte sie die wenigen Schritte bis zum Badezimmer.

In dem weiß gekachelten Raum blieb sie verdattert stehen. Die Übelkeit war vergessen. Sie starrte auf das Dirndl auf dem Bügel. Schlagartig musste sie an Florian denken. Er hatte vollkommen unerwartet Schluss gemacht. Nach gerade mal einer Woche. Drei Mal hatten sie sich getroffen. Heimlich, wie er es wollte. Drei Mal Sex gehabt. Und dann war Schluss. Während sie in Tränen ausgebrochen war, hatte er ihre Wange getätschelt und geraunt, sie sei jung und würde darüber hinwegkommen. Im Badezimmerspiegel begutachtete sie ihr mitgenommenes Gesicht. Die blonden Haare reichten ihr bis zur Schulter. Die Pupillen ihrer grüngrauen Augen waren verengt. Was für ein armseliges Bild du abgibst, stellte sie voll Selbstmitleid fest. Im selben Moment übergab sie sich.

Das Fieber interessierte sie nicht mehr, als sie nach der Dusche im Schlafzimmerschrank nach Unterwäsche suchte. Sie fand nichts Passendes und zitterte bei der Idee, die sie hatte. Spontan holte sie aus dem Wäschekorb den Slip und Büstenhalter vom Vortag. Sie hatte sich erkundigt. Sie wusste, Florian würde die Abschlussveranstaltung besuchen. Die marineblaue Spitzenunterwäsche war sein Geschenk gewesen. Ein Abschiedsgeschenk, verbesserte sie sich. Er hatte sie auf seine gewisse Art bei der Übergabe angelächelt. Sie ahnte, was er erwartete. Langsam hatte sie ihre Jeans aufgeknöpft und heruntergestreift. Danach den Rest abgelegt, bis sie nackt vor ihm stand. Ebenso langsam schlüpfte sie vor seinen gierigen Augen in die seidene Spitzenunterwäsche. Sie spürte noch einmal, wie sie gemeinsam zum Höhepunkt kamen und sich küssten, spürte noch mal die Liebe, die sie empfand. Er dagegen, so war sie sich im Nachhinein sicher, hatte nur an Sex gedacht und wie er sie wieder loswerden konnte.

Wie von Sinnen lachte sie bei dem Gedanken auf, dass er es vorher und nachher mit einer alten Schachtel getrieben hatte. Sie wusste Bescheid. Sie war ihm heimlich gefolgt und hatte beobachtet, wie er mit ihr im Nymphenburger Park spazieren gegangen war. Hass loderte auf, als sie die beiden Hand in Hand in das Café schlendern sah. Ekel ergriff sie bei der Vorstellung, dass er das alte Weib bevorzugte. Dass er ihre verschrumpelte, verwelkte Haut streichelte. Dass er in einer perversen Beziehung lebte und sie ausgenutzt hatte. Für zwischendurch, als Abwechslung. Im Gegenwert für Spitzenunterwäsche aus dem Sonderangebot.

Der Wutschrei hallte durch das Badezimmer, er kam aus tiefstem, gebrochenem Herzen. Erst als sie ein tröstender Gedanke durchströmte, gewann sie ihre Fassung wieder. Kampflustig wie eine Amazone beschloss sie, ihm sein Geschenk zurückzugeben. Dabei sollte er sie anfassen, sollte fühlen, wie jung ihr Körper war, wie prall und voller Leben. Hastig zog sie sich erneut aus und trat in die Duschkabine. Mit großer Sorgfalt rasierte sie sich die Beine nach und formte aus ihren Schamhaaren einen zwei Zentimeter breiten Streifen – so wie er es gernhatte.

Dann schminkte sie sich und legte das extravagante, etwas zu enge Dirndl an; sie hatte es für den besonderen Abend von ihrer besten Freundin geliehen, weil es perfekt zu ihren zu zwei Zöpfen geflochtenen Haaren passte. Das Make-up trug sie dezent auf, den Kajal deutlich und prägnant. Der Lippenstift glänzte rot wie ein Ferrari.

Zufrieden mit ihrer erotischen Ausstrahlung, suchte sie sodann im Wohnzimmerschrank nach dem Elektroschocker, den sie sich nach einem Zwischenfall auf dem Oktoberfest angeschafft hatte. Sie verstaute das kleine Gerät in ihrer Handtasche und begab sich zur Kochnische, um für den Abend eine weitere Vorkehrung zu treffen. Mit ruhiger Hand füllte sie ein Weinglas mit Olivenöl und trank die zähe Flüssigkeit mit kleinen Schlucken aus. Sie spürte, wie sich das Öl schützend in ihrem Magen ausbreitete. Nicht zum ersten Mal sorgte sie auf diese Art dafür, dass sie nicht zu schnell betrunken wurde. Dann war sie so weit, mit den Männern zu trinken und Florian Dietl die Demütigung heimzuzahlen. Eine Frau wie sie ließ man nicht ungestraft sitzen – vor allem nicht wegen einer, die ihre Mutter sein konnte.

7

Nach der entspannenden Massage schlug Zeki den Fußgängerweg am Bergsteig ein. Er musste noch zwei lange Stunden bis zum Fastenbrechen überstehen. Nach Hause drängte es ihn nicht, weil die Nähe zum Inhalt des Kühlschranks die Qualen nur weiter verstärken würde. Er griff in die Hosentasche, um das zweite Taschentuch für diesen Tag in Anspruch zu nehmen. Zu seiner Freude hatte er jenes eingesteckt, das er bei seinem letzten Besuch in Istanbul gekauft hatte. Die klassische, gestreifte Musterung hatte ihm auf Anhieb gefallen; die Qualität des Stoffes war exzellent und schmeichelte der Haut. Er überlegte, ob er seine Neuerwerbung zur Reinigung geben sollte, statt es mit der Hand zu waschen, wie er es für gewöhnlich tat. Mit einem Kopfschütteln über die überzogene Idee entschied er, die Marotte mit den Taschentüchern nicht zu übertreiben. An der Straßenkreuzung – keine hundert Meter entfernt von dem Wirtshaus, wo er weder Schweinebraten noch Weißbier zu bestellen gedachte, sondern mit dem Lesen einer Zeitung die Zeit bis zum Fastenbrechen totschlagen wollte – blieb er stehen. Er spürte, wie der Blutdruck in seinem Körper die Schlagzahl erhöhte. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, bevor er die Fassung verlor.

»Lassen Sie das!«

Zekis Stimme hatte sich überschlagen. Irritiert blickte sich ein Paar um, das sich den frühen Abend mit einem Spaziergang versüßte. Die Politesse jedoch, die Zeki mit seinem Aufschrei von ihrem unerhörten Vorhaben abzubringen versuchte, dachte nicht daran, sich in der Ausübung ihrer Pflicht unterbrechen zu lassen. Sie fütterte ihren tragbaren Kleincomputer mit den Daten des Nummernschildes eines falsch parkenden Autos. Zeki war auf den ersten Blick klar, dass die Glücklichen, die den festlich geschmückten Hochzeitswagen abgestellt hatten, Landsleute sein mussten. Ein Wimpel mit türkischer Flagge war an der Antenne befestigt. Rosengesteck auf der Motorhaube. Miniatur-Gebetsteppiche auf der Ablage vorne und hinten. Zeki konnte nicht umhin, seine Landsleute ob des zur Schau gestellten Kitsches zu tadeln.

»Das können Sie doch nicht machen«, echauffierte er sich, als er die Politesse erreichte. »Was tun Sie da?«, fragte er erbost weiter und griff ohne Vorwarnung nach dem Gerät, um es der verdutzten Frau aus der Hand zu reißen.

Mit offenem Mund starrte die Politesse den schwarzhaarigen Mann an. Seine voluminösen Augenbrauen dominierten das offene, sympathisch wirkende Gesicht, und wahrscheinlich bemerkte sie zum ersten Mal, wie sehr Augenbrauen den Charakter eines Menschen prägten.

»Sie geben mir das auf der Stelle zurück!«, forderte sie nicht ganz so bedacht, wie sie es in Antiaggressions-Schulungen gelernt hatte. Als ihr Gegenüber keine Reaktion zeigte, holte sie sich kurzerhand den Kleincomputer zurück. Froh, es wieder in Händen zu halten, fragte sie mit bewusst freundlicher Stimme: »Sind Sie der Halter des Fahrzeugs?« Dabei schielte sie auf das Display. Das Autokennzeichen war noch gespeichert.

»Sehe ich aus wie der Bräutigam oder der Chauffeur?«, erwiderte Zeki unwirsch, schalt sich aber zugleich dafür, sich wieder einmal einzumischen. Was geht dich das an, wenn die Kollegin – und das war die hübsche Frau im gewissen Sinne – ihre Arbeit machte.

»Dann kennen Sie das Hochzeitspaar?«, fragte diese weiter, während der Strafzettel ausgedruckt wurde.

»Nein. Aber ich weiß, wie teuer Hochzeiten sind«, antwortete er gereizt und ließ die Frau stehen.

Sie blickte ihm nach, als wäre sie vor der Trauung am Altar sitzengelassen worden.

Zeki erspähte einen einladenden Tisch mit Sonnenschirm vor dem Wirtshaus. Kaum hatte er, innerlich noch aufgewühlt, Platz genommen, entdeckte ihn die Kellnerin. Er sah sie zum ersten Mal, obwohl er das Wirtshaus öfter aufsuchte. Eine Aushilfe, vermutete er. Wie eine Dampflok steuerte die Kellnerin mit der in Kunstleder eingeschlagenen Speisekarte auf ihn zu. Das einstudierte Grinsen entwich aus ihrem Gesicht, als er sich anmaßte, nur die Tageszeitung zu bestellen.

»Umsonst Zeitung lesen kannst in der Stadtbibliothek. Die ist gleich da vorne, Tegernseer Landstraße«, informierte ihn die Frau wie unter Schock und fügte ironisch hinzu: »Der Tisch gehört zu einem Wirtshaus. Hier wird gegessen und getrunken. Was kriegen wir denn?«

Der abschätzige Blick und die schlechten Zähne zerrten an Zekis Nerven. Ihm wurde leicht übel. Unwillkürlich musste er an Jale denken, wie sie sich am Brunnen übergeben hatte. Ob sie wohl schon etwas über den Steinkrug in Erfahrung gebracht hatte?

»Danke für die Aufklärung. Sag dem Wirt, der Zeki ist da und will Zeitung lesen.«

»Der Chef ist außer Haus«, ließ sie den Mann mit der orientalischen Aura wissen. »Also, was trinken wir jetzt? Wollen wir ein Bier oder eine Schorle zur Zeitung vielleicht?«

Besser, sich auf das herablassende Niveau der Kellnerin einzulassen, als darauf zu spekulieren, wie ein Stammgast behandelt zu werden, entschied Zeki.

»Wir wollen, dass du dich jetzt schleichst und mit einer Halben Weißbier und Zeitungen zurückkommst«, entgegnete er barsch, um keine weitere Erwiderung zu erhalten.

Mit einem siegesgewissen Grinsen nahm die Kellnerin die Bestellung entgegen und tapste mit unfreiwillig komisch wirkenden Schritten in das Wirtshaus zurück.

Als Zeki wieder allein war, blinzelte er in die Abendsonne. Er spürte eine wohltuende Portion Wut in sich. Auch wenn die Frau recht hatte, wollte er nicht, dass sie recht behielt. Gleichzeitig besann er sich, den Kampf mit dem Bierdrachen nicht gewinnen zu können, ohne sie vor dem Wirt, mit dem er seit vielen Jahren eine Freundschaft pflegte, bloßzustellen. Er kramte aus seiner Hosentasche ein Bündel Scheine, suchte nach einem 5-Euro-Schein, zögerte einen Moment und legte zwei davon auf den Tisch, bevor er den Heimweg antrat.

Kurz darauf tauchte die Kellnerin mit dem Weißbier und dem Stapel Zeitungen unter dem Arm am leeren Tisch wieder auf. Verblüffung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Grantig, wie eine bayerische Kellnerin nun mal sein konnte, wollte sie schon aufschreien, als sie die zwei Geldscheine auf dem Tisch registrierte. Anerkennend nickte sie.

»Wenigstens hat er Anstand, der Ausländer«, murmelte sie vor sich hin, blickte sich verstohlen um und nahm einen ordentlichen Schluck von dem kühlen Weißbier, das sie allein schon aus Berufsehre nicht ungeleert zurücktragen wollte.

8

»Ich habe heute Abend was vor, baba. Tut mir leid«, antwortete Özlem ihrem Vater am Telefon.

Der Kommissar hatte bei seiner Tochter angerufen, um sie zum Fastenbrechen zu überreden. Sie wohnte in der Nähe, und er hatte keine Lust, allein in einem Lokal essen zu gehen. Der Tisch in seiner Küche war gedeckt. Oliven, Schafskäse und Weißbrot natürlich. Sucuk, die türkische Rindswurst, war bereits klein geschnitten, um in der Pfanne angebraten zu werden. Zwei Liter Wasser warteten darauf, getrunken zu werden. Seine Gedanken waren die vergangene halbe Stunde um nichts anderes als um seinen Durst gekreist.

»Kein Problem, mein Kind«, sagte er mit gespielter Beiläufigkeit. »Weißt du, was Aydin und Jale machen?«

»Ja«, erwiderte sie mit einem tiefen Seufzer. »Ich treffe sie um halb zehn am Königsplatz.«

Zeki hörte aus ihrer Stimme heraus, wie sie versuchte, ihm etwas zu verheimlichen, und beschloss, neugierig zu sein. Schließlich war er ihr Vater.

»Open Air?«

»Eine Hollywood-Schmonzette. Gefällt dir bestimmt nicht«, setzte Özlem schnell nach.

Natürlich zeigte Zeki Verständnis für seine neunzehn Jahre alten Zwillingskinder, die nicht darauf versessen waren, ihn mitzunehmen. Um aber seinem Ruf als eigenbrötlerischer Zeitgenosse gerecht zu werden, schwieg er bedeutsam.

»Da gibt es Bier vom Fass, die Verlockung wäre zu groß«, wandte Özlem schließlich ein.

Zeki hüstelte, um zu überspielen, wie sehr ihn die unerwartete Begründung erschrak. »Danke für dein Mitgefühl, geliebte Tochter! Sag den zweien, sie sollen leise sein, wenn sie nach Hause kommen. Viel Spaß bei dem Film.«

Kaum hatte er aufgelegt, läutete sein Diensthandy im Flur. Auf dem Weg dorthin blickte er auf die Küchenuhr, Viertel vor neun – noch sechs Minuten bis zum Fastenbrechen. Entnervt zog er das Handy aus dem Sakko. Im Display blinkte Jales Büronummer auf.

»Jale, was gibt es? Es ist spät«, brummte er in den Apparat.

»Ging nicht schneller.«

»Und?«

»Auf den Überwachungsvideos von der Börse und zwei weiterer Gebäude war nichts. Ich habe über den Brauereiverband erfahren, dass es in Deutschland rund eintausendsechshundert Brauereien gibt. Raten Sie mal, wie viele es allein in Bayern gibt.«

»Ich habe keine Lust, zu raten, Jale«, antwortete er knapp und legte die Hand auf den Bauch, um das Knurren abzudämpfen.

»Knapp sechshundertdreißig! Ich habe allen, die mit einem M anfangen, eine Anfrage per Mail geschickt. Habe bisher erst zwei negative Antworten. Ist ja schon spät.«

»Gut.«

»Sonst noch was?«

»Viel Spaß beim Open Air.«

Zeki hatte in einem grundsätzlichen Gespräch mit seiner Mitarbeiterin die Regel aufgestellt, Berufliches und Privates nicht zu vermischen. Auch bestand er darauf, dass Jale ihn siezte, um deutlich zu machen, nicht bevorzugt behandelt zu werden. Beides fiel schwer genug, da man ja zusammenwohnte. Aus dem Grund wunderte er sich nicht, dass seine Kollegin und gleichzeitige Freundin seines Sohnes wegen der persönlichen Bemerkung einen Augenblick brauchte, um sich zu sammeln.

»Danke. Ich koche morgen, okay?«, antwortete sie etwas durcheinander.

»Wie wäre es mit dolma?«, schlug er vor.

»Gefüllte Weinblätter sind nicht gerade meine Stärke.«

»Lass dir von Aydin helfen. Er hat das Rezept von seiner Mutter. Das schafft ihr schon«, wiegelte Zeki ihre Bedenken ab und legte auf.

Dann eilte er in die Küche und machte sich auf die Sekunde genau daran, den Fastentag zu brechen. Der saftige Geschmack der grünen Olive, die er nach dem obligatorischen Gebet in den Mund steckte, raubte ihm fast den Verstand. Die wohltuende Wirkung des Münchner Leitungswassers übertraf sogar den Geschmack eines frisch gezapften Weißbieres.

9

Pius Leipold starrte in sein Glas. Es war schon wieder leer. Mit Informationsbroschüren in der Stofftasche einer fränkischen Kellerbrauerei schlenderte er quer durch die Halle. Die Veranstalter des Bierfestivals hatten sich alle Mühe gegeben, den Saal in der alten Messe an der Theresienhöhe hochwertig umzugestalten. Tunlichst hatten sie darauf geachtet, Oktoberfestambiente zu vermeiden, um dem Saufimage des bayerischen Volksgetränkes entgegenzuwirken. Leipold schlenderte zu einem langen Tisch. In Dreierreihen waren darauf Degustationsgläser mit 0,1 Liter Fassungsvermögen bereitgestellt. Aussehen und Geschmack der Biere sollten neutral und unverfälscht beurteilt werden: Wie waren Farbe und Trübung des Gerstensaftes? Welche Eigenschaften hatte der Schaum? Waren Porengröße und Haftvermögen ausreichend? Wie entfaltete sich der Geschmack? Sortentypisch? Wie äußerte sich die Intensität des Hopfens? Typgerecht? Zu bitter?