Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. 1
  4. 2
  5. 3
  6. 4
  7. 5
  8. 6
  9. 7
  10. 8
  11. Epilog
  12. Bonusstory
  13. Die Autorin
  14. Die Romane von Katie MacAlister bei LYX
  15. Impressum

KATIE MACALISTER

Black Dragons

Gib dem Herzen Zunder

Ins Deutsche übertragen
von Theda Krohm-Linke

Zu diesem Buch

WENN DU DEN DRACHEN ENTFESSELST, MUSST DU DAS FEUER LIEBEN …

Charity Doe ist auf der Flucht – und kann so nie das bekommen, wonach sie sich am meisten sehnt: Sicherheit und Geborgenheit! Doch als das Schicksal sie mit einem Drachen zusammenführt, der sich als immun erweist gegenüber ihren einzigartigen Fähigkeiten, ist Charity fasziniert. Nachdem sie seine menschliche Form zu Gesicht bekommt, gerät sie in reinste Verzückung. Aber als Charity feststellen muss, dass der Drache seine Unsterblichkeit verliert, sobald sie sich in ihn verliebt, befinden sich sie und ihre Gefühle auf einer Höllenfahrt …

1

Der Erste Drache hörte den Lärm draußen vor dem sonnigen Raum sehr wohl. Das Stimmengemurmel von Männern und Frauen drang von der Terrasse unten herauf. Aber hier, im ersten Stock, in dem kleinen Zimmer mit der fröhlichen gelben Tapete, die mit Schildkröten und Schilf gemustert war, hörte man den Lärm trotz der offenen Fenster, durch die eine sanfte Sommerbrise drang, nur gedämpft.

Er ging an einer Lackkommode und einem kleinen Bücherregal, auf dem sich eine Karussell-Lampe und ein Babyfon befanden, vorbei zu der Wiege, die neben einem der Fenster stand.

»Hörst du sie, Kleines? Die Drachen reden gerne«, sagte der Erste Drache zu dem Baby, das in der Wiege lag und Arme und Beine in einem Rhythmus bewegte, den nur Babys hören können. Er beugte sich vor und lächelte die Jüngste seiner Nachkommen an. »Es war immer schon so. Wir sind sehr leidenschaftliche Geschöpfe, und wir teilen unsere Gefühle einander mit. Ah, du bist ein Mädchen, wie ich sehe. Ich bin dein Vorfahr. Deine Familie nennt mich den Ersten Drachen, denn das bin ich. Alle Drachen, die jemals waren und sein werden, stammen von mir ab. Du bist Teil eines großen Erbes, mein Kind, von dem die meisten Sterblichen nichts wissen.«

Das Baby blinzelte.

Er betrachtete es einen Moment lang. Er hatte die Angewohnheit, neuen Drachen während seines Antrittsbesuches mitzuteilen, welche Züge er in ihnen sah. »Du wirst nicht mit der Anmut deiner Schwester gesegnet sein, aber du wirst die Männer trotzdem bezaubern. Deine einzigartige Fähigkeit, Illusionen zu durchschauen, und deine Furchtlosigkeit werden sie anziehen.«

Das Baby gurgelte ein Spuckebläschen und schwenkte seine kleinen Fäuste. Er fand es amüsant. Er berührte eine Stelle auf seiner Stirn und murmelte: »Meine Segenswünsche, Kind der grünen Drachen.« Dann gab er der Versuchung nach und streichelte die rosigen Fingerchen.

Sofort packte das kleine Geschöpf seinen Finger und gluckste vergnügt.

»Du bist ein kleiner Krieger, was?«, sagte er zu ihm. Seltsamerweise zögerte er noch, dieses jüngste Drachenkind zu verlassen. »Du besitzt den Mut deiner Mutter und die Intelligenz deines Vaters. Du wirst ein furchterregender Feind und ein treuer Verbündeter werden. Und du wirst vieles wahrnehmen.«

Das Baby gab gurgelnde Laute von sich. Es hielt mit seinen Fingerchen immer noch seine Fingerspitze fest und strampelte so heftig mit den kleinen Beinen, dass es die leichte Decke, mit der es zugedeckt gewesen war, weggeschoben hatte. Der erste Drache deckte es nicht wieder zu, dazu war es zu warm. Er verzog das Gesicht, als es einen seiner Finger in den Mund zog und mit dem zahnlosen Kiefer darauf herumzukauen begann.

»Ich muss dich jetzt verlassen, Kleines«, sagte er mit fester Stimme. »Ich besuche alle neugeborenen Drachen, aber ich bleibe nicht bei ihnen, damit sie mir auf den Fingern herumkauen. Ich habe viele wichtige Dinge zu tun. Ich bin der Erste Drache.«

Das Baby lutschte weiter an seinem Finger, anscheinend völlig unbeeindruckt von seiner Erklärung. Tatsächlich hatte er das Gefühl, dass es von seiner ganzen Person unbeeindruckt war.

»Nun gut, aber nur noch eine Minute, da du so entschlossen bist«, sagte er und fand sich damit ab, einen nassen Finger zu haben. »Ich will gerne zugeben, dass dies ein angenehmer Besuch war. In der letzten Zeit bin ich …« Stirnrunzelnd schwieg er. In den letzten Jahren hatte ihn ein seltsames Gefühl ergriffen. »Einsam ist zu stark. Einsam impliziert ein Bedürfnis, und ich habe keine Bedürfnisse. Vielleicht ist es ja der Wunsch nach Kontakt. Ich wünsche mir, mehr Kontakt mit … jemandem zu haben. Mit jemandem, der mit mir redet. Jemandem, der sich um mich kümmert. Jemandem, der …«

Aus den Tiefen der Windel des Säuglings drang ein explosiver Laut.

Stirnrunzelnd betrachtete er das kleine Drachenmädchen, das entzückt gurgelte. »Was du gerade getan hast, gibt sicher keinen Anlass zu Stolz, aber ich will es deinem Alter zuschreiben und es nicht weiter beurteilen. Lebewohl, jüngster grüner Drache. Wir werden uns in der Zukunft sicher wieder begegnen, aber wenn nicht, mach …«

Die Tür ging auf, und er trat einen Schritt von der Wiege zurück. Die Neuankömmlinge erschreckten ihn nicht, denn er war der Erste Drache. Ihn erschreckte nie etwas. Aber er war leicht überrascht, als er feststellte, dass er sich auf einmal in Gesellschaft von drei Drachengefährtinnen befand.

»Der Erste Drache«, schrie die erste Gefährtin, als sie ihn sah. Aisling, fiel ihm ein, hieß sie. Sie war auch eine Hüterin, wenn er sich richtig erinnerte, und das war eigentlich immer der Fall. »Hey! Du machst doch nichts mit meinem Baby, oder? Sie ist ja schon ein Drache, und sie ist so süß. Sie schläft bereits die Nacht durch, deshalb wäre ich dir wirklich sehr dankbar, wenn du sie in Ruhe lassen würdest.«

»Aisling«, sagte die Gefährtin namens May und stieß die andere Frau mit dem Ellbogen an. »So kannst du doch nicht mit ihm reden. Er ist ein Gott.«

»Halbgott eigentlich«, sagte die dritte Frau. Sie musterte ihn mit festem Blick, was ihn insgeheim amüsierte. Von all seinen Nachkommen erweckte diese immer Emotionen in ihm. Meistens empörte ihn ihr Verhalten, aber es gab auch Momente wie diesen, wenn ihr Geist hell strahlte und seine Seele berührte.

»Kind des Lichts«, begrüßte er sie.

»Schwiegerpapa«, sagte sie in einem respektlosen Tonfall. Das machte sie absichtlich, um ihn zu irritieren.

Er zog eine Augenbraue hoch. »Bist du immer noch böse auf mich, Ysolde?«

»In Anbetracht der Tatsache, dass du meinen ältesten Sohn dazu überreden wolltest, ein Drache zu werden, obwohl du genau wusstest, dass er als Mensch vollkommen glücklich war, ja, ich bin immer noch böse. Baltic ist außer sich vor Wut.«

»Wann ist er das mal nicht?«, rutschte dem Ersten Drachen heraus.

Aisling kicherte.

Er blickte über die Frauen hinweg zur Eingangshalle. Männer waren nicht in Sicht. »Gibt es einen Sárkány

»Nein, erst in zwei Tagen.« Ysolde wies auf Aisling. »Es gibt eine Party zur Feier von Avas Geburt, und da deshalb die Hälfte der Wyvern da ist, haben sie beschlossen, einen Mini-Sárkány abzuhalten.«

»Eigentlich ist es eher so eine Art Besprechung zur Lage der Nation als ein komplettes Sippentreffen«, sagte Aisling. Sie blickte ihn neugierig an. »Aber ich finde, wichtiger ist die Frage, was der Erste Drache hier macht?«

»Ich würde ja sagen, er mischt sich ein, aber da Ava ja schon ein Drache ist, habe ich keine Ahnung«, antwortete Ysolde. Sie warf ihm einen betonten Blick zu, den er bewusst ignorierte.

Aisling beugte sich über ihr Kind. Sie zuckte zusammen. »Heilige Katzen, Ava! Du kannst doch unmöglich diesen Geruch verursacht haben!«

»Du würdest es nicht glauben, was Anduin alles so in der Windel produziert hat, bevor ich mit dem Töpfchentraining angefangen habe«, sagte Ysolde. Sie ließ den Ersten Drachen nicht aus den Augen. »Möchtest du uns denn nicht sagen, warum du hier bist?«

Er zog auch die andere Augenbraue hoch. »Redest du mit mir, Ysolde?«

Sie zuckte leicht zusammen, weil er ihren Namen so machtvoll ausgesprochen hatte. Sie räusperte sich, statt jedoch zurückzuweichen, reckte sie das Kinn und forderte ihn mit Blicken heraus.

Er seufzte. »Ich begrüße alle neuen Drachen und heiße sie willkommen. Das habe ich immer schon gemacht, und ich werde es auch weiterhin tun.«

»Das ist sehr nett von dir«, sagte May. Ihre Stimme war sanft und leicht wie der Wind. »Aber du wirkst ärgerlich. Auf Ava kannst du doch nicht böse sein.«

»Kind der Schatten«, begrüßte er May, die Gefährtin des silbernen Wyvern. Er mochte auch sie gerne, da sie einst das Drachenherz aus allen Scherben der Sippen geformt hatte.«Auf den Säugling bin ich nicht böse. Ich erkläre nur nicht gerne, was ich tue.«

»Bist du sicher, dass es keinen anderen Grund gibt?«, fragte Ysolde und legte den Kopf schief. »Ich finde auch, dass du nicht so glücklich wirkst, wie du letztes Mal noch behauptet hast.«

»Letztes Mal?«, fragte Aisling, die gerade dabei war, ihr Baby zu säubern und ihm eine frische Windel anzuziehen. »Was meinst du mit ›letztes Mal‹? Die Sache in Ägypten?«

»Nein.« Ysolde bedachte ihn mit einem langen Blick, aber er erwiderte ihn nicht. »Er war oft bei Anduin. Na ja, zweimal. Und dann habe ich ihn einmal bei Brom erwischt, wie er versucht hat, ihn dazu zu überreden, ein Drache zu werden. Und Baltic sagte, er habe ihn einmal gesehen, als wir Einkaufen waren. Ich glaube …« Ysolde zögerte einen Moment. Ihr Blick wurde weicher. Der erste Drache lächelte leise. Trotz ihres Mangels an Respekt hatte sie von allen seinen Kindern das weichste Herz. »Ich glaube, er langweilt sich und braucht eine Freundin. Oder besser noch, eine Gefährtin.«

Die anderen beiden Gefährtinnen keuchten auf. Der Erste Drache wollte schon die Augen verdrehen, fand aber dann, das sei eines Halbgotts nicht würdig, und behielt deshalb seine übliche gelassene Miene bei. Damit war er immer gut gefahren, wenn er sich mit seinen manchmal schwierigen Kindern auseinandersetzen musste, vor allem mit seinen unbändigen Erstgeborenen, diesen fünf Drachen, die seine Gefährtinnen ihm geschenkt hatten, damit sie die Sippen begründen konnten.

»Eine Gefährtin!«, sagte Aisling. Sie trat mit dem Baby auf dem Arm auf ihn zu. »Natürlich! Immer so allein zu sein, ist bestimmt nicht lustig, und Ysolde sagte, Baltics Mutter war eine deiner Gefährtinnen … äh … wie viele hattest du noch einmal? Oder ist das eine unhöfliche Frage?«

Der Erste Drache stieß erneut einen kleinen Seufzer aus, aber niemand hörte ihn. »Einige finden sicher, dass es schon unhöflich ist, so zwanglos mit mir zu sprechen, aber ich will deine Frage beantworten, weil ich weiß, dass Ysolde immer weiterfragen wird, wenn ich es nicht tue.« Ysolde lächelte, und alle Frauen drängten sich um ihn. »Wie gut du mich doch kennst. Na los. Wie viele waren es denn? Ich schätze, im dreistelligen Bereich.«

Er presste ein wenig die Lippen zusammen, um ihr klarzumachen, dass er solche Respektlosigkeiten nicht schätzte. »Ich hatte zwei Gefährtinnen. Die erste war eine unbedeutendere Göttin. Sie gebar mir vier Kinder: die Begründer der roten, schwarzen, blauen und grünen Sippen. Später nahm ich einen Drachen, Maerwyn, zur Gefährtin, und sie gebar Baltic und ein Kind, das die Geburt nicht überlebte.«

»Einen Drachen?« Aisling zog die Nase kraus. »Ich möchte ja nicht respektlos klingen, aber ist das nicht … na ja … Inzest?«

»Sie war sechs Generationen älter als meine Kinder«, erwiderte er traurig. Er hatte Maerwyn wirklich geliebt, deshalb hatte er sie auch zur Gefährtin genommen. Über ihren Tod hatte er jahrhundertelang getrauert, und in dieser Zeit hatte er sich von allem zurückgezogen.

May trat instinktiv näher und legte zögernd die Hand auf seinen Hemdsärmel. »Ysolde hat uns erzählt, wie Baltics Mutter gestorben ist. Das war schrecklich.«

Er neigte den Kopf, dankbar für das Mitgefühl, das ihm stumm entgegengebracht wurde.

»Ist das jetzt vierhundert Jahre her?« Ysolde schob seinen Arm unter ihren. »Es ist an der Zeit, nach vorne zu schauen. Und das meine ich im allernettesten Sinn. Dass du ein Halbgott bist, heißt noch lange nicht, dass du nicht glücklich sein darfst. Zufällig ist gerade jetzt der ideale Zeitpunkt für dich, hier zu sein, weil Aisling und Drake, wie schon erwähnt, eine Party für Ava geben. Heute Abend spielt eine Band, morgen findet ein Sárkány statt, es gibt eine Hüpfburg für die Kinder in einem der Gärten – die du wahrscheinlich nicht nutzen wirst, weil die kleinen Gören zu laut sind –, und so gut wie alle Drachen aus Europa und aus anderen Ländern werden hier sein, sodass du dir alle alleinstehenden Damen anschauen kannst.«

»Ja, und wir wollten jetzt eigentlich hier unser Mädelstreffen abhalten, während die Männer unten Drachenblutwein trinken und die Kinder im Planschbecken toben. Aber wir werden es verschieben, um uns mit deinen Angelegenheiten zu befassen.« Aisling legte das nun wieder geruchlose Baby zurück in die Wiege und schaltete ein Mobile mit kleinen Drachen und kämpfenden Rittern an.

»Was für eine großartige Idee«, sagte May und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden.

»Würdest du dich bitte hierhin setzen, Mr … äh … Erster Drache?« Aisling schob einen Schaukelstuhl heran und hockte sich selbst neben Ysolde auf das pink gestreifte Zweiersofa.

»Hey, Ash, die Kinder haben die Chips in Rekordzeit aufgegessen und wollen wissen, wann es Mittagessen gibt – heiliger Bimbam! Das ist ja der Erste Drache!«

Der Erste Drache, der gerade Aislings Angebot, sich zu setzen, annehmen wollte, wandte sich zu dem großen schwarzen Neufundländer, der ins Zimmer trottete. »Ah«, sagte er, »ein Dämon. Mir war gar nicht klar, dass die grünen Drachen den Beistand eines Dämons brauchen.«

»Jim lebt hier«, sagte Aisling und winkte den Hund zu sich. »Er gehört mir. Ich bin eine Dämonenfürstin, habe aber nur diesen einen Dämon, und er kann gar nichts bewirken.«

»Hey!«, protestierte Jim. »Jetzt mach aber mal einen Punkt!« Er schnüffelte an den Schuhen des Ersten Drachen. »Ich mache alles Mögliche, unter anderem lasse ich auch deinen Nachwuchs auf mir reiten. Und darüber sollten wir bald einmal reden, denn es ist würdelos, und wenn die anderen Dämonen davon erfahren, dann machen sie mir die Hölle heiß.«

»Wir reden später darüber«, sagte Aisling und warf dem Dämon einen warnenden Blick zu.

»Der Hund schnüffelte an den Hosenbeinen des Ersten Drachen. »Hallo! Mein Name ist Effrijim, aber alle nennen mich Jim. Stimmt es, dass du aus Kindern Drachen machen kannst? Nicht, dass ich einer sein wollte, weil nichts darüber geht, ein Dämon in Gestalt eines Neufundländers zu sein, aber falls Aisling irgendwann einmal komplett den Verstand verliert und sich wie eine echte Dämonenfürstin aufführt, dann wäre es schön, andere Optionen zu haben.«

Der Erste Drache blickte den Dämon starr an. Jim riss die Augen auf und wich zu seiner Herrin zurück. »Mann, ich habe doch nur gefragt. Du brauchst mich gar nicht so furchterregend anzugucken. Ash!«

»Wenn du den Drachen störst, musst du auch mit seinem Feuer fertig werden«, sagte Ysolde ruhig. Sie zog ein kleines Notizbuch und einen Stift heraus. »So, dann lasst uns das mal richtig machen.«

Der Erste Drache überlegte kurz und beschloss, dass sein Interesse geweckt war. Er würde bleiben. Er setzte sich auf den Schaukelstuhl, den Aisling ihm angeboten hatte, und schlug die Beine übereinander. Was würden die Gefährtinnen wohl als Nächstes machen? Er musste zugeben, dass es unterhaltsamer war als alles, was er seit Langem erlebt hatte.

»Hiermit eröffne ich unser Mädelstreffen«, sagte Aisling mit förmlicher Stimme. In natürlicherem Tonfall fügte sie hinzu: »Jim, würdest du bitte die Tür schließen? Wir wollen schließlich nicht, dass einer der Männer zufällig vorbeikommt und uns hört. Danke! Okay, also, wir haben zwar Tagesordnungspunkte auf der Agenda, aber wir vertagen sie, um uns um den Ersten Drachen zu kümmern.«

Sie warf ihm rasch einen besorgten Blick zu. Er durchbohrte sie mit seinen Augen.

»Oder vielmehr, ihm zu helfen«, verbesserte sie sich rasch.

»Du bist auf dem besten Weg, den Chefdrachen wütend zu machen«, flüsterte Jim laut. »Jetzt wird er bestimmt Drake vernichten oder so.«

»Schweig! Ja, das ist ein Befehl. Du darfst nur noch sprechen, wenn du etwas wirklich Wichtiges zu unserem Gespräch beizutragen hast. Ehrlich, Ysolde, du glaubst es nicht, welche Wörter Jim den Zwillingen beigebracht hat. Sie fluchen auf Lateinisch, und gestern habe ich sie dabei erwischt, wie sie einen Dämon zu ihren Diensten rufen wollten …« Gerade noch rechtzeitig bemerkte Aisling, dass dies wohl nicht der geeignete Moment war, um fortzufahren. Sie lächelte alle fröhlich an. »Ich übergebe das Wort an Ysolde, da der Erste Drache ihr Schwiegervater ist und sie ein paarmal wiedererweckt hat. Sie kennt ihn besser als jeder andere.«

»Danke, Aisling! Erinnere mich später bitte daran, dass ich dir erzähle, wie Brom Anduin nahegebracht hat, wie schön es ist, ein totgefahrenes Tier zu sezieren.« Ysolde räusperte sich und fuhr in geschäftsmäßigem Tonfall fort: »Lasst uns zunächst einmal die Situation bewerten. Der Erste Drache möchte eine Gefährtin haben.«

»Um das klarzustellen: Ich glaube nicht, dass ich diesen Wunsch jemals geäußert habe«, sagte er milde.

»Das brauchst du auch nicht«, antwortete Ysolde und tippte sich mit dem Stift gegen die Lippe. »Du hast Baltics Mutter geliebt und bist jetzt seit einigen Hundert Jahren allein. Nun ist es an der Zeit, eine andere Frau für dich zu finden, mit der du dein Leben verbringen kannst.«

May hob die Hand. »Verzeiht mir meine Unwissenheit, aber kann ein Halbgott mit einer Sterblichen intim werden? Ich meine, ist das möglich?« Sie machte eine vage Geste. »Können sie … äh … Verkehr haben?«

Der Erste Drache warf ihr einen Blick zu, bei dem sie blutrot wurde.

»Ja, nun, ich glaube, wir können davon ausgehen, dass alles in bester Ordnung ist«, sagte Ysolde und machte sich eine Notiz.

Der Erste Drache schaute sie an, doch wie er sich schon gedacht hatte, ignorierte sie seinen Blick. »Aber das ist ein guter Punkt, May. Unsterblichkeit sollte vorrangig sein. Dadurch verringert sich die Zahl der Möglichkeiten. Am besten erstellen wir eine Liste mit den Vorlieben und Abneigungen des Ersten Drachen.«

»Kluger Gedanke.« Aisling nickte. »Wer würde dir denn auf Anhieb gefallen?«

»Hast du eine Vorliebe für eine bestimmte Haarfarbe?«, fragte May.

»Soll sie lustig sein oder eher zurückhaltend? Strandspaziergänge im Regen oder lieber zu Hause mit einem Buch und einem guten Glas Wein?«, fragte Aisling.

»Stehst du mehr auf sportliche Frauen oder auf Hausmütterchen?« Auch Ysolde fügte ihre Fragen der Liste hinzu.

»Und bist du sicher …« Erneut machte May die vage Geste. »… dass alles noch in Ordnung ist? Es ist immerhin schon vierhundert Jahre her …«

Der Erste Drache stand auf. »Ich glaube euch, dass ihr die besten Absichten habt, aber das ist unerträglich.«

»Warum?«, fragte Ysolde stirnrunzelnd und tippte wieder mit dem Stift gegen ihre Lippen.

Einen Moment lang schaute er sie erschreckt an. Nur wenige Geschöpfe hatten ihn jemals infrage gestellt, und schon gar keine Drachen … außer Baltic und seiner Ysolde. Er überlegte, ob er ihre Frage als unwichtig abtun sollte, aber da sie ein reines Herz und eine leuchtende Seele hatte, beschloss er, sich zu entspannen. »Selbst wenn ich wollte, dass ihr für mich eine Frau sucht, mit der ich meine Zeit verbringen möchte, würdet ihr scheitern.«

»Oh, ich liebe Herausforderungen«, sagte May.

»Ich auch«, sagte Aisling und setzte sich gerade hin. »Warum glaubst du, dass wir scheitern würden? Du unterschätzt die kollektive Macht der Gefährtinnen. Wenn wir uns zusammentun, sind wir ziemlich gut.«

»Ihr würdet scheitern, weil ich eine solche Frau schon gefunden hätte, wenn es sie gäbe«, antwortete er.

»Das behauptest du, aber wie intensiv hast du denn gesucht?« Ysolde erhob sich und trat auf ihn zu. »Du bist doch nie in der sterblichen Welt. Du kommst doch nur ab und zu vorbei und versuchst meinen Sohn dazu zu überreden, ein Drache zu werden.«

»Du weißt doch gar nicht, wie Frauen heutzutage so sind«, sagte Aisling.

»Frauen haben sich verändert. Männer natürlich auch, aber seit der Zeit, da du mit Sterblichen zusammen warst, haben sich vor allem die Frauen geändert.« May hob das Kinn, als er sie mit hochgezogenen Augenbrauen anblickte.

»Du hast keinen Kontakt mehr zu modernen Drachen, daran liegt es«, erklärte Aisling.

»Und zu den Frauen von heute! Du hast ja keine Ahnung, was wir mögen und wollen.« Ysolde machte sich erneut eine Notiz. »Vielleicht brauchen wir ja gar nicht so sehr eine Frau für dich zu finden, sondern du musst eher erfahren, wie das moderne Leben so ist. Und wenn du erst einmal wieder in der Realität angekommen bist, dann können wir deine Wunschliste aufnehmen und dir helfen, jemanden zu finden.«

Er überlegte, ob er beleidigt sein sollte, stellte jedoch fest, dass sie nicht unrecht hatte. Er würde erst einmal abwarten, wohin das Gespräch führte. Er hatte ganz vergessen, wie unterhaltsam es bei seinen Verwandten war.

»Hervorragende Idee, Ysolde«, sagte Aisling und hob den Daumen.

»Der Ansicht bin ich auch«, sagte May nach kurzem Nachdenken. »Ich glaube, du wirst dich erst mit einer Frau von heute zusammentun, wenn du weißt, wie das moderne Leben ist. Deshalb wirst du eine Zeit lang hierbleiben müssen.«

»Hier?« Aisling riss die Augen auf. »Göttin! Na ja, ich könnte ihm vielleicht das St.-Georgs-Zimmer anbieten, aber dann müsste ich May und Gabriel hinauswerfen …«

»Wir ziehen gerne um, wenn wir dadurch dem Ersten Drachen helfen können«, sagte May rasch.

»Dann ist das also abgemacht«, sagte Ysolde und machte ein Häkchen hinter einer ihrer Notizen.

»Nichts ist abgemacht«, sagte der Erste Drache. »Ich habe eurem Vorschlag ja gar nicht zugestimmt. Und ich habe auch nicht die Absicht, das zu tun.«

Ysolde bedachte ihn mit einem langen Blick. »Du hast doch nicht etwa Angst vor uns, oder?«

Seine Augen weiteten sich bei ihrem unverschämten Kommentar. »Du vergisst, mit wem du sprichst, Kind des Lichts.«

»Nicht im Geringsten. Ich wollte deinen Mut nicht infrage stellen, aber ich glaube, du weichst der Möglichkeit aus, eine neue Gefährtin zu finden, weil du immer noch an Baltics Mutter denkst.«

»Was wir völlig verstehen«, fügte May hinzu.

Die anderen Gefährtinnen nickten.

»Selbst wenn das stimmen würde, ich bin der Erste Drache«, sagte er mit Nachdruck.

»Aber das bedeutet nicht, dass du nicht auch Gefühle hast wie alle anderen.« Ysolde lächelte. »Wie war denn Baltics Mutter?«

Die Frage erschreckte ihn ein wenig. »Sie war sanft. Sie stickte gerne. Sie liebte die Natur und hielt sich häufig im Garten auf.«

»Okay. Handwerklich geschicktes Naturmädchen«, sagte Ysolde und machte sich weitere Notizen. »Was sonst noch?«

Er kramte in seinen Erinnerungen. »Sie war sehr gesellig. Sie hatte gerne Verwandtschaft zu Besuch. Einmal sagte sie, dass sie sich ohne die Drachen verloren und alleine fühlen würde.«

»Extrovertiert.« Aisling nickte. »Also keine introvertierte Leseratte für dich.«

Er gestattete sich ein kleines Lächeln. »Nein, mit Büchern hatte sie es nicht so.«

»Das gibt uns doch etwas an die Hand«, sagte Ysolde. Die anderen Gefährtinnen nickten. »Wir können sofort mit der Suche anfangen.«

»Ich bin der Erste Drache«, erinnerte er sie. »Ich lebe seit Jahrhunderten ohne Gefährtin. Es gibt keinen Grund, warum ich jetzt eine bräuchte.«

»Oh, oh!« Ysolde blickte ihn nachdenklich an. »Sollen wir wetten? Wir, die versammelten Gefährtinnen Eurer Wyvern-Nachkommen sind bereit, darauf zu wetten, dass du nicht in der Welt der Sterblichen bleiben kannst.«

»Und dass du nicht wie ein moderner Drache leben kannst«, warf Aisling ein.

»Und etwas über moderne Frauen lernen kannst«, fügte May hinzu.

»Eine Wette!« Er brachte sein Missfallen zum Ausdruck. »Ich wette nicht.«

Jim, der Dämon, gab glucksende Geräusche von sich, bis Aisling ihm mit einem Kissen auf den Kopf schlug.

»Wir wetten, dass du nicht ein Jahr lang wie ein moderner Drache – ein moderner Wyvern – leben und eine moderne Frau im passenden Alter kennenlernen kannst«, sagte Ysolde. Die anderen Gefährtinnen murmelten zustimmend.

Der Erste Drache dachte über sein Leben nach und sagte: »Einen Tag.«

»Sechs Monate«, konterte Aisling.

»Zwei Tage.«

»Wir werden uns natürlich auf einen Monat einigen«, sagte Ysolde, ohne auf seinen strengen Blick einzugehen. »Du wohnst einen Monat lang hier bei uns. Keine Magie, keine Halbgott-Tricks, einfach nur als normaler Drache, der wie jeder andere Drache auch Frauen begegnet und mit ihnen zu tun hat, und am Ende dieser Zeit werden wir dich gut genug kennen, um eine Frau für dich zu finden. Oder du hast bis dahin schon selber eine gefunden.«

»Das ist keine Wette«, erklärte er.

»Streng genommen nicht, aber es ist eine Herausforderung.« Ysolde lächelte auf einmal, und er sah wieder einmal, warum Baltic, sein schwierigstes Kind, sie so sehr liebte. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du einer Herausforderung aus dem Weg gehst. Sind wir uns einig?«

Er überlegte einen Moment lang. Vielleicht konnte ein solches Intermezzo seine immer häufiger auftauchende Unruhe in Schach halten. »Nun gut, ich bin einverstanden.«

»Hervorragend«, sagte Ysolde, und auch die anderen Gefährtinnen erklärten sich einverstanden. »Ich glaube, du wirst feststellen, dass es für uns alle von Nutzen ist. Wir werden dich besser kennenlernen. Du kannst die Kinder so oft sehen, wie du willst, obwohl ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen kann, was du davon hast. Brom ist in der Pubertät, und Anduin ist ein kleiner Terrorist, während Aislings Zwillinge …«

»Schreckliche kleine Monster in hinreißender vierjähriger Gestalt sind«, beendete Aisling den Satz.

»Aber vorausgesetzt, du willst die nächste Generation tatsächlich sehen, so hast du die Möglichkeit dazu. Und mehr noch, du wirst auch sehen, wie Drachen in die heutige Welt passen.« Ysoldes Lächeln wurde breiter. »Und wir können jemanden finden, der perfekt ist für dich.«

Das Lächeln, das sich langsam auf dem Gesicht des Ersten Drachen ausbreitete, sagte ohne Worte, für wie unwahrscheinlich er dies hielt.